Schaafspelz - Pit Ferman - E-Book

Schaafspelz E-Book

Pit Ferman

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Beschreibung

Einmal ist da Kriminaloberkommissarin Rita Böhringer, die mit dem Fall eines jungen Mannes beauftragt ist, der in einer nebligen Oktobernacht tot auf einer Landstraße aufgefunden wurde. War es Unfall oder Mord? In der gleichen Nacht geschieht ein Raub, der nicht ganz nach Plan verläuft und über dessen ungewöhnliche Beute und fragwürdigen Sinn es zwischen den Initiatoren Zerwürfnisse gibt. Und dann ist da noch Kriminalhauptkommissar a. D. Edgar Schaaf, der gleich in vier Cold Cases, dreimal Mord und ein Vermisstenfall, in eine ganz andere Richtung ermittelt als Rita Böhringer. Dabei deutet anfänglich nichts darauf hin, dass alle Fälle enger miteinander verknüpft sind, als es den Anschein haben mag.

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Seitenzahl: 379

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Einmal ist da Kriminaloberkommissarin Rita Böhringer, die mit dem Fall eines junges Mannes beauftragt ist, der in einer nebligen Oktobernacht tot auf einer Landstraße aufgefunden wurde. War es Unfall oder Mord?

In der gleichen Nacht geschieht ein Raub, der nicht ganz nach Plan verläuft und über dessen ungewöhnliche Beute und fragwürdigen Sinn es zwischen den Initiatoren Zerwürfnisse gibt.

Und dann ist da noch Kriminalhauptkommissar a. D. Edgar Schaaf, der gleich in vier Cold Cases, dreimal Mord und ein Vermisstenfall, in eine ganz andere Richtung ermittelt als Rita Böhringer. Dabei deutet anfänglich nichts darauf hin, dass alle Fälle enger miteinander verknüpft sind, als es den Anschein haben mag.

für die allerbeste Chris

Inhaltsverzeichnis

Teil I

Schaafspelz

1976

Herbst 2024

30.10.2024

30.10./31.10.2024

31.10.2024

1986

31.10.2024

1996

31.10.2024

01.11.2024

02.11.2024

1996

02.11.2024

Teil II

1991

04.11.2024

1999

05.11.2024

06.11.2024

07.11.2024

08.11.2024

09.11.2024

10.11.2024

Teil I

Schaafspelz

1976

Er hockte im Bauwagen, die Tür und das einzige Fenster weit geöffnet. Es war ein schwülheißer Tag gewesen, und er hoffte auf eine abendliche Luftbewegung, die das stickige Provisorium, das sein Büro darstellte, erträglicher werden ließ. Aber die Luft stand hartnäckig wie zu Käse geronnene Milch in einem irdenen Topf und rührte sich nicht vom Fleck. Bewegte er sich selbst, trieb es ihm bloß den Schweiß aus den Poren.

Bremsen, satt und wohlgenährt und doch immer noch durstig nach menschlichem Blut, seinem Blut, warteten frech aber geduldig darauf, dass er sie aus den Augen ließ, um sich dann heimtückisch auf ihm niederzulassen. Es nützte nichts, dass er ein Hemd trug – die Biester steckten ihre Rüssel durch das Gewebe in seine Haut. Sie zu ignorieren schaffte er nicht. Tür und Fenster zu schließen würde den Erstickungstod bedeuten.

Er wollte alles ertragen. Zum einen die schier unzumutbaren Verhältnisse, zum anderen die unvermeidlichen Überstunden. Es war seine große Chance, und wenn er sich bewährte, würde er später, nach abgeschlossenem Studium, eine Festanstellung bekommen. Hatten die maßgeblichen Leute der Firma gesagt, die ihn hierher geschickt hatten.

Wie andere mit der Situation umgehen würden, wusste er nicht. Vielleicht würden sie die Arbeit mit nach Hause nehmen und dort zu Ende bringen. Er wollte das nicht, obwohl sein Zuhause nur wenige Fahrminuten entfernt lag. Strikte Trennung von Arbeit und Freizeit, das war sein Credo. Also würde er die Umstände, wie auch immer sie sein mochten, erdulden.

Drüben, über dem weiten Land der Rheinebene und noch weiter über dem Kamm der Vogesen, verschluckten dunkle Wolkenberge die untergehende Sonne, fielen über sie her, wie die Brandung eines Meeres über das Ufer, und begruben sie unter sich. Löschten sie aus. Vielleicht, mutmaßte er, war ein Gewitter im Anmarsch. Bis das hier sein würde, wollte er jedoch längst auf dem Heimweg sein.

Vom Hotelkomplex, dessen Bau er beaufsichtigte, war eben erst die Betonwanne fertiggestellt. Das Hotel würde später wie ein Schiff im Grundwasser stehen. Die überaus lärmintensive Zeit, in der die Spundwände in den nassen Untergrund gerammt worden waren, gehörten gottseidank der Vergangenheit an. Nun verlegten die Eisenflechter bereits dicke Armierungsmatten aus Stahl für das Fundament einer Tiefgarage. Von nun an würde es schnell gehen, Stockwerk auf Stockwerk, in immer luftigere Höhen, und er würde dabei sein. Würde die Aufsicht haben. Er rieb in freudiger Erwartung die Hände aneinander – eine aus der Kindheit gerettete Eigenart – und schwitzte sofort.

Das Hotel am Baggersee.

Noch war das Baden im See behördlich verboten. Es existierten keine geeigneten Uferbereiche, die gefahrloses Baden zuließen. Wenn das Hotel einmal in Betrieb wäre, würde man das ändern. Jetzt aber und solange gebaut wurde, hielt man am Verbot fest.

Was nicht bedeutete, dass nicht gebadet wurde. Ganz im Gegenteil. Rund um den See hatten die Leute sich ihre wilden Badestellen eingerichtet. Die Polizei sprach, wenn sie sporadisch auftauchte, lediglich allgemeine Warnungen aus und bat die Leute, ihren Müll wieder mit nach Hause zu nehmen. Ging den Leuten zum einen Ohr hinein, zum anderen Ohr hinaus. War leider so.

Eingezäunt war nur das Baustellengelände. Betreten für Unbefugte verboten. Es lag und stand immerhin geldwertes Material herum, das für private Bauherren interessant sein könnte. Stahlsprießen, Stahlmatten, Zementsäcke, Schalbretter, Betonmischer.

Auf ihn traf das Verbotsschild nicht zu. Er war befugt und konnte das Gelände durch ein abschließbares Gittertor betreten, beziehungsweise verlassen.

Die anderen Bereiche rund um den See waren frei zugänglich. Im Grunde handelte es sich um Brachland, das mit niederen Gehölzgruppen, kleine grüne Büschel auf graubrauner Erde, bis zum Wasser bewachsen war, ideal als Schattenspender und Sichtschutz für die Badenden.

Ließ die Polizei die Leute tagsüber weitestgehend gewähren, sorgte sie abends und nachts rigoros dafür, dass sich niemand am See aufhielt. Es hatte sich nämlich die Unsitte eingeschlichen, dass Saufgelage und Partys veranstaltet wurden und sich Menschen in erheblicher Anzahl zum Feiern trafen. Nicht dass der Partylärm irgendjemanden gestört hätte. Die nächsten Behausungen lagen außer Hörweite. Doch die Leute ließen ihre Abfälle liegen, und es war zu Unfällen gekommen, auch durch Randale, aber nicht nur, und im Sommer waren zwei junge Menschen im See ertrunken. Seither galt ab zwanzig Uhr strengstes Aufenthaltsverbot, und die Polizeibeamten drückten die Maßnahme konsequent durch.

Dreimal in der Woche war er ab Mittag bis zum Abend hier und besprach mit dem Bauleiter den Fortgang der Arbeiten. Montags, mittwochs und freitags. Die anderen Tage und Stunden verbrachte er im Büro seines Arbeitgebers, der Architekturfirma Ketterer und Co. in Murksheim im Breisgau. Es wurde nicht von ihm erwartet, dass er abends nach seinen auswärtigen Einsätzen am Hotelneubau ins Büro am Stammsitz der Firma zurückkehrte, um Bericht zu erstatten. Dafür war jeweils am Morgen danach Zeit anberaumt. Was ihm folglich die Freiheit ließ, das Tempo seiner Arbeit frei zu gestalten. Und heute war so ein Tag, an dem er, sobald die Badegäste den See verlassen haben würden, sich selber ein erfrischendes Bad im Wasser gönnen wollte. Vorausgesetzt, das vom Westen her nahende Gewitter würde ihm den Spaß nicht verderben.

Als er fand, dass die Zeit gekommen war, begann er, sich im Bauwagen auszuziehen. Gerade als er Hemd und Hose über die Stuhllehne drapierte, bemerkte er aus den Augenwinkeln, dass er nicht alleine war. Dass ihm jemand durch die offene Tür zuschaute. Er drehte sich um und sah einen jungen Mann in Badehose. Ein Teenager mit braunen Locken. Das anschwellende Gefühl von prickelnden Brausepulverbläschen im Unterleib ließ ihn an alles andere als an Schwimmen denken.

Herbst 2024

In den Monaten September und Oktober des Jahres 2024 begann sich im Türmchenhaus in Gengenbach eine neue Zeitrechnung abzuzeichnen. Da es keinen fixierten Termin gab, der die Vergangenheit von der neuen Gegenwart und der nahen und fernen Zukunft markierte, geschah der Übergang schleichend und ohne großes Tamtam. Und daher beinahe unbemerkt. Zumindest soweit es Edgar Schaaf, Gerti, Rita, Janna und Saida, sowie die Vierbeiner Lydia, Müller und neuerdings die Katze Frida Dideldum betraf.

Melanie Köninger, die Königin des Hauses, natürlich ausgenommen. Denn an ihr lag es, dass das umtriebige Leben im Haus alsbald anders getaktet werden würde.

Es gab zwei Gründe für den Wandel.

Zuallererst war da Saida, das kleine marokkanische Mädchen, das seit dem Sommer im Türmchenhaus wohnte. Melanie und Edgar waren beim Jugendamt als Erziehungsberechtigte eingetragen, und der Antrag auf Adoption, mit ihnen als Eltern, lag dem Familiengericht bereits vor. Und sofern keine Einsprüche, von wessen Seite auch immer, der Entscheidung Steine in den Weg legen sollten, wäre Saida zu Weihnachten ihre rechtlich eingetragene Tochter.

Dem entgegenfiebernd, war sich Melanie der Bedeutung und der Verantwortung bewusst. Und ebenfalls klar war für sie, dass sie für das Kind zwar die leibliche Maman, wie Saida ihre Mutter immer noch liebevoll nannte, nicht ersetzen konnte. Doch als ihre Mami würde Melanie alles erdenklich Mögliche tun, dass es Saida an Liebe nicht mangelte. Dafür wollte Melanie sich all die Zeit nehmen, die sie als Geschäftsfrau nicht aufbringen könnte.

Der zweite Grund war: Am achtzehnten September war Melanie fünfundsechzig Jahre alt geworden. Ein passender Zeitpunkt, sich mit Ablauf des Oktobers als aktive und repräsentierende Geschäftsführerin des Aquarelle und Poesie in den Ruhestand zurückzuziehen.

Die Leitung würde sie zu gleichen Teilen an ihre bisherige Urlaubsvertretung Frau Holzer, sowie an Pit Fermans Ehefrau Eliza Wohlbrecht übergeben. Da ihr jedoch das gesamte Haus, in dem sich das Aquarelle und Poesie befand, inklusive der darin befindlichen Mietwohnungen gehörte, blieb Melanie weiterhin Besitzerin des Ladengeschäfts. Späterer Erwerb durch die beiden neuen Geschäftsführerinnen allerdings nicht ausgeschlossen.

Zur Besprechung der Organisation der Übergabe saßen die drei Frauen, Eliza Wohlbrecht, Frau Holzer und Melanie, im Rückraumbüro des Ladengeschäftes bei Kaffee und Kuchen zusammen. Es war Samstag, der siebte Oktober. Die Saison mit der Touristenschwemme des Sommers war vorüber. Kunden, die sich eventuell für ein Aquarellbild oder für einen limitierten handgeschriebenen Lyrikband der Künstler Walter Hardtwald und Stephen Marquart interessierten, tröpfelten um diese Jahreszeit selten über die Schwelle in den Laden. Erst zur Adventszeit würden sich die Leute die Türklinke wieder in die Hände drücken, um es leicht übertrieben auszudrücken. Melanie beherrschte sich, vor lauter Wehmut nicht zu seufzen. Im Übrigen eine ganz ähnliche Kunst, wie beim Neujahrsempfang des Bürgermeisters nicht vernehmbar zu pupsen. Beim Gedanken an diesen Vergleich stahl sich ein unergründliches Lächeln auf ihre Lippen.

Es war zweifellos ein großer Schritt für Melanie. Doch wenn er auch demnächst vollzogen sein würde, war ihr um die Zukunft nicht bange. Gab es immer noch die etwas in Vergessenheit geratene Galerie im Gewölbekeller des Hauses, der eine Renaissance gewiss nicht schaden würde, und darüber hinaus eigene Ambitionen, künstlerisch tätig zu werden. Melanie dachte ans Malen und wusste, dass sie gut darin war.

„Hach, Kinder, ist das aufregend“, entfuhr es Eliza und verwies auf eine Gänsehaut an ihren Oberarmen. „Zum ersten Mal im Leben der eigene Boss zu sein – na, was sag´ ich, Rosa, findest du nicht auch?“ Mit Rosa meinte sie Frau Holzer.

Rosa Holzer, sechsundfünfzig. Die Frau, der man nicht ansah, dass hinter dem zarten Gesicht und der anmutigen Figur ein resoluter Charakter wohnte. Sie war schon allein aus Loyalität zu Melanie in geschäftlichen Angelegenheiten geradezu kompromisslos korrekt. Nicht umsonst hatte Melanie sie wegen dieser Zuverlässigkeit als Vertreterin gewählt. Dennoch war Rosa weit entfernt davon, als Beißzange zu gelten. Im Gegenteil, verfügte sie doch über einen gesunden trockenen Humor, der nicht jedem auf Anhieb gefallen mochte.

Rein äußerlich könnte man Frau Holzer durchaus für Melanies Schwester halten. Was gewiss daran lag, dass sie im Laufe der Jahre Melanie tatsächlich als Stilikone wahrgenommen und sich, sowohl was die Frisur als auch die Garderobe betraf, deren Outfit angenähert hatte. Nicht zum Nachteil, wie ihr von einigen Kunden souffliert wurde.

Rosa Holzer lächelte verständnisvoll und tätschelte Elizas Hand. „Mach´ dir mal keine Sorgen, Eliza. Die Kunden werden Schlange stehen, um die neue Geschäftsführerin kennenzulernen.“

„Das ist es ja“, antwortete Eliza. „Plötzlich so in der Verantwortung zu stehen.“

„Daran wirst du dich gewöhnen. Aber du hast recht. Obwohl ich Melanie einige Jahre vertreten habe, ist es auch für mich neu, auf eigenes Risiko zu wirtschaften.“

Melanie schaltete sich ein: „Das Risiko dürfte wohl ziemlich klein ausfallen. Immense Gelder in den Sand zu setzen, werdet ihr wahrscheinlich keine Gefahr laufen. Dafür werdet ihr auch keine Reichtümer verdienen. Du weißt ja, wie der Hase läuft, Rosa, und Eliza – für den Fall, dass du einen Künstler fördern willst – lass´ einfach deinen gesunden Verstand walten. Die Leute sind in der Mehrheit einfach froh darüber, bei euch einen Fuß in die Tür zur Öffentlichkeit zu kriegen. Und du als studierte Grafikerin bist für diesen Job doch geradezu prädestiniert.“

Melanies Worte waren Balsam für Elizas Ohren. Nur zu gut erinnerte sie sich daran, dass Melanie ihr die Kellergalerie für die Ausstellung ihrer Grafiken zur Verfügung gestellt hatte, und nicht ohne Erfolg. Eine Gruppe chinesischer Kunstschülerinnen hatte vor etwas mehr als einem Jahr für annähernd siebentausend Euro gut die Hälfte ihrer Grafiken gekauft.

Melanie referierte weiter: „So viel, dass ihr permanent zu zweit anwesend sein müsst, gibt das Geschäft nicht her. Sprecht euch am besten ab. Aber wem erzähl´ ich das? Rosa, du nimmst Eliza ein wenig unter die Fittiche. Am Anfang wenigstens. Von wegen Buchführung und so, gell? Dann werdet ihr das Kind schon schaukeln.“ Noch während sie sprach, reflektierte Melanie ihre Worte. Siedend heiß kroch ihr die Schamesröte über die Wangen: Ach du grüne Neune, versuche ich gerade Rosa zu erklären, wie sie ihren Job zu machen hat? Ihr, die mir die Buchführung erst beigebracht hat? Das ist in etwa so, als würde ich Albert Einstein die allgemeine Relativitätstheorie verklickern wollen.

Um ihre Verlegenheit zu kaschieren, rutschte Melanie mit dem Stuhl vom Tisch zurück und stand auf; zufällig gleichzeitig mit dem melodischen Klingeln der Türglocke, die eintretende Kundschaft ankündigte. Melanie betrat den Verkaufsraum – und blieb überrascht stehen. In Sekundenbruchteilen mutierte sie zu einer Zeitreisenden und fühlte sich exakt um drei Jahre und drei Tage zurückversetzt. Am vierten Oktober 2021 nämlich war ihr diese Person, die heute vor ihr stand, zum ersten Mal begegnet. Dieses Persönchen, musste man eher sagen, um genau zu sein. Die Retterin von Melanies Hochzeit mit Edgar Schaaf.

Tamara Brassova in voller Größe, und noch immer einen Kopf kleiner als Melanie. Und wieder, wie damals, von Kopf bis Fuß in Rot gekleidet.

Melanie bemerkte, dass sie die Frau ungebührlich anstarrte und breitete die Arme aus. „Tamara“, sagte sie gerührt, „ach wie ist das schön, dich zu sehen.“

Wie ein Mädchen stürzte sich die Frau an Melanies Brust. „Melanie“, seufzte sie und umschlang deren Oberkörper, so weit die kurzen Arme es vermochten. Derweil registrierte Melanie aus den Augenwinkeln, wie sich auf der Vortreppe zum Laden ein Hüne von Mann postierte, der Figur machte, nichts und niemanden an sich vorbeizulassen. Eine Gestalt wie ein grauer Nachtschatten.

Ein Unwetter hatte vor drei Jahren die Hochzeitsvorbereitungen zunichte gemacht. Die kleine Kapelle, vor den Toren Gengenbachs gelegen, in der die Trauung hätte stattfinden sollen, war von einem Blitz getroffen worden und abgebrannt. Tamara Brassova hatte, wie auch immer, von dem Unglück gehört und Melanie im Aquarelle und Poesie einen Besuch abgestattet. Nicht ohne ein unerwartetes Angebot zu unterbreiten: Nämlich die Hochzeit auf Schloss Ortenberg auszurichten. Schloss Ortenberg, seit ein paar Jahren im Besitz der Milliardärin aus Nowgorod in Russland.

Tamara Brassovas Hintergedanke war gewesen, der Öffentlichkeit ein anderes Bild von und über sich zu vermitteln als das, über das man sich landauf, landab das Maul zerriss. Von wegen russische Oligarchin von Gnaden des Kremls und so weiter. Zu jener Zeit im Jahr 2021 war man von einem Angriffskrieg Russlands gegen die benachbarte Ukraine noch viereinhalb Monate entfernt.

Heute, nach mehr als zweieinhalb Jahren Krieg, war die Stimmung gegen Russland an einem Tiefpunkt angelangt. Stimmung nicht nur gegen das Land, sondern gegen alles, was russisch war, also auch gegen die Menschen, und obwohl die allermeisten Auslandsrussen nichts mit dem politischen Handeln der heimischen Staats- und Armeeführung zu tun hatten, bekamen sie den Russenhass mit am meisten zu spüren. Tamara Brassova konnte ein Lied davon singen.

Es musste ein regelrechtes Netzwerk existieren, das sich den Kampf speziell gegen sie zur Aufgabe gemacht hatte. Gut, auch andere Leute mit russischem Pass sahen sich Anfeindungen ausgesetzt. Im Übrigen auch sogenannte Russlanddeutsche, also Menschen, deren Vorfahren vor Generationen aus Deutschland nach Russland ausgewandert waren und denen im Rahmen eines Aussiedler-Programms die Rückkehr nach Deutschland ermöglicht worden war. Die Anschläge gegen Tamara Brassova jedoch, anders konnte man die Übergriffe nicht bezeichnen, zeugten mit hohem kriminellen Potenzial von einer anderen Qualität. Tamara selbst sprach von einem Partisanenkrieg. Von unverhohlenem Terrorismus.

Auf Schloss Ortenberg hielt sie sich schon lange nicht mehr auf. Das auf einer exponierten Höhe liegende Gebäude war des Öfteren Zielscheibe von Beschuss geworden. Es gab rundum so gut wie keine intakte Fensterscheibe mehr. Das leicht gewölbte Metalldach des Hauptbaus war durch Gewehrgranaten stark beschädigt, sodass es ins Gebäude regnete. Ein sicherer Aufenthalt in den Mauern des Schlosses war nicht mehr gewährleistet. Die eingeschalteten Strafverfolgungsbehörden indes ermittelten erfolglos, da es weder irgendein Bekennerschreiben gab noch sich trotz etlicher verfügbarer Spuren ein explizites Täterbild erstellen ließ. Mutmaßungen genug waren zwar vorhanden, doch in allen Belangen zu vage.

Tamara Brassova hatte sich deswegen in ihr Zweitdomizil zurückgezogen – ein riesiges Bauwerk im einstöckigen Bungalow-Stil mit schusssicheren Panzerglasscheiben, auf einem weitläufigen Areal, geschützt durch einen hohen ellipsenförmigen Erdwall, der zusätzlich mit Natodraht bewehrten doppelten Zäunen versehen war. Die einzige Ein- und Ausfahrt war nur über ein kamerabewachtes Gittertor möglich. Zum ständig anwesenden Personal gehörten unter anderem drei Männer einer Sicherheitsfirma, untergebracht in einem Seitenflügel des Gebäudes.

Der lebenserfahrenen Melanie blieb derweil nicht verborgen, dass dem zarten Persönchen an ihrer Brust die Lebensfreude abhandengekommen zu sein schien. Da mochte sich Tamara noch so fest an sie drücken – die Sorgen umgaben sie wie eine Parfumwolke. Aber es war nicht Melanies Stil, gleich nach der ersten Wiedersehensfreude Essig in den Wein zu gießen.

„Du kommst gerade recht, meine Liebe“, sagte sie, löste sich aus Tamaras Umklammerung und dirigierte die kleine Frau geschickt ins Rückraumbüro. „Wir, also meine beiden Freundinnen und ich, besprechen die Übergabe des Geschäftes. Darf ich vorstellen? Das sind Rosa Holzer und Eliza Wohlbrecht. Sie werden das Aquarelle und Poesie weiterführen.“ Und an die zwei Frauen im Büro: „Rosa, Eliza – das ist Frau Tamara Brassova, die Besitzerin und Herrin von Schloss Ortenberg. Bei ihr auf dem Schloss haben Edgar und ich vor drei Jahren geheiratet.“

Rosa Holzer hatte sich erhoben. „Aber Melanie, was redest du da. Ich kenne Frau Brassova doch längst. Erinnerst du dich nicht mehr an das Weihnachtsfest in jenem Jahr? Da haben sie und ich uns kennengelernt, gell, Tamara?“ Auch Rosa Holzer begrüßte Tamara wie eine alte Bekannte, und Eliza tat es ihr nicht minder herzlich gleich.

Die Neuigkeit versetzte Tamaras Unterkiefer in Bewegung. Ihr Mund stand offen. „Wie? Du hörst auf, meine Teure? Jetzt, in der Blüte deiner Jahre?“

Melanie nickte und drängte die Überraschte zu dem Stuhl, den sie bis soeben noch selbst innegehabt hatte.

„Setz´ dich bitte, Tamara. Ja, ich höre auf. Es sind Umstände eingetreten, die meine ganze Kraft erfordern. Ich bin sozusagen Mutter geworden und …“

Die Milliardärin quietschte vor Vergnügen und sprang Melanie wie eine rote Mamba an, wenn es denn ein Reptil dieses Namens mit solcher Farbprägung gäbe. „Melanie! Mamuschka! Du!? Aber wie … du bist … hallo, du bist … und Edgar? Eh … Papa?“

Melanie lächelte selig. „Ja, seit diesem Sommer …“

Melanie kam nicht weit, weil sie von Tamara brüsk unterbrochen wurde: „Es ist dieses Mädchen aus Marokko, nicht wahr? Stimmt´s? Saida? Hab´ ich doch in Pit Fer-mans Krimi gelesen. Schaafskind. Jetzt sag´ mir, dass ich recht habe.“

„Ja, so ist es. Es ist Saida. Eliza Wohlbrecht ist übrigens Pit Fermans Ehefrau.“

„Ah ja? Gell, wusst´ ich´s doch, dass mir der Name schon einmal untergekommen war. Schaafsgold, wenn ich mich nicht irre?“

„Oh, Sie sind ja bestens informiert“, staunte Eliza. „Ja, Pit hat mich damals praktisch gerettet.“

„Nenn´ mich doch bitte Tamara“, intervenierte sie, „dann darf ich dich Eliza heißen, okee?“ Tamara faltete die Hände und sprach Melanie an. „Tja, weshalb ich überhaupt gekommen bin: Ich möchte dich und Edgar zu mir nach Hause einladen. Zur Feier des dritten Hochzeittages. Am dreißigsten Oktober. Ich lasse euch abholen. Mit dem Rolls-Royce Silver Shadow, wie damals. Und keine Widerrede. Na, was sagt ihr?“

30.10.2024

Edgar strich mit der flachen Hand über das edle Leder des Autositzes. Was hieß hier Autositz? Über den Lederbezug des Luxussessels im Fond des Rolls-Royce Silver Shadow Baujahr 1967. Er grunzte anerkennend. Es war das zweite Mal, dass er in solch einer Nobelkarosse saß. Das erste Mal vor drei Jahren, und wie damals war er in Begleitung seiner Melanie. Anders allerdings als bei der Fahrt zu ihrem Hochzeitstermin war, dass heute Saida zwischen ihnen hockte, in angestrengter Wachsamkeit, sodass ihr nichts von dem Besuch auf einem Schloss entgehen sollte.

„Ist sie eine Königin“, fragte sie, „so mit Krone und Hermelinmantel?“

„Nun, eine Königin ist sie nicht gerade, mein Schatz“, antwortete Melanie. „Aber sie ist eine großartige Frau. Du wirst sehen.“

Saidas Lippen führten ein akrobatisches Eigenleben. „Also auch kein Hermelinmantel?“

„Ehrlich gesagt, weiß ich das nicht“, gab Melanie lächelnd zu. „Das beste wird sein, wir fragen sie einfach.“

An diesem Vorschlag kaute Saida einige Sekunden. Als Melanie bereits dachte, damit sei die Angelegenheit erledigt, schob das Kind eine Bitte nach: „Machst du das für mich?“

„Ich mach´ das“, erklärte Edgar mutig. „Ich bin nämlich der beste Fragensteller der Welt. Schließlich war ich mal Polizist.“

Das war Saida ein gespielt genervtes Augenrollen wert. „Das weiß ich doch, Papa, aber für so eine einfache Frage muss man doch nicht bei der Polizei gewesen sein. Das kann doch jedes Kind.“

„Ha! Hab´ ich dich erwischt. Dann kannst du es ja auch, n´est-ce pas?“

Das Mädchen schmuste sich an Edgars Seite. „Okay, Papa, du hast gewonnen. Du bist ein guter Polizist.“

„Ich war ein Polizist, Saida, ich war.“

„Ich glaube, du bist es heute noch.“

Edgar schmunzelte und zauste Saidas dicke Mähne, realisierte jedoch, dass Melanie ihre entspannte Sitzposition veränderte. Sie holte Luft, um etwas zu sagen, blieb aber stumm. Stattdessen drehte sie den Kopf und lugte zurück.

„Was ist?“, fragte Edgar.

Melanies Zeigefinger deutete zum Rückfenster hinaus. „Zum Schloss – hätten wir nicht dort hinten abbiegen müssen?“

Auch Edgar wandte den Kopf. „Stimmt“, sagte er dann. „Zum Schloss wäre es dort abgegangen.“ Irritiert sprach er den Chauffeur ab: „Sie, zum Schloss …“

Der Fahrer nahm über den Rückspiegel mit Edgar Augenkontakt auf. „Wir fahren nicht zum Schloss“, sagte er.

„Ja, aber Frau Brassova hat uns …“

„Keine Sorge, die Herrschaften. Wir fahren zu Frau Brassovas neuem Zuhause. Sie erwartet Sie dort.“

Melanie und Edgar tauschten befremdliche Blicke. „Davon hat Frau Brassova aber nichts erwähnt“, sagte Melanie, die Augen weiterhin auf Edgar gerichtet.

„Schon möglich“, antwortete der Chauffeur. „Frau Brassova ist sehr auf ihre Sicherheit bedacht und hält die neue Adresse weitestgehend geheim. Betrachten Sie es als Privileg, von ihr im neuen Haus empfangen zu werden.“

Die Fahrt ging in die flache Rheinebene hinein, überquerte die Bahnlinie und die Autobahn A5. Gefühlt fuhr der Rolls-Royce kreuz und quer. Mal fiel das Sonnenlicht durch die linke, mal durch die rechte Seitenfensterscheibe, und bald kannte sich Edgar nicht mehr aus. Vertraute Orientierungsmerkmale wie die Schwarzwaldhöhen oder, auf der anderen Seite die Vogesen, waren nicht auszumachen. Der Fahrer schien Ortsdurchfahrten strikt zu vermeiden, und so bekam Edgar auch kein Ortsschild zu Gesicht. Eine Zeit lang lag auf Melanies Seite ein dichter Auwald, während Edgars Ausblick auf tristes Brachland fiel, über dem wie ein luftiger Schleier bodennaher leichter Nebel hing. Voraussetzungen also, um in dieser Jahreszeit den Reifeprozess zu einer herbstlichen Nebelsuppe in Gang zu setzen. Ein durch und durch nachvollziehbares Szenario.

Die Straße, so es denn eine war, befand sich in schlechtem Zustand, den auch die Federung des Rolls-Royce nicht problemlos wegsteckte. Saida vergnügte sich mit übertriebenem Hin- und Herschaukeln. Die Augen des Fahrers, stellte Edgar fest, waren zu Sehschlitzen verengt und stur nach vorne gerichtet. Dann bog der Rolls-Royce in den Auwald hinein.

„Um Gottes Willen, wo fahren Sie uns denn hin?“, fragte Melanie mit fast unhörbarem Vibrato in der Stimme. Ein Zeichen, dass sie nervös war, wenn nicht sogar ängstlich.

Edgar streckte ihr über Saidas Kopf hinweg die rechte Hand entgegen, die sie ohne zu schauen in blindem Verständnis ergriff und drückte. Melanie wusste intuitiv, in welchen Situationen er ihr beistehen wollte.

„Wir sind gleich da“, antwortete der Fahrer müde. „Minute.“

Kaum ausgesprochen, tat sich vor dem Rolls-Royce eine weite Lichtung auf. Ein Gitter versperrte die Weiterfahrt. Beiderseits des Tores erhoben sich hohe Erdwälle, die sich in einiger Entfernung in je einem Bogen verloren. Auf ihren Kronen verliefen zusätzlich mit Stacheldraht bestückte Doppelzäune. Per Fernsteuerung, die der Fahrer am Armaturenbrett bediente, bewegte sich das Gitter auf einer im Boden eingelassenen Schiene gespenstisch zur Seite.

Verdammte Scheiße, was soll das denn?, dachte Edgar. Sind wir hier etwa in Fort Knox?

Der Chauffeur steuerte das Auto jetzt durch die Öffnung zwischen den Erdwällen hindurch. Ab hier war die Straße asphaltiert und führte schnurgeradeaus. Das Gelände links und rechts war mit kurzgehaltenem Gehölz bewachsen. Plötzlich sprangen, wie bestellt, kurzhaarige Hunde neben dem Rolls-Royce her, die aus dem niedrigen Gebüsch gekommen sein mussten. Dobermänner, wie Edgar erkannte. Mühelos hielten sie das Tempo des Autos ein, überholten es spielerisch oder ließen sich zurückfallen, ganz nach Belieben. Melanie rückte vorsichtshalber weiter vom Seitenfenster weg. „Edgar, was soll das? Wo sind wir hier gelandet?“, fragte sie und nahm Saida mütterlich besorgt in die Arme.

„Sieht aus wie ein KZ“, antwortete er mit zusammengebissenen Zähnen, „fehlen nur noch die Baracken. Aber aha, schau nach vorne. Da haben wir schon eine. Zwar etwas moderner, aber genauso unheimlich.“

„Edgar, ich will da nicht hin“, schwankte Melanies Stimme.

„Zum Umkehren ist es, glaube ich, zu spät“, erwiderte er. „Wenn mich nicht alles täuscht, sehe ich unsere Gastgeberin vor dem Gebäude stehen.“

Edgars scharfe Augen hatten es richtig erkannt. Das Gebäude entpuppte sich als breit angelegter Bungalow mit Flachdach. Eine kleine Frau mit tizianroten Haaren schaute dem ankommenden Rolls-Royce entgegen. In einiger Entfernung hinter dem Bungalow ragte der Gittermast mit Ausleger eines Baukrans in die Höhe. Da wird noch mehr gebaut, dachte Edgar, enthielt sich jedoch eines Kommentars.

Der Chauffeur steuerte den Rolls-Royce in einen perfekten Halbkreis und hielt mit wenigen Metern Abstand direkt vor der kleinen Frau. Kaum dass der Wagen stand, riss er bereits die Fondtüren an beiden Seiten auf. Melanie schwenkte die Beine hinaus und stand Augenblicke später vor Tamara.

„Melanie, endlich“, stürzte Tamara auf sie zu und umarmte sie freudig wie ein Kind. Unterdessen war Saida scheu an Melanies Seite getreten. „Und das ist also euer Mädchen. Saida. Wie schön. Ich bin ganz gerührt.“ Tamara ging in die Knie und streckte Saida die Hand entgegen. „Hallo, Süße. Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen. Ich habe gehört, dass du eine Künstlerin bist?“

Saida blickte zu Melanie empor, die ihr aufmunternd zulächelte. Saida beantwortete die Frage mit einem stummen Kopfnicken.

„Großartig“, tönte Tamara. „Dann kannst du vielleicht ein Porträt von mir malen. Das fehlt mir nämlich noch in meiner Sammlung.“

Edgar hatte das Heck des Rolls-Royce umrundet und trat an Melanies Seite. „Hallo, Tamara“, sagte er, „bist du nach hier umgezogen, oder was ist das für ein Bunker?“

Tamara erhob sich und umschlang seine Brust. „Edgar! Mein lieber Edgar! Direkt wie immer. Herzlich willkommen in meiner bescheidenen Hütte. Ja, hier wohne ich jetzt. Aber kommt doch mit ins Haus, dann erzähle ich euch alles.“

Während Saida, eine Tasse heißen Kakaos in den Händen, die vielen Ikonen an einer Wand des geräumigen Wohnzimmers bestaunte, saßen Melanie, Edgar und die Gastgeberin um einen schweren Couchtisch aus einer versteinerten Baumscheibe und tranken Espressi aus kleinen Tassen.

Tamara Brassovas neues Haus war nüchtern aber gediegen eingerichtet. Irgendeinen Firlefanz gab es so gut wie nicht zu sehen. Die Einrichtung musste sündhaft teuer gewesen sein. Die wenigen Gegenstände, die diskret und unaufdringlich auf dem Boden oder auf Konsolen standen, schienen durchaus nach der prallen Geldbörse der Hausherrin ausgesucht worden zu sein. Riesige, seidig glänzende Teppiche dämpften die Schritte der Haushälterin, die den Kaffee und Gebäck servierte. Edgar vermutete stark, dass einige der unauffälligen Gemälde an den Wänden echt waren, einschließlich der Ikonen.

„… ja, mein lieber Edgar, liebe Melanie, deswegen bin ich hierher gezogen. Du hast es einen Bunker genannt, Edgar, und im Grunde hast du den Nagel auf den Kopf getroffen. Es ist ein Hochsicherheitshaus. Die Fensterscheiben sind aus Panzerglas, und das Flachdach ist aus Spezialbeton. Bombenfest, sozusagen.“

„Du wirst doch Schloss Ortenberg nicht verkaufen wollen?“, fragte Melanie.

„Nein, Melanie, das behalte ich. Aber es soll wieder für die Öffentlichkeit zugänglich werden“, antwortete Tamara. „Es war ja mal eine Jugendherberge. Vielleicht gebe ich das Schloss der Jugend wieder zurück.“

Melanie nickte. „Gute Idee, Tamara.“

Edgar streckte den Finger wie früher in der Schule. „Darf ich in aller Bescheidenheit fragen, was es mit den Bauarbeiten hinter deinem neuen Haus auf sich hat? Dort, wo der Baukran steht? Baust du noch ein Hallenbad oder was?“

Tamara lächelte verschmitzt. „Natürlich darfst du fragen, mein lieber Edgar, aber ich werde es dir nicht sagen. Das ist gewissermaßen geheim. Soll niemand wissen.“

„Also kein Hallenbad“, bohrte Edgar ein bisschen tiefer.

Melanie drückte ihm diskret den Ellbogen in die Rippen. „Edgar!“, mahnte sie ihn zur Räson.

Er gab sich empört: „Wieso, man wird doch noch fragen dürfen.“

„Das hast du doch schon längst, und eine Antwort hast du auch bekommen. Lass´ jetzt gut sein“, pflaumte sie ihn gutmütig an. Sie kannte ihren Edgar und seine unentwegte Neugier.

In dieser Sekunde erschien die Haushälterin, beugte sich über ihre Chefin und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Da klatschte Tamara in die Hände und rief: „Das Essen ist serviert, meine Lieben. Kommt bitte zu Tisch.“

Edgar hatte, wie er es gelegentlich zu tun pflegte, eine Wette mit sich abgeschlossen. Zehn Euro von der rechten in die linke Hosentasche. Es wird Blinis geben, wie vor drei Jahren zu Weihnachten. Verfeinert mit Rote Beete. Oder Borschtsch, auch mit Rote Bete. Oder gleich beides. Dabei war er nicht gerade ein Freund von Rote Beete.

Er durfte das Geld in der rechten Hosentasche behalten. Tamara ließ eine Flädlesuppe servieren, anschließend Rehbraten mit Kartoffelklößen und Preiselbeeren. Als Dessert Birne Helene. Die Haushälterin war eine exzellente Köchin. Edgar sprach ihr seine ehrliche Anerkennung aus, was von der Frau mit bescheidener Freude aufgenommen wurde. Auch Saida fand, dass die Suppe sehr gut geschmeckt hatte.

Da das Datum von Melanies und Edgars Hochzeitstag in die Herbstferien fiel, durfte Saida heute länger aufbleiben. Während die Erwachsenen beim Champagner angelangt waren, schlenderte das Mädchen mit einem Glas Limonade in der Hand durch die Wohnung. Sie wusste, dass indessen am Couchtisch über den Krieg in der Ukraine und seine Folgen gesprochen wurde. Saida fürchtete sich zwar nicht unmittelbar davor. Melanie hatte gesagt, die Ukraine sei über tausend Kilometer weit weg und sie müsse sich keine Sorgen machen. Aber in Saidas Klasse gingen zwei ukrainische Mädchen, und damit schien der Krieg doch nicht so fern zu sein. Auch wenn sie weitestgehend von den Berichterstattungen im Fernsehen verschont wurde und vom hässlichen Kriegsgeschehen nichts mitbekam, fühlte ihre Kinderseele eine abstrakte Bedrohung. Sie verfügte über einen wachen Verstand und erkannte die Schrecken des Krieges an Melanies und Edgars Mienen. Dinge, die sich ein Kind nicht vorstellen konnte und nicht vorstellen durfte.

Mit ihrem fotografischen Gedächtnis prägte sie sich die Gemälde ein, die an Tamaras Wänden hingen, um daheim im Internet ihres Handys die Künstler dazu zu suchen. Sie wäre gewiss in der Lage, die Bilder zu Hause nachzumalen, doch das würde sie niemals tun. Ihr Empfinden sagte ihr, dass das Diebstahl wäre. Doch von Tamara würde sie ein Porträt anfertigen. Sie hatte sich das Aussehen der kleinen rothaarigen Frau haargenau gemerkt.

Die Zeiger der Uhr gingen bereits Richtung elf Uhr, als Melanie, Edgar und Saida sich von Tamara verabschiedeten und den Rolls-Royce bestiegen, der sie nach Gengenbach bringen würde. „Vergiss nicht, ein Bild von mir zu malen, meine Süße“, wurde Saida zum Schluss von Tamara erinnert.

Saida nickte, lächelte und antwortete: „Morgen ist es fertig.“

30.10./31.10.2024

Die Nacht vom dreißigsten Oktober auf den einunddreißigsten Oktober 2024 war stockdunkel. Schloss Ortenberg wurde seit geraumer Zeit nicht mehr angestrahlt. Nicht, dass Tamara Brassova dem Verein gegen Lichtverschmutzung beigetreten war, oder dass ihr die Kosten für die elektrische Energie, die die Scheinwerfer verbrauchten, zu teuer gewesen wären. Der Grund war, dass sie die tagsüber weithin sichtbare Schlossanlage nicht auch noch nachts als Zielscheibe mit Beleuchtung präsentieren wollte.

Stockdunkel, und in der Rheinebene sowie in den Tälern der Schwarzwaldvorberge hing dicker Nebel. Aus der Höhenlage des Schlosses wirkten die Straßenlaternen der Gemeinde Ortenberg wie Leuchtdioden hinter Milchglasscheiben. Verkehrslärm oder andere Geräusche aus dem Dorf blieben in den feuchten Schwaden wie an einem Sprühkleber hängen. Oben am Schloss herrschte eine ungewöhnliche Stille.

Der Platz war gut gewählt. Diametral zum offiziellen Besucherparkplatz und dem Haupttor gelegen. Der Lastwagen mit dem Kastenaufbau und dem leuchtend gelben Firmenlogo stand nur wenige Meter unterhalb des Schlosses auf einem kurzen Abzweig des landwirtschaftlich genutzten Weges durch die Rebhänge. Direkt über ihm ragte das imposante Haupthaus in den Nachthimmel. Der Motor war abgestellt, das Licht ausgeschaltet. Der Fahrer im Führerhaus wartete auf ein verabredetes Zeichen, das vom versteckten Seiteneingang der Schlossanlage gegeben werden sollte.

„Hör´ zu, Shorty“, hatte Lefti ihm gesagt und ihm einen Zettel und ein flaches, in handelsübliches Packpapier gewickeltes Päckchen gegeben. „Auf dem Zettel steht, wo du hin und was du machen musst. Kennst das ja. Du tippst die Zahlen in das Bordsystem ein, dann folgst du den Anweisungen von GPS. Klar? In dem Paket sind die falschen Nummernschilder. Brauchst sie nur über die echten zu stecken. Aber vergiss nicht, sie nach dem Job wieder mitzunehmen.“

Shorty hatte den Zettel mit den Koordinaten angeguckt. Er war an der Theke des Pub bei einem Bier gesessen, als Lefti verabredungsgemäß hereingekommen war. „Was ist das für ein Job, dass du ihn nicht selber machst?“

„Weiß ich nicht“, hatte Lefti geantwortet. „Es soll eine große Sache sein, bei der keiner den anderen kennt. Du sollst nur eine Ladung übernehmen. Mehr brauchst du nicht zu wissen. Aber sei pünktlich, das ist wichtig. Und warum ich nicht selber fahre?“ Leftis Lippen hatten schmunzelnd gezuckt. „Das geht dich zwar einen Mist an, aber ich sage nur: Heiße Lady, wenn du verstehst, was ich meine. Der Laster steht übrigens auf dem Hof der Klempnerfirma, für die ich arbeite. Schlüssel steckt. Und genau dort stellst du ihn nach Beendigung des Jobs wieder ab. Ich verlass´ mich drauf.“

Shorty hatte den Zettel eingesteckt. „Muss ich sonst noch etwas wissen? Gibt´s ´ne Belohnung oder was?“

Lefti hatte den Kopf geschüttelt. „Sei pünktlich. Die Belohnung teilen wir uns dann. Vermassel´ es nicht, schalt´ dein Handy aus und rauch´ nicht.“

Das sah Lefti mal wieder ähnlich. Da hatte der alte Schwerenöter ein Date mit einer Lady, das er nicht verschieben konnte, oder nicht wollte, und schusterte ihm, Shorty, nun eine Fuhre zu mitternächtlicher Stunde zu, die gewiss nicht ganz hasenrein war.

Sie kannten sich seit der Schulzeit. Der um einen Kopf größere Lefti war einer der wenigen gewesen, die Shorty wegen seiner Größe nicht gehänselt hatten. Gut, auch er rief ihn beim Spitznamen, doch kam es aus seinem Mund nicht höhnisch oder abwertend daher, und er machte die dummen Scherze der anderen nicht mit.

Später, als Lefti neben der Lehre als Heizungstechniker seine Karriere als Kleinganove begonnen hatte, waren sie sich nur noch sporadisch begegnet. Einige Male im Irish Pub in Offenburg, oder auch mal im Tanzclub Etage Eins. Immer hatte Lefti ausreichend Geld gehabt, um ihn einzuladen und freizuhalten. Dabei weihte er Shorty eines Nachts in das Geheimnis ein, womit er eigentlich das Geld verdiente: Mit Einbrüchen in die Lagerhäuser diverser Großhändler. Das tut denen nicht weh, hatte er sich gerechtfertigt, die setzen die Verluste von der Versicherung ab, und allen ist geholfen. Haha. Aber pschscht, Schnauze, Kumpel. Wenn du mal Lust hast oder dringend Geld brauchst – ruf´ mich an, okay?

Und Geld hatte Shorty dann gebraucht, besonders nachdem er die Lehre als Mechatroniker abgebrochen hatte. Der erste Bruch, zusammen mit Lefti, war ein voller Erfolg gewesen. Nagelneue Tablets aus dem Lager der Firma Digitec. Auf den Geschmack von schnellem Geld gekommen, sollte es nicht der letzte gemeinsame Coup gewesen sein.

Was Shorty allerdings nicht konnte, ganz im Gegensatz zu Lefti, waren Frauen. Wechselte Lefti die Frauen so häufig wie die Unterhosen, inklusive aller damit einhergehenden Probleme, hielt sich das weibliche Geschlecht von Shorty fern. Er wusste nicht wirklich, warum das so war, doch fühlte er sich schlichtweg übersehen.

Hat sich was! Handy aus! Rauch nicht´! Kann mich mal!, schnappte Shorty und daddelte aus purer Langeweile einige Minuten ein Ballerspiel auf dem Handy, doch er verlor und war tot, bevor er das nächste Level erreichte. Scheiße, dachte er und klopfte die Asche zum Seitenfenster hinaus. Der, der ihn am Rauchen hindern wollte, musste erst noch geboren werden. Pah!

Er guckte auf die Uhr am Armaturenbrett. Die Zeiger wanderten gerade über Mitternacht hinaus. Unlustig schaltete er das Handy wieder aus. Schalt´ dein Handy aus. Ja, ja, meine Güte, wegen der paar Minuten? Man kann die Vorsicht auch übertreiben.

Direkt hinter seinem Truck, Shorty hatte ihn praktischerweise gleich bei Ankunft zur schnelleren Abfahrt gewendet, versperrte ein quergestellter dunkelblauer Lieferwagen Typ Sprinter die Sicht auf den Seiteneingang. Shorty wusste weder wer dort zugange war, noch was dort gemacht wurde. Das Auto war bereits dagestanden, bevor er mit seinem LKW angekommen war. Wie soll ich da, verdammt, ein Signal sehen?

Vor ein paar Minuten hatte er sich die Beine vertreten und bei der Gelegenheit um den ominösen Sprinter herumgespäht. Aber den angebliche Zugang zum Schloss hatte er auch dann nicht erkennen können. Dort, wo er ihn vermutete, bildeten wuchernde Büsche eine Art Tunnel, lag alles in totaler Dunkelheit. Weiterzugehen hatte er sich nicht getraut. Es war nicht sein Job, anderen hinterher zu schnüffeln. Er war verantwortlich für den LKW.

Der richtige Name war Georg Sackmann. Aus dem Kosename Schorschi, wie ihn seine Mutter heute noch rief, war dann irgendwann im Laufe der Realschulzeit der Spitzname Shorty geworden. Wahrscheinlich sogar ab der ersten Stunde Englischunterricht. Er fand sich damit ab, klang doch Shorty besser als Zwerg, obwohl man ihn gerade wegen seiner Körpergröße von ein Meter einundsechzig so nannte. Aber erst einmal musste jemand Englisch können, um zu verstehen, wie es gemeint war.

Er rauchte die Zigarette bis zum Filter und wartete eine Weile, bis die Glut von alleine erlosch. Dann zog er den Aschenbecher aus dem Armaturenbrett. Voll bis zum Rand. Kurzerhand schnippte Shorty die Kippe zum Fenster hinaus.

In dem Moment, als er es wieder schloss, meinte er im Rückspiegel hinter dem Lenkrad des dunkelblauen Lieferwagens eine Bewegung zu erkennen. Nein, weniger. Eine Veränderung in der Scheibe. Oder hinter der Scheibe? Ein Schatten. Eher eine Schattierung vor der Schwärze des dunklen Hintergrunds. Saß da einer? Wartete der vielleicht ebenfalls auf ein Zeichen?

Shorty war unschlüssig. Wenn er jetzt hinüberginge um einen Smalltalk zu halten, konnte das gegen die Team-Philosophie des Bosses verstoßen. Falls es überhaupt eine gab. Doch irgendeinen Grund für die Geheimnistuerei musste es ja geben. Keiner kennt den anderen, wie Lefti angedeutet hatte, wäre gut vorstellbar. Was einer nicht wusste, konnte er auch nicht verraten. Zumindest was die Fußsoldaten und die Handlanger betraf. Also erst gar nicht an die Scheibe dort drüben klopfen?

Aber vielleicht war der Fahrer des Sprinters ebenfalls bloß ein armes bedeutungsloses Schwein, das sich langweilte und sich nach ein bisschen Unterhaltung sehnte. Wenn dem so war, wieso war er dann seinerseits nicht längst herübergekommen? Er musste ihn schließlich gesehen haben.

Shorty kletterte aus dem Truck und schlenderte, Hände in den Hosentaschen, zu dem Lieferwagen hin. Der Nebel wälzte sich wie Schaum über Fahrzeuge und Büsche hinweg. Shorty beugte sich nach vorn, um in die Fahrerkabine zu spicken. Sehen konnte er nur den eigenen schwarzen Schatten seines Kopfes. Dann klopfte er mit dem Zeigefingerknöchel gegen die Scheibe. Keine Reaktion. Er hob die Hand, um es nochmal zu probieren. Da surrte die Scheibe ein Stück nach unten. Zwei Augen, umrahmt von einer Motorradhaube, funkelten ihn böse an: „Hau´ ab, du Arsch. Verpiss´ dich!“, wurde er angezischt.

„Hey, Kollege, ich wollte nur mal …“

„Du sollst dich verpissen. Wieso hast du deine Maske nicht auf?“

„Maske?“

„Deine Maske! Alle, alle arbeiten mit Maske. Hat man dir das nicht gesagt?“ Die Scheibe surrte wieder nach oben.

Shorty schlich beleidigt zum Truck. Was denn für eine scheiß Maske? Lefti hatte nichts von einer verdammten Maske gesagt.

Da blitzte es dreimal aus dem Gebüschtunnel heraus. Das war es: das Zeichen.

Shorty wusste, was er zu tun hatte. Es hatte auf dem Zettel mit den Orts- und Zeitangaben gestanden. Laderaum öffnen und in der Fahrerkabine warten, bis weitere Instruktionen folgen.

Kaum hatte er die Flügeltüren aufgerissen und hinter dem Lenkrad Platz genommen, verrieten ihm diverse Erschütterungen und Schwankungen eine betriebsame Aktivität im Laderaum des Lasters. Im Rückspiegel nahm er nur hektisches Kommen und Laufen dunkler Gestalten wahr, die jeweils mit einem Bündel aus dem schwarzen Tunnel auftauchten und ohne Last wieder zurückeilten. Darüber, was hinter ihm geladen wurde oder was sich in den Bündeln befand, war Shorty nicht informiert. Er war ja nur der Fahrer. Doch dachte er im Zusammenhang mit der Örtlichkeit, nämlich dem Schloss Ortenberg, dass es sich um etwas Wertvolles handeln musste.

Es dauerte nicht länger als etwa zehn Minuten. Dann war das Gewusel schlagartig vorbei. Shorty erschrak, als neben ihm plötzlich die Beifahrertür aufgerissen wurde und ein ganz in schwarz gekleideter Kerl mit Motorradhaube auf den Sitz kletterte. Schon die Körpersprache verriet, dass es sich bei ihm nicht um einen vom Fußvolk handelte.

„Was ist das denn für ein Scheiß-Truck? Ein neutraler Laster hat es geheißen. Und was bringst du? Einen Firmenwagen. Sanitär und Heizungstechnik Sunbörn. Man fasst es nicht. Kann man ja gleich die Bullerei verständigen. Mann, Mann, Mann. Und hier stinkt´s nach Rauch“, bemerkte er kritisch als zweites. „Hast es die paar Minuten wohl nicht ohne Glimmstängel aushalten können, was? Wo hast du die Kippe hingetan?“

Shorty wies auf den Aschenbecher. „Bin doch nicht blöd“, antwortete er frech.

Zu frech, wie der Kerl der Ansicht war, denn er verabreichte Shorty so flink eine Kopfnuss mit den Fingerknöcheln, dass der die Bewegung überhaupt nicht hatte kommen sehen. „Und eine Maske hast du auch nicht auf.“ Zweite Kopfnuss. Er deutete auf Shortys Handy, das zwischen dessen Schenkeln steckte. „Ausgeschaltet?“

„Logisch“, versuchte Shorty cool zu klingen.

„Zeig her!“, verlangte der Maskenmann, der im Nu herausfand, dass Shorty vor wenigen Minuten noch online gewesen war. „Sag´ mal, willst du mich verarschen? Wer bist du eigentlich. Wo ist der abhörsichere Braker?“

Shorty guckte dumm aus der Wäsche. „Davon war nicht die Rede gewesen. Lefti hat davon nichts …“

„Lefti? Sagtest du Lefti?“

„Ja, klar. Lefti ist ein Kumpel von mir. Der hat mir den Job aufgeschwatzt.“

Der Typ schien zu überlegen. „Okay“, sagte er nach einer Weile, „du hältst ab jetzt das Maul, kapiert? Auf was wartest du noch? Schmeiß´ den Motor an und fahr los.“

„Aber wohin …?“

„Das sag´ ich dir schon, du Nulpe. Los jetzt!“ Dritte Kopfnuss.

Die Stimmung in der Fahrerkabine war so unterkühlt wie flüssiger Stickstoff in einem Isolierbehälter. Der Kerl navigierte Shorty mit monotoner, aber eisiger Stimme wie eine digitale GPS-Ansage den Rebberg hinunter, durch die Ortschaft Ortenberg hindurch und weiter durch die Nebel-Waschküche der Rheinebene. Er schien ein Blind-fluggerät im Kopf eingebaut zu haben, denn obwohl die Fernsicht zwei Meter vor der Kühlerhaube des Lasters endete, wusste er auf den Meter genau, wo sie sich jeweils befanden und wann er die Fahrtrichtung anzusagen hatte. Dabei verschwendete er kein Wort.

Shorty hatte die Orientierung relativ bald verloren. Allein den Laster auf der Straße zu halten verlangte von ihm höchste Konzentration. Da konnte er sich nicht auch noch darum kümmern, wo genau sie sich gerade befanden. Hauptsache der Typ neben ihm beherrschte das Radar.

Es lechzte ihn nach einer Zigarette, und aus alter Gewohnheit griff seine Hand an die Brusttasche seiner Jacke, in der die Ziggis steckten. Doch ein Räuspern des Sitznachbarn genügte, um ihm die Sucht zu vergällen. Hergotzack, was sind das bloß für missgünstige Ärsche, dachte er und war froh, dass KI noch keine Gedanken lesen konnte.

Nach einer Weile hielt er es nicht mehr aus. „Fahren wir eigentlich im Kreis, oder was?“, entwischte ihm die provozierende Frage.

„Warum so ungeduldig, mein Freund?“ Die Stimme des Beifahrers klang ungewöhnlich lässig.

„Ach, ist doch wahr. So ein Herumgegurke!“, maulte Shorty.

Nach einer Denkpause von knapp zehn Sekunden sagte der Sitznachbar: „Hast recht. Fahr´ doch einfach mal rechts ran. Steig aus und rauch´ gemütlich eine Zigarette. Wir sind ja nicht auf der Flucht.“ Mit diesen Worten zog er die Kapuze vom Kopf und zwinkerte Shorty mit einem Auge zu.

Shorty war verblüfft. „Wie? Echt jetzt?“

„Klar. Na los schon, ist doch kein Verkehr hier“, war die aufmunternde Antwort. „Aber lass´ den Motor laufen und bleib im Scheinwerferlicht. Nicht, dass du dich in dieser Nebelsuppe verirrst, kapiert? Und lass´ dein Handy da.“

Shorty grunzte zufrieden, stieg aus und nestelte die Zigarettenschachtel aus der Brusttasche. Während er das Feuerzeug an die Zigarette hielt, betrat er die Lichtkegel, die von den Scheinwerfern vor die Kühlerhaube des LKW geworfen wurden. Gierig inhalierte Shorty den ersten Zug und wunderte sich, wieso der Dieselmotor des Lasters aufheulen konnte, wenn er doch gar nicht am Steuer saß. Als er sich verdutzt umwandte und der linke Scheinwerfer auf ihn zugerast kam, war es zum Ausweichen bereits zu spät.

*

Stefan Übermaß, Dirigent des Männergesangsvereins Eschholz, war traurig. Fünfundzwanzig Jahre lang war er Dirigent des Vereins gewesen – und nun sollte Schluss sein? Auf satzungsgemäßen Beschluss der Vorstandschaft und der wenigen Vereinsmitglieder, sowohl passiv als auch aktiv: Der MGV Eschholz löste sich auf.

Traurig. Ja, das traf seine Gefühlslage. Traurig, enttäuscht und niedergeschlagen. So viele Jahre.

Wenn pro Stimme nicht mindestens drei Sänger zu zählen waren, musste der Verein die Konsequenzen ziehen. Zuletzt hatten sie die geforderte Anzahl nicht mehr erreicht. Erster Tenor zwei Aktive, Zweiter Tenor drei, Erster Bass vier, Zweiter Bass zwei. Und dann das Alter. Der Jüngste war sechsundsiebzig Jahre alt. Dreiundneunzig der Älteste. Damit konnten sie nicht mehr auftreten. Es machte keinen Sinn. Stolz waren die alten Krücken immer noch, daran gab es keine Zweifel. Aber Stefan Übermaß wusste, dass man sie hinter vorgehaltener Hand belächelte. Doch, doch, er sah es ein. Ein Abgang in Würde war unabwendbar, bevor die Männer inklusive ihm das Mitleid in den Augen der Zuhörer buchstabieren konnten. So denn überhaupt noch Leute kamen, um ihnen zuzuhören.

Sie waren nach der Generalversammlung noch zusammengesessen. Der gesamte Vorstand, einige passive Mitglieder, sowie ein paar Sänger von den etwas jüngeren, und er, Stefan Übermaß. Im Schwanen