Savantninjas - Dirk Westphal - E-Book

Savantninjas E-Book

Dirk Westphal

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Beschreibung

Von einem Tag zum anderen ist auf der Erde alles anders. Demokratisch gewählte Staatschefs werden plötzlich durch autoritäre Herrscher ersetzt, die mit Notstandsgesetzen und brutaler Gewalt regieren. Gnadenlos verfolgen sie die letzten Vertreter einer freien Presse und rufen zur Hetzjagd auf alle noch unabhängigen Institutionen aus. Keiner kann ihr entkommen. Denn hinter all dem steckt eine Macht mit fast unbegrenzten Möglichkeiten. Einige aber geben nicht auf und leisten erbitterten Widerstand.

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Dirk Westphal

SAVANTNINJAS

Teil 3

Die unheimliche Macht

Die wissenschaftliche Bedeutung des Wortes Savant wurde in diesem Fantasy-Roman sehr viel weiter gefasst, als es in der Realität der Fall ist. Es sollte hier also nicht mit allzu ernsthaftem Forscherverstand gelesen werden. Das aus dem Französischen stammende Wort bezeichnet Menschen mit sogenannten Inselbegabungen, die sie zu besonderen Leistungen befähigen. Einige der im Buch vorkommenden Charaktere haben jedoch weit darüber reichende Gaben.

Handlung und Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit Lebenden oder Toten ist Zufall und in keiner Weise beabsichtigt.

Copyright: © 2016 Dirk Westphal

Umschlaggestaltung: Erik Kinting

Titelbild: © Sergey Nivens - Fotolia.com

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Penelope und ihre Tochter Maret

Was in den vorherigen Bänden der SAVANTNINJA-SAGA geschah:

Der Amerikaner Jeffrey Tesla leitet einen Geheimbund, der die Weltherrschaft an sich reißen will. Dazu haben Mitarbeiter von ihm wichtige Schaltstellen in Militär, Wirtschaft und Regierungen in Besitz genommen. In vielen Ländern der Welt wurde der Notstand ausgerufen. Tesla wähnt sich bereits am Ziel der totalen Machtergreifung, als eine außerirdische Macht auf den Plan tritt.

Personenregister

Elorel – Eine Außerirdische mit dunklen Absichten

Jeffrey Tesla – Gnadenloser Chef eines Geheimbundes

Margo Stotewskaya, Daniel Schaendler und Anna Sikorski – Drei Menschenmit übernatürlichen Kräften

Ursula Grothkamp – Deutschlands Kanzlerin folgt einem skrupellosen Plan

Pater Ignatius Fjodorow – Ein Geistlicher auf Himmelfahrtskommando

Krux – Der keltische Druidenfürst rüstet sich für den finalen Kampf

Washington D.C., Weißes Haus, Oval Office.

Zeit, was ist schon Zeit?

Relativ.

Eine Illusion.

Wie Form und Raum.

Leere ist Form.

Form ist Leere.

Alle Erscheinungen sind ihrer wirklichen Natur nach leer.

Jeffrey Tesla starrte wie hypnotisiert auf die silberfarben schimmernde Metallkugel, die in diesem Moment gegen eine Kette mehrerer exakt gleich gestalteter Kugeln stieß und ihren Bewegungsimpuls ohne sichtbaren Zeitverzug auf die Kugel am anderen Ende der Kette übertrug. Die Kugeln hingen an kleinen Fäden innerhalb eines filigranen Metallgestells, das am gegenüberliegenden Ende des Schreibtisches vor ihm stand.

Der etwa 58-Jährige, dessen genaues Alter wegen seiner extrem athletischen Figur schwer zu schätzen war, konnte sich nicht an den Namen der Apparatur mit den Kugeln erinnern. Auch nicht daran, wer sie auf den Schreibtisch gestellt hatte. Aber musste er das überhaupt? Letztlich war es eine völlig nebensächliche Frage.

In dem kommenden Spiel ging es um ganz andere Dinge: ums Überleben oder Untergehen. Und nach Lage der Dinge würde er nicht allzu viele Spielzüge ausüben können, da war er sich sicher.

Rien ne va plus.

Der Amerikaner war wenige Minuten zuvor aus einem geheimen Flur mitten in das hektische Treiben im Weißen Haus getreten und hatte für erhebliches Erstaunen und ungläubige Blicke unter den Mitarbeitern des Hauses gesorgt, die nun seine waren.

Tesla trug über dem Kopf eine perfekt sitzende Maske, die das Aussehen Sinclair Cutters, des US-Präsidenten, imitierte. Cutter galt seit einem Anschlag, als ein auf einem Motorrad sitzender Mann mehrere Schüsse auf ihn abgegeben hatte, als tot.

Wie konnte er also nun vor ihnen stehen, gesund und ohne die geringsten Anzeichen von Gewalteinwirkung, wo doch die halbe Welt im Fernsehen seinen Abtransport in einem Krankenwagen verfolgt hatte? Ganz wie damals, November 1963, in Dallas, als J.F.K. einem Attentat zum Opfer fiel. Elm Street reloaded.

Tesla blickte in die Reihe ungläubiger Gesichter vor ihm. Staunende, dumme und zweifelnde. Sekretärinnen, Stabsmitarbeiter und Secret-Service-Männer.

Doch er war auf die Situation vorbereitet. Er tischte den hochgradig irritierten Mitarbeitern des Weißen Hauses eine Geschichte auf, die sie akzeptieren mussten, und was war in solch einer Situation besser als der größtmögliche Grad an zur Schau getragener Gelassenheit? Lächelnd erklärte er ihnen, dass Cutters Tod ein einziger Fake war, nichts weiter als ein verdammter Schwindel, um Amerikas Feinde auf eine falsche Spur zu locken, eine akute Bedrohung, über die er aus Gründen der nationalen Sicherheit nicht mehr erzählen dürfe könne. Lediglich die obersten Etagen der Geheimdienste seien eingeweiht gewesen, denn man habe um keinen Preis riskieren können, dass die Pläne durch ein Leck im Sicherheitsapparat bekannt würden.

Es bedurfte einiger weiterer Bekräftigungen, bis sich die Gesichter vor ihm entspannten. Er hatte gesiegt, sie kauften ihm die Story ab, was wieder einmal bewies, dass man die unglaublichsten Dinge an den Mann bringen konnte, wenn man nur überzeugend genug auftrat. Um der ganzen Sache etwas Nachdruck zu verleihen und sie etwas zu verkürzen, setzte er eine besondere Gabe ein, von der niemand wusste. Seit Kindheitstagen konnte er Menschen allein mit der Kraft seiner Sprache von Dingen überzeugen, die sie sonst niemals akzeptiert hätten. Er machte nur selten von der Gabe Gebrauch, weil er sehen wollte, dass er beinahe ausweglose Situationen auch ohne sie meistern konnte. Aber manches Mal musste man halt auf Nummer sicher gehen.

Die Dummen glauben am Ende selbst die unwahrscheinlichste Geschichte, wenn sie nur überzeugend genug präsentiert wird, dachte Tesla. Er saß im Oval Office hinter seinem Schreibtisch und es kümmerte ihn herzlich wenig, dass er dabei wenig präsidial wirkte, eher wie ein John-Wayne-Verschnitt aus einem frühen Western. Die Beine auf dem Tisch, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, blickte er auf das ihm gegenüber an der Wand hängende Gemälde, das einen ernsten, fast grimmig drein blickenden Abraham Lincoln zeigte.

Er dagegen lächelte, es war alles gut gelaufen. Die Aufregung, die auf einigen Fluren des Weißen Hauses noch zu spüren war – hast du gehört, der Präsident ist am Leben, alles eine Lüge –, würde sich legen. Bald würde er auch im Fernsehen auftreten. Den raubeinigen Präsidenten geben, etwas zu laut und politicly incorrect, aber die einfachen Leuten wollten das sehen, und er würde ihnen ihre Show geben.

Ich werde die forgotten men, die sich abgehängt fühlen vom regierenden Establishment, mit Aufmerksamkeit füttern. Seht her, ich höre euch! Tesla Lächeln hatte sich zu einem tierischen Grinsen verzogen.

Störungen in seinem großen Plan würde es immer geben, nur durften diese nicht unkalkulierbar werden. Das konnte er sich nicht leisten, trotz ergebener Gehilfen in den höchsten Positionen von Wirtschaft, Politik und Verwaltung.

Ein Klopfen schreckte Tesla aus seinen Gedanken hoch. Die Tür zu einem der Nebenzimmer wurde vorsichtig geöffnet. Robin Welch, seine Beraterin in Nahostfragen, lugte sondierend um die Tür. Bevor Tesla ein „Herein“ oder „Was gibt es, Robin?“ rufen konnte, hatte Welch sein Arbeitszimmer schon betreten, begleitet von zwei denkbar ernst dreinblickenden Mitarbeitern des Secret-Service, die in einem uneinsehbaren Winkel hinter der halb geschlossenen Tür gestanden haben mussten.

Guck mal an. Offenbar hat meine Geschichte doch nicht alle überzeugt. Eine kleine Rebellion. Wie süß.

Welch wirkte auf Tesla leicht verlegen, aber was spielte das schon für eine Rolle?

„Robin, wie kann ich ihnen helfen?“, fragte Tesla, während er die Beine vom Schreibtisch hob und seine Hose glatt strich, als hätte er die Beine nur auf den Tisch gelegt, um nach Flecken zu schauen.

Er wusste zwar, dass der echte Sinclair Cutter, ein Südstaatler, sich im Oval Office oft ähnlich leger gegeben hatte und sich um Meinungen anderer nie große geschert hatte. Aber ihn störte es, in solcher Haltung von Secret-Service-Leuten gesehen zu werden. Untergebene durften niemals durch eine allzu laxe Haltung ihres natürlichen Anführers von ihrem Glauben an diesen abgebracht werden.

Welchs dunkelrot geschminkter Mund entließ eine ganze Frachtpalette von Worten -„Überprüfung“, „nationale Sicherheit“, „Notwendigkeit“ usw.usf. – doch Tesla nahm das Plappern nur als diffuses Hintergrundrauschen wahr, von dem nur wenige Worte bis zu ihm durchdrangen. Sie materialisierten in seinem Kopf wie kleine Ballons aus einem namenlosen Nichts, um kurz danach auf ähnlich geheimnisvolle Weise wieder zu verschwinden.

Warum um Gottes willen konnte diese Frau nicht einfach schweigen; was musste sie sich immer um Dinge kümmern, die außerhalb ihres Zuständigkeitsbereiches lagen und ihren kleinen beschränkten Geist überforderten? Was für ein kleines übereifriges Mädchen.

Spürst du denn deine Zerbrechlichkeit nicht, Kind?

Tesla ließ Welch noch weitere zwei Minuten reden, während er die Schuhe der Secret-Service-Männer eingehend musterte, was unsichere Charaktere noch unsicherer werden ließ. Eine von vielen kleinen Übungen, die, betont beiläufig dargeboten, Lakaien noch mehr Schweiß auf den Rücken zauberte, als sie ohnehin schon ausstießen. Sollten sie nur zappeln diese Dummköpfe und sich fragen, was später auf sie zukam.

Schließlich unterbrach er Welch mit einem lauten Räuspern, steil hoch gezogenen Augenbrauen, und ergriff das Wort. Er nutzte dabei erneut seine Para-Gabe des Zuredens.

„Liebe Robin, und die Herren vom Secret Service, ich verstehe ihr Erstaunen und dass manch einer von ihnen irritiert ist, aber wir dürfen keine Zeit verlieren. Der Feind schläft nicht, und wir dürfen es auch nicht. Also lassen Sie uns an die Arbeit geben. Jetzt. Dies hat Vorrang vor allem anderen.“ Die letzten Worte hatte Tesla mit besonderem Nachdruck betont.

Es wirkte. Welchs Begleiter nickten einander puppenhaft zu, dann drehten sie sich um und verließen das Office mit mechanisch staksenden Bewegungen. Nur Welch, die ihn ungläubig anstarrte, brauchte offenkundig eine Extraeinladung.

„SIE DÜRFEN NUN AUCH GEHEN, ROBIN. ES IST ALLES GUT. Haben Sie verstanden? Alles ist auf e-i-n-e-m g-u-t-e-n Weg.“

Welch fasste sich an die Schläfen, von denen ein leichtes Pochen ausging. Cutters Worte drangen wie durch Watte in ihr Bewusstsein – „..auf einem guten Wege“.

„Alles … gut. Ja, natürlich.“

Was ist nur mit mir los? Es ist doch offensichtlich, dass Sinclair am Leben ist. Habe ich sein Vertrauen enttäuscht, warum hatte ich Zweifel, hatte sich Zweifel?

Die Expertin für Nahostfragen erinnerte sich daran, dass der Präsident ihr bereits einmal vorgeworfen hatte, ihm nicht zu vertrauen, obwohl es dabei um ihr Privatleben gegangen war. Sie hatte sich Eizellen entnehmen lassen, um noch in reiferen Jahren, wenn sie Karriere gemacht hatte, Kinder bekommen zu können. Der Präsident hatte davon irgendwie erfahren und daraus eine persönliche Angelegenheit gemacht. Was war daraus geworden? Sie konnte sich nicht erinnern.

Sich immer noch die Schläfe reibend drehte auch Welch sich nun puppengleich um und verließ schweigend das Oval Office.

Mit einem leisen Klicken schloss sich die Tür hinter ihr.

Jeffrey Tesla blickte wieder zu der ihm gegenüberliegenden Wand mit dem Porträt Lincolns. In seiner Fantasie verzog sich das vollbärtige Gesicht Lincolns zu einem hämischen Grinsen. Ihr könnt es alle nicht so gut wie ich. Versager, die ihr seid …, schien Lincoln zu denken. Aber sollte der Alte doch denken, was er wollte, er hatte nicht mehr das Sagen.

Tesla betrachtete nachdenklich den Schreibtisch, der schon so vielen Präsidenten gedient hatte. Es gab einige Legenden über den Tisch, die auch mit Freimaurern in Zusammenhang standen, aber er kannte keine Details. Vermutlich waren es Fantastereien wie so vieles in den Gedanken der Menschen. Sie verweilten lieber in Märchenwelten, anstatt sich den eigentlichen Wundern zu stellen. Aber wie sollten Blinde das auch leisten?

Er würde die Unwissenden und Nicht-Sehenden in ein neues goldenes Zeitalter führen, ihnen das Gefühl von Gemeinschaft geben. Es war wichtig in einer Welt ohne Orientierung, die nur auf Konsum wert legte.

Das Gefühl zu etwas Größerem zu gehören, bedeutete Menschen viel, die mit abstrakten Dingen wie Demokratie nichts anfangen konnten. Tesla wollte es ihnen geben. Lagerfeuerromantik oder was auch immer. Er lächelte. Er würde den Menschen ein neues Zugehörigkeitsgefühl geben. Das hätte auch Lincoln gefallen. Ganz sicher.

Tesla stand auf, ging einige Meter durch das Oval Office, warf einen Blick über die Schulter, bis er sicher war, nicht gesehen zu werden. Dann drückte er mit dem Daumen auf einen kaum sichtbaren Punkt an der Wand, woraufhin sich eine Tür öffnete, die auf den ersten Blick kaum als solche zu erkennen war. Die gestreifte Wandtapete, die das Büro auskleidete, befand sich auch auf der Tür und machte diese daher fast unsichtbar, sah man einmal von dem winzigen Schlitz der Fugen ab, der einem nur auffiel, wenn man direkt davor stand.

An der Innenseite des Türfurniers war ein mannshoher Spiegel befestigt. Tesla warf einen prüfenden Blick auf sein Erscheinungsbild als Sinclair Cutter. Es entsprach seinen Erwartungen.

Er trug leichte Absatzschuhe, die ihm die Größe Cutters verliehen. Unterhalb der auch den gesamten Hals abdeckenden Maske war zudem auf Höhe des Kehlkopfes ein hochmoderner Stimmensimulator-Chip installiert, der exakt Cutters rüden Südstaatendialekt imitierte. Weshalb also sollte eine kleine unscheinbare Büromaus wie Welch noch länger irgendwelche Zweifel an seiner Wiederauferstehung hegen? Es gab keinen Grund.

„Kleines dummes Nüttchen. Was bildest du dir nur ein? Muss Onkelchen dich denn erziehen? Glaub mir, das willst du nicht“, flüsterte er. Die Worte verhallten ungehört.

Teslas alias Sinclair Cutters Gesichtszüge wechselten von einem Grinsen zu dem Aussehen eines harten, zu allem entschlossenen Mannes.

Er musste in Kürze die Stabschefs der Teilstreitkräfte zu sich rufen. Alles schrie geradezu nach einer Militäroperation, die seine Führungsstärke nach außen hin unterstreichen und Zweifler in den eigenen Reihen verstummen lassen würde. Aber so dringend die Zusammenkunft mit den Generälen auch geboten war, sie rangierte erst an zweiter Stelle. Zunächst einmal musste er sich um die Fremden kümmern. Er wusste nicht, woher sie gekommen waren oder wann er sie zum ersten Mal getroffen hatte. Er erinnerte sich nur daran, dass es an einem Sommertag gewesen war.

Die Sonne brannte heiß von einem azurfarbenen Himmel herab. Von irgendwoher erklang Vogelgezwitscher und über ihm wölbte sich das ausgreifende Astgewirr eines sehr alten Apfelbaumes, dessen Blätter und Zweige ein kühlendes schattiges Dach über ihm ausbreiteten.

Tesla saß in dem kniehohen Gras unterhalb des Baumes und beobachtete den Flug eines Bienenpaares, das über kniehohe Grashalme hinwegschwirrte und dem süßlichen Geruch Nektar verheißender Blüten folgte. Eine der beiden Bienen wurde plötzlich auf ihn aufmerksam und ging in eine verwegene Rechtskurve über. Sie hielt direkt auf ihn zu und umkreiste dann seinen Kopf. Zunächst noch in einer respektvollen Kreisbahn, dann aber auf einer immer enger werdenden Ellipse. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das kleine sture Biest mit seiner Nase oder einem Ohr kollidieren würde. Sie war verdammt schnell.

Er fuchtelte genervt mit den Händen durch die Luft, aber das Insekt zeigte sich davon völlig unbeeindruckt. Tesla hatte sogar das Gefühl, dass jede Form der Abwehr den fliegerischen Ehrgeiz des Tieres sogar anstachelte. Schließlich kam es ihm so nah, dass er das sonore Brummen der winzigen Flügel dann am lautesten hörte, wenn es wie ein rasender Sputnik über seine Ohrmuschel hinwegrauschte.

Bsss.Bsss.

Na, komme schon, warte nur, bis ich …

BSS.BSS.BSS.

Das kleine Mistviech war doch glatt auf seinem rechten Ohr gelandet. The eagle has landed.

Tesla holte zum alles entscheidenden Schlag aus, doch dann …

Wie aus dem Nichts erschien über der sich vor ihm ausbreitenden Wiesenlandschaft eine neblige Wolke, aus der eine Gruppe silbern schimmernder schemenhafter Gestalten trat, deren Umrisse merkwürdig diffus blieben. Mal schienen sie gegenständlich, dann wieder zerflossen ihre Formen, als wollten sie sich die Fremden auflösen.

Die Unbekannten nannten sich Gibb. Wenn ihre Konturen etwas schärfer hervortraten, glaubte Tesla, um ihre Körper herum Gurte zu erkennen, an denen futuristische Geräte hingen. Er vermutete, dass es sich dabei um Waffen oder andere Apparaturen handelte.

Ihre Sprache, einer der Fremden hatte sich mittlerweile an die Spitze der Gruppe gestellt, klang fremdartiger als alles, was Tesla je zuvor gehört hatte und dennoch verstand er sie zu seinem eigenen Erstaunen.

„Ich bin Qaishen, der … Führer der Gibb. Wir sind an Deinem Fortkommen interessiert, deshalb sind wir hier. Nun höre uns zu …“

Eine Stunde später saß Tesla wieder im Oval Office, vor ihm auf dem Schreibtisch das Pendelspiel mit den silbern glitzernden Metallkugeln. Vorsichtig hob er eine der Kugeln an, dann ließ er sie gegen die anderen stoßen. Fasziniert betrachtete er die Schwingbewegungen.

Klack. Klack. Klack.

Hihi. Wie schön es doch war, nichts zu tun und sich einfach nur treiben zu lassen. Ungestört von lästigen Gedanken oder penetranten Schwachmaten.

Er sah nicht, dass ihn zwei Secret-Service-Mitarbeiter, ein untersetzter Kerl mit dunkler Brille und eine zwei Köpfe kleinere Blondine mit Pferdeschwanz, durch das Fenster vom Rose Garden aus beobachteten. Der stämmige Typ schüttelte amüsiert den Kopf.

Tesla weilte in Gedanken ganz woanders. Die Fremden waren seine Förderer und meinten es gut mit ihm, hätten sie ihn sonst aufgesucht und das Gespräch gesucht? Niemals.

Obwohl ein diffuses Gefühl ihn davor warnte, den Gibb zu sehr zu vertrauen.

Sie stellten das Fremdartigste dar, das er sich vorstellen konnte und entzogen sich auf rätselhafteste Art jeder eingehenden Beschreibung. Sie ähnelten keinen wirklich lebenden Wesen, viel mehr Schemen, die nach Belieben kamen und verschwanden und die weder richtige Gesichter noch Gliedmaßen zu haben schienen. Immer wenn er einen von ihnen näher betrachten wollte, wurden dessen Umrisse unklar.

Tesla sprach die Fremden bei einem späteren Treffen darauf an. Natürlich hatten sie auch dafür eine Begründung parat. Sie wollten sich ihm nicht in ihrer realen Gestalt zeigen, weil ihr wahres Aussehen seinen Verstand überfordere. Dennoch habe man nach eingehender Prüfung ihn auserwählt, um das Licht auf die Welt zu tragen.

Bolivien.

Daniel Schaendler befand sich in einer 2,40 Meter mal 1,20 Meter großen Zelle. Unruhig wälzte er sich auf der Pritsche mal auf die linke Seite, dann wieder auf die Rechte.

Ich muss Ruhe finden, wenn ich unsere Flucht überstehen will.

Schaendler dachte an seine Freundin Margo, die ein paar Zellen weiter einquartiert war, so wie ihre gemeinsame Freundin Anna.

Seit ungefähr zwei Monaten – das Zeitgefühl war ihm abhanden gekommen so wie seine Armbanduhr – wurden sie der Besserungsanstalt gefangen gehalten, die zu einer von Jeffrey Teslas berüchtigten Colonias gehörte. Umerziehungslager hätte es besser getroffen, dachte Schaendler.

Seit Stunden versuchte er einzuschlafen, aber es wollte sich einfach kein Müdigkeitsgefühl einstellen. Der filzigen Decke, unter die er gekrochen war, gab er daran einen Teil der Schuld. Das Ding kratzte auf der nackten Haut wie ein ausgefranster Kartoffelsack, zumindest stellte er sich vor, dass der sich so anfühlen musste.

Immer wieder rezitierte Daniel in Gedanken eine Art Mantra, das ihm als Kind immer geholfen hatte einzuschlafen, wenn er plötzlich mal wieder aufgewacht war, weil er in einem Albtraum von einem Haus gestürzt war. Bis er eines Tages – ebenfalls im Traum – feststellte, dass er nicht starb und so gut wie unsterblich war. Von da an kam der Traum nie wieder. Aber seine Einschlaftechnik behielt er. Relax, Relax hämmerte er sich dann ein, so wie jetzt in der Zelle, darauf hoffend, dass die Augenlider einem geheimnisvollen Mechanismus folgend zuklappten, aber der wohlig schwere Mantel herbeigesehnter Mattigkeit blieb eine Hoffnung. Stattdessen hämmerten die Bilder der vergangenen Tage durch seinen Kopf.

Unzählige Male waren sie zu einem Verhör gebracht worden. Von Männern mit dunklen Kapuzen und stets den selben Fragen:

Warum habt ihr euch gegen uns gestellt? Wer hat euch dazu gebracht? Habt ihr Komplizen? Wenn ja: Wo sind diese? Und so weiter und so fort.

Natürlich beschäftigte sich das Unterbewusstsein mit den Ereignissen, selbst wenn er bewusst gar nicht an die Verhöre dachte. Warum also wunderte er sich darüber, dass er nicht einschlafen konnte?

Daniel drängte die Erinnerungen beiseite. Eine Spinne hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Sie baumelte an einem dünnen Faden, der seinen Ausgangspunkt an der Zellendecke hatte, nur wenige Zentimeter vor seinem Kopf, verharrte kurz, als ob sie seinen Blick erwiderte, und spulte sich dann weiter an dem Faden ab.

Die Spinne hatte ihm einiges voraus. Sie konnte sich als frei bezeichnen. Ob sie sich dessen bewusst war?

In einer Stunde erfolgt der morgendliche Weckruf zum Waschen. Aber den werden wir nicht mehr erleben, wenn alles glatt geht.

Schaendler wandte seinen Blick von der Spinne ab. Stattdessen musterte er die von zahllosen Graffiti ehemaliger Insassen übersäte Zellenwand. In die kreidige Deckschicht geritzte Kerben. Zeichen der Tage, Wochen oder Monate unfreiwilligen Aufenthalts in diesem elenden Verließ. Umkränzt von krakeligen Zeichen, Buchstaben und Worten, die mitunter keinerlei Sinn ergaben. Als hätte ein Kind zu schreiben versucht, in einem Moment der Langeweile oder einem frühen Akt aufkommender Kreativität. Ein Galgen war darunter, auch mehrere Kreuzsymbole. Hatten einige an diesem Ort Abschied nehmen wollen? Daniel registrierte, wie sich die kleinen Härchen auf seinen Armen aufstellten. Dieser verflixte Ort war eine Vorhölle.

Genau auf seiner Kopfhöhe prangte das abstrakte Symbol eines Fisches, in die Wand geritzt mit irgendeinem spitzen Gegenstand, vielleicht einem Löffel oder einer Gabel, wer konnte das schon sagen? Das Mitnehmen von Geschirr aus dem Speisesaal wurde hart bestraft, hatte es dennoch jemand gewagt?

Der Graffiti-Fisch erinnerte Daniel an die Symbole der frühen Christen, die im ersten und zweiten Jahrhundert nach Jesus Tod vor ihren Verfolgern in den Katakomben Roms Zuflucht gesucht hatten. Das Symbol war ihr Erkennungszeichen. Was für eine absurde Situation, ihren Aufenthalt in der Colonia mit dem der Christen in Roms Untergrund zu vergleichen, dachte Daniel, der den Gedanken an Schlaf endgültig aufgegeben hatte. Er wälzte sich auf die andere Seite, nebenbei registrierend, dass die Spinne samt Faden verschwunden war.

Die Holzpritsche, auf der Schaendler lag, reichte fast von einem Ende der Zelle bis zum anderen. Lediglich zwischen dem Fußende der Pritsche und der Zellentür befand sich ein kleiner Freiraum, in dem ein Eimer stand, der von anderen Insassen vor ihm wohl zur Notdurft verwendet worden war. Das jedenfalls schloss Schaendler aus den bräunlichen Resten einer festgebackenen Kruste von Exkrementen an der Innenseite des Eimers.

Er bevorzugte es, die richtigen Toiletten an der Außenseite des Zellentraktes aufzusuchen, wozu er jedes Mal einen der Wachmänner rufen musste, die in unregelmäßigen Abständen über die Flure patrouillierten. Sie begleiteten ihn dann nach draußen, immer penibel darauf achtend, dass die für den Toilettengang vorgesehene Zeit von maximal fünf Minuten nicht überschritten wurde.

Die Lagerleitung hatte gedacht, ihn, Anna und Margo zu brechen, als sie sie eine Woche zuvor unangekündigt vom Gemeinschaftsschlafsaal zu den Einzelzellen bringen ließ. Sie würde früh genug erfahren, dass dem nicht so war.

Schaendler ballte seine Hände unter der Filzdecke zu Fäusten und schloss die Augen. In Kürze würde einer der Wachmänner, die Visite war überfällig, einen Blick in die Zelle werfen und dazu das Licht anknipsen. Dann musste er Schlaf vortäuschen. Und wenn alles gut ging …

Drei Stunden später.

Anna Sikorski, Daniel Schaendler und Margo Stotewskaya blickten auf die vor ihnen liegende Hochebene aus Abermilliarden feinster weißer Kristalle, die das Sonnenlicht brutal reflektierten. Sie konnten kaum glauben, was sie da sahen. So weit der Horizont auch reichte, nichts als Weiß. Allenfalls ganz am Ende, wo der Himmel die Erde zu berühren schien, die vage Andeutung eines ockerfarbenen Bandes. Als hätte der Allmächtige über der Gegend eine Packung Lenor Ultra White ausgeschüttet, um sie von allem Dunklen zu befreien. Zurückgeblieben waren Myriaden kleinster Salzteilchen. Der größte Salzsee der Welt – der Salar de Uyuni. 10.000 Quadratkilometer groß und in 3500 Meter Höhe gelegen. Den Namen hatte der See von der angrenzenden Stadt Uyuni, die den Ausgangspunkt für viele Reisen von Touristen in dieser Region bildete und die die unterschiedlichsten Arten von Abenteurern und Aussteigern anlockte, die in diesem Nirgendwo ein Irgendwo für sich suchten. Genauso gut hätten sie eine Flucht durch das Death Valley wagen können, dachte Daniel. Hatten sie sich verkalkuliert? Er versuchte, die Wahrscheinlichkeit für ein Gelingen ihrer Flucht in eine mathematische Formel zu bringen, ohne dass seine Begleiterinnen ihm dies gleich ansahen, weil sich auf seiner Stirn mal wieder grüblerische Falten bildeten, die immer dann in Erscheinung traten, wenn er Berechnungen anstellte, die für andere Menschen kaum nachvollziehbar waren, denn er war auf dem Gebiet ein Genie. Nach wenigen Sekunden ließ er von dem Vorhaben ab. Es gab zuwenig feste Variablen, um daraus verlässliche Schlüsse ziehen zu können.

Daniel rief sich in Erinnerung, was er über die Gegend in dem Lager aufgeschnappt hatte, wenn sich ihre Mitinsassen beim Mittagessen unterhalten hatten. Es war nicht allzu viel, aber besser als nichts. Der See, der die schiere Masse von zirka zehn Milliarden Tonnen Salz umfasste, bildete einen der unwirklichsten Plätze der Erde. An seinem Ufer gab es einen verlassenen Eisenbahnfriedhof mit mehr als 100 Jahre alten Waggons und Lokomotiven, ein vollständig aus Salz errichtetes Hotel, das als Touristenmagnet fungierte, sowie den Vulkan Tunupa. Das war es dann aber auch schon mit den Besonderheiten.

Aus genau diesem Grund hatte Jeffrey Teslas Organisation dort auch das Lager eingerichtet, in dem die sie mehrere Wochen interniert worden waren: die Colonia Tolstoi. Ein Ort, der auf keiner Karte der Welt verzeichnet war. Eine Ansammlung erdfarben angestrichener Baracken, die sich kaum von der Umgebung abhob, oder: ein Umerziehungslager für besonders schwere Fälle, wie es Tesla nannte, das wussten sie von den Wächtern.

Mit den besonders schweren Fällen waren Mitarbeiter seiner Organisation gemeint, die irgendwann nicht mehr das gemacht hatten, was er von ihnen erwartete. Um die Abweichler kümmerte sich in der Colonia Tolstoi Personal, das in jedem Folterfilm eine gute Figur abgegeben hätte.

Auch Anna Sikorski, Daniel Schaendler und Margo Stotewskaya waren auf Geheiß Teslas in das Lager gebracht worden, um wieder für die Zwecke des Geheimbundes nutzbar gemacht zu werden. So hatte es ihnen die Leitung der Colonia kurz nach der Einweisung in das Lager erklärt, als sie aus dem langen Schlaf erwacht waren, in dessen sich quälend langsam dahin ziehenden Stunden sie von Deutschland nach Südamerika entführt worden waren.

Es hatte nicht lange gedauert, bis sie erfuhren, was die Lagerleitung unter Nutzbarmachung verstand.

Sie alle drei, die alle über besondere Gaben verfügten, wurden einer Gehirnwäsche unterzogen, deren Methoden gut und gern einem Handbuch für Psycho-Folter hätten entstammen können. Licht während der Schlafperioden, über Stunden hinweg dieselben Fragen, mal extralanges Hocken, dann wieder Stehen mit erhobenen Händen vor einer gekalkten Wand, die aussah wie der letzte Ort vor der Himmelfahrt. Alles wie aus einem schlechten Krimi. Nur ist es die verdammte Wirklichkeit, dachte Daniel verbittert, während er robotergleich einen Fuß vor den anderen setzte, den Blick starr auf den Punkt am Horizont gerichtet, wo sie ein Forschungslager vermuteten. Erreichten sie es, konnte die Flucht gelingen. Aber war dies angesichts ihres havarierten Jeeps realistisch? Daniel spuckte auf den Boden, fast wie ein Statement stolzen Trotzes. Jetzt bloß nicht aufgeben, um keinen Preis.

Er achtete darauf, nur durch die Nase zu atmen und den Mund geschlossen zu halten. Irgendwo hatte er mal gelesen, dass dies den Feuchtigkeitsverlust minimiere.

Doch die Bilder der hinter ihnen liegenden Wochen ließen sich nicht so einfach vertreiben wie welkes Laub mit einem Rechen.

Einen Monat nach ihrer Einlieferung hatten sie verabredet, sich vorgeblich in ihr Schicksal zu fügen, aber nur, um nach wochenlanger Einzelhaft wieder zusammenkommen zu können. Bei mehreren Mittagessen, die in einem großen Saal und wie stets unter den misstrauischen Blicken von Teslas Wachleuten stattfanden, beschlossen sie die Flucht. Früh am Morgen, noch vor Sonnenaufgang, wollten sie es wagen, und so kam es auch.

Nach dem morgendlichen Appell, bei dem alle Insassen vor die Tür ihrer Zelle treten und bei Aufruf ihres Namens mit einem Hier antworten mussten – wehe, es kam zu leise daher –, hatten sie einen der Wachmänner überwältigt. Dann ging alles so schnell wie im Flug, unwirklich und doch wahr. Die Flure entlang, Treppen hoch, Treppen runter, über den Hof zur Baracke des Wachtrupps, in der zu dieser Zeit nur ein Mann war, weil die anderen frühstückten. Sie entwendeten ihm den Schlüssel für einer der Range Rover, die zum Fuhrpark des Personals gehörten.

Nach etwa drei Kilometern jedoch quittierte die Blechschüssel, begleitet von einem letzten bockig aufbäumenden Blubbern des Motors, ihren Dienst. Sie blickten unter die Motorhaube, aber die Ursache blieb ihnen verborgen.

So waren sie zu Fuß weiter in Richtung des imaginären Punktes am Horizont des Salzsees gelaufen, immer stur geradeaus, wo sie einen Haltepunkt für Touristenbusse oder das Forschercamp vermuteten, am gegenüberliegenden Ufer des Salar de Uyuni, wo das gleißende Weiß enden musste. Eine gefühlte Ewigkeit entfernt. Über einen Ozean aus Salzes. Der pure Wahnsinn. Anders konnte man es nicht bezeichnen. Die frühen Stunden auf dem See waren von klirrender Kälte geprägt. Und von Angst und Hoffnung. Immerhin hatten sie Jacken aus dem Fundus der Lagerkleidung entwenden können, die ein wenig vor dem Frost schützten.

Unsere Lagerkameraden werden es uns sicher verzeihen, dachte Schaendler.

Die Sonne war ein brutaler Gegner. Was anfangs noch wie ein malerisches Naturschauspiel auf sie gewirkt hatte, ein zartes purpurnes Band über dem Horizont, verwandelte sich rasch in ein Fiasko aus sengender Hitze und zunehmender Desorientierung.

Gefangen an diesem Unort, der nur eines zu verheißen schien: einen qualvollen langsamen Tod. Ameisen gleich auf glutheißem Boden.

Hey, schau her, du kannst mir nicht entkommen. Leg dich einfach hin, dann geht es schneller und du musst nicht soviel leiden!

Daniel biss sich auf die Lippen. Wenn er sich jetzt fatalistischen Gedanken hingab, konnte er genauso gut gleich aufgeben. Aber das kam nicht in Frage.

Der Salzsee reflektierte das gleißende Licht ohne Gnade, seit sich die Sonne langsam immer weiter himmelwärts vorarbeitete.

Es bleibt wenig Zeit, bis wir kaum noch etwas sehen werden. Und bis wir entdeckt werden.

Schaendler schätzte, dass die Lagerinsassen in diesem Moment zum Frühstück befohlen wurden, falls der normale Zeitablauf im Camp nach dem Entdecken ihrer Flucht noch aufrechterhalten worden war.

Die Insassen mussten dabei aus ihren Baracken über einen Hof zum gemeinsamen Essensraum laufen. Am Rande des Hofs, vor der Baracke der Lagerleitung, waren die Fahrzeuge geparkt.

Der fehlende Rover wird auffallen, genauso wie der betäubte Wachmann in dem Turm am Eingangstor und der andere, den wir…

Daniel dachte mit Schaudern daran zurück, wie seine Partnerin Margo den Wachmann am Ausgang des Lagers zunächst bezirzt und dann mit einem wuchtigen Schlag gegen die Schläfe außer Gefecht gesetzt hatte. Wäre dies gescheitert, wären wir mit Sicherheit nicht mehr am Leben. Auch wenn Teslas Weisung lautete, uns am Leben zu lassen. Für Aufwiegler im Sprachgebrauch der Organisation gilt dies unter Garantie nicht.

Daniel Schaendler blickte über die schier endlose weiße Ebene vor ihnen. Er hob seine Rechte als Blendschutz gegen das grelle Licht an die Augenbrauen, dennoch konnte er außer einem Flimmern am Horizont kaum etwas erkennen, ebenso beim Blick zurück. Ihr Fluchtfahrzeug war längst außer Sichtweite geraten. Würden sie sich verlaufen, vielleicht sogar im Kreise gehen, wie es oftmals Verirrten in der Wüste erging? Schaendler flehte inständig darum, dass das Schicksal etwas Besseres für sie bereit erhielt.

Er hatte sich wie seine beiden Begleiterinnen ein Tuch um den Kopf gebunden und kam sich damit ein wenig vor wie Lawrence von Arabien. Aber außer den Schweiß aufzusaugen, bewirkte es nicht viel. Ein Fes aus Ausdünstungen, mehr nicht.

Daniel war sich sicher, dass die Häscher bereits ausgeschwärmt waren. Mit großer Wahrscheinlich in den anderen Rovern. Die Frage war nur, in welcher Himmelsrichtung die Lagerleitung zuerst suchen ließ. Davon würde es letztlich abhängen, wie viel Zeit ihnen noch blieb. Sie hatten eine falsche Spur gelegt, waren eine Zeit lang in eine andere Richtung als die ihrer eigentlichen Fluchtroute gefahren. Solange, bis die Reifenspuren auf dem Salzsee nicht mehr zu sehen waren, weil der Untergrund zu hart wurde. Da hatten sie die Richtung gewechselt.

Einen kleinen Vorteil für sie gab es zumindest. Fahrzeuge hinterließen auf dem getrockneten Salz nur schwer erkennbare Spuren. Um ihnen zu folgen, musste man sich selbst sehr langsam fortbewegen; darin lag ihre Chance zu entkommen.

Schaendler, der ein Mathematikgenie war, hatte es irgendwann – stoisch Fuß vor Fuß, immer durch die Nase atmen – doch getan und die Wahrscheinlichkeit des Gelingens ihrer Flucht berechnet. Er war auf einen niederschmetternd geringen Wert gekommen, deutlich unter 50 Prozent. Wenn er sich die Konsequenzen vor Augen führte, schnürte es ihm die Kehle zu. Er hatte es Anna und seiner Partnerin Margo nicht erzählt.

Mit Wehmut dachte er an seine Pläne für ein gemeinsames Leben mit Margo, mit Kindern und einem Zuhause, in dem man sich wohl fühlen und entspannt der Zukunft entgegenblicken konnte. Fern des Albtraumes aus Angst und Bangen auf dieser unendlichen Scholle aus Salz und Verderben.

All das hat Jeffrey Tesla zerstört.

Für einen kurzen Moment erinnerte er sich der schrecklichen Bilder in der Colonia. Als er und seine Begleiterinnen unter schwebehaubenartigen Apparaturen hatten Platz nehmen müssen. Sie ähnelten Fönen aus den Friseursalons der 50er- und 60er-Jahre. Mit kurvigen Formen aus Chrom wie die Kotflügel alter Buicks und Cadillacs. Auf einer Vernissage hätten sich Bilder von ihnen gut verkaufen lassen, nur würden bei dieser sicher keine Sektgläser geschwenkt.

Die Funktionen der „Föne“ in der Colonia Tolstoi war eine völlig andere. Sie hakten sich in ihren Geist genommen und sollten ihren Willen brechen.

Die drei jungen Leute kannten entsprechende Apparaturen aus der gemeinsamen Zeit auf einem Internat im Norden Ostdeutschlands, wo ihre geistigen Fähigkeiten, die jene normaler Menschen weit übertrafen, mit Hilfe der Föne gestärkt worden waren.

In der Colonia dagegen wurden die Schwebehauben-Apparaturen anders eingesetzt. Die Maschinen hämmerten immer wieder dieselben Hypno-Suggestiv-Befehle in ihren Geist: Kooperiert. Widerstand ist sinnlos.

Immer und immer wieder.

Daniel, Margo und Anna hatten gegen die unheimliche Kraft der Maschinen angekämpft und frühzeitig eine Art geistiger Kapitulation simuliert, weshalb ihre Gehirne nicht mit der vollen Energie der Hightech-Apparaturen bestrahlt wurden. Daniel war sich sicher, dass dies allein ihren freien Willen bewahrt hatte, obwohl er das Wort freier Wille nicht mochte. Er hielt den Menschen für unfrei vom Moment seiner Geburt an. Aber in einem relativen Sinne ließ er den Begriff gelten, ganz der Mathematiker, der er war.

Er verdrängte die Erinnerungen und korrigierte den Sitz des Kopftuches. Schon eine ganze Zeit lang musste ein Zipfel des schweißnassen Tuches vor seinen Augen hin und her gependelt haben. Er hatte es erst jetzt bemerkt. Sie waren wirklich am Ende, wenn sie nicht einmal mehr solche Kleinigkeiten bemerkten.

Um dem Wahnsinn auf dem Salzsee zu entkommen, mussten sie ihre ganze Energie auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Daniel wurde durch ein Räuspern Annas von seinen Gedanken abgelenkt.

„Wenn die anderen in unsere Sichtweite kommen, kann ich mich ihrer annehmen.“

Daniel nickte. Er wusste, was Anna meinte. Die kleine Frau konnte mit ihren geistigen Kräften das Zeitempfínden anderer Menschen beeinflussen. Doch eigentlich musste sie dazu direkten Augenkontakt zu der zu beeinflussenden Person haben. Waren ihre Fähigkeiten derart stark gewachsen, dass dies nun nicht mehr nötig war? Aber spielte das eine Rolle?

Vielleicht konnte Anna sie aus ihrer Bredouille retten. Daniel drehte sich um. Noch sah er hinter ihnen am Horizont keine kleinen dunklen Punkte, die Fahrzeuge repräsentierten. Aber was bedeutete das schon? Die Sicht auf dem Salzsee war durch das gleißende Licht alles andere als normal. Möglicherweise sahen sie ihre Häscher nur nicht, weil der flimmernde Balken am Horizont sie verbarg. Aber im Grunde spielte auch dies keine entscheidende Rolle. Es gab Zurück. Der Ort von dem sie geflohen waren, verkörperte das Böse schlechthin. Es gab nur ein Vorwärts. Weiter, immer weiter, um jeden Preis.

Russland, nördliche Kurilen, Atom-U-Boot „Tomsk“.

Das nervenaufreibende Piepen der Lautsprecher, in das sich immer wieder übersteuerte Rückkopplungen und Knackgeräusche wie von einem schlechten Reglerpult mischten, wollte einfach nicht verstummen.

Das wievielte Mal war das eigentlich? Wenn man es genau betrachtete, dann befand sich das U-Boot seit dem Auslaufen in einer nicht enden wollenden Übung. Und das entsprach wohl ziemlich genau dem, was der Kommandant des Bootes bei der letzten Durchsage als den Zustand permanenter Gefechtsbereitschaft beschrieben hatte.

Pater Ignatius Fjodorow empfand angesichts dieser Vorgänge größte Sorge. Einerseits gehörte er als Priester der russisch-orthodoxen Kirche natürlich nicht zu der Besatzung und unterlag folglich auch nicht dem militärischen Befehlskodex, andererseits war er in dieser stählernen Röhre auf Gedeih und Verderb dem selben Schicksal ausgeliefert wie alle anderen an Bord – und damit auch den Befehlen des Kapitäns, mochten diese bloßer Routine folgen oder nicht, was machte das am Ende für einen Unterschied? Wobei dem Wort Ende eine ganz besondere Bedeutung zukam, wie Fjodorow fand. Dutzende Meter unter der Meeresoberfläche, zwischen Kalmaren, Quallen und anderem Getier, so genau wollte er gar nicht wissen, was alles außerhalb des stählernen Druckkörpers durch die Schwärze des Meeres schwamm.

Den Kapitän hatte er bisher noch nicht getroffen, was dem sonst genau beachteten Protokoll widersprach, dem zufolge Fjodorow sich als Militärseelsorger nach Betreten des Bootes beim kommandieren Offizier zu melden hatte. Dass es dazu nicht gekommen war, lag nicht an Fjodorow. Der Kapitän hatte sich mit der Begründung, auf der Brücke unentbehrlich zu sein, durch seinen Stellvertreter entschuldigen lassen, einen kränklich blass aussehenden Offizier, der aussah, als sei er seit Jahren nicht mehr aus dem U-Boot gekommen.

Fjodorow hatte zunächst gedacht, dass das ungewöhnliche Verhalten des Kapitäns der Hektik des Bordbetriebes oder schwierig auszuführenden Befehlen geschuldet war. Aber je mehr Zeit seit dem Auslaufen verstrich und der Kapitän weiterhin nur ein Phantom, eine Art Kapitän Ahab blieb, für dessen Anwesenheit als Beleg nur die markigen Lautsprecherdurchsagen herhalten konnten, desto stärker wurde Fjodorows Überzeugung, dass die Fahrt der Tomsk unter keinem guten Stern stand. Dafür sprach auch das Verhalten der Besatzung. Es verging kaum noch eine Stunde, in der nicht irgendein Matrose zu ihm kam, um den Segen des Herrn zu erhalten.

Als Militärseelsorger, der auf vielen Schiffen seinen Dienst versehen hatte, wäre ihm das an sich nicht merkwürdig erschienen, schließlich gab es an Bord immer ein paar Gläubige. Aber auf der Tomsk war nichts normal.

Das strategische Atomwaffen-U-Boot folgte seit mehr als zwei Wochen in Schleichfahrt einem Kurs, der einzig dem Kapitän bekannt war. Während dieser Zeit hatte Fjodorow gefühlt so ziemlich jeden an Bord kennen gelernt. Es musste ein Sonntag gewesen sein, so leicht war das in der hermetisch abgeschlossenen und der Normalität des Landlebens entrückten Welt des U-Boots nicht feststellbar, da war er nach einem ausgiebigen Essen zu seiner Kajüte zurückgekehrt und traf davor auf einen ganzen Pulk wartender Besatzungsmitglieder, die alle zu ihm wollten.

Habe beim letzten längeren Landurlaub ein Mädchen geschwängert, einen Kameraden bestohlen, mich zu lange nicht bei meinen Eltern nicht gemeldet, meine Freundin im Stich gelassen. Und so weiter und so fort.

Alles für den Fall, dass… Aber das sprach niemand vor versammelter Mannschaft aus, das brachte Unglück. Nichts war weniger gelitten an Bord eines Kriegsschiffes als ein Jonas, der den Untergang herbeiredete, das bewies doch schon die Bibel.

Als letzter der Beichtwilligen kam Oleg Ramirow, der Stellvertreter des Kapitäns, zu ihm. Noch blasser als sonst warf er einen scheuen Blick auf den Pater, als überlege er, auf dem Absatz kehrt zu machen, um schließlich aber doch nach kurzem Innehalten auf der Liege gegenüber von Fjodorow Platz zu nehmen.

Unsicher tippte sich Ramirow mit dem Zeigefinger ans Kinn, wie es kleine Jungs bisweilen tun, die etwas Unerlaubtes getan haben und sich dafür vor ihren Eltern rechtfertigen müssen. Als er den Blick des Paters sah, der sich nachdenklich über den Bart strich, nahm Ramirow die Hand herunter. Wenig später jedoch tippte der Finger in einem lautlosen Trommelwirbel wieder gegen das Kinn.

„Ich bin ganz Ohr. Fühlen Sie sich in meiner Kabine wie zuhause…“, sagte Fjodorow mit einer einladenden Geste.

Ramirow nickte etwas verlegen, schlug das linke Bein über das rechte, dann das rechte über das linke, und eröffnete dem staunenden Pater, dass er keine übliche Beichte ablegen wolle. Vielmehr teile er die Ansicht seiner Kameraden, dass etwas bei diesem Einsatz ganz und gar nicht stimme. Das fange schon damit an, dass das U-Boot nicht von einem einfachen Kapitän geführt werde, sondern von Wladimir Kadyrow.

Fjodorow, der sich die ganze Zeit über den Bart sowie das kleine Bäuchlein gestrichen hatte, das der schwarzen Priesterkluft eine ansehnliche Wölbung und ihm die Anmutung eines etwas behäbigen, jedoch gutmütigen Gläubigen verlieh, verschränkte die Arme vor der Brust und wich Ramirows Blick aus. Hatte er sich verhört? Kadyrow an Bord, der dritthöchste Offizier innerhalb der Admiralität? Nun Kommandant eines U-Bootes?

Einen Moment lang war es in Fjodorows Kajüte so still, dass nur das Atmen der beiden Männer sowie das Ticken des Weckers zu hören war, den der Pater stets neben seinem Bett positionierte.

Ramirows Eröffnung wäre ausreichend gewesen, den Moment der Stille ins Unendliche hinaus zu zögern, wenn der Blasshäutige ihm nicht noch mehr offenbart hätte. Jedes Wort, jeder Hinweis über ihre Route ließ ihn befreiter aussehen, dafür verfinsterte sich das Gesicht Fjodorows mit jeder aufgeschnappten Silbe.

Nach dem Passieren Kamtschatkas, der nördlichen Kurilen und dem Durchqueren des Ochotskischen Meeres, liege als Kurs nun das Südchinesische Meer an. Ramirow legte eine kurze Pause ein, während der Zeigefinger am Kinn den Trommelwirbel nun in Richtung eines Stakkatos steigerte, um unvermittelt zu inne zu halten.

BANG! Das war die Zeit für eine Eröffnung. Wenn nicht jetzt, wann sonst?

Dann ließ Ramirow die Bombe platzen. Unter der Mannschaft kursierten Gerüchte, wonach das Boot noch viel weiter fahre, zur syrischen Küste nämlich, wo die Tomsk auf einen russischen Verband unter Führung des russischen Flugzeugträgers Admiral Kusnezow stoße. Fjodorow musste schlucken, während Ramirow weiter redete.

In der Nähe Syriens sei man nicht allein. Dort kreuzten mittlerweile Schiffe aller fünf Atommächte, und wenn man Israel dazurechnete, sogar sechs.

Fjodorow – der sich nicht mehr über den Bart strich, sondern, ohne sich dessen bewusst zu sein, einige der Haare zu einem kleinen Strang verdrillte – versuchte, das Gehörte zu verdrängen und sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Wie schön war doch das Einsiedlerleben im Wald gewesen, damals, nahe der Kurilensee, als lediglich Bären und Lachse zu den Nachbarn zählten. Aber diese Zeit der Stille, der Einkehr und des Friedens schien unwiderruflich vorüber. Er war so in Gedanken versunken, dass er nicht bemerkte, wie Ramirow seine Kajüte verließ. Herr, auf welche Reise schickst du deinen Diener?

Fjodorow starrte auf den kleinen Reisewecker, dessen Sekundenzeiger sich unbarmherzig nach vorn bewegte. Doch eine Antwort des Herrn blieb aus.

Washington D.C.

Die Geheimtreppe, die Jeffrey Tesla vom Oval Office aus hinab gestiegen war, endete rund zehn Meter unterhalb des Weißen Hauses und mündete in einen kahlen, vollkommen auf seine Funktion reduzierten Korridor. Ohne zu zögern folgte Tesla dem Verlauf des Korridors, der von fahlen Neonröhren an den Wänden spärlich ausgeleuchtet wurde. Die Luft roch etwas muffig, beinahe wie in einer Gruft, aber das störte Tesla nicht. Mit federnden Schritten ging er voran.

Der Gang führte zu einem Raum, der vollkommen schwarz wirkte, als sei darin das Licht selbst abhanden gekommen. Und genau so verhielt es sich auch, wie Tesla einst von einem der Gibb erfahren hatte. Der Raum, hatte der Gibb erklärt, sei der Realität entrückt und in einem höherdimensionalen Kontinuum verankert. Was genau dies bedeutete, behielt der Gibb für sich.

Tesla führte dies auf den hohen Grad der in dem Raum verwendeten Technologie zurück, deren Komplexität er vermutlich nicht verstanden hätte. Warum also sollte der Gibb es ihm zu erklären versuchen? Die Gibb waren weitsichtig, das stand außer Frage.

Jeffrey Tesla überlegte, ob der echte Sinclair Cutter von dem samtschwarzen Raum Kenntnis besessen hatte, kam aber nach einigem Abwägen zu dem Ergebnis, dass das wenig wahrscheinlich war. Die Gibb hatten sich ihm allein offenbart. Anders konnte es nicht sein. Er war ihr Auserwählter.

Tesla konzentrierte sich auf das Innere des Schwarzen Raums. Er spürte, dass einer der Gibb anwesend war. Die Luft in der Kammer war von einer unbekannten Energie erfüllt, die die feinen Härchen auf seinen Armen in die Höhe schnellen ließ. Der Gibb selbst jedoch blieb noch schemenhafter, als die Angehörigen dieses Volkes für gewöhnlich auftraten. Wenn er in Kontakt zu ihm treten wollte, musste er die Traumschwelle betreten, eine mattschwarze Bohle, die in der Mitte des Raums zu schweben schien. An beiden Enden war keine Haltevorrichtung zu erkennen.

Als er das erste Mal den Raum betreten hatte, zögerte Tesla, einen Schritt in Richtung der Traumschwelle zu machen. Denn da war nichts mit der Aussicht, irgendwo Halt zu finden.

Auch dieses Mal zögerte Tesla. Bis da ein Wispern war, gefolgt von einem Klick. Und noch mal: klick. Dieses Mal nur lauter.

Tesla wertete es als eine Art telepathisches Fingerschnippen, dann wagte er es. Der Mann, der sonst vor kaum etwas Angst hatte, lief mit aschfahlem Gesicht, vorsichtig Schritt vor Schritt setzend, auf die im Raum vor ihm schwebende Schwelle zu, die Hände zu den Seiten ausgestreckt, beinahe wie ein Trapezkünstler. Doch er fiel nicht. Vielmehr hatte er das Gefühl, auf einem unsichtbaren, leicht ansteigenden Steg zur Traumschwelle zu gelangen.

Tesla schätzte die Breite der Schwelle auf ungefähr einen knappen Meter und ihre Tiefe auf eineinhalb Fußlängen. Die Bohle schwebte im Nichts, nun flankiert von zwei platinfarbenen Haltestangen, die plötzlich da waren und ein kaltes pulsierendes Licht aussandten. Obwohl nichts zu erkennen war, das den Stangen Halt gab, standen sie unverrückbar neben der Bohle Spalier. Wie Wächter aus dem Fundus einer unbegreifbaren Technik.

Jeffrey Tesla hatte das erste Mal lachen müssen, als er die Schwelle betrat. Die Konstruktion wirkte auf ihn wie die kranke Idee eines Irren oder Cartoonzeichners. Dennoch war sie so real wie die Gibb.

Er griff nach den Stangen, so wie er es beim ersten Mal getan hatte. Kurz darauf erklang ein tiefer glockenähnlicher Gongschlag. Tesla wusste nicht, ob es den Ton wirklich gab oder ob er ihn sich einbildete wie das Klicken oder Wispern. Aber darauf kam es auch nicht an. Fakt war, dass der Gong ihn innerlich zutiefst aufwühlte, was erstaunlich war, denn im normalen Leben empfand er so gut wie nichts.

Teslas Bewusstsein wurde von einer unbekannten Macht gepackt und mit unvorstellbarer Wucht in eine Welt jenseits alles Erahnbaren geschleudert.

Bolivien, Salar de Uyuni.

So müssen sich die Siedler in den Planwagentrecks gefühlt haben, als sie auf dem Weg nach Kalifornien das Death Valley durchquerten, schwitzend und am Ende ihrer Kräfte, dachte Daniel Schaendler. Schweißperlen kullerten an seinen Schläfen herunter, aber es wurden weniger. Vermutlich hatte sein Körper immer weniger Wasser zur Verfügung, um Schweiß noch produzieren zu können. Die Trinkflaschen, die sie in der Colonia aufgefüllt hatten, waren längst geleert.

Schaendler blickte zu seinem Gürtel, an dem immer noch die leere Military-Feldflasche baumelte, die er in der Colonia Tolstoi hatte mitgehen lassen. In den Filz, der die metallene Hülle der Flasche umschloss, hatte einer der Vorbesitzer ein AVE MARIA geritzt und darunter, kleiner und in einer anderen Schrift: Jeder Schluck kann Leben retten.

Schaendler schüttelte den Kopf. Warum hing das Ding immer noch an seinem Gürtel, wo doch jedes Gramm unnütz mitzuschleppenden Gewichts Energie verbrauchte? Es musste daran liegen, dass er niemals etwas wegwarf, es war gegen seine innere Überzeugung.

Bei jedem seiner Schritte erzeugte das rundliche und aus Aluminium bestehende Trinkgefäß ein leises Klack klack. Klack klack., wenn es gegen einen der Karabinerhaken an seinem Tragegurt schlug.

„Nun gut, dann mal gegen meine Überzeugung…“

Daniel Schaendler löste die Flasche vom Gürtel und schleuderte sie in einem hohen Bogen von sich fort. Das Geräusch des Aufschlags war merkwürdig dumpf, irgendwie unnatürlich, fand Schaendler. Hätte er es nicht besser gewusst, so hätte er alles um sie herum für die perfide Idee eines ausgeflippten Theaterregisseurs gehalten, der das Durchhaltevermögen seiner Schauspieler in Rahmen einer ausgeflippten Realityshow testen wollte oder den Ideenreichtum seiner Kulissenbauer, je nach dem.

Schaendler leckte über seine Lippen. Oder vielmehr wollte er es. Denn seine Zunge fühlte sich nur noch an wie die pelzige Verlängerung eines angestaubten, lange nicht mehr benutzten Tentakels. Immerhin schienen die winzigen Sinneszellen seiner Zunge noch zu funktionieren. Was er wahrnahm, war der markante Geschmack eines hocharomatischen Salzes, für dessen Rezeptur Salinenbauer ein kleines Vermögen ausgegeben hätten, um es anschließend als Premium-Salz in einem besonders fancy designten Tontigel an übersatte Kunden eines Luxuskaufhauses wie Harrod´s oder Printemps für mehr Geld zu verkaufen. Daniel fiel dazu die französische Cote de Brasse ein, die Küste der Anmut, wie sie genannt wurde. Es gab dort zwei Arten von Salz, grobes und feines. Aber wieso dachte er über derart nebensächliches nach. Verlor er den Verstand? Erstes Anzeichen beginnenden Wahnsinns, verursacht durch Dehydrierung?

„Verdammt, dass schaffen wir nie“, fluchte Schaendler, dem seine Stimme wie die eines Fremden vorkam. Röchelnd, heiser, ausgedörrt und wie aus weiter Ferne an sein Ohr dringend. Überhaupt erschienen ihm alle Geräusche wie gedämmt: ihre Schritte, das stete Wehen des Windes. Selbst der Aufprall der Trinkwasserflasche hatte unnatürlich geklungen.

Schaendler schaute zu Margo, die im Gegensatz zu ihrem sonstigen Aussehen ein grimmiges Gesicht machte. Sie erwiderte seinen Blick mit einem Ausdruck purer Erschöpfung und gleichzeitiger Trotzigkeit.