Schatten der schwarzen Sonne - Nicolás Obregón - E-Book

Schatten der schwarzen Sonne E-Book

Nicolás Obregón

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Beschreibung

Eine ganze Familie, hingeschlachtet von einem grausamen Mörder. Am Tatort finden sich merkwürdige rituelle Spuren, darunter die Zeichnung einer schwarzen Sonne ... Als Kommissar Kosuke Iwata an das Tokioter Polizeipräsidium versetzt wird, übernimmt er einen höchst mysteriösen Fall. Einen Fall, der zudem seinen Vorgänger in den Selbstmord getrieben zu haben scheint – und an dessen Aufklärung nicht jeder im Präsidium wirklich Interesse hat. Dann schlägt der Mörder erneut zu. Und an der Seite seiner neuen Kollegin Sakai wird Iwata hineingezogen in eine gnadenlose Jagd, auf der er sich auch seinen eigenen Dämonen stellen muss ...

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EPUB

Seitenzahl: 533

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Buch

Frisch ans Tokioter Morddezernat versetzt bekommt Kommissar Kosuke Iwata einen äußerst widerspenstigen Fall zugewiesen: Ein skrupelloser Killer hat am helllichten Tag eine vierköpfige Familie brutal ermordet. Bevor er in aller Seelenruhe davonspazierte, hinterließ er mysteriöse Zeichen am Tatort, unter anderem die Zeichnung einer großen schwarzen Sonne. Die Polizei hat keine wirklich verwertbaren Spuren, und Iwata ist auch nicht der Erste, der sich mit dem geheimnisvollen Mörder beschäftigt: Sein Vorgänger, ein auf dem Revier äußerst geschätzter Kollege, soll sich während der Ermittlungen durch einen Sprung von der berühmten Tokioter Regenbogenbrücke das Leben genommen haben.

Somit ist es jetzt an Iwata und seiner neuen Partnerin Sakai, einen Täter zu fassen, der, davon ist Iwata überzeugt, nicht zum letzten Mal gemordet hat. Doch nicht jeder ihrer Kollegen scheint an einer Aufklärung des Falls interessiert, und sowohl korrupte Polizisten als auch die Dämonen seiner eigenen Vergangenheit erschweren dem Kommissar diese Aufgabe erheblich. Als seine Vorgesetzten drohen, ihm den Fall zu entziehen, greift Iwata daher zu extremen Mitteln – und kommt dem Mörder gefährlich nahe …

Autor

Nicolás Obregón wurde als Sohn einer Französin und eines Spaniers in London geboren. Als er im Auftrag eines Reisemagazins in Japan unterwegs war, verliebte er sich in das Land und beschloss, einen dort spielenden Kriminalroman zu schreiben. »Schatten der schwarzen Sonne« ist sein Debüt, zurzeit schreibt er an seinem zweiten Buch.

Nicolás Obregón

Schatten der schwarzen Sonne

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Thomas Stegers

Die englische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Blue Light Yokohama«bei Michael Joseph, Penguin Random House, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung März 2018

Copyright © der Originalausgabe 2017 by Nicolás Obregón

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Friederike Arnold

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: ARCANGEL/ Miguel Angel Munoz Pellicer

und ARCANGEL/ Benjamin Harte

Th · Herstellung: han

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-19667-7V001

www.goldmann-verlag.de

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Für meine Mutter, für Lela. Hasta el cielo de la calle.

Am Fuß des Leuchtturms herrscht Finsternis.

(Japanisches Sprichwort)

1996

Die Seilbahn ratterte los und trug eine letzte Fuhre Touristen hinauf in den warmen Dunst über der Bucht. Sie kletterte höher und höher, während sich unter ihr der Küstenstreifen entfaltete. Im Osten sah Hideo Akashi die schmutzigen Hafenanlagen, wo Mikrochips, Fisch und Bleichmittel auf Lastwagen verladen wurden. Japans Städte waren unersättlich.

Akashi drehte sich zu seiner Frau um. Yumi hielt die Augen geschlossen und kniff die Lippen zusammen. Er nahm ihre Hand und drückte sie zärtlich.

»Ich mag große Höhen nicht«, flüsterte sie.

»Ich weiß. Es ist gleich vorbei.«

Um sie herum bestaunten die älteren unter den Touristen das Panorama. Frisch Vermählte auf Hochzeitsreise posierten für Fotos. Der Seilbahnführer spulte einige amüsante Fakten über die Höhe und die Stadt unter ihnen herunter. Und Akashi küsste Yumi auf die sommersprossenübersäte Schulter. Im selben Moment sah er die Frau. Still saß sie ganz hinten in der Kabine, zu dick angezogen für die Jahreszeit, und die Kleider waren schmutzig. Sie nahm den Ausblick nicht wahr, machte auch keine Fotos, starrte nur zu Boden. Neben ihr stand ein kleines Mädchen, vielleicht ihre Tochter, doch hatte die Frau nichts Mütterliches an sich. In ihrem ausgemergelten Gesicht lag eine Teilnahmslosigkeit, die Akashi verunsicherte und beunruhigte. Hinter ihrem jugendlichen Äußeren verbarg sich etwas, was ihn in den Bann zog.

»Hideo?«, flüsterte Yumi.

»Ja?«

»Du zerquetschst meine Hand.«

»Oh, entschuldige.«

Akashi zwang sich, den Blick abzuwenden, und griff nach seinem Fotoapparat. Er trat einen Schritt zurück und erfasste im Sucher das Gesicht seiner Frau. Yumi lachte, blinzelte in den Sonnenuntergang.

Klick.

Gerade wollte er noch ein Foto machen, als ihn etwas im hinteren Teil der Kabine ablenkte. Irgendetwas ging da vor. Der Seilbahnführer sprach flehentlich auf die Frau ein und hielt abwehrend die weiß behandschuhten Hände hoch.

»Bitte, Madam. Treten Sie von der Tür zurück.«

Die Frau in der dicken Kleidung stellte sich vor den Seilbahnführer.

Zack.

Ein spritzendes Geräusch, und die Frau hielt ein Messer hoch, ihre ganze Hand schimmerte blutig. Der Seilbahnführer wand sich zu ihren Füßen, lallte wie ein Baby. Zitternd hielt sie das Messer vor sich und fixierte Akashi.

»Kommen Sie mir nicht zu nahe.«

Die Menschenmenge, vereint in dumpfer Angst, wich taumelnd zurück. Die Frau wischte sich die Hand am Mantel ab und zerschlug mit dem Messergriff die Glasscheibe des Notschalters. Die Förderseile ächzten und quietschten, dann kam die Kabine mit einem Ruck zum Stehen. Im Westen ging die Sonne unter und verschluckte den Tag endgültig. Über die Lautsprecheranlage kam eine automatische Ansage.

Sehr geehrte Damen und Herren, aufgrund einer geringfügigen technischen Störung verzögert sich die Weiterfahrt. Unsere Ingenieure sind bereits instruiert. Bewahren Sie Ruhe. In der Kabine sind Sie absolut sicher.

Gespannte Stille trat ein. Der Seilbahnführer war verstummt, sein Gesicht blass. Die Frau stieg über ihn hinweg und stellte sich vor die Tür. Sie schloss die Augen, legte die Hand an den Griff und holte Luft. Hideo Akashis Instinkte erwachten zum Leben. Yumi wollte ihn zurückhalten, doch er hatte sich bereits losgerissen und kämpfte sich zwischen den Menschenleibern hindurch.

»Platz da! Polizei!«

Die Frau zog an dem Griff, die Türen flogen auf, und ein ohrenbetäubender Wind wehte herein. Akashi spürte eine Schwäche in den Beinen, als er auf die Frau zustolperte. Im Mund hatte sich zu viel Speichel angesammelt, in seinem Kopf gab es keinen Platz für Gedanken. Die Frau kickte die Schuhe von den Füßen, streifte ihre Jacke ab und ließ sie zu Boden fallen. Sie sagte etwas, das Akashi bei dem Wind nicht verstand. Er schubste das kleine Mädchen beiseite und streckte der Frau die Hand entgegen.

Die Frau fiel.

Im ersten Moment Stille.

Sein Leben flog nicht im Zeitraffer vorbei, es herrschte nur Stille.

Dann beugte sich Akashi aus der Kabine und bekam ihr Handgelenk zu fassen. Als ihr Gewicht ihn zu Boden riss, spürte er ein überwältigendes Brennen in den Muskeln. Der Schmerz setzte ein, lange bevor er ihn bewusst wahrnahm. Nur an ihrem blutigen Handgelenk hielt er die Frau über dem Abgrund fest. Ihre Haare wirbelten im Wind. Unter ihnen die klaffende Tiefe, unendlich und blau.

Sie hob den Kopf und blinzelte. Ihr Mund öffnete sich, dürre Worte kamen heraus, die letzten Tropfen eines zugedrehten Wasserhahns.

»Ich sehe Elefantenwolken …«

Akashi brüllte, doch er hatte das Gefühl, als zerreiße es seine Muskeln. Galle stieg ihm die Kehle hoch. Das Gewicht brach ihm den Arm. Da bemerkte er das Tattoo an ihrem blutigen Handgelenk. Eine große, schwarze Sonne. Er sah sie an. Sie erwiderte den Blick. Und Hideo Akashi ließ los.

Fünfzehn Jahre später

1. KAPITEL

Kartons

Iwata erwachte aus einem Falltraum. Wieder einmal. Schweißgebadet rang er nach Luft. Er ging zum Fenster. Unter ihm dehnte sich die Landschaft von Tokio aus, Städte über Städte, unendliche Fluchten. Fünfunddreißig Millionen Existenzen, eingepfercht in einen betonierten und verkabelten Tag- und Nachtrhythmus. Immense Infrastruktur, wuchernde Geflechte, und alles so fragil wie ein Kolibriherz.

Die Lichter der Stadt leuchten so schön.

Iwata ging zur Kochnische in seiner kargen Wohnung und goss sich ein Glas Wasser ein. Sein Blick fiel auf die großen Pappkartons in der Ecke, und er schaute schnell wieder weg. Er wickelte sich in eine Decke, hockte sich vor die Stereoanlage und setzte sich einen Kopfhörer auf. Schuberts Impromptu Opus 90 Nummer 3 in G-Dur stillte seine Unruhe, und der Albtraum löste sich in der Musik auf.

Grauer Morgendunst sickerte durch die Gardinen, als Iwata beschloss aufzubrechen. Er trank in Ruhe seinen Kaffee, duschte kräftig und zog sich Jeans und einen dicken Cashmere-Pullover an. Er griff sich die Zeitung, fuhr mit dem Aufzug hinunter zum Parkhaus und schloss seinen Isuzu 117 Coupé, Baujahr 1979 auf. An der Windschutzscheibe klemmte ein Zettel mit einem Kaufangebot, er zerknüllte ihn und steckte ihn in die Tasche. Die Ledersitze waren rissig, der Wagen nicht garagengepflegt, dennoch fand Iwata nahezu alle zwei Wochen solche Angebote. Bestimmt ein neidischer Nachbar.

Er startete den Motor, ließ das Radio ausgeschaltet und genoss die seltene Stille in den Straßen von Tokio. Am Südeingang des Bahnhofs Shibuya hatten sich die ersten Straßenhändler eingefunden, eine verschworene Gemeinschaft, die Tüten mit heißen Nüssen und Thermosflaschen mit Tee herumreichten. Kleinkreditgeber und Handyanbieter öffneten ihre Fensterläden. Auf einem Kaufhausdach ein gigantischer LED-Schirm, über den Nachrichten flimmerten. Mina Fong, eine berühmte Schauspielerin, war tot in ihrer Wohnung aufgefunden worden. Eine bekannte Millionenerbin hatte sich von einem vielversprechenden Pitcher der Yomiuri Giants getrennt. Eine beliebte Kochshow war abgesagt worden. Und eine neue Single hatte es auf Platz eins der Popcharts geschafft. Die Nachrichten endeten mit dem Slogan einer Versicherung: Japan, wie es sein sollte.

Iwata bog von der Hauptverkehrsstraße ab und fand einen Parkplatz auf einem freien Grundstück hinter einer Ladenpassage. Er steckte die Hände in die Taschen und stapfte die zugigen Seitenstraßen entlang. Der Frühling hatte sich dieses Jahr nicht nur verspätet, sondern anscheinend bereits aufgegeben.

Iwata ging ins nächste Kaufhaus und verbrachte eine Stunde, um Leuchtstifte, Notizbücher und Trennblätter zu kaufen. In der Cafeteria bestellte er einen Kaffee mit Zuckersirup und einen Obstsalat. Es gab hier kein WLAN, aber Iwata mochte die Aussicht. Er saß zwischen erschöpften Nachtschichtarbeitern, schlürfte seinen Kaffee und blickte hinunter auf die Hauptstraße. In Shibuya wimmelte es jetzt von gehetzten Pendlern und übernächtigten Studenten. Polizisten regelten hektisch den zähen Autoverkehr, Fußgänger reagierten gereizt auf rote Ampeln.

Iwata schlug die Zeitung auf und widmete sich als Erstes dem Anzeigenteil. Er ignorierte die versteckten Angebote von Frauen mittleren Alters für diskrete Massagen, Begleitservice zum Essen und Französischunterricht. Bei der Rubrik Lagerraum hielt er inne. Nach wenigen Minuten umkringelte er eine Anzeige. Dann faltete er die Zeitung zusammen, klemmte sie unter den Arm und verließ die Cafeteria.

Draußen hatte sich der Nebel vorübergehend gelichtet, und der Himmel erstrahlte in einem kalten exquisiten Blau. Iwata ging zurück zu seinem Auto und rief die in der Anzeige angegebene Nummer an. Eine verschlafene Stimme meldete sich.

»Matsumoto hier«, sagte der Mann, hustete und zündete sich eine Zigarette an. »Ihr Lagerproblem ist meine Leidenschaft.«

Iwata brachte sein Anliegen vor, und Matsumoto leierte eine Adresse herunter. Sie verabredeten ein Treffen in einer Stunde.

Er fuhr Richtung Norden, durch Harajuku, parkte unweit des U-Bahnhofs und ging die Takeshita Straße mit ihren Läden für gefälschte Marken-T-Shirts, Hello-Kitty-Produkten und Plastiknippes entlang. Touristen begafften die grellen Neonreklamen und das affektierte Gehabe. Poster der neuesten Idole klebten an jeder verfügbaren Fläche. Aus billigen Lautsprechern plärrte Happy Pop, und schulschwänzende Teenager verglichen Preise. Iwata war dieser Ort verhasst, doch in der Nähe gab es eine Nudelbar, die zum Frühstück leckere Tamagoyaki anbot. Meistens war sie nur halb voll, doch aus irgendeinem Grund hatte sich heute eine lange Schlange rauchender Büroangestellter vor dem Eingang gebildet. Fluchend kehrte Iwata zu seinem Auto zurück.

Er fuhr Richtung Südosten, die breite, von Bäumen gesäumte Omotesando Allee entlang, wo sich in den Flagship-Stores italienischer Designer-Marken betuchte Hausfrauen tummelten, bog in die Aoyama Dori und fünfzehn Minuten später in die Meguro Dori. Auf einem unbebauten Grundstück zwischen zwei Häusern fand er einen freien Parkplatz. Er stieg aus und sah zum Himmel. Heute Abend würde es regnen.

An einem Imbiss bestellte er Gemüse mit Garnelenklößchen, und der Koch reichte ihm durch eine Luke in der Mauer einen Pappteller. Der alte Mann schimpfte über das gestrige Spiel, Iwata nickte und versprach wiederzukommen.

Am Ende der Straße, vor einem schmuddeligen Laden, dessen Schaufenster mit vergilbtem Zeitungspapier zugeklebt waren, stand ein gedrungener, dicker Mann mit einem Pferdeschwanz. Er zog gierig an einer Zigarette und sah die Straße auf und ab. Als er Iwata erblickte, klemmte er den Stummel zwischen die Lippen und streckte Iwata die Hand entgegen.

»Sind Sie meine Verabredung?« Die Zigarette wippte auf und ab. Iwata nickte, und sie gaben sich die Hand.

»Dann wollen wir den Laden mal für Sie aufmachen.«

Matsumoto stieg über einen Haufen Werbepost. Der Raum war schmal, aber Iwata gefiel die Düsternis. Die Wände säumten unterschiedlich große Schließfächer, hinten standen mehrere kleine Tresore.

»Was meinen Sie, Mister? Passt es Ihnen?«

»Sehr sogar.«

»Wofür brauchen Sie den Platz?«

»Für meine Kartons. Sechzehn Stück. Fünfundvierzig mal fünfundvierzig mal fünfzig.«

Matsumoto pfiff.

»Ich könnte Ihnen den ganzen hinteren Raum zur Verfügung stellen, aber das würde mehr kosten.«

»Wie viel?«

Er musterte Iwata.

»Warum wollen Sie die Kartons nicht in Ihrer Wohnung aufbewahren, Mister, wenn ich fragen darf?«

»Dürfen Sie nicht. Wie viel?«

»Also gut. Fünfunddreißigtausend im Monat.«

Iwata schüttelte den Kopf.

»Ich mache Ihnen ein Angebot: Achtzigtausend für drei Monate. Wenn Sie akzeptieren, zahle ich im Voraus.«

»Achtzig?« Matsumoto blies Rauch aus und kniff die Augen zusammen. »Im Voraus?«

»Ganz genau.«

»Wer sind Sie? Ein Kredithai?«

»Ich brauche nur Lagerraum für meine Kartons.«

»Warum bei mir? Warum lagern Sie sie nicht in einem der großen Häuser ein? Ist billiger.«

»Ich mag keine Formulare.«

Matsumoto zuckte die Schultern. »Scheiß drauf. Wir sind im Geschäft.«

Der Kassierer in der Bank machte Iwata darauf aufmerksam, dass nur noch eine geringe Deckungssumme übrig bliebe, doch Iwata hörte nicht auf ihn. Draußen übergab er Matsumoto den dicken Umschlag, der ihn einsteckte und ihm im Gegenzug einen Schlüsselbund zuwarf.

»Dann sehen wir uns also in drei Monaten wieder«, sagte Matsumoto augenzwinkernd.

Er wandte sich ab. Sein Pferdeschwanz baumelte beim Gehen hin und her. Iwata kehrte zu seinem Auto zurück. In der Ferne hörte er Donnergrollen.

Kurz nach ein Uhr erreichte Iwata das Labyrinth des Bahnhofs Shinjuku, der die Ausmaße eines Flughafens hatte. Er kaufte eine Fahrkarte für den Shinkansen nach Nagano und bestieg den Asama 573. Die Sitze waren sauber, die Temperatur optimal eingestellt für menschliche Bedürfnisse, die Zugbegleiter verbeugten sich beim Betreten und Verlassen der Waggons, und der Ruhebereich war tatsächlich sehr ruhig.

Der Zug fuhr los, und Tokio schwand aus Iwatas Blickfeld. Trabantenstädte mit künstlichen Seen flogen vorbei. Hier lebten junge Berufstätige, die sich gesund ernährten und viel Sport trieben. Auch Iwata hatte einmal zu ihnen gehört, als die Notwendigkeit für diese Reise noch nicht bestand. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal mit diesem Zug gefahren war. Wollte sich auch nicht erinnern.

Die Lichter der Stadt leuchten so schön.

Als die grauen Schlafstädte endlich hinter ihm lagen, folgten nur noch Felder und Strommasten. In der Ferne wogten Hügel wie liebeskranke Seufzer.

Nach der Ankunft im Bahnhof Nagano kaufte Iwata eine Abendzeitung und eine Lunchbox, obwohl er nach beidem kein Bedürfnis verspürte, und bestieg einen klapprigen Zug, der auch als Nostalgiezug nichts getaugt hätte. In gemächlichem Tempo ging es zunächst durch grünes Flachland, dann bewaldete Hänge hinauf in die Berge.

Iwata beobachtete durchs Fenster banale Dinge einer banalen Welt. Eine Frau an einer Ampel kratzte sich am Ellbogen. Schulkinder übermalten eine graffitibesprühte Wand. Eine alte Dame auf einer Bank schaute einer vom Wind getriebenen Zellophanverpackung hinterher. Ein einzelnes Auto in einem Reisfeld, die Alarmanlage blinkte.

Kurz vor fünf Uhr erreichte er sein Ziel, ein nichtssagendes Städtchen in der Nähe des Nojiri-Sees. Er setzte sich in das einzige bereitstehende Taxi am Bahnhof und bat den Fahrer, ihn zur Nakamura-Anstalt zu bringen. Es ging vorbei an verfallenen Fabriken und für den Abriss freigegebenen Produktionsstätten, die letzten übriggebliebenen Schandflecken des alten Systems. Der Fahrer lauschte einem Radiobericht über ein Unternehmen für Tiefseebohrungen, das eine mittelgroße Bank betrogen hatte. Seine weiß behandschuhten Hände bewegten sich kaum auf dem Lenkrad.

Iwata schaute durch das Schiebedach, die Dämmerung setzte ein. In der Ferne ragten regungslos Baukräne empor, eine einträgliche Zukunft wartete darauf, errichtet zu werden. Er las einen Werbeslogan: Gemeinsam das Morgen gestalten.

In dem einzigen Geschäft in der Nähe der Anstalt kaufte Iwata frisches Obst und mehrere Paar Strümpfe. Die alte Kassiererin lächelte ihn an.

»Zu Besuch?«

Iwata nickte. Der Fußweg zur Anstalt war lang und steil. Trotz der Kühle schwitzte er, als er den Haupteingang erreichte. Die Empfangsdame erkannte Iwata und verbeugte sich. Während sie ihn den gesicherten Korridor entlangführte, blickte sie auf den desinfizierten Boden.

»Entschuldigen Sie, dass ich es anspreche, aber Sie sind sieben Wochen mit den Zahlungen im Rückstand.«

»Mein Versehen. Ich muss mich verrechnet haben. Ich korrigiere das, sobald ich wieder in Tokio bin.«

Die Krankenschwester nickte ergeben.

»Sie ist draußen, um sich den Sonnenuntergang anzusehen. Bitte, gehen Sie.«

Iwata bedankte sich und betrat einen weitläufigen, gepflegten Garten. Weiter hinten pflanzten Patienten Blumen. Flamingos und Elefanten aus Pappmaché schaukelten im Wind. Bunte Rädchen drehten sich. Aus einem offenen Fenster hörte er eine Frau Tonleitern üben. Am anderen Ende des Gartens, vor der Baumreihe, sah Iwata sie. Cleo lag zugedeckt auf einer Sonnenliege.

Die Lichter der Stadt leuchten so schön.

Wie immer, wenn er sie sah, gab es ihm einen Stich ins Herz. Heute besonders.

Ich bin glücklich mit Dir. Bitte, ich möchte sie hören.

Er setzte sich auf einen weißen Plastikstuhl neben sie. Cleo war wie Iwata Mitte dreißig. Jüngst hatte sie sich das blonde Haar zu einem sehr kurzen Bubikopf schneiden lassen. Ihre Haut war blasser, als er es in Erinnerung hatte. Die dunkelblauen Augen stierten in die Ferne.

»Hallo«, sprach er sie auf Englisch an.

Vogelgezwitscher brauste in den Ästen über ihnen.

Ich gehe und gehe, schaukle wie ein Boot in Deinen Armen.

Schüchtern ergriff er ihre Hand, seine Lippen bebten. Die Hand war klein, ihre Wärme schwand wie aus einem vom Strand aufgesammelten Kiesel.

Ich bin glücklich mit Dir. Bitte, ich möchte sie hören.

Iwata ließ ihre Hand los, als er merkte, dass er ihr weh tat.

»Ich habe dir Obst mitgebracht. Und auch Strümpfe. Deine gehen hier immer verloren.«

Er stellte die Tüte neben sie, Cleo erwiderte nichts.

»Die Schwestern sollen deinen Namen einnähen. Dann kann man sie nicht mehr verwechseln.«

Unbeirrt betrachtete sie den Horizont, als hätte sie beschlossen, ihr restliches Leben nichts anderes zu tun.

»Du bist zu Kräften gekommen, Cleo. Du siehst … gut aus.«

Ich bin glücklich mit Dir. Bitte, ich möchte sie hören. Die Worte der Liebe von Dir.

Iwata fing an zu weinen.

»Du Miststück! Du Miststück. Du Miststück.«

Weit nach Mitternacht kehrte Iwata in seine Wohnung in Motoyoyogicho zurück. Im Flur stolperte er über Dreiräder, Zeitungsbündel und umgefallene Wischmopps. Die Uhr seiner Mikrowelle tauchte den Raum in ein schwaches Grün. Als er die gestapelten Kartons in der Ecke sah, schaute er wieder schnell weg. Er musste sie so bald wie möglich wegbringen. Nur nicht morgen.

Iwata machte seine Rumpfbeugen und sah sich dabei eine englischsprachige Fernsehshow an. Die unsäglich aufgekratzte Moderatorin beglückwünschte die Teilnehmer zu ihrer furchtbaren Aussprache. Das Wort des Tages lautete: unexpected.

Iwata schaltete den Fernseher aus und entrollte seinen billigen Futon. Er schob die Gardine etwas zur Seite. Unter ihm Tokios Neon-Aurora. Unendlicher Eifer, hektische Betriebsamkeit, jeder Quadratmeter verplant für Expansion und Neuentwicklung. Die dichte Wolkendecke hing tief, nur ihre Farbe konnte er nicht erkennen. Iwata schloss die Augen, versuchte, nicht an Cleo zu denken, und hoffte auf einen traumlosen Schlaf.

2. KAPITEL

Mord macht hungrig

»Ich sage ja nur: Vier Premierminister in vier Jahren, das würde in jedem anderen Land eine Krise auslösen.«

»Noch ist er im Amt.«

»Pah! Eine Frage der Zeit. Aber in Japan löst das keine Krise aus. Das ist die traurige Wahrheit. Der nächste Rücktritt, einer von vielen, und danach dreht sich das Politkarussell munter weiter im Leerlauf. Wen kümmert es?«

»Also Politikverdrossenheit?«

»Ja, genau. Bei den letzten Wahlen lag die Beteiligung unter fünfzig Prozent. Wie wollen wir jemals etwas verändern, wenn es die Mehrheit der Japaner nicht interessiert?«

»Dagegen kann man einfach nichts tun, Verdrossenheit hin oder her.«

Iwata schaute durch einen Spalt in der Jalousie in den Morgendunst und stellte sich vor, wie in ganz Tokio gerade alle Lautstärkeregler heruntergedreht wurden. Zwar stellten die Moderatoren gelegentlich interessante Fragen, aber ihre Selbstzufriedenheit nervte. Besonders einer kreischte jetzt förmlich vor Wut, weil ein Teilnehmer – obwohl so vorgesehen – anderer Meinung war.

»Warum sollte es sie auch interessieren? Nehmen wir nur unsere Schulkinder. Man bringt ihnen nicht bei, nach dem Warum zu fragen, zu widersprechen oder durch Diskussionen Erfahrungen zu sammeln. Man bringt ihnen bei, alles brav aufzusaugen und sich anzupassen. Und was macht man mit denen, die das nicht tun? Die steckt man ins Baseballteam. Sollen sie da lernen, wo ihr Platz ist. Jeder zweite Japaner lernt im Laufe seines Lebens zu akzeptieren um des Akzeptierens willen.«

Iwata wechselte zu einem Lokalsender.

»Es ist Punkt fünf, und falls Sie gerade erst eingeschaltet haben: Unser heutiges Thema heißt Theta. Die religiöse Organisation in Japan mit dem größten Zulauf. Während die einen in Theta einen neuen und bereichernden Lebensstil sehen, nennen andere sie eine gewinnbringende Betrugsmasche. Manche gehen noch weiter und nennen Theta eine Sekte. Was meinen Sie? Haben Sie Fragen an unsere Expertenrunde? Dann rufen Sie an.«

Iwata suchte so lange, bis er einen Nachrichtensender fand.

»In dem Bemühen, die wachsende Zahl der Selbstmorde unter den Passagieren der Yamanote-Linie in Tokio einzudämmen, wurden in der vergangenen Nacht über den Bahnsteigen speziell angefertigte LED-Strahler installiert. Obwohl es keinen hinreichenden wissenschaftlichen Beweis für eine unmittelbare Auswirkung der blauen Strahler auf diesen erschreckenden Trend gibt, glauben Fachleute, dass blaue Farbe ganz allgemein einen beruhigenden Effekt hat. Es berichtet für Sie Sumiko Shimosaka.«

Das Signalhorn des Zuges erscholl, gefolgt vom Fußgetrappel der Pendler und den schrillen Ansagen des Personals. Iwata wusste gute Produktionsergebnisse zu schätzen.

»Japans ohnehin hohe Selbstmordrate ist in den vergangenen Jahren, bedingt durch das Wirtschaftsklima, noch einmal sprunghaft angestiegen.« Shimosakas Stimme klang kindlich, aber trotzig.»Auf den Bahnsteigen der stark frequentierten Yamanote-Linie stellt dies tragischerweise immer wieder ein Problem dar. Wie reagiert die East Japan Rail Company darauf? Laut Professor Hiroyuki Harada vom nationalen Forschungsinstitut, welches maßgeblich an diesem Projekt beteiligt war, assoziieren viele Menschen mit den blauen Leuchten Himmel und Meer, was den von innerer Unruhe Getriebenen Entspannung verschafft. Doch es existiert so gut wie kein Hinweis darauf, und angesichts der hohen Kosten müssen wir uns fragen: Funktioniert das auch in der Praxis? Dazu habe ich heute Morgen den Sprecher der japanischen Eisenbahngesellschaft befragt.« Schnitt, es folgte ein Interview.»Herr Tadokoro, es ist nicht nachgewiesen, dass die LED-Leuchten tatsächlich helfen. Wenn man außerdem bedenkt, dass die Kosten für das Projekt fünfzehn Millionen Yen betragen– befürchten Sie dann nicht, dass das Ganze als reiner Schnickschnack abgetan werden könnte?«

Gedämpftes verlegenes Lachen. »Eins ist klar: Menschen sterben. Und wir haben die Verantwortung, ihnen zu helfen. Deswegen haben wir das System an allen neunundzwanzig Stationen der Yamanote-Linie installiert. Das ist erst der Anfang. Fünfzehn Millionen sind ein Klacks, wenn sich die Situation dadurch verbessern lässt.«

Shimosaka meldete sich erneut. »Eine selbstbewusst vertretene Unternehmensstrategie. Doch mit dem herannahenden Ende des Finanzjahrs werden sich die Tokioter gewissen Realitäten– und Verlusten– stellen müssen. Vielleicht kein Zufall, dass März traditionell der Monat mit der höchsten Selbstmordrate ist. Nach vorläufigen Schätzungen der nationalen Polizeibehörde ist 2011 auf dem besten Weg, das vierzehnte Jahr in Folge mit über dreißigtausend Selbstmorden zu werden. Was die blauen Leuchten betrifft, bleibt abzuwarten, wie sie sich auf die Pendler in Tokio auswirken werden. Es berichtet für Sie Sumiko Shimosaka.«

Iwata schaltete das Radio aus. Er duschte, rasierte sich oberflächlich und zog einen dunklen Anzug an, schlang sich noch eine alte schwarze Krawatte um den Hals und verließ die Wohnung.

Eingepfercht im 51er-Bus beobachtete Iwata die anderen Fahrgäste, die Spiele auf ihren Handys spielten. Eine Station vor dem Bahnhof Shibuya stieg er aus und ging einen namenlosen Kanal entlang, der sich zwischen engen überteuerten Wohnblöcken versteckte. In diesen Nebenstraßen gab es Restaurants, die nur von den einsamen Mittagspausen der Büroangestellten lebten. Graffitiübersäte Hauswände und Werbetafeln, die unbestimmte Botschaften verkündeten.

DVD. Gedeck. Heilmittel.

Der Regen spülte den Gestank der Abwässer nach oben. Sonst roch man nur Sojasoße und Abgase.

Iwata trat auf die Meiji Dori, und die Polizeizentrale des Stadtbezirks Shibuya kam in Sicht, ein fünfzehngeschossiger beiger, V-förmiger Block, der eher wie die Hauptniederlassung eines multinationalen Versicherungskonzerns und nicht wie eine Polizeibehörde aussah. Zusammen mit einem Schwarm Pendler überquerte Iwata die regennasse Straße und lief die Stufen zum Haupteingang hinauf.

In dem schmutzigen Wartebereich saßen Tokioter Bürger mit ausdruckloser Miene. Elternpaare kauten auf den Fingernägeln, junge Frauen zeigten Grapscher an, Pendler meldeten den Diebstahl ihres Fahrrads – das täglich Brot der Polizei. Iwata schob sich an der Schlange vorbei zum Empfangstresen und wies sich aus. Ein Polizist stellte ihm einen Tagespass aus.

»Die Aufzüge sind ganz hinten. Zwölfte Etage.«

Die Aufzugkabine war tapeziert mit Fotos von Verbrechern und Vermissten. Es lief keine Hintergrundmusik. Ein großes Plakat erklärte Touristen, wie sie sich im Notfall zu verhalten hatten.

1. 110 wählen.

2. Was: Sagen Sie, was geschehen ist.

Raubüberfall– Dorobo Desu

Verkehrsunfall– Kotsu Jiku Desu

3. Wo: Genaue Bezeichnung der Örtlichkeit

4. Wer: Nennen Sie Ihren Namen und Ihre Adresse

Die Aufzugtüren öffneten sich zu einem Großraumbüro, die Luft war erfüllt von Zigarettenqualm und lautem Stimmengewirr. Die Halogenfluter an der Decke verliehen den Gesichtern eine hässliche Blässe. Die gesamte hintere Wand nahm ein digitaler Stadtplan von Tokio ein, und überall, wo gerade etwas geschah, blinkte ein Lämpchen. Die Stadt war schwarz, die Lichter rot. Darunter flimmerten reihenweise grüne Monitore wie müde Augen. Iwata nahm den Geruch von Luftauffrischern wahr, der zum Scheitern verurteilte Versuch einer Kinmokusei, der Süßen Duftblume, den beißenden Schweißgeruch zu übertünchen.

Alle arbeiteten. In der Mitte des Raums stand eine Meute Männer in schlecht sitzenden Anzügen und werteten gemeinsam Tatortfotos aus. Der größte unter ihnen, Hände in den Taschen, spitzte die Lippen und schnaubte.

»Lüg uns bloß nicht an, Horibe.« Er sprach mit näselnder, gefasster Stimme. »Du würdest noch die kleinste Gelegenheit nutzen.«

Die anderen lachten sich krank, während Horibe gute Miene zum bösen Spiel machte. Iwata blieb vor einer Tür am anderen Ende des Großraumbüros stehen. Auf dem Schild stand: Isao Shindo, Polizeioberkommissar.

Iwata klopfte an und trat ein. Es war ein gesichtsloser Raum, die Jalousie heruntergezogen. Shindo, ein großer Mann in den Fünfzigern, Halbglatze, hatte offenbar seit Tagen nicht geduscht, sich seit Wochen nicht rasiert und seit Jahren keinen Sport mehr getrieben. Iwata verbeugte sich und räumte einen Papierstapel von einem der beiden Besucherstühle. Shindo rieb sich die gebrochene Nase, während er den Neuankömmling musterte. Iwata tat so, als bemerkte er es nicht, und sah sich um.

Es fanden sich hier keine persönlichen Gegenstände, keine Fotos, keine Urkunden, keine Kinderzeichnungen. Nur Aktenschränke, Ermittlungsunterlagen und Kaffeeflecken. Iwata respektierte das.

»Sie sind also mein neuer Kommissar.« Shindo klang heiser und müde.

»Ja.«

»Iwata?« Er blätterte in der Personalakte.

»Richtig.«

»Sie haben in Amerika studiert?«

»Politische Wissenschaften an der Universität von Kalifornien in Los Angeles. Danach Aus- und Fortbildung zum Polizeioffizier am San Diego Miramar College.«

»Für die Polizeiarbeit in Amerika mag das reichen. Was können Sie für den Dienst bei uns vorweisen?«

»Eine Ausbildung und Zusatzqualifikation bei der nationalen Polizeibehörde in Funchu.«

»Kein Studium in Japan?«

»Nein. Nicht nach der Oberschule. Es steht alles in der Akte.«

»Ich kann lesen, Iwata. Aber jetzt unterhalten wir uns ja.«

»Ja.«

»Mal ehrlich, betrachten Sie sich als Japaner?«

»Ich bin hier geboren. Meine Eltern sind Japaner. Auf meinem Pass ist eine Chrysantheme, so wie auf Ihrem. Ich bin Japaner, ganz egal, als was ich mich persönlich betrachte.«

Shindo knurrte und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Erfahrung im Polizeidienst?«

»Vier Jahre Präfekturpolizei Chiba, Kommissariat Chōshi.«

»Ein ruhiges Leben am Meer, was?«

»Ich war drei Jahre bei der Mordkommission.«

»Und? Irgendwelche Mordfälle? Ich spreche nicht von Selbstmorden oder Verkehrstoten.«

»Einige. Unter anderem die Hinuma-See-Morde.«

»Ach, das waren Sie?«

Iwata nickte.

»Ja, ich glaube, ich habe davon gehört. Ein paar Zeitungen haben darüber berichtet.« Shindo riss sich zusammen und blätterte weiter in der Akte. »Und Sie wurden von der Arbeit freigestellt. Wie lange? Vierzehn Monate?«

»Ja.«

»Es geht mich nichts an, aber es geht mich was an. Haben Sie verstanden?«

Iwata nickte. Shindo klappte die Akte zu. Er hatte genug gelesen.

»Ich muss Sie das fragen: Glauben Sie, dass Sie Tokio gewachsen sind? Man muss hart im Nehmen sein. Es wäre nicht bloß eine Rückkehr in den einfachen Polizeidienst, die Abteilung eins ist etliche Stufen höher angesiedelt, kapiert?«

»Ich bin bereit. Das kann ich Ihnen versichern.«

Shindo trommelte mit den Fingern eine stumme Melodie auf seinen Lippen.

»Okay. Ich sage es Ihnen ganz ehrlich: Ich habe Vorbehalte gegen Leute, die sich hierher versetzen lassen. Jeder, der sich für die Abteilung eins stark machen will, sollte sein Metier beherrschen und nicht nur klug daherreden können.« Shindo zuckte mit den Schultern. »Aber Sie haben gute Noten. Gute Zeugnisse vom Kommissariat Chōshi. Sie sprechen Englisch. Sie haben Fälle gelöst. So was zählt, nehme ich an.«

Iwata sah den Stapel dicker Fallakten auf dem Schreibtisch. In einem Tupperware-Behälter lag eine Rolle Küchenkrepp. Sein einziges Besteck schien ein Messer zu sein.

»Also gut«, sagte Shindo wie zu sich selbst und griff zum Telefon. »Sakai? Ja, kommen Sie.« Er legte auf und seufzte, als hätte er einen Fehlkauf getätigt.

Es klopfte an die Tür, und eine Frau Ende zwanzig trat ein. Grauer Anzug, frische weiße Bluse. Sie strahlte eine nichtssagende Schönheit aus und lächelte teilnahmslos. Sakai war nur wenige Zentimeter kleiner als Iwata und trug eine goldene Halskette mit einem Schmetterlingsanhänger. Zackig verbeugte sie sich, doch Shindo tat die Förmlichkeit ab.

»Setzen Sie sich.«

Iwata nahm einen Hauch von ihrem Parfum wahr. Keine blumige, eher eine unauffällige Note.

»Sakai? Das ist der neue Kommissar Iwata. Er wird die Ermittlungen leiten, und Sie werden ihm assistieren. Willkommen im Morddezernat, Leute.«

Sie sah ihn kurz von der Seite an. Wenn sie beeindruckt war, zeigte sie es jedenfalls nicht.

»Was ist mit dem Fall Takara Matsuu?« Ihre Stimme war erstaunlich tief.

»Sie sind soeben vom Vermisstendezernat aufgestiegen. Die Ratte wird früher oder später schon aus dem Schlamm auftauchen. Noch Fragen, Sakai?« Es war rein rhetorisch gemeint.

»Nein. Danke, dass Sie mir diese Chance geben.«

Shindo nahm die oberste Akte vom Stapel. Sie trug einen nüchternen, in großen Buchstaben geschriebenen Titel.

MORDFALL FAMILIE KANESHIRO.

Bevor er sie übergab, zeigte er mit dem Finger, der aussah wie eine faule Banane, auf die Akte.

»Ich erwarte Feingefühl von Ihnen. Der Fall lag bei Hideo Akashi, bis er sich vor drei Tagen von einer Brücke gestürzt hat. Der Mann war hier eine Institution, nur damit Sie wissen, in wessen Fußstapfen Sie treten. Hinzu kommt, dass uns der Fall Mina Fong einen wahren Shitstorm beschert hat. Versuchen Sie also Ihr Bestes, aber erwarten Sie keine Hilfe von den anderen Abteilungen. Die Familie kam aus Korea, also keine Topmeldung wert. Schon gar nicht, wenn gleichzeitig ein Sexsymbol tot in ihrer Wohnung aufgefunden wird.«

Er schleuderte die Akte über den Tisch, und Iwata schlug sie auf. Nachdem er kurz darin gelesen hatte, blickte er auf.

»Die ganze Familie?«

Shindo lachte und entblößte seine schlechten Zähne.

»Wie gesagt, Kollege, Abteilung eins ist etliche Stufen höher. Und jetzt an die Arbeit. Die Morde sind um den Valentinstag herum passiert, der Fall ist überreif.«

»Wir versuchen unser Bestes!«, bellte Sakai.

»Das hoffe ich doch.«

Sakai öffnete die Tür und schritt voraus, ohne ihren neuen Partner auch nur anzusehen. Zielsicher steuerte sie auf den Aufzug zu und ignorierte die nach Iwatas Eindruck gewohnheitsmäßigen Blicke von den Schreibtischen im Großraumbüro. Die Gruppe der Männer am Wasserspender verstummte, als sie vorbeiging. Ein paar Meter weiter, und ein Gummiband zischte an Iwatas Ohr vorbei und traf Sakai im Rücken. Sie verlangsamte ihr Tempo nicht, doch Iwata sah, dass sie rot wurde. Er drehte sich um, und der größte der Männer grinste. Teigiges Gesicht, frischer Igelschnitt, feuchte dunkle Lippen. Als er Iwata erkannte, verzog sich sein Mund zu einem Lächeln – ein Omen oder nur ein Spiel? In seinem Mund blitzten zwei Reihen Fangzähne auf.

Der Herr ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten.

»Einen schönen Tag noch!«, rief er.

Iwata wandte sich ab.

Sakai wartete mit verschränkten Armen vor dem Aufzug. Die Türen glitten zur Seite, und Iwata ließ seiner Kollegin den Vortritt.

Auf dem Parkplatz der Polizei ging Sakai zum Sicherheitsposten, zeigte ihre Marke und unterschrieb für einen kastanienbraunen Toyota Crown.

»Er ist auf Ihren Namen.« Sie warf ihm die Schlüssel zu. »Fahren Sie also vorsichtig.«

Auf der Meiji Dori schüttete es wie aus Kübeln. Sakai drückte einen Knopf, und die Polizeileuchte überflutete die Straße mit blauem Licht. Die Sirene heulte los, und die Autofahrer bildeten eine Gasse. Iwata fuhr Richtung Westen nach Setagaya.

Obwohl einer der beliebtesten Bezirke Tokios, zeigte sich Setagaya heute von der ruhigen Seite, nur das Prasseln der Regentropfen auf die Zelkovenblätter war zu hören. Regenschauer hatten die Straßen leergefegt. In der Ferne ratterte langsam ein Zug auf die Stadt zu.

Auf einem fast leeren Parkplatz, eingequetscht zwischen dem Fluss Tama und einer Baumreihe, die als natürliche Grenze zum benachbarten Universitätsgelände diente, hielten sie an. Sakai zog den Reißverschluss ihrer Regenjacke hoch und ging voraus zu einer Betontreppe, die zum Flussufer hinunterführte. Iwata blieb stehen.

»Sakai?«

»Ja?«

»Die Polizei hätte längst das Gelände sichern müssen. Zeugen suchen. Autos überprüfen.«

»Ja, ja. Sie haben gehört, was Shindo gesagt hat. Personalmangel.«

Iwata holte sein neues Notizbuch hervor und schrieb sich die Nummernschilder der drei Fahrzeuge auf. Danach folgten sie dem Wasserlauf in südliche Richtung, die Oberfläche war übersät mit Kirschblüten, obwohl es dafür eigentlich noch zu früh war. Ein paar Hundert Meter den Fußweg hinauf kamen sie erneut an eine Treppe, die zu einem eingezäunten Komplex führte.

Ein mürrischer Polizist stand mit hochgezogenen Schultern im Regen. Weiße Atemwölkchen stiegen unter seiner Schirmmütze empor.

»Tut mir leid, keine Presse.«

Verlegen lächelnd zeigte Sakai ihre Dienstmarke. Der Polizist entschuldigte sich, hob das Absperrband hoch und schloss das Tor für sie auf. Die Wohnanlage versank in einem matschigen Sumpf. In liegengebliebenen Schutzhelmen sammelte sich Regenwasser. Zwischen grünlichen Pfützen standen verlassene Baufahrzeuge. Auf einem großen Bauschild war zu lesen: Vivus Construction– Das gute Leben.

Von dem Gebäudekomplex war nicht viel übrig. Alle Häuser waren dem Erdboden gleichgemacht worden, nur das Haus am hinteren Ende stand noch. Sakai schimpfte, als sie die Schlammwüste überquerten, wollte aber auch nicht langsamer gehen.

»Kommen Sie«, rief sie Iwata über die Schulter zu. »Trödeln Sie nicht.«

Von der Größe abgesehen war das Haus der Familie Kaneshiro ein unscheinbarer zweigeschossiger Betonbau, umgeben von blickdichten Trennwänden, die die Abrissfirma zur Verfügung gestellt hatte. Das Haus wirkte gepflegt, mit einer Garage und einem Balkon im ersten Stock. Früher vielleicht eine gute Adresse, doch die Entfernung zur Straße und die bedrohlich aufragenden Bäume dahinter verliehen ihm etwas Abgeschiedenes. Alle Vorhänge waren zugezogen, alle Fenster geschlossen, außer einem.

Unter dem Vordach standen zwei Polizisten in leuchtenden Regenmänteln und blätterten in einem reißerischen Bericht über den Todesfall Mina Fong.

»Selbstmord? Gruselmord? Sensationelle Details!«

Der Größere der beiden war dünn und kinnlos, der Kleinere hatte orange gefärbtes Haar und ein Muttermal über einer Augenbraue.

»Wer sind Sie?«

Sakai wies sich aus und untersuchte ihre Hose nach Schlammspritzern.

»Machen Sie die Tür auf«, sagte sie kalt.

Der kinnlose Polizist grinste nur und widmete sich wieder seiner Zeitung. Muttermal bemerkte das und wurde rot. Er leckte sich die Lippen, bevor er antwortete.

»Soll das heißen, dass Sie die Ermittler sind?«

Sakai blickte auf und sah Muttermal zum ersten Mal direkt in die Augen. Sofort erkannte er seinen Fehler.

»Dachten Sie, wir sind die Pizzaboten, Arschloch?«

»Nein, ich dachte nur …«

»Wie heißen Sie?«

»Hatanaka, aber …«

»Hören Sie, Hatanaka. Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen die Tür aufmachen, aber anscheinend gibt es Gesprächsbedarf. Ich warne Sie. Und damit Sie mich nicht missverstehen: Meine Warnung hat keine Folgen fürs Protokoll. Nur für Sie und Ihren widerlichen Fettarsch. Ein Raum voller schwuler Stecher. Inkontinenzwindeln auf absehbare Zeit. Ich hoffe, Sie verstehen mich. Ich glaube nämlich nicht, dass es Windeln in Ihrer Größe gibt.«

Hatanaka erblasste und nickte. Sakai wandte sich an den Größeren und riss ihm die Zeitung aus der Hand.

»Jetzt zu Ihnen! Wenn ich hier fertig bin, haben Sie den Parkplatz gesichert und die Namen der Fahrzeughalter ermittelt, oder Sie finden sich im Rollstuhl wieder. Ich kenne viele, die mir zuliebe und mit Hochgenuss Ihren Rücken mit einem Vorschlaghammer bearbeiten würden. Haben wir uns verstanden?

Beide Männer verbeugten sich.

»Super. Danke, meine Herren. Und jetzt verdrücken Sie sich.«

Kinnlos begab sich umgehend zum Parkplatz und kramte nach seinem Funkgerät, während Hatanaka die Hausschlüssel aus seiner Tasche holte. Iwata biss sich auf die Wangen, um sich ein Lachen zu verkneifen, und zeigte auf die Haustür.

»War die abgeschlossen, als die Leichen gefunden wurden?«

»Ja.«

»Wer hat die Leichen gefunden?«

»Die Großmutter mütterlicherseits.«

»Wo befinden sich die Leichen jetzt?«

»In der Gerichtsmedizin.«

Hatanaka schloss die Tür auf. Sakai trat ohne zu zögern ein und folgte dem durch ein blaues Klebeband auf dem Boden markierten Pfad. Sie zog eine Duftfahne hinter sich her, Räucherstäbchen. Zunächst nur ein Hauch, doch plötzlich umgab Iwata der erdige Geruch. Es war, als hätte er einen Klumpen Moos aus dem Waldboden herausgerissen und seine Nase hineingedrückt.

Ich bin glücklich mit Dir. Bitte, ich möchte sie hören.

»Kommissar?« Hatanaka sah verunsichert aus.

»Was?«

»Ich habe Sie gefragt, ob Sie mich noch brauchen.«

Iwata räusperte sich und sammelte seine Gedanken. »Geben Sie mir zuerst Ihre Telefonnummer. Dann möchte ich, dass Sie die Umgebung gründlich absuchen. Ich möchte wissen, ob die Familie hier Streit hatte, Schulden, Feinde et cetera. Und vergessen Sie Leidenschaft als Motiv nicht. Die Morde geschahen in der Nacht vom Valentinstag. Also fragen Sie nach Affären, alten Flammen, Sie wissen schon.«

»Ja.« Hatanaka schrieb seine Nummer auf ein Blatt Papier, verbeugte sich und schloss hinter sich die Tür. Im Flur war es duster und still. Der Genkan war voll mit Schuhen. An den Wänden Fotos. Ein normales Einfamilienhaus.

Der ist am glücklichsten, er sei ein König oder ein Geringer, dem in seinem Hause Wohl bereitet ist.

Iwata stand im Flur neben Sakai, die in der Akte blätterte.

»Soll ich?«, fragte sie.

»Ja.«

»Also: Fred Feuerstein wurde oben im Elternschlafzimmer gefunden. Alle anderen lagen dort.« Sie deutete mit dem Kopf zum Wohnzimmer.

»Hatanaka bestätigt, dass die Haustür verschlossen war.«

»Vielleicht besaß der Mörder ja einen Schlüssel. Oder er kannte seine Opfer.«

»Aber das Fenster im ersten Stock ist offen, und in der Akte steht, an der Haustür hätten sich keine Spuren gefunden.«

»Möglicherweise ein Handschuhträger. He, was sagen Sie dazu? Unsere erste Spur. Und? Sollen wir?«

»Ja, Frau Kollegin.«

»Ladies first«, sagte sie und hielt ihm die Wohnzimmertür auf.

Er schloss die Augen für einen Moment, atmete durch und trat ein.

Ich gehe und gehe, schaukele wie ein kleines Boot in Deinen Armen.

Starke Scheinwerfer erleuchteten den Raum. Die Leichen der Familienmitglieder waren nicht mehr da, nur ein süßlich klebriger, stickiger Geruch hing in der Luft. Iwata kannte ihn gut. Von Mikroorganismen zerlegte Kohlehydrate, Proteine und Fettsäuren. Von den Leichen emittierte Gase. Abgebautes Bindegewebe und, je weiter der Zersetzungsprozess fortschreitet, sich verflüssigende Eingeweide. Das täglich Brot der Abteilung eins.

»Hübsche Blutspritzer.« Sakai deutete auf das rote Bergpanorama an der Wand. »Ist der Kerl ein Möchtegern-Picasso, oder was?«

»Pollock, wenn schon.«

»Wer?«

»Egal.«

Iwata stieg über blutgetränkte Schulhefte. Ein Blutfleck war auf der Nase der lächelnden Titelblattschönheit einer Ausgabe der Zeitschrift Good Housekeeping gelandet. Das Bonsaibäumchen auf der Fensterbank hatte seine Blätter abgeworfen und starb einen langsamen Tod. Sakai wies auf die drei dunklen Blutlachen auf dem Teppich.

»Darf ich vorstellen: Wilma, Bamm-Bamm und Pebbles.«

Sakai reichte ihm mehrere Fotos aus der Akte. Die Mutter, ausgeweidet, die Kehle durchtrennt, alle viere von sich gestreckt, lag in der Mitte des Raums. Ihr halbwüchsiger Sohn lehnte tot an der Wand, verendet, eine tiefe Wunde verlief quer über den Unterleib, die rechte Augenhöhle lag offen. Zuletzt war das Mädchen in der Ecke ermordet worden; sie hatte die Schultern hochgezogen, als hätte der Tod sie völlig verblüfft.

Die Lichter der Stadt leuchten so schön.

»So hat es sich abgespielt.« Sakai knackte mit den Fingern. »Der Mörder droht den Kindern, die Mutter hält das nicht aus, sie wird auf der Stelle getötet. Der Sohn eilt ihr zu Hilfe. Ein großer starker Junge, teilt wahrscheinlich ein paar Fausthiebe aus. Deswegen ist seine erste Stichwunde ein Defensivschlag. Zum Schluss ist das Mädchen dran. Ihr wird die Kehle durchgeschnitten. Sie bleibt die ganze Zeit in Deckung.«

Iwata nickte. Tote Kinder, verwesendes Fleisch, gehört alles zum Job, so wie man vor roten Ampeln warten oder Berichte schreiben muss.

»Sie haben ein scharfes Auge, Sakai.«

Sie überhörte das Kompliment und las in der Akte.

»Picasso hat auch hier keinen einzigen Abdruck hinterlassen.«

»Machen wir weiter.«

Sie durchsuchten das Erdgeschoss, fanden aber nichts Außergewöhnliches. Als sie fertig waren, gingen sie nach oben. Auf dem Absatz blieben sie vor der Badezimmertür stehen. Das Fenster über der Toilette stand offen, ein kalter Wind wehte herein. Iwata klappte den Toilettensitz herunter, ein undeutlicher schlammiger Fußabdruck war zu erkennen.

»In der Akte steht davon nichts, oder?«

Sakai zuckte mit den Schultern.

»Jedenfalls wissen wir jetzt, wie er hineingekommen ist.«

Sie gingen zurück in den Flur und durchsuchten die Kinderschlafzimmer. In der Akte gab es zu beiden keinen Vermerk, und sie fanden auch nichts Ungewöhnliches. Danach waren der Balkon und die Garage dran. Die Kaneshiros besaßen offenbar ein Auto, einige Ölflecken und eine alte Flasche Frostschutzmittel deuteten darauf hin.

»Wo ist das Auto?«, fragte Sakai.

»Hat schon lange nicht mehr in der Garage gestanden.«

»Verkauft?«

»Einen Moment«, sagte Iwata und rief Hatanaka an. »Ja, ich bin es. Noch eine Sache. Überprüfen Sie bitte das Fahrzeug, das auf den Namen der Familie Kaneshiro zugelassen ist. Vielleicht hatten sie Geldsorgen und haben es verkauft. Oder es ist als gestohlen gemeldet. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie was herausgefunden haben.«

Iwata legte auf, und Sakai zwinkerte ihm zu.

»Gut mitgedacht.«

»Was fehlt noch?«, fragte er.

»Das Arbeitszimmer und das Elternschlafzimmer.«

»Okay, in der Reihenfolge.«

Sie kehrten in den ersten Stock zurück. Die Tür zum Arbeitszimmer stand sperrangelweit offen. Der Familien-PC war noch eingeschaltet, und neben der Tastatur verschimmelte ein Becher flüssige Mint-Eiscreme.

»Seltsam«, sagte Iwata leise.

»Könnte von ihm sein. Mord macht hungrig.«

»Den Löffel hat er nicht dagelassen.«

Sakai gab ihm die Akte, setzte sich an den Computer und streifte sich Gummihandschuhe über. Sie öffnete die Suchchronik.

»Sehen Sie sich das an.« Sie kratzte sich am Kopf. »Der Kerl war stundenlang online.«

»Muss nicht unbedingt der Mörder gewesen sein.«

»Die Seiten wurden alle erst nach dem Tod der Familie aufgerufen. Theatergruppen, Baseballnachrichten, Flugverbindungen nach Korea. In der Akte steht davon nichts, aber unsere Techniker könnten doch sicher mal zwanzig Minuten hierfür erübrigen, oder?«

Iwata schüttelte den Kopf.

»Das ergibt doch keinen Sinn, Sakai. Er bringt eine ganze Familie um, ohne eine einzige Spur zu hinterlassen, aber gewährt uns Einblick in seine Browser-Chronik?«

»Meinen Sie, es steckt Absicht dahinter?«

Iwata zuckte mit den Schultern.

»Hinter allem steckt eine Absicht.«

Sakai dachte darüber nach.

»Kann sein. Unser Picasso ist also schlau aus Eigeninteresse.«

Iwata blätterte die Akte durch.

»Finden Sie nicht auch, dass die Akte ein bisschen dürftig ist, Sakai? Alles viel zu vage.«

»Kein Wunder, wenn man die besonderen Umstände bedenkt, was Kommissar Akashi betrifft. Kommen Sie, ein Raum fehlt noch.«

Sie verließen das Arbeitszimmer und blieben bei den Blutspritzern vor dem Elternschlafzimmer stehen.

»Also.« Sakai zeigte auf die Schlafzimmertür. »Fred ist im Bett, fühlt sich nicht wohl. Er hört Geräusche aus dem Badezimmer und geht nachgucken. Warum? Warum verlässt er das Schlafzimmer? Warum kommt er nicht auf den Gedanken, dass vielleicht seine Frau gerade auf dem Klo ist?«

»Vielleicht sind die Geräusche sehr laut. Der Fußabdruck ist etwas verwischt. Der Mörder könnte ausgerutscht und gefallen sein.«

»Ja, das ist möglich. Wie auch immer, jedenfalls tritt Fred auf den Flur, sieht Picasso, und sie rasseln aneinander. Der Killer setzt ihn außer Gefecht, der Hauptfeind ist neutralisiert, danach hat unser Mann freie Hand, sich den anderen zu widmen.«

»Der Vater war schwer verwundet, aber gestorben ist er im Schlafzimmer, so viel steht fest.«

»Und?«

»Wenn er hier oben gelegen hat und noch bei Bewusstsein war, hat er mitbekommen, wie seine Familie unten getötet wurde.«

»Ich liebe meine Arbeit, echt.« Sakai kratzte sich an der Nase. »Soll ich?«

Iwata nickte. Sie öffnete die Tür zum Elternschlafzimmer, und beider Blick fiel auf das Blut von Tsunemasa Kaneshiro.

Die Lichter der Stadt leuchten so schön.

Iwata kannte sich mit der Praxis des Mordens aus. Auch mit der Praxis des Todes. Den Vater zu kremieren würde neunzig Minuten dauern. Seinen Sohn etwa genauso lang. Seine Frau fünfundvierzig Minuten. Ihr sechs Monate altes Kind Hana gut zwanzig Minuten. Die Arbeit eines Nachmittags.

Iwata sah einen Sonnenuntergang über Klippen. Er sah Felsen darunter. Kurz schwankte er.

Ich bin glücklich mit Dir. Bitte, ich möchte sie hören.

»Alles okay, Iwata?«

»Ja, ja.« Er hatte sich wieder gefangen. »Wir brauchen Licht.«

Sakai betrachtete die Blutlache auf dem Bett. Iwata schob die Vorhänge beiseite, worauf der Raum in grelles Licht getaucht wurde.

In dem Moment bemerkte er es.

Sakai war es noch nicht aufgefallen. Sie betrachtete versunken ein Foto des toten Vaters.

»Eindeutig der brutalste Mord. Überall Stichwunden, abgesehen von der ersten, die ihm im Flur zugefügt worden ist. Vermutlich war Fred Picassos Muse.«

Auf dem Foto klaffte neben Kaneshiros Rippen ein großes Loch.

»Er hat ihm das Herz entnommen«, flüsterte Iwata wie zu sich selbst, er blickte noch immer zur Decke. »Das sind Ritualmorde, Sakai. Das hat etwas zu bedeuten. Sehen Sie. Er hat nur beim Vater das Herz entnommen. Bei den anderen nicht.«

»Ritualmorde? Ist das nicht ein bisschen übertrieben? Vielleicht war der Killer auf Geld aus oder wollte sich rächen. Oder wir haben es mit einem Irren zu tun, der ein offenes Fenster entdeckt, und alles Weitere hat sich spontan ergeben. Sie sagen ja gar nichts. Was ist?«

Iwata zeigte nach oben. Sakai hielt sich die Hand vor den Mund.

»Ach, du Scheiße.«

An der Decke hatte jemand eine gezackte schwarze Sonne hingeschmiert.

3. KAPITEL

Ich bin da

Mittagspause, das Café Doutor war brechend voll. Tratschende Hausfrauen mit Kaffeetassen in der Hand echauffierten sich, einsame Büroangestellte kauten geistesabwesend ihre Donuts. Sakai schüttelte den Kopf und trank eine heiße Schokolade. Auf dem Tisch lag der Ausdruck des Suchverlaufs des Kaneshiro-PCs.

»Dass er die Flüge nicht gleich auch gebucht hat, muss nichts bedeuten. Vielleicht hat er es später gemacht oder übers Telefon. Glauben Sie wirklich, dass sich das Arschloch zwanzig Minuten Zeit nimmt, um Flüge nach Seoul rauszusuchen, wenn er gar nicht vorhat zu fliegen?«

»Ja, das glaube ich.« Iwata biss sich auf die Fingernägel, wippte mit dem Fuß und starrte auf die Zeichnung, die er von der schwarzen Sonne angefertigt hatte.

»Warum?«

»Vielleicht weiß er, dass wir uns auf solche logischen Ermittlungsansätze mit Vorliebe stürzen.«

Sakai lachte.

»Sie sind wirklich durch und durch Polizist.«

»Bei einer Flugreservierung vom Computer der Kaneshiros aus hätte er seinen Namen preisgeben müssen. Ein Todesurteil.«

Sie leckte sich die Schokolade von der Oberlippe.

»Vielleicht konnte er nicht mehr klar denken, nachdem er die ganze Familie abgeschlachtet hatte. Vielleicht hat er einen Rückzieher gemacht, weil er Schiss hatte.«

Iwata schüttelte den Kopf.

»Die Familie hat er gegen zehn Uhr abends umgebracht, und bis acht Uhr morgens isst er ihren Kühlschrank leer, löst die Sudokus in ihrer Zeitung, hört sich ihre CDs an und sucht Flüge nach Korea auf ihrem Computer heraus. Glauben Sie, ein Mann, der ein Kind ersticht und einem Opfer das Herz entnimmt, kriegt beim Geräusch einer zufallenden Tür Schiss?«

Sakai dachte darüber nach und bestellte noch einen heißen Kakao. Iwata schüttelte wieder den Kopf.

»Vielleicht hat die Oma ihn mit ihren dauernden Anrufen wahnsinnig gemacht«, sagte sie.

»Kann sein. Aber überlegen Sie doch mal. Er hat das Haus am helllichten Tag verlassen. Er fühlte sich absolut sicher, dass man ihn nicht erkennen würde.«

»Nur weil er Handschuhe getragen und irgendein Symbol hinterlassen hat, muss er noch lange kein Genie sein. Mehr sage ich doch gar nicht.«

Ihr Kakao kam, und sie tunkte ein paar Butterkekse in die Tasse.

»Davon fallen Ihnen die Zähne aus, Sakai.«

Aus Trotz kniff sie beim Trinken genüsslich die Augen zusammen. »Machen Sie nur weiter. Sagen Sie mir, warum er angeblich so blitzgescheit ist.«

»Die Chance, auf ein Genie des Bösen zu treffen, besteht statistisch gesehen eins zu einer Million. Aber immerhin könnten wir es mit einem überdurchschnittlich intelligenten Menschen zu tun haben.«

»Na und? Sie sind auch nicht minderbemittelt und ich nicht auf den Kopf gefallen.«

»Seine Intelligenz ist mir egal, Sakai. Viel mehr beunruhigt mich, dass er nach bisherigem Stand keinerlei Spuren hinterlassen hat. Obsession, minuziöse Planung und die Bereitschaft, eiskalt seine Fantasie auszuleben, ohne Rücksicht auf Verluste. Der Mann hat das Zeug zu einem effizienten Serienmörder.«

»Ein Serienmörder? Wie kommen Sie darauf? Abgesehen von der Familie.«

»Laut Definition des FBI muss ein Täter vier oder mehr Menschen getötet haben, um als Serienmörder zu gelten. Diese Voraussetzung hat er bereits erfüllt.«

»Waren Sie beim FBI?«

»Nein. Es ist eine gebräuchliche Definition. Das lernt man dort in der Polizeiausbildung.«

»Warum sind Sie so sicher, dass er noch nicht fertig ist?«

»Das Symbol. Er hat es nicht einfach so aus Spaß hingemalt. Es soll etwas ausdrücken. Es steht für seine Arbeit, seine Welt. Es ist eine Art Manifest. Sie haben ihn Picasso genannt. Ein Künstler signiert seine Bilder deswegen, weil es sie nur ein einziges Mal gibt.«

»Na gut. Und was bedeutet das Symbol?«

»Keine Ahnung. Ich kenne nur seine Botschaft.«

»Und die lautet?«

»Ich bin da. Ich bin noch nicht fertig.«

Sakai trank ihren Kakao aus und kratzte mit dem Löffel die letzten Krümel aus der Tasse. Iwata kippte den Kaffee hinunter, bezahlte und ließ sich den Bon für seine Spesenabrechnung geben. Er hoffte, dass er das Geld schnell zurückerstattet bekam. Draußen rannte Sakai zum Auto, obwohl der Regen längst in ein Nieseln übergegangen war. Iwata stieg auf der Fahrerseite ein, fuhr aus der Parklücke und schlug den Weg zum Institut für Rechtsmedizin ein. Während er auf die Schnellstraße zusteuerte, blätterte Sakai wieder in der Akte. Nach ein paar Minuten klingelte ihr Handy, und sie nahm den Anruf grußlos entgegen.

»Alles klar. Vielen Dank.« Kopfschüttelnd klappte sie ihr Handy zu. »Das war der achte Stock. In der Eiscreme lassen sich unmöglich DNA-Spuren nachweisen. Und der Fußabdruck auf der Toilette ist zu undeutlich, um was zu erkennen. Eins allerdings haben sie herausgefunden. Der Mörder hat große Füße. Achtundzwanzig Zentimeter lang.«

Iwata sah sie an.

»Achtundzwanzig?«

Sie grinste. »Offenbar suchen wir nach einem Riesen.«

Das Institut für Rechtsmedizin der Stadt Tokio zählt zu den größten Gebäuden im Bezirk Bunkyo. Es ist ein weißer L-förmiger Bau, der dem Kinderspielplatz auf der anderen Straßenseite die Sonne nimmt. In der Eingangshalle verkündet eine Tafel an der Wand stolze Zahlen:

20 % aller Verstorbenen in Tokio werden bei uns eingeliefert

13 000 medizinische Untersuchungen im Jahr

2650 Autopsien

Iwata rechnete aus, dass das Institut heute bereits vier Autopsien durchgeführt hatte.

Sakai zeigte am Empfang ihre Dienstmarke, und sie wurden durch die Sicherheitsschleusen geleitet. Sie nahmen den Aufzug in den Keller, die Türen glitten zur Seite, und vor ihnen stand, im Laborkittel, eine kleine Frau mittleren Alters, die leise Greensleeves vor sich hin pfiff. Die Haare trug sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, auf beide Handrücken hatte sie sich etwas als Gedächtnisstütze notiert. Ihre Fingerspitzen waren vom Tabak gelb verfärbt.

»Dr. Eguchi. Sie sind wegen der Familie gekommen, richtig?«, fragte sie mit rauchiger Stimme.

»Ja. Ich bin Sakai, das ist Kommissar Iwata.«

»Sie sind früh dran. Die meisten, die hierherkommen, verspäten sich.«

Sakai und Iwata sahen sich an.

»Nichts für ungut«, sagte Eguchi. »Pathologenhumor.«

Sie lächelte.

»Der Mord liegt drei, vier Tage zurück. Ich dachte schon, es würde sich keiner mehr für die Leichen interessieren.«

»Ein Personalwechsel bei der Polizei von Tokio hat zu einem Stau geführt.«

Neugierig zog Eguchi die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts.

Sie führte sie in einen großen, blitzblanken Sektionsraum mit beigen Wänden und fünf Metalltischen.

Die Lichter der Stadt leuchten so schön.

Die Halogendeckenstrahler erwachten flackernd zum Leben und tauchten den Raum in grelles Licht. Die Oberflächen aus rostfreiem Stahl glänzten makellos. Auf vier Sektionstischen lagen die Leichen der Familie Kaneshiro.

»Also«, setzte Eguchi an, »es ist eindeutig Mord. Alle sind erstochen worden. Manche haben mehr Stiche als andere.«

Hoffnungsvoll lächelnd blickte sie auf.

»Ihr Vorgänger hatte mehr Humor.«

Eguchi wies auf Tsunemasa und Seiji Kaneshiro, als würde sie den neuen Mietern die Verteilerkästen in ihrer Wohnung zeigen.

»Vater und Sohn haben sich gegen den Angreifer gewehrt, aber wir haben kein Blut gefunden, nichts unter den Fingernägeln.«

Die Verletzungen von Vater und Sohn ähnelten sich sehr, allerdings war der Vater weit schlimmer zugerichtet und wie ein Fisch aufgeschlitzt worden. Im unteren Brustkorb, dort, wo das Herz gesessen hatte, klaffte ein gewaltiger Schnitt. Die Augenlider waren abgerissen. Cremefarbene Schädelteile ragten aus der Stirn hervor.

»Der Mörder ist Linkshänder, darauf lassen die Wunden schließen. Und außerdem vermutlich sehr kräftig, bedenkt man, auf welche Weise das Herz entnommen wurde, und angesichts der Schäden am darunterliegenden Knochen.« Die Mutter und das Mädchen, die sie eindeutig weniger interessierten, tat Eguchi mit einer wegwerfenden Handbewegung ab.

»Ich sollte noch hinzufügen, dass keines der Opfer sexuell missbraucht wurde.«

Die Wimpern des Mädchens waren lang, die Wangen wachsbleich, ihr Mund stand offen. An der Kehle verlief ein langer, tiefer Schnitt, als würde sie von einem Ohr zum anderen grinsen.

»Können Sie uns etwas zur Mordwaffe sagen?« Iwata wandte den Blick von der reglosen weißen Hülle des Mädchens ab.

Eguchi lächelte geheimnisvoll.

»Das ist ein interessanter Punkt, Kommissar. Normalerweise können wir recht genaue Angaben über die Art der Klinge und die Form des Messers machen. Jedes Messer oder Skalpell hinterlässt verräterische Hinweise auf Schwachstellen.«

»In diesem Fall nicht?«

»Wir verfügen über ein umfangreiches Archiv, doch womit diese Familie getötet wurde, ist mir ehrlich gesagt schleierhaft.«

»Entschuldigen Sie die Nachfrage. Wie meinen Sie das?«

»Alle sind erstochen worden, das steht fest. Aber nicht mit einem Messer, das in Japan erhältlich ist. Dafür sind die Schnitte zu perfekt, zu scharf.«

»Könnte es ein Skalpell gewesen sein?«, fragte Iwata.

»Dafür wiederum sind die Wunden zu groß. Sie lassen eher auf eine Machete oder Ähnliches schließen. Ein kleines Schwert möglicherweise.«

Iwata und Sakai sahen sich erneut an. Die Ärztin fuhr fort, und Sakai machte sich Notizen.

»Morgen früh sind die Untersuchungsergebnisse für Blut, Urin und Mageninhalt da. Alle Leichen wiesen auch schwarze Rußspuren auf. Bei dem Vater fanden sich die meisten auf dem Zeigefinger der linken Hand. Obwohl er Rechtshänder war. Vielleicht hat man ihn gezwungen, den Ruß zu berühren.«

»Die schwarze Sonne«, sagte Iwata leise zu sich selbst. »Kaneshiro wurde gezwungen, das Symbol an die Decke zu malen.« Dr. Eguchi ging wieder mit ihnen hinaus.

»Noch etwas. Wie formuliere ich es möglichst taktvoll? Die Leichen …«

»Die Oma mütterlicherseits kümmert sich um die Angelegenheit«, kam Sakai ihrer Frage zuvor. »Die Leichen werden bis morgen Nachmittag abgeholt.«

»Sehr schön. Wir sind morgens ab halb neun da. Bis dahin liegen auch die Untersuchungsergebnisse vor.«

»Hier ist meine Nummer.« Sakai riss eine Seite aus ihrem Notizbuch und gab sie der Ärztin.

Die beiden verbeugten sich und eilten zum Ausgang. Kaum saßen sie im Auto, klingelte Sakais Handy.

»Ach, Sie … Ja? Gut. Haben Sie auch den Namen?« Sie klemmte das Handy zwischen Schulter und Kinn und notierte sich etwas. »Okay. Was haben Sie noch für mich? 2010? Gut. Was ist mit Ihrem Freund? Hat er die Kennzeichen der Autos auf dem Parkplatz? Ja. Das interessiert mich nicht. Wir haben jetzt zwei Uhr. Ich rufe um fünf Uhr nochmal an, und dann möchte ich die Namen. Ihr Freund ist aus dem Schneider. Sie haben ihn soeben beerbt und übernehmen seinen kleinen Auftrag. Haben Sie mich verstanden?«

Iwata bemerkte aus den Augenwinkeln, wie ein vergnügliches Grinsen über Sakais Gesicht huschte.

»Ach, noch etwas, Hatanaka. Denken Sie daran, was ich Ihnen gesagt habe. Ich bin eine Frau, die meint, was sie sagt.«

Sie legte auf.

»Das war der Bulle mit dem Muttermal.«

»Hatanaka?«

»Genau der. Zwei Infos. Erstens: Die Familie besaß ein Auto. Einen Honda Odyssey, Baujahr 2010. Ob verkauft oder gestohlen ist unklar.«

»Wer immer das Auto jetzt hat, ein Gespräch mit ihm könnte sich lohnen.«

»Das denke ich auch. Zweitens: Hatanaka hat von den Bewohnern vor Ort einen Namen erfahren.« Sie hielt ihr Notizbuch hoch.

»Kodai Kiyota?«, las Iwata laut vor.

»Nachbarn haben ausgesagt, es sei allgemein bekannt, dass er mit der Familie Kaneshiro im Clinch lag. Anscheinend hat er Verbindungen zu der Entwicklungsgesellschaft, die die Abrissarbeiten in der Nachbarschaft durchgeführt hat.«

»Er wollte sie rausekeln, und sie wollten nicht gehen?«

Sie zuckte die Schultern. »Sehr wahrscheinlich. Aber jetzt halten Sie sich fest. Der Typ stand früher als Vollstrecker im Dienst der Yakuza. Und nicht nur das. Laut Polizeiakte ist er eins neunundachtzig groß.«

»Dann müssen wir diesen Mann suchen, Sakai. Ich setze Sie an der Polizeiwache Setagaya ab. Sie melden sich, wenn Sie ihn gefunden haben.«

»Wohin fahren Sie?«

»Der Vater hat in einem Call-Center in Keiotamagawa gearbeitet, die Mutter an einer Universität in der Nähe. Ich will mir mal ihre Kollegen vornehmen, vielleicht erfahre ich ja was.«

Sakai gähnte und sah Iwata unmittelbar an.

»Woher kommen Sie eigentlich?«, fragte sie.

»Miyama. Tiefste Provinz. Nicht weit von Kyoto.«

»Ich habe gehört, Sie seien Amerikaner.«

»Ich habe ein paar Jahre dort gelebt, als ich jung war, mehr nicht. College. Und Sie?«

»Kanazawa.«

Iwata lachte.

»Was ist daran komisch?«

»Gar nichts. Ich kann mir Sie nur schlecht als Spaziergängerin im Kenroku-en-Garten vorstellen. Daher kommen Sie also.«

»Da habe ich nur meine Dienstmarke her.«

Iwata warf ihr einen Blick zu. Sie schien sich auf die Zunge zu beißen und sah aus dem Fenster. Billige Hotelketten und anonyme Konzerne flankierten die graue Schnellstraße. Versteckt dahinter Stundenhotels und von den jahrelangen Abgasen verschmutzte, überteuerte Wohnblöcke.

Ich bin glücklich mit Dir.

»Wer war das heute Morgen? Auf dem Weg zum Aufzug?«, fragte Iwata.

Sie schaute weiter aus dem Fenster. »Wen meinen Sie?«, sagte sie geistesabwesend.

»Der mit dem Gummiband auf Sie geschossen hat.«

Sie wandte ihm ihr Gesicht zu und suchte seinen Blick, bevor sie antwortete.

»Er heißt Moroto.«

»Was ist mit ihm?«

»Moroto ist … Ach, am besten gehen Sie ihm aus dem Weg.«

Als er das Schild Setagaya-Zentrum sah, fuhr Iwata von der Schnellstraße herunter.

»Klar, man kann sich täuschen, aber nach meinem Eindruck ist Moroto ein Arschloch.«

Sie sah wieder aus dem Fenster.

»Wissen Sie was, Iwata? Für einen aus der Region Kansai sind Sie gar nicht mal so blöd.«

Zum ersten Mal lächelten sie sich an, und der Rest der Fahrt zum Polizeirevier in Setagaya verlief schweigend.

Happy Cloud Communications befand sich im ersten Stock eines gedrungenen Gebäudes im Schatten eines mehrstöckigen Parkhauses. Iwata ging an einem koreanischen Restaurant und einer kleinen Zahnklinik vorbei, bis er den Seiteneingang fand. Er drückte die Türklingel, und ein übergewichtiger Mann in einer schmutzigen Strickjacke öffnete ihm. Iwata wies sich aus.

»Sie sind sicher wegen Kaneshiro hier.«

Iwata nickte.

»Ich bin Niwa, der Geschäftsführer. Ich zeige Ihnen seinen Schreibtisch.«

Iwata folgte ihm in einem fensterlosen Raum mit gelben Wänden und Kunstpflanzen. Dreißig Telefonplätze, alle besetzt mit munter in den Hörer plappernden Angestellten. Ein junger langhaariger Mann mit Milchgesicht hob den Kopf. Als er Iwata sah, wandte er sich hastig ab, stand auf und verließ den Raum.

»Hatte Herr Kaneshiro Probleme am Arbeitsplatz?«

Niwa blickte über die schuppenberieselte Schulter und schmunzelte.

»Probleme? Der Mann hat ja kaum je ein Wort gesprochen. Er hat die ganze IT für mich gemacht, hatte wenig Kontakt zu den Angestellten. Ein knappes ›Hallo‹ am Morgen und ›guten Abend‹, wenn er wieder ging, mehr nicht. Hier war sein Büro.«

Niwa klopfte zum Spaß an die Tür.

»Keiner da.«

»Sie können mich allein lassen, Herr Niwa.«

Iwata prägte sich ein paar Sachen ein, während er sich umsah. Der enge Raum war etwas zurückgesetzt vom Hauptraum und durch eine Tür mit Niwas Büro verbunden, die Jalousie vor dem Fenster war geschlossen. Es ging auf eine Gasse auf der Rückseite des Gebäudes hinaus, unten lag nur Abfall und merkwürdigerweise ein altes Megafon. Eine Katze streifte umher.