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Vor über 2400 Jahren fand einer der bekanntesten Philosophen der Menschheitsgeschichte sein Ende. Sokrates von Athen war wegen "Gottlosigkeit" und "Verderbnis der Jugend" angeklagt, für schuldig befunden und zum Tode verurteilt worden - eine Strafe, die durch Trinken von Schierling vollstreckt wurde. Nach Sokrates' Tod ist einer seiner treuesten Schüler, Ctesippus, überaus verzweifelt und versucht den Schicksalsschlag zu bewältigen, indem er ziellos in den Hügeln umherwandert. Nachdem er sich in der mittlerweile dunklen Wildnis verirrt hat, wird er von einer Vision - oder vielleicht einem gewöhnlichen Traum? - heimgesucht. In diesem Traum sieht er sowohl Sokrates als auch einen anderen kürzlich verstorbenen Athener Bürger, Elpidias ...
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Seitenzahl: 43
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Schatten – Eine Phantasie
Deutsche Neuübersetzung
WLADIMIR KOROLENKO
Schatten, W. Korolenko
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN: 9783849653743
www.jazzybee-verlag.de
Ein Monat und zwei Tage waren vergangen, seit die Richter unter dem lauten Beifall des athenischen Volkes das Todesurteil gegen den Philosophen Sokrates sprachen, weil er versucht hatte, den Glauben an die Götter zu zerstören. Was für das Pferd die Bremse ist, war Sokrates für Athen. Die Bremse sticht das Pferd, um es vor dem Einschlafen zu bewahren und es in flotter Bewegung auf seinem Weg zu halten. Der Philosoph sagte zu den Athener Bürgern:
"Ich bin eure Pferdebremse. Mein Stachel sticht euer Gewissen und weckt euch auf, wenn ihr beim Schlafen erwischt werdet. Schlaft nicht, schlaft nicht, Leute von Athen; erwacht und sucht die Wahrheit!"
Die Menschen erhoben sich in ihrer Verbitterung und forderten vehement, von ihrer Bremse befreit zu werden.
"Vielleicht liegen seine beiden Ankläger, Meletus und Anytus, falsch", sagten die Bürger, als sie das Gericht verließen, nachdem das Urteil gefällt worden war.
"Aber um was geht es schließlich bei seinen Lehren? Was würde er tun? Er hat Verwirrung gestiftet, er stürzt Überzeugungen, die von Anfang an bestanden haben, er spricht von neuen Tugenden, die anerkannt und gesucht werden müssen, er spricht von einer Gottheit, die uns bisher unbekannt war. Der Gotteslästerer hält sich für weiser als die Götter! Nein, lieber bleiben wir den alten Göttern treu, die wir kennen. Sie mögen nicht immer gerecht sein, manchmal können sie in ungerechtfertigtem Zorn entflammen, und sie können auch von mutwilliger Begierde nach den Frauen der Sterblichen ergriffen werden; aber lebten unsere Vorfahren nicht mit ihnen in tiefem Seelenfrieden, haben unsere Vorfahren ihre Heldentaten nicht mit Hilfe eben dieser Götter vollbracht? Und jetzt sind die Gesichter der Olympier blass geworden und die alte Tugend ist aus den Fugen geraten. Zu was führt das alles? Sollte dieser perversen Weisheit nicht ein für allemal ein Ende gesetzt werden?"
So sprachen die Athener miteinander, als sie den Ort verließen, und die blaue Dämmerung anbrach. Sie hatten beschlossen, die rastlose Bremse in der Hoffnung zu töten, dass die Gesichter der Götter wieder leuchten würden. Und doch – erhob sich vor ihren Seelen die sanfte Gestalt des einzigartigen Philosophen. Es gab einige Bürger, die sich daran erinnerten, wie mutig er ihre Sorgen und Gefahren in Potidæa geteilt hatte; wie er allein sie daran gehindert hatte, die Sünde der ungerechten Hinrichtung der Generäle nach dem Sieg über die Arginusæ zu begehen; wie er allein es gewagt hatte, seine Stimme gegen die Tyrannen zu erheben, die fünfzehnhundert Menschen zum Tode verurteilt hatten, und mit den Menschen auf dem Marktplatz über Hirten und ihre Schafe sprach.
"Ist nicht der ein guter Hirte", fragte er, "der seine Herde schützt und über ihren Nachwuchs wacht? Oder ist es das Werk des guten Hirten, die Zahl seiner Schafe zu verringern und sie zu zerstreuen, und des guten Herrschers, dasselbe mit seinem Volk zu tun? Menschen von Athen, lasst uns diese Frage untersuchen!"
Und bei dieser Frage des einsamen, unverteidigten Philosophen verblassten die Gesichter der Tyrannen, während die Augen der Jugendlichen mit dem Feuer des gerechten Zorns und der Empörung glühten.
Als sich die Athener nach dem Urteil zerstreuten, erinnerten sie sich an all diese Dinge von Sokrates, und ihre Herzen wurden von heftigen Zweifeln geplagt.
"Haben wir dem Sohn des Sophroniskus nicht ein grausames Unrecht getan?"
Aber dann blickten die guten Athener auf den Hafen und das Meer, und im roten Schein des sterbenden Tages sahen sie die violetten Segel des Schiffes mit dem spitzen Kiel, das zum Delian-Fest geschickt worden war und in der Ferne auf dem blauen Pontos schimmerte. Das Schiff würde erst nach Ablauf eines Monats zurückkehren, und die Athener erinnerten sich daran, dass in dieser Zeit in Athen kein Blut vergossen werden durfte, weder das Blut der Unschuldigen noch das der Schuldigen. Ein Monat hat außerdem viele Tage und noch mehr Stunden. Angenommen, der Sohn des Sophroniskus wäre zu Unrecht verurteilt worden, wer wollte seine Flucht aus dem Gefängnis verhindern, zumal er zahlreiche Freunde hatte, die ihm halfen? War es für den reichen Platon, für Æschines und andere so schwierig, die Wachen zu bestechen? Dann würde die rastlose Bremse von Athen zu den Barbaren nach Thessalien, auf den Peloponnes oder noch weiter nach Ägypten fliehen; Athen würde seine blasphemischen Reden nicht mehr hören; sein Tod würde das Gewissen der ehrenwerten Bürger nicht belasten, und alles würde zum Besten aller enden.
So sagten viele an diesem Abend zu sich selbst, während sie laut die Weisheit der Demos und Heliasten lobten. Im Verborgenen hatten sie jedoch die Hoffnung, dass der rastlose Philosoph Athen verlassen, vom Schierlingsbecher fort und zu den Barbaren fliehen und so die Athener von seiner lästigen Gegenwart und von den Gewissensbissen befreien würde, die sie erschütterten, weil sie einen unschuldigen Mann dem Tod geweiht hatten.
Seit diesem Abend ist die Sonne zweiunddreißig Mal aus dem Meer aufgegangen und wieder darin versunken. Das Schiff war aus Delos zurückgekehrt und lag mit traurig herabhängenden Segeln im Hafen, als ob es sich für seine Heimatstadt schämte. Der Mond schien nicht am Himmel, das Meer wogte unter starkem Nebel, und auf den Hügeln blitzten Lichter durch die Dunkelheit wie die Augen von Menschen, die von einem Schuldgefühl ergriffen waren.
Der hartnäckige Sokrates hat das Gewissen der guten Athener nicht geschont.