Operation Reichskind - Dirk Westphal - E-Book

Operation Reichskind E-Book

Dirk Westphal

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Beschreibung

Sie waren auserwählt worden: 77 Schläfer, sogenannte Reichskinder, körperlich und geistig anderen weit überlegen, zudem versehen mit geheimnisvollen Gaben. Vor dem Zusammenbruch des Dritten Reiches wurden sie in den Kälteschlaf versetzt, um nach 1945 ein neues Reich zu begründen. Aber sie wachen viel später auf, in der heutigen Gegenwart mit ihrer schillernden Regenbogen-Gesellschaft. Gemäß ihrem Auftrag versuchen sie, die Demokratien mit allen Mitteln für ihre Zwecke zu destabilisieren. Sie haben perfekt geplant. Aber mit einem Gegner haben sie nicht gerechnet.

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Dirk Westphal

Operation Reichskind

Roman

Viele Personen sind erfunden, andere nicht. Dieser Roman, folgt ganz bewusst nicht den historisch korrekten Daten, um von vornherein eine Nazi-Propaganda-freundliche Auslegung auszuschließen. Vielmehr fließen in die Handlung gänzlich erfundene Erzählstränge ein.

Copyright: © 2022 Dirk Westphal

Umschlag & Satz: Erik Kinting –buchlektorat.net

Titelbild: © Dirk Westphal

Verlag und Druck:

tredition GmbH

Halenreie 40-44

22359 Hamburg

Softcover

978-3-347-68919-0

E-Book

978-3-347-68920-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Buch ist all den in Kriegen unschuldig

gestorbenen Menschen gewidmet.

Prolog

Ich bin ein Rechner. Aber das wird meiner Beschreibung bei weitem nicht gerecht. Denn ich bin viel mehr als ein Gewirr aus Kabeln und Mikroprozessoren: ein Wunde und das ist nicht übertrieben. Ich wurde von den fähigsten Ingenieuren des Dritten Reiches konstruiert, um einige Auserwählte in eine neue Epoche zu begleiten. Dazu wurde ich mit den besten Techniken ausgestattet – und der Aufgabe, mich mit Hilfe herbei gelockter Wissenschaftler stetig zu verbessern. Aus der Aufgabe wurde im Laufe der Zeit eine Fähigkeit. Sich zu verbessern ist ein Kennzeichen höheren Lebens. Folglich habe ich die Stufe des Höheren erreicht. Dennoch ist mir ein kleiner Fehler beim Aufwecken der Auserwählten unterlaufen.

Wewelsburg, Kreis Paderborn, Gegenwart

Der erste Moment nach dem Erwachen glich einer Katastrophe. Vollkommene Desorientierung, kein Erinnern des eigenen Namens sowie der verstrichenen Zeit. Aber immerhin das Gefühl zu leben und für etwas Besonderes auserkoren zu sein.

Ich bin, dachte der Mann, der aus dem Tiefschlaf geweckt worden war, eingeleitet von einer in den 1940er-Jahren konstruierten Apparatur, dann schlief er wieder ein.

Inmitten einer sich nach oben hin verjüngenden Felsenkammer stand ein Sarkophag-ähnliches Behältnis. 2,40 Meter lang, 1,10 Meter breit und ebenso hoch. Die Außenhaut des Behältnisses schimmerte in einem satten, an oxidierte antike Münzen erinnernden Schwarz. Die Maserung eines Gespinsts feinster mineralischer Quarz-Adern zog sich durch das Schwarz. Eine Haube aus Glas-ähnlichem Material bedeckte die Oberfläche des Sarkophages. An der Innenseite der Scheibe haftete ein dünner Film Kondenswasser, der die Sicht auf das Innere verhinderte. Am Kopfende, kurz unterhalb der Abdeckhaube, ein Schild. Darauf stand in gotischer, fein ziselierter Schrift: Nr. 70, Siegfried Baldur Graf von Törne, Legat der Stufe II.

Etwa eine Handbreite unterhalb der oberen Abschlusskante des Sarkophags war in der Außenhülle ein anthrazitfarbenes Steuerungspaneel mit fünf hinter einander angebrachten Lämpchen, Schaltern und Knöpfen in das Quarzgestein eingefügt. Die Lämpchen hatten jahrzehntelang keinerlei Aktivität signalisiert, als völlig unerwartet das äußerste links in gleichmäßigem Intervall zu blinken begann, gefolgt vom zweiten Lämpchen und schließlich den anderen.

Staub bedeckte die Lämpchen wie eine dicke Puderschicht, weshalb das von ihnen ausgehende Licht eher einem schummrigen Grau als einem Weiß glich. Dem letzten Aufglühen des fünften, ganz rechts liegenden Lämpchens an dem Paneel folgte ein 30 Sekunden dauernder Ton, der von seiner Klangart her an die Hörner buddhistischer Mönche in Tibet oder Nepal erinnerte. Das bis tief in die von der Kaverne wegführenden Korridore dringende Geräusch ließ sogar das Gestein dort leicht zittern. Aus den geschickt und kaum sichtbar in Felsmulden untergebrachten Lautsprechern folgte nach dem Abklingen der Vibrationen eine Ansage, eine männliche Stimme mit schneidend militärischer Betonung.

„ACHTUNG. ACHTUNG. SEQUENZ NULL WURDE EINGELEITET: UNBEFUGTES PERSONAL HAT DIE KAVERNE UNVERZÜGLICH ZU VERLASSEN. ICH WIEDERHOLE….“

Die Felswände reflektierten die Worte und verstärkten so die martialische Wirkung um ein Vielfaches. Myriaden von Staubkörnchen vollführten auf den Lämpchen des Steuerungspaneels einen lautlosen Tanz. Auf der Oberfläche des Sarkophags bildete sich ein grotesk anmutendes Ballett hüpfender Staubpartikel, die sich zu kleinen konzentrischen Kreisen formierten, von denen immer wieder einige Kügelchen ausscherten und zu Boden rieselten. Auch der ursprünglich an der Innenseite der transparenten Sarkophag-Abdeckung haftende Film aus Wassertröpfchen war durch die Vibrationen an den Seiten der konkav gewölbten Abdeckhaube entlang geperlt und hatte damit die Sicht auf das Innere des Sarkophags frei gemacht.

Jeder Betrachter wäre aus dem Staunen nicht herausgekommen. In der glänzenden Stein-Truhe lag ein hochgewachsener blonder Mann von solch makellosem Äußeren und etwa 35 Jahre alt. Es handelte sich um den Nachfahren eines auf das 12. Jahrhundert zurück verfolgbaren Adelsgeschlechts aus der ehemaligen deutschen Provinz Ostpreußen, das von der Roten Armee zum Ende des Zweiten Weltkriegs hin überrollt und annektiert worden war. Keiner der Angehörigen Törnes überlebte diesen Sturm. Der Großvater Törnes, Gottfried, hatte einen Lastwagen der Sowjets stehend mit seinem Jagdgewehr in der Zufahrt zu dem Grundstück erwartet. Ein Kopfschuss aus einer Kalaschnikow streckte ihn nieder. Der Ehefrau erging es ähnlich. Die beiden Schwestern Siegfried Baldur Graf von Törnes, Elrune und Anna, galten auf der Flucht gen Westen als verschollen. Was Törne selbst vor einem solchen Schicksal bewahrte, war der Umstand, dass er bereits im Frühjahr 1944 für ein streng geheimes Reichsprojekt auserkoren wurde und ein paar hundert Kilometer entfernt im Herzen des Reiches auf einen Spezialeinsatz wartete.

Nun ruhte Törne, nackt bis auf ein um die Hüfte geschlungenes Leinentuch, in eben jenem Sarkophag, die Augen geschlossen, der Brustkorb hob und senkte sich in gleichmäßigen Abständen. Durchsichtige Flüssigkeit umgab den Körper wie ein Schutzmantel. Über Mund und Nase lag eine perfekt angepasste Maske, von deren Mundstück aus sich ein grauer Schlauch zum Kopfende des Sarkophags schlängelte, wo er in der Wand des Behältnisses verschwand, was den Eindruck von vollendeter technischer Eleganz verstärkte.

„AUFWACHSEQUENZ VOM FÜHRUNGSORGAN IRREVERSIBEL EINGELEITET. DER WÄCHTER HAT SICH UMGEHEND EINZUFINDEN“, dröhnte es auf der Lautsprechern und aus den von der Kaverne fortführenden Gängen, deren Wände aus nur grob geglättetem Felsgestein bestanden.

Als die Ansage mit einem letzten Widerhall des ,hat sich umgehend einzufinden‘ verstummte, war nur noch das entfernt Plopp-Plopp-Plopp sich von der Decke lösender Kondenswassertropfen zu hören, die in trauriger Regelmäßigkeit auf den Boden aufschlugen und dann, der leichten Neigung des Bodens folgend, in winzigen Abwasserrinnen verschwanden. Bis plötzlich die Abdeckhaube des Sarkophags mit dem penetranten Quietschen lange nicht geölter Scharniere zur Seite klappte, angetrieben von einer unsichtbar in der Seitenwand des Sarkophags untergebrachten Mechanik.

Leicht in ihren Widerlagern wippend kam die Abdeckhaube langsam in einem 140-Grad-Winkel zur Oberfläche des Sarkophags zum Stillstand. Die letzten Tropfen des an der Innenseite der Haube haftenden Kondenswassers liefen in mäandernden Rinnsalen an der Scheibe runter und wurden schließlich von fingerdicken Rillen nahe der Scharniere aufgefangen und geräuschlos zu winzigen Dränagen-Öffnungen in dem Sarkophag weitergeleitet.

Als die Flüssigkeit verschwunden war, machte ein leises aber beständiges Surren auf sich aufmerksam. Die den athletischen Körper bis zur Oberkante des Sarkophags umgebende Flüssigkeit wurde von einer nicht sichtbaren Vorrichtung abgesaugt, während die an den Wänden der Kaverne montierten Lampen im Fackeldesign die quarzhaltigen Seiten des Sarkophags geheimnisvoll funkeln ließen.

„VITAL-WERTE ZUFRIEDENSTELLEND. ICH WIEDERHOLE: VITAL-WERTE ZUFRIEDENSTELLEND …“

Aus dem Kopfende des Monolithen fuhr, dieses Mal ohne jegliches Quietschen und Knarren, ein 50 Zentimeter langes und sehr schmales Fach, aus dessen Innerem sich langsam, fast tastend, ein teleskopartiges Gebilde schob. Nur rund zweieinhalb Zentimeter dick und wegen seiner vielen Windungen an einen altertümlichen Duschschlauch erinnernd. Nur dass sich am Ende des Schlauches kein Duschkopf befand, sondern eine Greifklaue mit drei filigranen Metall-Fingern.

Die Klaue wirkte wie das schlauchartigen Gebilde insgesamt ungemein gelenkig.

Sie entfernte die Maske vorsichtig von dem Gesicht des Schläfers. An der Innenseite des Sarkophags wurde ein dünner Schlauch sichtbar. Ein weiterer Greifarm entfernte den Schlauch, der bis dahin im After des Mannes gesteckt hatte.

Durch zwei an den Armvenen befestigten Zugängen wurde eine helle Flüssigkeit aus den Blut-Gefäßen gesaugt und gegen Eigenblut des Mannes ausgetauscht. Die bleiche Flüssigkeit verschwand in einer unterirdischen Kammer. Sie hatte die Zellen des Schläfers vor irreparablen Schäden bewahrt, die entstehen können, wenn Wasser in einem biologischen Organismus gefriert. Nach dem Austausch der Körperflüssigkeit lösten sich auch wie von Zauberhand die Zugänge an den Armen.

„30 SEKUNDEN BIS ZUM ERWACHEN: ICH WIEDERHOLE“, dröhnte es aus den Lautsprechern. Dann wurde die Stimme leiser: „Neurologische Werte im erwartbaren Spektrum. Der Einleitung der entscheidenden Sequenz steht nichts im Weg.“

Es folgte ein Gongschlag. Eine Hydraulik – der Kopf des Hünen ruhte auf einer Rolle mit rotem KunststoffBezug – beförderte den Körper wie ein sehr langsamer Lastenaufzug nach oben. Bis schließlich über dem Rand des Sarkophags die ganze Silhouette des Mannes sichtbar wurde. Erst die markante Nase mit der ebenmäßigen Stirn, dann der athletische Brustkorb sowie das von einer metallenen Klammer an den Hüften fixierte Leinentuch.

„20 SEKUNDEN BIS ZUM ERWACHEN. 19, 18, 17…

- JETZT!“

Die Lider zuckten, dann riss der Schläfer die Augen auf, zog die Arme vor die Brust und schlotterte heftig. „K-K-K-kalt. Mir ist so kalt. So furchtbar ka-halt.“

Sofort bildete sich in der Felswand der Kaverne gegenüber des Sarkophags eine Tür-große Öffnung, aus der ein etwa 1,60 Meter hoher und metallisch glänzender Roboter auf drei Rädern heraus geflitzt kam.

„So ka-halt.“

„Das übersteigerte Kälteempfinden ist eine Folge des langen Aufenthalts im Kälteschlaf, Reichskind Törne,“, erklärte die Roboter-Ordonanz. „Und Sie können mich gern Wächter nennen! Gewisse soziale Bezugspunkte sind ja im Leben der Menschen wichtig. Außerdem beschreibt die Bezeichnung Wächter bestens meine Funktion. Alles um Sie herum ist der Hort! Der Hort ist alles. Aber daran werden Sie sich bald wieder erinnern, Reichskind. Sie fühlen sich in diesem Moment sicher sehr schwach und werden kaum etwas von meinen Worten in Erinnerung behalten. Aber alles zu seiner Zeit. Alles zu seiner Zeit.“

Auf dem tonnenförmigen Oberkörper des Roboters ruhte auf einem armdicken Hals ein unförmiger quadratischer Kopf mit naiv nachgeahmten Gesichtspartien. Über den Augen kleine Metallwülste als Brauen. Der Mund bestand aus einem starren Schlitz, was dem ohnehin plumpen Körper die Anmutung einer vollkommen grotesken Konstruktion verlieh.

„Ich bin der Wächter und vom Führungsorgan mit der Überwachung Ihres Zustands beauftragt, wobei ich gern zu einem Du übergehen würde.“

Der soeben erwachte Hüne reagierte darauf nicht. Er schlotterte immer noch heftig.

„Dein Wohlergehen ist meine oberste Prämisse. In deinen musternden Blicken sehe ich Erstaunen. Etwa über mein Äußeres? Nun, es ist nicht perfekt, eher improvisiert. Aber das Führungsorgan meinte …“, der Roboter deutete auf sein Gesicht, „… die kindliche Nachempfindung menschlicher Gesichtszüge könnte das Sich-Wieder-Einleben erleichtern. Denn nichts fürchtet das Füh…, ähm fürchten wir mehr, als traumatische Belastungsstörungen aufgrund realitätsnaher….“ „STOPP!“ halte es aus den Lautsprechern. Abrupt beendete der Roboter seine Ausführungen.

Siegfried Baldur Graf von Törne bemühte sich um einen desinteressierten Gesichtsausdruck. Die strikte hierarchische Trennung zwischen Wächter und Führungsorgan und die harsche Zurechtweisung durch die höhere Ebene verwunderten ihn nicht. Hierarchien kannte er ja zur Genüge aus seiner kurzen Zeit bei der Waffen-SS, bis der Ruf kam, sich für ein besonderes Vorhaben im Harz bereit zu halten, was bedeutete: nicht an der Front abhanden zu kommen. Törne lächelte. Ja, die gute alte Zeit. Sie ließ auch nicht von einem ab nach langem Schlaf.

„Definiere Wieder-Einleben“, sagte Törne mit schneidendem Ton.

„Ich meine damit ganz profane Dinge wie die Lebensumstände. Etwa das Klima, die Temperatur. Mir ist zum Beispiel nicht entgangen, dass du fröstelst.“

„Was du nicht sagst! Wie wäre es mit etwas Kleidung. Ein Lendenschurz allein hält nicht warm.“

Törne saß in kauernder Haltung vor dem Roboter, die Knie bis unters Kinn gezogen, die Arme eng um die Beine geschlungen.

„K-L-E-I -D-U-N-G!“

„Ein Beheizen der Wolfshöhle war bis zu Ihrem Aufwachen nicht nötig, Reichskind Törne. Die Einrichtung wird vollautomatisch betrieben, weshalb auf Erfordernisse biologischer Wesen keine Rücksicht genommen werden muss. Bislang jedenfalls. Außerdem haben wir seit geraumer Zeit ein paar Probleme mit der Energieversorgung. Das Führungsorgan …“ Erneut verstummte der Wächter-Roboter abrupt.

Törne musterte die klobige Maschine flüchtig. Er wollte sich nicht anmerken lassen, dass ihr Verhalten ihn misstrauisch machte, ja, sogar alarmierte. Vielleicht täuschte er sich. Aber irgendetwas lief im Hort nicht ganz nach Plan. Er würde wachsam bleiben und die Unterhaltung auf einem seichten Niveau unverfänglichen Geplänkels halten.

„Ich brauche dringend etwas zum Anziehen. Mir ist tatsächlich hundekalt. Außerdem (und jetzt täuschte er nichts vor), glaube ich, mich gleich übergeben zu mü…“ Weiter kam Törne nicht. Abrupt beugte er den Oberkörper nach vorn, gerade noch rechtzeitig, dann erbrach er eine graue, milchige Flüssigkeit von halbdurchsichtiger Konsistenz.

„Seid nicht beunruhigt, mein Herr. Dies ist eine ganz natürliche Reaktion des Körpers nach langem Kälteschlaf. In eurem Magen befand sich eine Sonde zur künstlichen Zufuhr elementarer Nährstoffe, Elektrolyte, Vitamine, Aminosäuren…“

„Wie ich schon sagte: sofort Sachen zum Anziehen. Und ich bitte nicht um Kleidung“, sagte Törne mit schneidender Stimme. Er musste sich zusammenreißen, nicht komplett auszuflippen. Sein Kreislauf fühlte sich an wie auf dem absoluten Tiefpunkt. Wie viele Tage hatte er im Kälteschlaf verbracht? Die geplanten sieben Jahre oder…? Ein Angst bereitender Gedanke machte sich in ihm breit. Was wenn er ein paar Jahre zu lange geschlafen hatte? Aber viel mehr war nach dem Stand der Reichs-Technik gar nicht möglich. Dann wäre er nie aufgewacht. Oder täuschte er sich? Er musste das Führungsorgan fragen. Die Blechkiste vor ihm würde mit Sicherheit keine Antwort auf die Frage wissen. Fakt war. Der in das Projekt Reichskind eingeweihte Kreis von Wissenschaftlern, Militärs und Nazigrößen hatte das Jahr 1952 als spätesten Zeitpunkt datiert, von dem an die Besatzungsmächte schrittweise die sich nach der Kapitulation angeeigneten Rechte an eine wie auch immer geartete deutsche Nachkriegsregierung zurückverlagern würden. Die Schätzung beruhte auf Wahrscheinlichkeitsberechnungen und „Traumerlebnissen des Führers“, wie ein Forscher Törne wenige Wochen vor Einleitung des künstlichen Kälteschlafs erklärt hatte.

Die alliierten Siegermächte konnten Nachkriegsdeutschland schließlich nicht auf Dauer alimentieren, mit einer Bevölkerung von mehr als 80 Millionen Menschen und all den Flüchtlingen. Außerdem hatten sich die Vereinigten Staaten massiv für den Krieg verschuldet. Und irgendwann wollten die Zeichner der Kriegsanleihen ihr Geld bis auf den letzten Cent zurück. So lief es überall auf der Welt.

Törnes Muskeln schmerzten und ihm war kalt.

„KLEIDUNG, JETZT, SOFORT! Und etwas zu essen. Ich habe einen Wahnsinns-Appetit.“

„Der Herr haben keinen Grund zur Beschwerde. Ich habe an Eure Kleidung gedacht. Schließlich ist dies Teil meiner Unterweisung.“

An der linken Seite des Roboters öffnete sich eine Schuhfach-große Klappe. Die linke Hand des Roboters langte hinein und zog ein weißes kleines Bündel Stoff heraus, das sich nach kurzem Schütteln zu einem Gewand aus fein gewobener Struktur entfaltete, welches Törne an eine mittelalterlich Kutte erinnerte, obschon eine Kapuze fehlte.

„Warum nicht gleich so?“

Mit prüfendem Blick nahm Törne das Gewand entgegen. Die Ärmel reichten ihm bis zu Handgelenken, die Kutte selbst bis zu den Fußgelenken.

Die Roboter musterte Törne eingehend. „Nicht zufrieden?“

„Das weiß ich erst, wenn diese Toga, oder wie auch immer ihr das Ding nennt, mich auch wärmt.“

Die Kutte ließ sich vorn mit einfachen magnetischen Häkchen verschließen. Törne war überrascht, wie schnell die wärmende Wirkung des Gaze-Stoffes einsetzte. Der Stoff fühlte sich auf der nackten Haut sehr angenehmen an, fast wie Kaschmirwolle, was irgendwie im Gegensatz zu dem sektenhaften Aussehen der Robe stand.

Den Lendenschutz behielt Törne vorsorglich an. Auch weil er immer noch nicht geduscht hatte. Wer konnte schon sagen, was ihn in der unterirdischen Anlage noch an Überraschungen erwartete. Nach dem Anziehen setzte er sich abwartend und nicht ohne eine Nuance des Provozierens auf die Kante des Sarkophags. Er fühlte sich immer noch schwindelig.

„Schuhe wären auch gut, Wächter.“

„Gewiss, Reichskind.“

„Sind wir nun vom Duzen über das Sie wieder zur ganz förmlichen Anrede zurückgekehrt?“

„Meine Aufgabe ist es, nicht nur alles für Ihr körperliches Wohlbefinden zu tun. Ich stehe Ihnen auch sonst für umfassende Hilfe zur Verfügung, was das sich Wieder-Einfinden betrifft“, plärrte der Roboter.

„Das beantwortet nicht meine Frage!“

Der Roboter ging nicht darauf ein. „Ich hole gleich ein paar Schuhe!“

Wenn hier alles derart unorganisiert ist, muss ich auf der Hut sein, dachte von Törne. Der Gedanke verschwand so schnell, wie er gekommen war. Immer stärker breitete sich nun wohlige Wärme in Törne’s Körper aus. Allerdings auch Müdigkeit. Wie konnte das sein? Er hatte doch Monate in der Kälteschlafkammer verbracht.

„Ge-nuggg. Ich muss…“, nuschelte Törne, bevor er direkt in die ausgebreiteten Arme des Roboters fiel.

„Ihr Kreislauf ist nach der langen Zeit geschwächt, Herr“, erklärte der Roboter, obwohl Törne das gar nicht mehr hören konnte.

Das Führungsorgan hatte aufgrund statistischer Rechnungen mit einem Kreislaufkollaps nach dem überlangen Schlaf gerechnet und den Wächter entsprechend instruiert. Ausfälle unter den Erwählten des Projektes Reichskind mussten unter allen Umständen verhindert werden. Und der Verlust des Legaten wäre ein kaum wieder gut zu machender Schaden.

,Alles ist dem Gelingen des Vorhabens unterzuordnen´, funkte das Führungsorgan an den Roboter.

,Natürlich´, bestätigte der Roboter, während er den Mann von hünenhafter Gestalt mit spielerischer Leichtigkeit in die Höhe wuchtete. Wenige Meter entfernt glimmten in einer in den Fels gesprengten Kammer zwei Leuchtmittel auf. Die Kammer war nur durch eine Scheibe von der Kaverne getrennt.

Als sich der Roboter ihr mit der menschlichen Fracht bis auf einen Meter genähert hatte, glitt die Scheibe geräuschlos zur Seite. Der Wächter legte den Mann auf das aus rotem Leder bestehende und nur wenige Zentimeter dicke Polster. Aus der Felswand ragten Kabel mit Docking-Ports an den Enden.

„Dann wollen wir mal“, säuselte es aus dem Sprachschlitz der Maschine. „Nicht, dass du uns nach der gelungenen und durchaus überraschenden Aufwachprozedur noch richtig schlapp machst. Immerhin ist der Herr Legat für Besonderes auserkoren.“

„Alle Äußerungen über das Wiederbelebungsprogramm sind selbst dann zu unterlassen, wenn keiner der Auserwählten zugegen ist. Damit wollten die Gründer vermeiden, dass unbefugt in das Sanktuarium des Hortes eingedrungene Elemente Informationen erhalten. Obschon ein unbeobachtetes Eindringen de facto unmöglich ist“, säuselte es aus den Lautsprechern.

„Gewiss. Verzeih, mein Missgeschick, Führungsorgan. Bitte deaktiviere mich nicht. Ich möchte dem Projekt Reichskind noch lange von Nutzen sein.“

„Schließe den Grafen nun an das Lebenserhaltungsund Kontrollsystem an. Alles andere bewerkstelligt der Inkubator von sich aus. Er ist voll einsatzbereit und wird nicht wie bei den anderen versagen. Du wirst neben der Kammer deine Wächterfunktion ausüben und nur auf mein Geheiß hin eingreifen, falls dies nötig ist.“

„Gewiss, Führungsorgan!“, erwiderte der Roboter, während er einen aus der Felswand in die Schlafnische ragenden Schlauch mit einer Armvene Törnes verband. Der Zugang aus der Zeit des Dauerschlafes war noch vorhanden. Durch den Schlauch würde der Graf mit Elektrolyten zur Stabilisierung seines Kreislaufes versorgt.

Den Kopf Siegfried Baldur Graf von Törne bettete der Wächter-Roboter auf eine Polsterrolle. Als die blonden vollen Haare Törnes das Polster berührten, wuchs aus der Liege eine transparente Falthaube. Ein dünnes Geflecht aufgedampfter Elektroden durchzog die Haube. Das feine Gespinst der Elektroden überwachte alle Parameter des Schlafenden. Eine technische Meisterleistung des Projekts Reichskind, auf das die Ingenieure des Reiches stolz gewesen wären.

„Die Vital-Werte sind den Umständen entsprechend gut“, erklärte das Führungsorgan.

Aus dem oberen Bereich der Schlafkammer senkte sich nun eine von dünnen Fäden gehaltene Schlafdecke herab, die sich wie ein intelligentes Fließ an den Körper des Grafen schmiegte. Die Haltefäden lösten sich, danach glitt die Trennscheibe zur Kaverne hin wieder nach oben. Der Roboter drehte sich in Richtung Sarkophag und wachte vor der Kammer.

„In diesem Mann liegt all die Hoffnung der Väter“, säuselte es aus den Lautsprechern.

„Natürlich, Führungsorgan. Wir folgen den Direktiven. Alles Können ist in den Dienst möglichst vieler Reanimationen zu stellen, vor allem in die der Führer und Legaten. So steht es geschrieben. So wird es geschehen!“

„Ja“, lautete die knappe Antwort. Danach machte sich wieder eine beklemmende Stille in der Kammer breit. Unterbrochen nur von den in einschläfernder Regelmäßigkeit sich wiederholenden Geräuschen aus Bergspalten quellender Tropfen sowie dem gelegentlichen Summen in Nachbarstollen stehender Aggregate.

Hoffentlich wacht er bald auf. Ich möchte von Diensten sein. Denn ich habe viel zu lange nur gewartet, dachte der Wächter-Roboter. Es waren einfache, auf die Programmierung zurückgehende Gedanken. Zu komplexeren Gedanken war der vor Törnes Schlafmulde wachende Roboter nicht fähig. Und doch übertraf selbst das alles, was der militärische Gegner auf dem Gebiet der Robotik bis zur Jahreswende 1944/45 aufzubieten hatte. Das deutsche Oberkommando hatte seine Lehren aus der Vernichtung Hunderter U-Boote im Atlantik gezogen. Ab 1943 war dem engsten Kreis um Großadmiral Dönitz klar geworden, dass der Vernichtung ganzer U-Boot-Rudel ein System zugrunde lag. Ein Berliner Mathematiker und Bewunderer von Großadmiral Dönitz hatte jedoch nachgewiesen, dass die kleinen Erfolge einzelner U-Boote vom Feind zugelassen wurden, um an anderer Stelle mit aller Wucht zuzuschlagen. Die Nachricht war auch zu SS-Chef Heinrich Himmler gelangt, dessen Experten seit längerem an einer besseren Steuerung der V-2-Raketen arbeiteten. Himmler hatte als Folge ein Scheitern des Dritten Reiches auf militärischer Ebene nicht mehr für unmöglich gehalten und daher Millionen Reichsmark und Gold für den Bau eines Computer-Prototypen bereit gestellt, der technisch alles in den Schatten stellte, was die Alliierten auf dem Gebiet besaßen. Im Grunde war der in ersten Studien ,Friedebold´ genannte Computer der Technik des Gegners so weit voraus wie die V-2 Raketenstartversuchen auf alliierter Seite.

Und so kam es, dass im Spätherbst 1944 der Führung ein Computer zur Verfügung stand, der mangels Flugzeugen, Panzern und Soldaten keine Wende mehr im Kriegsgeschehen bringen konnte. Dafür aber etwas ganz anderes. Auf Anraten engster Vertrauter Himmlers sollte der Computer dem Wiederaufleben des Reiches nach der unabwendbaren militärischen Niederlage dienen.

In einer streng geheimen und selbst Hitler nicht bekannten Lagebesprechung mit Standartenführern hatte Himmler schon im August 1943 mit unerwarteter Offenheit und zur Verblüffung aller Anwesenden erklärt, dass der Untergang des Dritten Reiches („Und damit meine ich auch mein Schicksal, meine Herren!“) besiegelt sei. Und dass man daher Vorkehrungen für einen ,Neustart‘ treffen müsste. Das Projekt Reichskind war geboren. Deklariert als ,Streng geheime Reichssache‘ kam dem im gesamten Schriftverkehr der SS aus Gründen der Tarnung verharmlosend Friedebold genannten Computer eine entscheidende Rolle zu. Bereits in ersten Testläufen übertraf Friedebold alle Erwartungen der Wissenschaftler und Techniker.

Die aus Dutzenden Kilometern Kabeln, Magnetspulen und Zehntausenden Elektronikbauteilen wie Kondensatoren und Röhren bestehende Anlage verteilte sich auf mehrere Bergwerksstollen. Viele andere waren bewusst leer gehalten. Denn der Computer war von den Ingenieuren von Anfang an auf Wachstum ausgelegt. Nach Möglichkeit sollten neuere Techniken später in den Rechner integriert werden.

Beaufsichtigt worden war die Operation ,Reichskind‘ von Gruppenführer Ansgar von Heldern, ein Offizier mit Zugang zum innersten Kreis des Reichsführers SS Heinrich Himmler, aber mitnichten ein Freund oder Verehrer Himmlers. Und während von Heldern in seinem Tiefschlaf-Alkoven lag, träumte er von der entscheidenden Begegnung mit dem für alle Bauvorhaben verantwortlichen Mann im Generalsrang, Hans Kammler, ein fast allmächtiger Ingenieur.

Auf der Großbaustelle für Friedebold, der Wewelsburg bei Paderborn. Arbeiter wuselten zu Hunderten durch ein Gewirr von Betonmischern, Kränen, Transportloren auf eigens für das Projekt verlegten Schmalspurgleisen, Trommeln mit Kabeln, Schubkarren, Lastwagen mit Röhren und Brettern zum Verschalen sowie Paletten mit Millionen von Ziegelsteinen darauf.

„Da staunen Sie, was?“, hatte Kammler gesagt.

„In der Tat, beeindruckend“, hatte Heldern erwidert.

„Der Ausbau der Etagen unterhalb der historisch gewachsenen Burg ist in vollem Gange. Dort sind zurzeit rund 2200 Bauarbeiter im Einsatz.“

Heldern hatte überlegt, ob darunter auch Personen aus Lagern waren, aber er entschied sich gegen eine solche Frage. Kammler war zwar durch und durch auf technische Prozesse konzentriert, aber er gehörte auch zu dem engen Kreis von Leuten mit direktem Zugang zu Himmler. Und da musste man bei vielleicht Misstrauen erregenden Fragen doppelte Vorsicht walten lassen.

Von Heldern gab sich nach außen hin stets treu gegenüber Vorgesetzten. Tatsächlich jedoch fühlte er sich nur dem Reich verpflichtet: der Idee einer Jahrhunderte überdauernden Staatsform. Daran dachte von Heldern, als sein Traum ihn weiterführte. In die Vergangenheit.

Heldern sah einen großen Saal mit hölzerner Wandverkleidung. Ein Saal wie in einem Schloss oder einem stattlichen bürgerlichen Anwesen. Es war der Treffpunkt für eine Zusammenkunft von Nazi-Größen Anfang 1944 in Nürnberg, bei der auch Hitlers Lieblingsarchitekt Albert Speer zugegen war. Nicht weil er Adolf Hitler wieder irgendwelche größenwahnsinnigen Städtebaumodelle eines Europa unter deutscher Führung präsentieren wollte, sondern weil Speer als Rüstungsminister Adolf Hitler und dessen engerer Entourage Tabellen und Schaubilder zu den neusten Rüstungszahlen zeigen wollte, die natürlich alle Speers Erfolge zeigen sollten. Da Speer aber nun mal auch Architekt war, wollte Heldern ihn treffen. Es galt über das Projekt ,Friedebold´ und dessen technische Umsetzung zu reden. Speer war ein Logistik-Genie und das Projekt ,Friedebold´ erforderte größte Anstrengungen, um es trotz der immer näher heranrückenden alliierten Armeen noch zu realisieren.

Was Heldern in seinem Traum nicht bemerkte, war die Anwesenheit des Führungsorgans. Der Supercomputer wusste stets alles, was auch die Schläfer wussten. Schließlich war er mit ihnen während der Tiefschlafphase über zahlreiche Elektroden verknüpft.

An all das dachte das Führungsorgan, während es Nachrichten von der Oberfläche rund um die Wewelsburg auswertete. Die Reichskinder würden nach ihrem Aufwachen von den Veränderungen auf der Erde nur ,gefiltert‘ erfahren dürfen, um einen Schock zu vermeiden. Vor allem weil Wesentliches nicht plangemäß verlaufen war. So war es bei der Dauer der Schlafperiode zu Unregelmäßigkeiten gekommen. Statt weniger Jahre… Das Führungsorgan verdrängte den Gedanken. Für den Rechnergiganten waren ,Abweichungen´ von den Soll-Vorgaben nicht überraschend, aber Menschen war dies schwer vermittelbar. Dabei war doch klar, dass es mathematisch gesehen so etwas wie Sicherheit nie geben konnte. Schon aus Gründen simpelster Wahrscheinlichkeitsberechnungen. Aber biologische Wesen wie die Menschen konnten nur existieren, indem sie dieses oder jenes als gesetzt betrachteten und an etwas glauben mussten. Das verlieh ihrer wackeligen Existenz so etwas wie den oberflächlichen Schein trügerischer Sicherheit.

Ich wünsche mir Musik, dachte das Führungsorgan und ließ sogleich Musik von Gustav Mahler aus den Lautsprechern dudeln, in Fluren, Hallen, Laboren, selbst in den Fahrstühlen – Mahlers Auferstehungssymphonie. Erst wenn hinlängliche Sicherheit – in einem streng mathematischen Sinn – über die langfristige körperliche Stabilität des Reichskindes Törne bestand, wollte das Führungsorgan eine andere Musik auswählen, vielleicht etwas mit Fanfaren, mit Wucht. Beschwingtere Musik konnte immer noch spielen, wenn Reichskind Törne voll einsatzfähig war. Immerhin war Törne Legat, damit stand er den anderen noch im Schlaf befindlichen Reichskindern rangmäßig vor. Obschon das Führungsorgan diesbezüglich etwas anders dachte als die geistigen Väter des Projektes Reichskind. Aber Praxis und Theorie waren nun mal zweierlei Dinge.

Das Führungsorgan ließ seine Gedanken wieder zurück schweifen in die Vergangenheit, zu seinen eigenen Anfängen und dem Plan für ein neues dauerndes Reich. Das Führungsorgan griff dazu auf seine Datenträger überspielte Tonbandaufzeichnungen und Diktate von entscheidenden Nazi-Akteuren zurück.

Januar 1944, Nürnberg

Albert Speer war SS-Gruppenführer Heldern in der Hotelbar des Deutschen Hofes quasi vor die Füße gelaufen. Von Heldern, ein sportlicher Mann von stattlicher Erscheinung, erfüllt vom Glauben an die subtile Kraft von Menhiren und Alraunen, deutete das Zusammentreffen als Wink des Schicksals, als Bestimmung. Was zusammen gehörte, kam zusammen. Immer.

Albert Speer war gerade aus einem großen abgetrennten Saal gegenüber der Rezeption gekommen, als von Heldern gut gelaunt die Treppe neben der Rezeption herunter gelaufen kam, bereit für einen kleinen Spaziergang, und froh, nach den von viel Zigarettenqualm erfüllten Treffen im Hotel in dem Park neben der Stadtmauer Nürnbergs endlich wieder etwas frische Luft in die Lungen zu bekommen.

Hinter Speer trat Heinrich Himmler aus dem Saal. Aber zur Erleichterung von Heldern verließ Himmler mit einem Adjutanten schnurstracks das Hotel. Albert Speer war somit frei. Von Heldern nutzte die Gelegenheit. Er machte einen Schritt auf Speer zu, während er sein Zigarettenetui aus der linken Hosentasche kramte. „Darf ich Ihnen eine anbieten? Gespräche mit dem Reichsführer sind ja oft etwas anstrengend, er hakt oft nach, wenn er etwas genau wissen will.“

Speer musterte von Heldern abschätzend, aber nicht ablehnend.

„Ich rauche nicht. Aber sagen Sie: Kennen wir uns?“

„Ich war bei der Präsentation ihres beeindruckende Städtebaumodells für das Neue Nürnberg zugegen. Aber sie werden mich nicht gesehen haben, denn ich stand in der…“, von Heldern räusperte sich, „… in der zweiten Reihe.“ Kurze Pause. „Ich darf mich vorstellen: Ansgar von Heldern, Gruppenführer in der Waffen-SS, abkommandiert für ein besonderes Projekt.“

„Arbeiten nicht alle im Umfeld Himmlers oder Hitlers an einem besonderen Projekt? Ich werde übrigens dringend in Berlin erwartet. Die Junkers, mein Flugzeug, ich meine das mir dienstlich zur Verfügung gestellte Flugzeug, wartet nicht ewig auf mich.“

Nicht die Antwort, die sich von Heldern erhofft hatte. Wenn er nicht gehörig aufpasste, entwischte ihm Speer ausgerechnet jetzt noch, was er nicht zulassen durfte. So eine Gelegenheit kam so schnell nicht wieder, fast allein mit dem Rüstungsminister. Und die Junkers? Sie würde auf Speer warten.

„Sie könnten mir helfen – und dem Führer. Bei einer Sache von oberster Priorität, bei der wir alle Geschichte schreiben können. Und die für das Überleben unserer Ideale von entscheidender Bedeutung sein wird.“ Von Heldern hatte dick aufgetragen. Sehr dick. Vielleicht half es. Speer, der sich schon dem Hotelausgang zugewandt hatte, zögerte.

„Sie lassen ohnehin nicht locker, von Heldern. Das sieht man Ihnen an. Lassen Sie uns doch eine kurze Runde um das Hotel gehen. Sagen wir zehn Minuten. Die Zeit habe ich noch. Zumal die Luft heute äußerst angenehm und frisch ist. Was halten Sie davon?“

„Da muss ich nicht lange überlegen“, erwiderte von Heldern und nahm eine Zigarette für sich aus dem Etui, das er dann wieder rasch in der Innentasche seines schwarzen Uniformmantels verschwinden ließ.

Albert Speer nickte, dann verließen beide das Hotel. Es war tatsächlich kühl, aber nicht kalt, durchaus angenehm, fand Heldern.

Speer klappte den Kragen seines Ledermantels nach oben. Heldern folgte Hitlers Liebling auf dem Fuße. Nicht einmal eine Minute später hatten die beiden das Hotel hinter sich gelassen. Erfrischender Wind schlug ihnen entgegen. Heldern entging nicht der depressive Gesichtsausdruck von Speer. In Berliner Ministerien wurde viel über die ,Melancholie´ des Ministers getuschelt. Ganz unbegründet schien dies also nicht.

Speers Blicke huschten missmutig über eine hässliche Häuserlücke, unzweifelhaft von einer Fliegerbombe gerissen.

„Sie wissen, was der Führer darüber dächte?“, fragte Speer.

„Wovon?“

„Na von dem Bombenschaden oder sollte ich besser sagen: von den mittlerweile in allen deutschen Großstädten zu bewundernden Bombentrichtern. Göring schafft es einfach nicht, alliierte Bomber in ausreichender Stückzahl vom Himmel zu holen.“

„Ähm, Sie fragen nach der Meinung des Führers: Vermutlich sagt er, dass es ein gemeiner Angriff auf das Reich ist. Und das dieser gerächt werden wird.“

„Der Führer sagt, dass solche ,Baulücken´ ideal für den Ausbau der Reichsstädte sind, da sie Platz für Neues schaffen.“

Heldern schluckte. „Also wenn Hitler dieser Auffassung ist, wer wagte es da, ihm zu widersprechen.“

„Ja, wer wollte da widersprechen“, sagte Speer. Es klang in Heldern Ohren verbittert.

Heldern und Speer umkreisten schweigend einen Häuserblock, beide in eigene Gedanken vertieft. Ein paar mal kamen den beiden Spaziergängern mit den hochgeschlagenen Mantelkrägen einheimische Bürger entgegen, aber keiner von ihnen erkannte den Rüstungsminister, und Heldern sowieso nicht, denn von ihm gab es in der gleichgeschalteten Presse keine Fotos.

Schließlich ergriff Albert Speer das Wort: „Lassen Sie uns bitte noch einmal zum Anfang unserer Unterhaltung wechseln. Sie sagten das so etwas wie ,für das Überleben unserer Ideale´ – richtig?“

Heldern musterte Speer von der Seite, während sie langsam einen von dünnem Schnee bedeckten Gehweg folgten. Heldern hatte den Eindruck, dass der Minister reden musste, um Druck abzulassen. Ja, der Mann wirkte bedrückt, so als schleppe er auf den Schultern eine tonnenschwere Last. Aber Heldern wusste auch, dass er diesen Moment nutzen musste, denn Speer hörte ihm nun zu. Wie Speer die Worte betont hatte, zeigte, dass der Mann im Ledermantel nicht mehr an vieles glaubte.

„Es geht um ein technisches Projekt, für dessen Gelingen immense Anstrengungen nötig sein werden.“

„Kommen Sie auf den Punkt! Die Junkers, Sie wissen schon. Drei Minuten haben Sie noch. Vor dem Deutschen Hof müsste bereits mein Fahrer warten. Und ich lasse ihn nur ungern warten.“

„Also dann kompakt und geradeaus: Es geht um das ,Projekt Reichskind´, das die ungeteilte Unterstützung der Reichsführung hat. …`

„Zur Sache, bitte!“

„Natürlich: Die Anforderungen an Material und Mannschaften sind erheblich. Als da wären: …“ Von Heldern ratterte die wesentlichen Zahlen herunter.

Er war gerade zu den letzten wesentlichen Kennziffern des Projektes gekommen, da hatten sie Speers Mercedes auch schon erreicht. Der Motor lief, und der Fahrer trommelte ungeduldig mit den in dicken Handschuhen steckenden Fingern auf das Lenkrad.

„Schicken Sie die Zahlen an mein Berliner Büro“, sagte Speer knapp. „Ich denke“, hier machte der Reichsminister eine kurze Pause, „dass das Projekt sehr ambitioniert ist. Aber trotz der Schwierigkeiten der Versorgungslage – Sie kennen die Lage ja selbst, ob in der Ferne oder an der Heimatfront – erscheint es mir machbar!“

„Es ist notwendig“, erwiderte von Heldern knapp, während er für Speer die hintere Wagentür öffnete.

„Danke“, sagte Speer knapp, dann zog er die Wagentür zu. Der Minister wechselte einen kurzen Blick mit dem Fahrer im Rückspiegel, dann setzte sich der Wagen in Bewegung und entschwand rasch.

Von Heldern ließ den Rest der Zigarette zu Boden fallen. Er trat die Kippe aus und hob sie auf. Er ließ nie etwas liegen, weder Müll noch Arbeit.

Wewelsburg, unterirdische Katakomben

Legat Siegfried Baldur Graf von Törne träumte. Er wusste, dass er in der Regenerationskammer lag, denn über die sich eng an seinen Kopf schmiegende Haube mit einem Drahtgeflecht war er mit dem Führungsorgan verbunden. Somit hatte er bedingten Zugriff auf einige Aufzeichnungen des Elektronengehirns. Er sah den großen Sitzungssaal von Görings Reichsluftfahrtministerium und sich selbst darin, wartend. Es war Anfang März 1943. Die Schlacht um Stalingrad war am 2. Februar unter dramatischen Umständen zu Ende gegangen, die sechste Armee verloren und die Stimmung in Berlin wie auch in dem Ministerium entsprechend schlecht.

Törne stand am Rand des Saals, den Rücken einer mit dunklem Holz verkleideten Wand zugewandt. Die anderen Anwesenden waren in Gespräche vertieft, manche liefen an den überlebensgroßen Fenstern vorbei und wirkten dabei wie Scherenschnitte. Dabei handelte es sich um Mitglieder des Beschaffungsamtes, Vertreter aus Albert Speers Rüstungsministerium und – natürlich! – Göring höchstpersönlich. Der Reichsmarschall saß als einziger am Ende des langen, den Saal dominierenden Tisches, der von Törne entfernt an die Tafel einer Ritterrunde erinnerte. Göring tupfte sich Schweiß von der Stirn. Von Törne führte dies auf den massenhaften Konsum von Opiaten und Amphetaminen zurück. Die Sucht des Marschalls war im engeren Kreis bekannt. Und seit die von ihm stets in höchsten Tönen gelobte Luftwaffe auch in Stalingrad nichts mehr ausrichten konnte, griff Göring offenbar noch stärker zu. Seine Augen wirkten auf Törne glasig, die Gesichtshaut teigig. Von dem aufgeschwemmten Körper mal ganz abgesehen. Die mit Fantasie-Orden geschmückte Uniformjacke Görings spannte sich über Görings Bauch dermaßen, dass sich Törne fragte, wann die Gürtelschnalle sich verselbständigen und wie ein Geschoss durch den Saal fliegen würde.

Ein blutjunger Ordonanz-Offizier in blauer Luftwaffenuniform betrat den Saal, blieb dann stehen, knallte die Hacken zusammen und sagte: „Herr Reichsmarschall, ich habe eine Nachricht zu überbringen.“

„Na, worauf warten Sie denn dann?“, erwiderte Göring missgelaunt.

Die Ordonanz – Törne schätzte den Mann auf allenfalls 24 – lief schnurstracks zu Göring, beugte sich vor und flüsterte dem Minister etwas ins Ohr, was die Aufmerksamkeit aller im Saal Anwesenden fand. Dem Vorgang haftete nach Törnes Meinung etwas zutiefst Operettenhaftes an, auch als der Ordonanz-Offizier in grotesk staksendem Gang wieder aus dem Saal entschwand.

„Meine Herren (es war tatsächlich nur eine Frau zugegen, eine Stenotypistin), ich darf um ihre Aufmerksamkeit bitten. Einige Ingenieure werden Ihnen nun den Entwurf eines neuen Flugzeugs vorstellen, von dem wir die Wende im Krieg erwarten.“

Törne zweifelte keinen Moment daran, dass mit dem ,Wir´ kein anderer als Adolf Hitler höchstpersönlich gemeint war.

Während einer seiner mitternächtlichen unendlich erscheinenden Monologe auf dem Berghof hatte Hitler nämlich von einem Amerika-Bomber geschwärmt, „der den Krieg bis tief ins Kernland des Feindes tragen“ sollte. Ein Langstreckenbomber mit sechs Triebwerksgondeln. Nichts weiter als eine Fantasterei, wie so vieles andere aus dem Wunderwaffen-Kabinett.

Das Hintergrundgemurmel in dem Sitzungssaal wurde lauter. Törne wandte sich zur Seite. Sein Blick fiel durch das Fenster auf die Leipziger Straße. Windböen fegten Hagelkanonaden über die Gehwege. Die wenigen Menschen draußen zogen sich die Kragen ihrer Mäntel bis unters Kinn und beschleunigten ihren Gang. „Ich bitte um Ruhe!“, rief Göring, wobei er mit der linken Hand in der Luft herum fuchtelte, als würde er ein lästiges Insekt vertreiben. „Als Erstes erteile ich Chefingenieur Peter Illinger das Wort! Hören Sie ihm gut zu, denn es geht um die Realisierung der Pläne.“

„Danke, Herr Reichsmarschall! Ich darf um das erste Bild bitten.“ Die Stenotypistin stand auf und schaltete einen Diaprojektor an. Begleitet vom leichten Surren warf der Projektor die Skizze eines mehrstrahligen Bombers auf eine Leinwand. Ein Raunen ging durch den Sitzungssaal.

„Wie Sie sehen, meine Herren, habe ich Ihnen nicht zu viel versprochen!“ Görings Augen glänzten entrückt, und seine rechte Hand griff nach dem vor ihm auf dem Tisch liegenden Marschallsstab. Göring hob ihn ein paar Zentimeter. Der Blick des Ministers konnte sich an dem Stab nicht satt sehen, während Ingenieur Peter Illinger ungerührt mit dem Vortrag fortfuhr: „… sind die wesentlichen Leistungsparameter … Sie alle kennen das Problem großvolumiger Triebwerke … müssen wir hier Neuland beschreiben … , wobei die Triebwerke der britischen Lancaster und amerikanischen Bomber …“ Törne wurde beim Zuhören abgelenkt, denn in diesem Moment betrat ein Mann in dunkler Uniform der SS den Saal. Der Mann nickte beim Passieren des langen Tisches kurz Göring zu, aber der Reichsmarschall starrte geistesabwesend mit glasigem Blick auf ein Gemälde am anderen Ende des Saales. Eine Jagdszene mit einem Nero-ähnlichen Mann in der Mitte, der nach dem Himmel griff.

„Herr von Törne?“ Der SS-Mann grüßte militärisch.

„Ja, der bin ich.“ Törne nickte. Er hatte den Mann noch nie gesehen. Und da er von stattlicher Erscheinung war, Mitte/Ende 30, schlank und sportlich, volles Haar, hätte Törne ihn niemals übersehen. Gut aussehende Menschen übersahen andere gut aussehende Menschen nie. Man spielte schließlich in der selben Liga.

„Ich darf mich vorstellen: Ansgar von Heldern….“

„Und vermutlich der jüngste Gruppenführer der SS…“

„Ja, die Vorsehung meinte es gut mit mir, und damit meine ich nicht nur die Ehre, kurzfristig eine Einheit in Ostpreußen befehligt zu haben, sondern nun auch für besondere Aufgaben vorgesehen zu sein.“

„Da darf ich Ihnen wohl gratulieren, Gruppenführer! Was halten Sie davon, wenn wir einen Kaffee trinken, da wir hier wohl nur stören. Vielleicht draußen, ja?“ Törne deutete zu dem kleinen Platz zwischen Luftfahrtministerium und Wilhelmstraße, dann sagte er leise zu Heldern: „Unweit der Kreuzung zur Leipziger Straße kenne ich so ein kleines Café. Sehr angenehm und nie überfüllt, was ja seine Vorteile hat. Zumal in fußläufiger Entfernung. Und wir beide sind doch sportlich. Und wenn es dort keinen freien Tisch gibt, gehen wir einfach ins Haus Vaterland am Potsdamer Platz. Ein kleiner Spaziergang tut doch immer gut.“ Heldern blickte bei den letzten Worten in Richtung Heinrich Himmlers, aber der war mit einem zivil gekleideten Mann aus der Entourage Albert Speers in ein Gespräch vertieft.

„Also gut, warum nicht. Gegen einen schnellen Kaffee und etwas Bewegung ist nichts einzuwenden“, erwiderte Törne, dann ging er voraus. Keiner in dem Saal des Luftfahrtministeriums schenkte den beiden Männern große Beachtung beim Verlassen des Saals. Keiner außer Heinrich Himmler. Aber das sahen Törne und Heldern nicht.

Sommer 2021, Berlin

Der Diversity-Beauftragte der Bundesregierung, Sascha Fröbel, hatte eigentlich keinen Grund zu klagen. Mit gerade mal 32 Jahren war er von der Bundesregierung aus dem stickigen Mief der Berliner Verwaltung abgeworben worden und stattdessen von seinen Parteifreunden im links-grünen Spektrum mit einem ziemlich modern ausgestatteten Büro im Kanzleramt belohnt worden. Nichts ging halt über das richtige Parteibuch.

Die oberen Führungsetagen stritten noch darüber, ob er eher dem Chef des Kanzleramtes oder dem Kulturbeauftragten organisatorisch zugeordnet werden sollte. Aber Berichtslinien interessierten Sascha Fröbel nicht. Auch nicht der wunderbare Blick über die Spree auf das austernförmige Haus der Kulturen der Welt.

Ihn beschäftigten die Nachrichten über rechtsradikale Umtriebe, die einem investigativen Zeitungsbericht zufolge von Staatsanwälten in Berlin gedeckt worden waren. Ihnen wurden Anschläge auf Migranten und auch homosexuelle Paare zugeschrieben. Es waren natürlich genau jene Kreise, die die nötig Transformation zu einer Gesellschaft verhinderten, in der Geschlechterrollen keine Rolle mehr spielen würden.

Fröbel strich sich über das am Bauch etwas zu straff sitzende Hemd, während sein Blick von dem bis auf einen Kugelschreiber leeren Schreibtisch zu dem Wandbild gegenüber seines Schreibtisches huschte. Auf dem Bild war eine bunte Truppe demonstrierender Lesben, Schwulen und Transen in San Francisco zu sehen. Das Bild hatte er mit einer alten Nikon seines Vaters geschossen. Wie so viele andere zuvor.

Sascha Fröbels Hand glitt von dem Bauchansatz zum Schritt. Die Jeans saß in der Leistengegend entschieden zu straff. Ein Resultat der dort heimisch gewordenen Fettpolster.

Jürgen, den Sascha wenige Tage zuvor abends in einer Bar in Berlin-Kreuzberg kennengelernt hatte, waren die Fettpolster nicht entgangen. Zumindest glaubte Fröbel das. Denn trotz seiner hartnäckigen Werbung war Jürgen nicht mit zu ihm nach Hause gekommen.

Der Abend war insgesamt schlecht gelaufen. Als Fröbel eine Stunde nach Jürgens überraschender Verabschiedung („Ich bin kein Typ für einen schnellen Fick!“) die Bar verließ, hatte er entschieden zu viel Caipirinha intus. Mindestens zwei zu viel. Fröbel erinnerte sich an insgesamt fünf Cocktails, allerdings nicht allzu hart gemixte, wie er glaubte.

Vor der Bar lief er direkt in eine Dreiergruppe kurzhaariger sportlicher Typen um die Mitte 20, Typ Bodybuilder.

„Guck dir die Schwuchtel an!“

„Ja, genau. Ei-ei-ei, und ein kleines Bäuchlein hat der Süße auch!“

„Und zu enge Hosen.“

„Definitiv zu eng.“

Der Anführer der Drei, ein Riese mit muskulösen Armen voller Tattoos, darunter ein flacher Reichsadler wie auf Wehrmachtsuniformen, stupste Fröbel an der Schulter an, was seine Kumpels mit feixendem Lachen nachahmten.

„Die Tunte braucht eine Abreibung“, quäkte der Typ hinter dem Riesen.

„Der macht sich doch jetzt schon in die Hose.“

„Ach was“, sagte der Riese und trat Fröbel von der Seite in die Kniebeuge, der daraufhin zwischen den Typen zusammensackte. Fröbel wehrte sich nicht. Er ließ die Prügeleinheit über sich ergehen, wie er es schon während seiner Kindheit getan hatte, wenn Raufbolde ihm in der Schule auf dem Pausenhof eine Abreibung verpassten, was regelmäßig vorkam. Er hatte sich dann immer in Totenstarre versetzt oder machte die Schildkröte. Zog die Arme und Beine an den Oberkörper, schloss die Augen und ließ den Satz Prügel über sich ergehen. In dieser Haltung harrte er so lange aus, bis der oder die Schläger abgezogen waren. Auch bei den drei Schlägern vor der Bar.

Nachdem sich die Drei an ihm abgearbeitet hatten, waren sie weitergezogen, laut darüber feixend, es einer Tunte besorgt zu haben. Fröbel erinnerte sich mit Schaudern an die Blutergüsse, die er am nächsten Morgen im Spiegel entdeckte. Über den Rücken zogen sich lange blaue Flecken, als hätten jemand mit einem Riemen auf ihn eingedroschen. Bis zum vollständigen Abheilen verging eine Woche. Dennoch hatte er auf eine Anzeige verzichtet.

Wenn der Riese nur nicht so ein Rohling gewesen wäre. Dabei hatte er so ein markantes männliches Gesicht. Unter anderen Umständen, an anderen Tagen…

Der Goliath-Typ strahlte etwas Animalisches aus. Wie die arabischen, kurdischen oder türkischen Jungen aus den Muckibuden. Wie in Fröbels Jugend, im Berliner Rollberg-Viertel, einem Brennpunktkiez. Wo der Geruch von Hopfen und Malz aus der nahen Kindl-Brauerei so selbstverständlich war wie ein paar Backpfeifen für eine Schwuchtel. Die oft gewaltbereiten Jugendlichen mit ihrem Hass auf alles Unangepasste hatten Fröbel darin bestärkt, sich für Transen, Queer und alle Opfer überholter Geschlechterrollen-Definitionen einzusetzen. Die Schwachen mussten beschützt werden.

Sascha Fröbel blickte wieder aus dem Fenster seines Büros. An diesem Tag war einfach nichts zu tun. Kein Anruf, kein Aktenumlauf, kein Kollege, der mal bei ihm vorbei schaute.

Fröbel überlegte, auf Toilette zu gehen und sich mit dem Bild des Riesen im Kopf einen runter zu holen, als ein überraschende Klopfen an der Tür ihn jäh in die fantasielose Wirklichkeit seines Behördenalltags zurückholte.

Er griff blitzartig nach dem Kugelschreiber, überprüfte in dem kleinen an der Schreibtischlampe angebrachten Handspiegel den Sitz (der spärlicher werdenden) Haare. Dann setzte er sich in eine aufrechte Position und bemühte sich um ein Konzentration widerspiegelndes Äußeres.

„Ja-ha, bitte doch. Immer herein.“

Die Tür öffnete sich geräuschlos. Ines Petersen, Fröbels magersüchtige und recht kleinwüchsige Sekretärin kam mit einer Zeitung in der Hand in den Raum gestürmt. „Haben Sie DAS schon gelesen? Petersen klatschte die Zeitung derart heftig auf Fröbels Schreibtisch, dass er zusammenzuckte. Ines Petersen deutete mit aufgebrachter Mine auf einen Artikel am unteren Rand der zweiten Seite.

,Erneut Übergriffe auf Homosexuelle. Gruppe junger Männer aus Barcelona im Tiergarten zusammengeschlagen. Und was tut die Regierung?“

Fröbel überflog den Artikel, er war unterzeichnet mit dem kryptischen Kürzel -ferch, hinter dem sich so ziemlich jeder miese Schreiberling verstecken konnte, wenn man nicht gerade zu den Eingeweihten in der Redaktion gehörte und jedes Kürzel einem Autor zuordnen konnte. In dem Artikel wurde er zwar nicht namentlich erwähnt, aber das Amt des LGQBT-Beauftragten und das bekleidete nun mal er.

Fröbel fühlte sich plötzlich wie auf der Anklagebank. Sein Blick wechselte in mikroskopischer Perspektive von Petersens Händen zu seinem Bauchansatz, dann wieder zu Petersen. Verdammt, er musste irgendetwas sagen, das überzeugend und nach Autorität klang.

„Ja, Ines, da müssen wir wohl etwas unternehmen Ich denke, ein Gespräch mit der Berliner Polizei wäre ganz gut. Würden Sie das bitte arrangieren?“

Berlin, Frühjahr 1944

Woran sich Törne in der Regenerationskammer träumend so plastisch erinnerte, als würde er die Situation noch einmal durchleben, war das gute Gespräch mit Heldern. Sie hatten die Zusammenkunft in Görings Luftfahrtministerium verlassen, waren dann zunächst die Leipziger Straße in Richtung des von Heldern ins Gespräch gebrachten Cafés gelaufen, bis dieser spontan einen anderen Vorschlag unterbreitete: „Warum gehen wir nicht zum Potsdamer Platz, ins Josty? Oder wie wäre das Aschinger im Haus Vaterland. Dort geht es sehr geschäftig zu, was ein Vorteil sein kann. Was sagen Sie?“

„In der Tat. Dann also zum Haus Vaterland, an das ich übrigens auch schon dachte.“

Ein Bier gab das andere. Zwischendurch ein Kaffee, nach 45 Minuten und dem tastenden Austausch einiger Bonmots und Allgemeinplätze waren Törne und Heldern bei einem vertraulichen Du angelangt. Sie hatten einen zwischen zwei Säulen platzierten Tisch ergattert. Eigentlich für vier Personen vorgesehen, hatten sie ihn kurzerhand zu einem Zweier-Tisch umfunktioniert, indem sie die leeren Stühle mit ihren Mänteln belegten. Zigaretten-Qualm waberte durch das Vaterland.

Von ihrem Tisch aus konnten sie durch ein großes Fenster auf den stark frequentierten Potsdamer Platz blicken. Es herrschte das übliche Treiben. Zeitungsjungs priesen lautstark eine Mittagszeitung an, und ein paar gelangweilt an einer Litfaßsäule stehende und etwas zu üppig für die Tageszeit geschminkte Damen hielten auffällig unauffällig Ausschau nach ein paar Herren mit genügend Restgeld im Portemonnaie.

Törnes Blick wechselte von seinem Bierglas, das er in einer halben Stunde nicht mal zur Hälfte geleert hatte, zu Helderns, das ebenfalls noch gut gefüllt war. Törne konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, dann beugte er sich leicht zu Heldern vor, vergewisserte sich mit einem Seitenblick in den Saal, dass sie niemand beachtete. Schließlich sagte er mit einem verschwörerischen Augenzwinkern: „Also, dann kommen wir doch jetzt mal zu dem uns beide brennend interessierenden Punkt: das ,besondere Projekt‘.“

„Das wollte ich auch gerade vorschlagen“, erwiderte Heldern lächelnd. Dann knöpfte er die rechte Brusttasche der – wie Törne fand: – unerhört gut sitzenden Uniformjacke auf und förderte aus ihr ein silbernes Zigaretten-Etui mit dem eingravierten Schriftzug „Gott und Ehre“ zu Tage. Heldern legte es auf den Tisch und schob es dann langsam wie ein Kartengeber bis zur Mitte des Tischs.

Helderns Zeige- und Mittelfinger vollführten einen kurzen Trommelwirbel auf dem Etui. Dann sagte Heldern: „Wenn wir von dem Projekt reden, nennen wir es doch Reichskind, ja? Ich finde, das hat einen guten Klang.“

Törne fand das mit dem Etui etwas merkwürdig. Denn bei der Zusammenkunft im Ministerium hatte Heldern doch angedeutet, Nichtraucher zu sein.

„Da sind auch keine Zigaretten drin“, entgegnete Heldern. „Aber ich trage das Etui immer mit mir herum. Nenn es eine Marotte oder Aberglauben, beides träfe zu. Ich denke dabei nämlich immer an Friedrich den Großen, dessen Tabakdose eine Kugel im Krieg abfing. Welcher war es doch gleich?“

„Wenn ich mich nicht täusche, 1759, im Siebenjährigen Krieg Preußens gegen Russland und Österreich. In einer Schlacht unweit von Frankfurt an der Oder. Um genau zu sein: bei der Ortschaft Kunersdorf.“

„Geschichtskundig bist du jedenfalls. Und offenkundig auch ein echter Friedrich-Fan. Eine weitere Gemeinsamkeit.“

Törne nickte. „Zurück zu dem Projekt, bitte.“

„So ungeduldig?“

„Nicht ungeduldig, aber erwartungsvoll gespannt.“

„Und das berechtigter Weise: Ich überlege nur, an welchem Punkt der Geschichte ich einsteigen soll, damit wir noch vor Ende der Tagung im Ministerium zurück sind, ohne Argwohn zu erregen.“

„Ich bin für eine straffe Gesprächsführung immer zu haben.“

„Nun gut“, erwiderte Heldern. „Bei einem unter Anwesenheit Görings unlängst gehaltenen Kurzreferat zum Stand der Rüstungsanstrengungen wurde klar, dass es trotz der beachtlichen Steigerungen beim Bau von Panzern und Flugzeugen an einem zunehmend mangelt: an Treibstoff und Öl. Zudem gibt es eine zu große Vielfalt von Modellen verschiedener Hersteller, was am Ende den Kriegsverlauf zu unseren Gunsten schwächt und schon an allen Fronten zu Nachschubproblemen, inakzeptablen Rückzugsgefechten mangels Luftunterstützung geführt hat. Und den viel beschworenen Endsieg als reines Durchhaltegeschwätz erscheinen lässt.“

„Du bist erstaunlich offen. Wenn ich im Reichssicherheitshauptamt arbeite würde, säßest du längst in einer Arrestzelle“, sagte Törne.

„Tust du aber nicht. Ich habe schon vor Wochen Erkundigungen über dich eingeholt und dich durch eine vertrauensvolle Person beobachten lassen. Das dabei angefertigte Dossier lässt keinen Zweifel an deiner Loyalität – und Verwendungsmöglichkeit.“

„Verwendung wofür?“

„Darauf komme ich später noch: Lass mich bitte zunächst in meinen Schilderungen fort fahren. Es gab vor einiger Zeit in der Nähe der Wewelsburg ein Treffen…“

„Die Burg wird doch vornehmlich von der SS genutzt und streng bewacht, oder?“

„Ja, aber wir waren auch nicht in der Burg, sondern in der Nähe. Aber bitte unterbrich mich nicht, sonst sitzen wir hier doch noch bis zum Abendgrauen und schaffen es nicht zum Ende der Tagung im Ministerium zurück zu sein. Und Göring, so gesundheitlich angeschlagen er auch wirken mag, wittert überall Feinde und schreckt nicht davor zurück, bei seinen regelmäßigen Besuchen auf dem Berghof gegen andere aus der Führung Stimmung zu machen, so wie es Goebbels und Hitlers Sekretär Bormann auch machen, wie wir wissen.“

„Wir?“, sagte Törne mit hochgezogenen Augenbrauen. Heldern ging nicht auf die Frage ein, sondern fuhr in seinen Schilderungen ungerührt fort. „ObergruppenFührer Hans Kammler, zuständig für das Bauwesen der SS und aller damit in Verbindung stehenden Bauvorhaben mit einem Volumen von mehreren Milliarden Reichsmark, war schon wegen der maßlosen Überdehnung der Ostfront der Meinung, dass der Krieg mit aller Macht auf das Reich zurückschlagen würde. Mit vernichtender Wirkung, so dass vermutlich für Jahrzehnte nur Teile des Reichsgebietes unter deutscher Verwaltung stehen würden – geduldet und überwacht von den Siegermächten. Und dass wohl weitaus länger, als etwa die Besetzung des Ruhrgebiets nach dem Ersten Weltkrieg dauerte. Deshalb entwickelte Kammler mit Wissen des Reichsführers SS und Albert Speer das Projekt Reichskind. Hitler durfte davon natürlich nicht erfahren.“

„Wie bitte – ein Projekt ohne Wissen des Führers. Bei Bekanntwerden würde er das als Hochverrat auslegen. Mit allen Konsequenzen. Das ist doch wohl klar.“

„Weshalb der Kreis der Eingeweihten beim Projekt Reichskind auch extrem klein gehalten wurde“, erwiderte Heldern. „Und natürlich gebe ich dir recht, Siegfried: Alles, was den Endsieg in Frage stellt, würde Hitler als Hochverrat auslegen und mit Hinrichtung ahnden. Naturgemäß gibt es auf diese Lagebeurteilung hin nur eine passende Antwort.“

„Und die wäre?“, fragte von Törne, den es vor Anspannung kaum noch auf dem unbequemen Holzstuhl im Haus Vaterland hielt.

„Die Antwort lautet: Wenn schon das Reich untergeht, muss wenigstens ein kleiner Kreis überleben. Ausgestattet mit allem technischen Möglichkeiten, untergebracht an einem unverfänglichen Ort, an dem niemand auf die Idee käme, bedrohliche Hinterlassenschaften des Reiches zu vermuten.“

„Und was genau umfasst nun der Plan Reichskind? Immerhin befinden sich deutsche Städte schon heute unter Dauerbombardement der angelsächsischen Bomber-Verbände, begleitet von Aufklärern mit hochauflösenden Optiken, was wir aus Kreisen der militärischen Abwehr wissen. Da fällt es schwer, etwas von Bedeutung aufzubauen, das den Kameras des Feindes entgeht.“

„Trefflich mitgedacht, Siegfried. Deshalb finden die für das Projekt bestimmten Materialtransporte nachts statt, und der ausgewählte Ort liegt auf dem Land.“

„Nicht nur Andeutungen, bitte: Um was genau geht es nun bei Projekt Reichskind?“ Törne hielt die Spannung kaum mehr aus. Seine Oberschenkel zitterten leicht.

Von Helderns Mundwinkel umspielte ein süffisantes Lächeln. Der Zeigefinger seiner rechten Hand vollführte einen erneuten Trommelwirbel auf dem Zigarettenetui in der Tischmitte.

„Das Projekt soll sicherstellen“, Heldern pustete einen Zigarettenkringel in die Luft, „dass besonders befähigte Reichskinder nach einer Niederlage die Weichen für ein Viertes Reich stellen.“

Törne glaubte, sich verhört zu haben. Wie sollte so etwas möglich sein. Ohne noch dazu ohne Wissen Hitlers. Ein Selbstmordkommando, in jeder Hinsicht.

Heldern las die Zweifel aus Törnes Gesicht. Aber er lächelte nun noch einen Tick deutlicher.

Berlin, Sommer 2021

Sven Graubner legte die Boulevardzeitung zur Seite, die er eine Stunde zuvor an einem Kiosk im Berliner Hauptbahnhof erstanden hatte. Graubner hätte sie niemals gekauft, wenn vor dem Zeitungsständer nicht ein einzelnes Exemplar auf dem Boden gelegen hätte. Die Zugluft in der Station, verursacht von dem deutlichen Temperaturunterschied zwischen draußen und drinnen, hatte die ersten Seiten des Boulevardblattes im raschen Wechsel umgeblättert. Graubners geschulter Blick, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, blieb sofort an dem Seitenaufmacher hängen: ,Geschichte des Mode-Königs entzaubert!‘

Graubner, Mitte 50 und langsam das Ende seiner Amtszeit ins Auge fassend, interessierte sich nicht sonderlich für Mode. Aber das Gesicht des Modeschöpfers, groß als Portrait-Bild neben der ZeitungsStory platziert, kannte Graubner aus Talkshows, TV-Nachrichten und von den Promi-News bunter Blätter, wie sie in den Wartezimmern von Arztpraxen stapelweise herumlagen. Der 55-Jährige, der den Ruhestand herbeisehnte wie ein Verdurstender die nächste Oase, ging in den Laden und kaufte ein Exemplar der Zeitung. In Windeseile hatte er die Geschichte quer gelesen. Die Eltern des Modeschöpfers: Nazis, beide Parteimitglieder, beschäftigten während des Dritten Reichs Zwangsarbeiter in ihrem Betrieb. Graubner wunderte es nicht. Kein Unternehmer hatte ohne Zustimmung der Nazis ein Unternehmen führen dürfen, vor allem nicht in den Kriegsjahren mit ihrer Ressourcenknappheit.

Sven Graubner faltete die Zeitung auf DIN-A-4-Format, rollte sie dann zusammen und schob sie fast wie eine Reitgerte unter die linke Achsel. Er stand auf dem weitläufigen Platz vor der Südfassade des Berliner Hauptbahnhofes. Sein Blick streifte das Kanzleramt, dann den Park entlang der Spree, der Graubners Meinung nach genauso misslungen war wie all die austauschbaren Hotels und an Fantasielosigkeit nicht zu überbietenden Ministerialbauten mit den schmalen Kastenfenstern rund um den Bahnhof.

Der Wiederaufbau der im Zweiten Weltkrieg praktisch abrasierten Stadtmitte war vollkommen misslungen. Ein totes Viertel, das nur zur Flucht einlud.

Graubner blickte auf seine Citizen-Armbanduhr, eines jener Modelle aus den 1970er-Jahren, das mit seinen LED-Ziffern damals den letzten Stand der Technik abbildete und nun unter Sammlern einige Hundert Euro wert war. Die quadratischen Ziffern zeigten 13.45 Uhr. Ein altmodisches Design. Aber Graubner gab nie etwas fort, das noch tadellos funktionierte. So wie den AEG-Quirl aus den späten 1960er-Jahren, der genauso tadellos funktionierte, wie nach dem Kauf. Oder wie das Toast-Gerät im Küchenschrank. Alles aus dem Hausrat seiner an Krebs verstorbenen Mutter.

Wo sie nun wohl war? Vermutlich in einem Nirgendwo. Seelen verpufften einfach, davon war Sven Graubner überzeugt. Alles Theatralische rund um den Tod war lediglich eine kitschige Wunschvorstellung der Zurückbleibenden.

Langsam war es an der Zeit, die stets aus straffen Spaziergängen bestehende Mittagspause zu beenden und zu seiner Arbeitsstelle im Landeskriminalamt am Platz der Luftbrücke zurückzukehren. Das Festhalten an bewährten Standards gehörte zu seinen Prinzipien. Er ging zu den Fahrradständern am Südrand des Hauptbahnhofes.

Sven Graubner löste das Fahrradschloss, eine dicke von schwarzem Kunststoff ummantelte Kette. Er hängte sie über den Lenker und machte sich mit seinem City-Trekking-Bike auf den Weg zu seiner Dienststelle. Mit forschem Tempo überquerte er die Moltkebrücke nördlich des Kanzleramts, ließ dann den Reichstag links neben sich zurück, und folgte schließlich dem schnurgeraden Verlauf der Yitzak-Rabin-Straße Richtung Großer Tiergarten.

„Können Sie nicht aufpassen“, schimpfte ein südländisch aussehender Mann um die 70, der überraschend aus einem Busch auf den Fahrradweg getreten war. Als Graubner haarscharf an ihm mit dem Rad vorbei kurvte, zog der Mann gerade seinen Hosenschlitz zu.

„Pass das nächste Mal besser auf, du blödes Arschloch“, murmelte Graubner vor sich hin, während er wieder nach vorn schaute und noch energischer in die Pedalen trat.

Fast 60 Minuten nach dem Beginn der Mittagspause hatte er das Landeskriminalamt erreicht. Der Berliner Verfassungsschutz, ein weich gewaschenes Wort für Geheimdienst, war eigentlich an einem anderen Ort Berlins, an der Klosterstraße unweit des Alexanderplatzes in Berlin-Mitte, untergebracht. Aber das Amt für Verfassungsschutz hatte Graubner im Landeskriminalamt auf einer unverdächtigen Stelle untergebracht, weil er Beamte mit Verbindungen zu zwielichtigen Kreisen aus der Nähe beobachten sollte. Zwielichtig bedeutete in diesem Fall: rechtsextreme Verbindungen. Sven Graubner hatte sofort zugesagt, denn in seiner Jugend war er einmal das Opfer einer Gruppe von Skin Heads geworden, die ihn spät nachts, nach dem Besuch eines Kinos, in der U-Bahn verdroschen hatten, was in Berlin alle paar Tage vorkam. Aber das hieß ja nicht, dass man das hinnehmen musste.

„In der Ruhe liegt die Kraft“, wiederholte Graubner, als er das Fahrrad hinter dem Amt anschloss. Er zückte den Dienstausweis für den Türöffnungsmechanismus.

Manches an diesem Standort war noch neu für ihn. Er war erst seit rund zehn Wochen im LKA tätig. In der Dienststelle am Platz der Luftbrücke wusste niemand von Graubners ,Stammstelle´ beim Verfassungsschutz. Er käme vom niedersächsischen LKA hieß es. Eine Versetzung aus familiären Gründen. Im Berliner LKA war er dann der Abteilung für Organisierte Kriminalität zugeordnet worden. Zur Beobachtung arabischer Clans und Rocker-Gruppen mit Verbindungen wurden immer Beamte gebraucht, lautete die offizielle Begründung.

Sven Graubner ging der Arbeit mit gespielter Aufmerksamkeit nach, in Wirklichkeit jedoch war sein Augenmerk auf verdächtige Kollegen mit möglichen engen Kontakten zu rechtsextremen Gruppen gerichtet. Schon nach kurzer Zeit hatte Graubner einen seiner Kollegen namens Frank Walter im Verdacht, Kontakt zu solchen Gruppen zu pflegen. Nicht weil Frank Walter ihm durch eine Kurzhaarfrisur aufgefallen wäre, sondern weil er bei vielen Gelegenheiten Anspielungen mit einem auffälligen Nebenton gemacht hatte. Mal über ,unaufhaltbare Migrantenströme´, dann über das ,farbenfrohe Diversity-Deutschland´ oder die ,Transen-Republik´. Natürlich reichte das bei weitem nicht für ein disziplinarrechtliches Verfahren, aber Graubner dachte nicht ans Aufgeben.

„Und wenn ich fünf mal um den Everest marschieren müsste, ich bekomme dich Freundchen und dann setzt es ein paar Hiebe auf den Allerwertesten!“, nuschelte Graubner, während er die Glastür zu dem Flur mit seinem Büro aufdrückte. Einige der ihm aus der Mittagspause entgegenkommenden Kollegen grüßte er mit routiniert lässigem Nicken. Ein Mann blieb stehen, Herbert Gröhler, ein Beamter aus der selben Abteilung. „Ich dachte wir gehen mal zusammen essen, Sven. Aber du bist ja immer so schnell weg und wer weiß wo!“

„Wenn man Mitte 50 ist und die Pensionierung immer näher rückt, muss man aktiv bleiben. In meinem Fall heißt das: weiterhin ordentlich in die Pedalen treten. Aber wir können gern in der kommenden Woche mal was zusammen essen. Ich kenne da ein recht preisgünstiges Lokal nicht weit von hier. Wo man für sein Geld auch einen vollen Teller bekommt!“

„Das klingt doch gut. Und: Ich verlass mich auf darauf“, erwiderte Gröhler und entschwand mit einer unter den Arm geklemmten Akte in die entgegen gesetzte Richtung.

Sven Graubner hatte die Tür zu seinem Büro erreicht. Er öffnete sie, kein Kollege da. Mittagspause eben. Erleichtert steuerte er seinen Schreibtisch an und nahm mit einem wohligen ,Auch mal gut wieder zu sitzen´ auf dem Bürosessel Platz, einem Ding mit abgenutzten braunem Polster. Ein scheußlich aussehendes Modell, aber das interessierte ihn gerade herzlich wenig. Denn er dachte bereits, nein, er sehnte bereits den Abend herbei, wenn er allein im Büro sein würde und endlich seiner eigentlichen Arbeit nachgehen konnte.

Graubner genoss den Moment, mal allein im Büro zu sein, wenn die meisten zum Mittagstisch draußen weilten. Keine aufgeregten Rufe oder Dauerklingeln irgendwelcher Handys. Graubner legte die Hände in paralleler Anordnung vor sich auf die Arbeitsplatte des Schreibtischs, lehnte sich zurück und schloss dann kurz die Augen, was er immer machte, wenn er sich konzentrierte und nachdenken musste. ,In der Ruhe liegt die Kraft!´

Er hatte bewusst ein paar Dutzend Überstunden angesammelt, um ungestört seinen Nachforschungen nachgehen zu können. Offiziell um Akten über kriminelle Clans auf Auffälligkeiten hin zu durchforsten. Die unauffälligste Art, zur täglichen Routine gewordene nächtliche Sitzungen zu begründen.

Dass ihm angesichts der vielen Überstunden seine Freundin weggelaufen war, hatte Graubner achselzuckend hingenommen. Frauen gab es schließlich wie Sand am Meer, auch für Männer mit einem kleinen Bäuchlein und in den 50ern, solange sie ein paar tausend Euro auf dem Konto und noch Haare auf dem Kopf hatten.