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Wenn Hoffnung zur Obsession wird
Stefan Zweigs Schachnovelle erzählt die Geschichte eines Mannes, der in der Einsamkeit seines Gefängnisses durch das Schachspiel eine Zuflucht findet – und dabei an der eigenen Brillanz zu zerbrechen droht.
Zwischen Vernunft und Wahnsinn entfaltet sich ein Kammerspiel von beklemmender Intensität, das die Grenzen des menschlichen Geistes erreicht.
Diese psychologische Erzählung ist ein ergreifendes Plädoyer für geistige Würde, Humanität und die unzerstörbare Kraft des Denkens.
Ein Meisterwerk über Isolation, Verzweiflung – und die rettende Macht des Geistes.
nexx classics – WELTLITERATUR NEU INSPIRIERT
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Stefan Zweig
Schachnovelle
Stefan Zweig
Schachnovelle
ISBN/EAN: 978-3-95870-759-7
3. Auflage
Rechtschreibung und Schreibweise des Originaltextes
wurden behutsam angepasst.
Covermotiv: © nexx verlag gmbh
Covergestaltung: nexx verlag, 2025
www.nexx-verlag.de
Wenn man heute Stefan Zweigs »Schachnovelle« liest, spürt man sofort: Dieses Buch ist mehr als nur eine Geschichte. Es ist ein stilles Vermächtnis – geschrieben von einem Autor, der im Exil den Verlust seiner Welt ertrug und dennoch an die Kraft des Geistes glaubte. Kaum ein anderes Werk zeigt so eindringlich, wie ein Mensch selbst in der Isolation Würde, Denken und Hoffnung bewahren kann.
Die Novelle schildert das Schicksal des österreichischen Emigranten »Dr. B.«, der von den Nationalsozialisten in Isolationshaft gehalten wird und durch das Schachspielen gegen sich selbst seine geistige Freiheit rettet – und sie zugleich zu verlieren beginnt. Sie ist ein stilles Drama über die Grenzen des Denkens und die Zerbrechlichkeit der menschlichen Seele.
Ich bewundere an Stefan Zweig die besondere Mischung aus Sensibilität und Klarheit. Er urteilt nicht, er beobachtet. Er zeigt, wie dünn der Faden ist, der Vernunft und Wahnsinn trennt – und wie sehr das Schachspiel hier zum Symbol unseres inneren Kampfes wird. Genau das macht die »Schachnovelle« zu einem Klassiker der Weltliteratur, der nichts von seiner Aktualität verloren hat.
Für diese moderne Ausgabe haben wir den Text behutsam in die heutige Rechtschreibung überführt und zugleich darauf geachtet, den ursprünglichen Klang von Zweigs Sprache zu bewahren. Sie soll heutigen Lesern ermöglichen, diesen großen Autor neu zu entdecken – unmittelbar, verständlich und in seiner ganzen literarischen Schönheit.
Möge dieses Buch Ihnen das schenken, was Zweig selbst suchte: einen Moment der Sammlung, des Nachdenkens und der inneren Freiheit.
Ihr VerlegerJoachim Feser
Auf dem großen Passagierdampfer, der um Mitternacht von New York nach Buenos Aires abgehen sollte, herrschte die übliche Geschäftigkeit und Bewegung der letzten Stunde. Gäste vom Land drängten durcheinander, um ihre Freunde zu begleiten, Telegrafenboys mit schiefen Mützen schossen Namen ausrufend durch die Gesellschaftsräume, Koffer und Blumen wurden geschleppt, Kinder liefen neugierig treppauf und treppab, während das Orchester unerschütterlich zur Deck-Show aufspielte. Ich stand im Gespräch mit einem Bekannten etwas abseits von diesem Getümmel auf dem Promenadendeck, als neben uns zwei- oder dreimal Blitzlicht grell aufleuchtete – anscheinend war irgendein Prominenter knapp vor der Abfahrt noch rasch von Reportern interviewt und fotografiert worden. Mein Freund blickte hin und lächelte. »Sie haben da einen raren Vogel an Bord, den Czentovic.« Und da ich offenbar ein ziemlich verständnisloses Gesicht zu dieser Mitteilung machte, fügte er erklärend bei: »Mirko Czentovic, der Weltschachmeister. Er hat ganz Amerika von Ost nach West mit Turnierspielen abgeklappert und fährt jetzt zu neuen Triumphen nach Argentinien.«
Tatsächlich erinnerte ich mich jetzt an diesen jungen Weltmeister und sogar an einige Einzelheiten bezüglich seiner raketenhaften Karriere – mein Freund, ein aufmerksamerer Zeitungsleser als ich, konnte sie mit einer ganzen Reihe von Anekdoten ergänzen. Czentovic hatte sich vor etwa einem Jahr mit einem Schlag neben die bewährtesten Altmeister der Schachkunst, wie Aljechin, Capablanca, Tartakower, Lasker, Bogoljubow, gestellt; seit dem Auftreten des siebenjährigen Wunderkindes Rzecewski bei dem Schachturnier 1922 in New York hatte der Einbruch eines völlig Unbekannten in diese ruhmreiche Gilde noch nie derart allgemeines Aufsehen erregt. Denn Czentovics intellektuelle Eigenschaften schienen ihm keineswegs eine solch blendende Karriere von vornherein zu weissagen. Bald sickerte das Geheimnis durch, dass dieser Schachmeister in seinem Privatleben außerstande war, in irgendeiner Sprache einen Satz ohne orthographischen Fehler zu schreiben, und wie einer seiner verärgerten Kollegen ingrimmig spottete, »seine Unbildung war auf allen Gebieten gleich universell«. Sohn eines blutarmen südslawischen Donauschiffers, dessen winzige Barke eines Nachts von einem Getreidedampfer überrannt wurde, war der damals Zwölfjährige nach dem Tod seines Vaters vom Pfarrer des abgelegenen Ortes aus Mitleid aufgenommen worden, und der gute Pater bemühte sich redlich, durch häusliche Nachhilfe wettzumachen, was das maulfaule, dumpfe, breitstirnige Kind in der Dorfschule nicht zu erlernen vermochte.
Aber die Anstrengungen blieben vergeblich. Mirko starrte die ihm schon hundertmal erklärten Schriftzeichen immer wieder fremd an; auch für die simpelsten Unterrichtsgegenstände fehlte seinem schwerfällig arbeitenden Gehirn jede festhaltende Kraft. Wenn er rechnen sollte, musste er noch mit vierzehn Jahren die Finger zu Hilfe nehmen, und ein Buch oder eine Zeitung zu lesen war für den schon halbwüchsigen Jungen noch eine besondere Anstrengung. Dabei konnte man Mirko keineswegs unwillig oder widerspenstig nennen. Er tat gehorsam, was man ihm sagte, holte Wasser, spaltete Holz, arbeitete auf dem Feld mit, räumte die Küche auf und erledigte verlässlich, wenn auch mit verärgernder Langsamkeit, jeden geforderten Dienst. Was den guten Pfarrer aber an dem querköpfigen Knaben am meisten verdross, war seine totale Teilnahmslosigkeit. Er tat nichts ohne Aufforderung, stellte nie eine Frage, spielte nicht mit anderen Kindern und suchte von selbst keine Beschäftigung, sofern man sie nicht ausdrücklich anordnete; sobald Mirko die Verrichtungen des Haushalts erledigt hatte, saß er stur im Zimmer herum mit jenem leeren Blick, wie ihn Schafe auf der Weide haben, ohne an den Geschehnissen rings um ihn den geringsten Anteil zu nehmen. Während der Pfarrer abends, die lange Bauernpfeife schmauchend, mit dem Gendarmerie-Wachtmeister seine üblichen drei Schachpartien spielte, hockte der blondsträhnige Bursche stumm daneben und starrte unter seinen schweren Lidern anscheinend schläfrig und gleichgültig auf das karierte Brett.
Eines Winterabends klingelten, während die beiden Partner in ihre tägliche Partie vertieft waren, von der Dorfstraße her die Glöckchen eines Schlittens rasch und immer rascher heran. Ein Bauer, die Mütze mit Schnee überstäubt, stapfte hastig herein, seine alte Mutter läge im Sterben, und der Pfarrer möge eilen, ihr noch rechtzeitig die letzte Ölung zu erteilen. Ohne zu zögern folgte ihm der Priester. Der Gendarmerie-Wachtmeister, der sein Glas Bier noch nicht ausgetrunken hatte, zündete sich zum Abschied seine Pfeife an und wollte eben die schweren Schaftstiefel anziehen, als ihm auffiel, wie unentwegt der Blick Mirkos auf dem Schachbrett mit der angefangenen Partie haftete.
»Na, willst du sie zu Ende spielen?« spaßte er, vollkommen überzeugt, dass der schläfrige Junge nicht eine einzige Figur auf dem Brett richtig zu rücken verstünde. Der Knabe starrte scheu auf, nickte dann und setzte sich auf den Platz des Pfarrers. Nach vierzehn Zügen war der Gendarmerie-Wachtmeister geschlagen und musste zudem eingestehen, dass keineswegs ein versehentlich nachlässiger Zug seine Niederlage verschuldet habe. Die zweite Partie fiel nicht anders aus.
»Bileams Esel!« rief der Pfarrer bei seiner Rückkehr erstaunt aus, dem weniger bibelfesten Gendarmerie-Wachtmeister erklärend, schon vor zweitausend Jahren hätte sich ein ähnliches Wunder ereignet, dass ein stummes Wesen plötzlich die Sprache der Weisheit gefunden habe. Trotz der vorgerückten Stunde konnte der Pfarrer sich nicht enthalten, seinen halb analphabetischen Zögling zu einem Zweikampf herauszufordern. Mirko schlug auch ihn mit Leichtigkeit. Er spielte zäh, langsam, unerschütterlich, ohne ein einziges Mal die gesenkte breite Stirn vom Brett aufzuheben. Aber er spielte mit unwiderlegbarer Sicherheit; weder der Gendarmerie-Wachtmeister noch der Pfarrer waren in den nächsten Tagen imstande, eine einzige Partie gegen ihn zu gewinnen. Der Pfarrer, besser als irgendjemand befähigt, die sonstige Rückständigkeit seines Zöglings zu beurteilen, wurde nun ernsthaft neugierig, wieweit diese einseitige sonderbare Begabung einer strengeren Prüfung standhalten würde. Nachdem er Mirko bei dem Dorfbarbier die struppigen strohblonden Haare hatte schneiden lassen, um ihn einigermaßen präsentabel zu machen, nahm er ihn in seinem Schlitten mit in die kleine Nachbarstadt, wo er im Café des Hauptplatzes eine Ecke mit leidenschaftlichen Schachspielern wusste, denen er selbst erfahrungsgemäß nicht gewachsen war. Es erregte bei der ansässigen Runde nicht geringes Erstaunen, als der Pfarrer den fünfzehnjährigen strohblonden und rotbackigen Burschen in seinem nach innen getragenen Schafspelz und schweren, hohen Schaftstiefeln in das Kaffeehaus schob, wo der Junge mit scheu nieder geschlagenen Augen in einer Ecke stehenblieb, bis man ihn zu einem der Schachtische hin rief. In der ersten Partie wurde Mirko geschlagen, da er die sogenannte Sizilianische Eröffnung bei dem guten Pfarrer nie gesehen hatte. In der zweiten Partie kam er schon gegen den besten Spieler auf Remis. Von der dritten an schlug er sie alle, einen nach dem anderen.
Nun ereignen sich in einer kleinen südslawischen Provinzstadt sehr selten aufregende Dinge; so wurde das erste Auftreten dieses bäuerlichen Champions für die versammelten Honoratioren unverzüglich zur Sensation. Einstimmig wurde beschlossen, der Wunderknabe müsste unbedingt noch bis zum nächsten Tag in der Stadt bleiben, damit man die anderen Mitglieder des Schachklubs zusammenrufen und vor allem den alten Grafen Simczic, einen Fanatiker des Schachspiels, auf seinem Schloss verständigen könne. Der Pfarrer, der mit einem ganz neuen Stolz auf seinen Pflegling blickte, aber über seiner Entdeckerfreude doch seinen pflichtgemäßen Sonntagsgottesdienst nicht versäumen wollte, erklärte sich bereit, Mirko für eine weitere Probe zurückzulassen. Der junge Czentovic wurde auf Kosten der Schachecke im Hotel einquartiert und sah an diesem Abend zum ersten Mal ein Wasserklosett.
Am folgenden Sonntagnachmittag war der Schachraum überfüllt. Mirko, unbeweglich vier Stunden vor dem Brett sitzend, besiegte, ohne ein Wort zu sprechen oder auch nur aufzuschauen, einen Spieler nach dem andern; schließlich wurde eine Simultanpartie vorgeschlagen. Es dauerte eine Welle, ehe man dem Unbelehrten begreiflich machen konnte, dass bei einer Simultanpartie er alleine gegen die verschiedenen Spieler zu kämpfen hätte. Aber sobald Mirko diesen Vorgang begriffen hatte, fand er sich rasch in diese Aufgabe, ging mit seinen schweren, knarrenden Stiefeln langsam von Tisch zu Tisch und gewann schließlich sieben von den acht Partien.
Nun begannen große Beratungen. Obwohl dieser neue Champion im strengen Sinne nicht zur Stadt gehörte, war doch der heimische Nationalstolz lebhaft entzündet. Vielleicht konnte endlich die kleine Stadt, deren Vorhandensein auf der Landkarte kaum jemand bisher wahrgenommen hatte, sich zum ersten Mal die Ehre erwerben, einen berühmten Mann in die Welt zu schicken. Ein Agent namens Koller, sonst nur Chansonetten und Sängerinnen für das Kabarett der Garnison vermittelnd, erklärte sich bereit, sofern man den Zuschuss für ein Jahr leisten würde, den jungen Menschen in Wien von einem ihm bekannten ausgezeichneten kleinen Meister fachmäßig in der Schachkunst ausbilden zu lassen. Graf Simczic, dem in sechzig Jahren täglichen Schachspieles nie ein so merkwürdiger Gegner entgegengetreten war, unterzeichnete sofort für den Betrag. Mit diesem Tag begann die erstaunliche Karriere des Schiffersohnes.
Nach einem halben Jahr beherrschte Mirko sämtliche Geheimnisse der Schachtechnik, allerdings mit einer seltsamen Einschränkung, die später in den Fachkreisen viel beobachtet und bespöttelt wurde. Denn Czentovic brachte es nie fertig, auch nur eine einzige Schachpartie auswendig – oder wie man fachgemäß sagt: blind – zu spielen. Ihm fehlte vollkommen die Fähigkeit, das Schlachtfeld in den unbegrenzten Raum der Phantasie zu stellen. Er musste immer das schwarz-weiße Karree mit den vierundsechzig Feldern und zweiunddreißig Figuren greifbar vor sich haben; noch zur Zeit seines Weltruhmes führte er ständig ein zusammenklappbares Taschenschach mit sich, um sich, wenn er eine Meisterpartie rekonstruieren oder ein Problem für sich lösen wollte, die Stellung optisch vor Augen führen zu können. Dieser an sich unbeträchtliche Defekt verriet einen Mangel an imaginärer Kraft und wurde im engen Kreis ebenso lebhaft diskutiert, wie wenn unter Musikern ein hervorragender Virtuose oder Dirigent sich unfähig gezeigt hätte, ohne aufgeschlagene Partitur zu spielen oder zu dirigieren. Aber diese merkwürdige Eigenheit verzögerte keineswegs Mirkos erstaunlichen Aufstieg. Mit siebzehn Jahren hatte er schon ein Dutzend Schachpreise gewonnen, mit achtzehn die ungarische Meisterschaft, und mit zwanzig endlich die Weltmeisterschaft. Die verwegensten Champions, jeder einzelne ihm an intellektueller Begabung, an Phantasie und Kühnheit unermesslich überlegen, erlagen ebenso seiner zähen und kalten Logik wie Napoleon dem schwerfälligen Kutusow, wie Hannibal dem Fabius Cunctator, von dem Livius berichtet, dass er ebenfalls in seiner Kindheit solch auffällige Züge von Phlegma und Imbezillität [Anm.: Definition: »geistige Behinderung mittleren Grades«]
