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Wladimir Galaktionowitsch Korolenko war ein russischer Schriftsteller polnisch-ukrainischer Herkunft. Dieser Sammelband beinhaltet folgende Novellen: Die Flüchtlinge von Sachalin. Aus dem Tagebuche eines sibirischen Touristen. Ein Traum Der Wald rauscht. In der Osternacht. Der alte Glöckner
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Seitenzahl: 284
Veröffentlichungsjahr: 2012
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Sibirische Novellen
Wladimir Korolenko
Inhalt:
Wladimir Galaktionowitsch Korolenko – Biografie und Bibliografie
Sibirische Novellen
Die Flüchtlinge von Sachalin.
Aus dem Tagebuche eines sibirischen Touristen.
Ein Traum
Der Wald rauscht.
In der Osternacht.
Der alte Glöckner
Sibirische Novellen, W. Korolenko
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN:9783849629717
www.jazzybee-verlag.de
www.facebook.com/jazzybeeverlag
Russ. Schriftsteller, geb. 27. Juli 1853 (nach gregorianischem Kalender, 15. Juli nach julianischem Kalender) in Schytomyr, verstorben am 25. Dezember 1921 in Poltawa. Besuchte das Technologische Institut in Petersburg, dann die land- und forstwirtschaftliche Akademie in Moskau. Schon als Student in politische Händel verwickelt, ward er 1879 nach Ostsibirien verbannt, durfte aber 1885 zurückkehren, worauf er seinen Wohnsitz in Nishnij Nowgorod nahm. Sein bewegtes Leben gab ihm reichen Stoff zu fesselnden Erzählungen und Schilderungen, von denen wir nennen: »Skizzen eines sibirischen Touristen«; »Sokolinec« (d. h. ein auf die Insel Sokolin [Sachalin] Verbannter); »Makars Traum«, worin er Sagen und Aberglauben der Jakuten, unter denen er drei Jahre lebte, vorführt; »In schlechter Gesellschaft«; »Der Wald rauscht«, eine russische Volkslegende; »Der blinde Musikant« u. a. Seine Werke erschienen zum Teil gesammelt u. d. T.: »Očerki i razskazy
1.
... Mein Zeltgenosse war verreist; ich mußte daher allein in meiner Jurte nächtigen.
Arbeiten wollte ich nicht, und auf meinem Bette liegend, im Halbdunkel, da ich kein Feuer anzünden wollte, überließ ich mich, ohne es selbst zu wollen, den schweren Empfindungen, welche die Stille und das Dunkel gewöhnlich erwecken, während der kurze Tag des Nordens ganz im kalten, sich hebenden Nebel versank. Die letzten schwachen Strahlen der Sonne schwanden durch die vereisten Fenster aus dem Zimmer; ein tiefes Dunkel schien aus den Winkeln hervorzuschleichen und umhüllte die schrägen Wände, die über meinem Kopfe immer mehr zusammenzutreten schienen. Kurze Zeit sah ich noch die Umrisse des in der Mitte der Jurte stehenden mächtigen Ofens, doch auch dieser plumpe Penat jakutischen Wohnsitzes begann der einbrechenden Finsternis seine Arme entgegenzustrecken, und bald verschwand auch er meinen Blicken ... Finsternis umgab mich. Nur an drei Stellen glänzte es noch etwas heller in schwachem, phosphoreszierendem Glanze – dort, wo der jakutische Frost durch die ganz vereisten Fenster ins Zimmer schaute.
Minuten, Stunden vergingen unbemerkt, und ich achtete kaum, wie das verhängnisvolle Gefühl der Trauer und der Sehnsucht mich überkam, wie »die Fremde« feindlich mich anwehte mit ihrer Kälte und Unfreundlichkeit; wie in meiner erregten Vorstellung jene unermesslichen, weiten Strecken – Berge, Wälder, unendliche Steppen – erstanden, die mich von allem trennten, das mir lieb und wert und – verloren war, und mich doch stets zu sich lockte.
Jetzt erstand es mir in kaum sichtbarer Ferne, matt nur leuchtend in fast verlöschendem Lichte der Hoffnung. Und das unterdrückte, doch nicht überwundene Leid, das tief versteckt lag in dem entferntesten Winkel des Herzens – nun kam es schleichend hervor, kühn sein Haupt erhebend, um mitten in der mich umgebenden Stille, im tiefsten Dunkel, deutlich die schrecklichen, verhängnisvollen Worte zu flüstern: »Auf immer bist du in diesem Grabe, bist lebendig begraben, auf immer!«
Ein leises Gewinsel, das zu mir vom flachen Dache durch das Rohr des Ofens herunter drang, weckte mich aus diesem schweren Sinnen. Mein kluger Freund war es, der treue Hund Cerberus, der auf seinem Posten vor Kälte zitternd verharrte und mich nun fragte, was mit mir sei und weshalb ich nicht Feuer anzünde.
Ich rüttelte mich auf, denn ich fühlte, daß ich in dem Kampfe mit der Dunkelheit und dem Schweigen unterliegen müßte, und entschloß mich, jenes Mittel zu ergreifen, das ich hier unter der Hand hatte. Dies Mittel – der Gott in jeder Jurte Sibiriens – ist das Feuer.
Die Jakuten unterbrechen den ganzen Winter hindurch nicht die Heizung im Zelte und haben daher auch keine Vorrichtung zum Schließen des Ofenrohres. Wir hatten es uns aber konstruiert; es wurde von außen geöffnet und mußte man daher jedesmal zu diesem Zwecke das flache Dach der Hütte erklettern.
Ich schritt die Stufen hinan, die ich in den Schnee, der die Hütte bis fast zum Dache umgab, gehauen hatte. Unsere Wohnung stand fast ganz am Ende des Fleckens, den man von unserem Dache ganz überblickte, wie er dalag im Thale, umgeben von Bergen, und von dem man sonst sehen konnte, wie die Lichter durch die Fenster der jakutischen Zelte durchschimmerten, in denen Nachkommen russischer Ansiedler und verschickte Tataren hausten. Heute war alles in tiefen grauen Nebel gehüllt, der kalt und schwer auf der Erde lastete und gar keinen Ausblick gewährte. Nur oben in weiter Ferne glänzte matt ein Stern, dem es gelungen war, diese kalte Hülle mit seinem Strahle zu durchbrechen.
Rund umher lautlose Stille ... Das bergige Ufer des Flusses, die ärmlichen Hütten des Fleckens, die kleine Kirche, die glatte Schneefläche der Felder, der dunkle Saum des Waldes – alles war versunken in diesem uferlosen Meere des Nebels. Das Dach meines Zeltes, auf dem ich stand, mit dem aus Lehm roh gearbeiteten Schornsteine – zu meinen Füßen geschmiegt der Hund – schien eine Insel im weiten, unendlichen, unübersehbaren Ozean. Rund umher kein Laut, alles kalt und unheimlich. – Die Nacht lag schweigend und furchtbar ausgebreitet über der Erde ...
Cerberus winselte leise. Dem armen Tiere war es offenbar auch unheimlich wegen des anbrechenden heftigen Frostes; es schmiegte sich an mich, seine spitze Schnauze ausstreckend und mit den Ohren lauschend, und blickte aufmerksam in die dunkle, graue Finsternis hinaus.
Da spitzte es die Ohren und knurrte. Ich horchte auf. Anfangs war alles still wie früher, dann klang ein Ton durch die Stille, leise – da, noch einer, wieder und wieder einer. Durch die kalte Luft hörte man schwach den Hufschlag eines Pferdes noch weit draußen im Felde.
An den einsamen Reiter denkend, der, dem schwachen Tone des Hufschlages nach, noch etwa zwei Werst von unserem Flecken entfernt sein mußte, eilte ich an der schrägen Mauer hinab in meine Hütte. Eine Minute mit freiem Antlitz bei diesem Froste drohte mit einer abgefrorenen Wange oder Nase. Cerberus folgte mir, aufheulend in die Richtung, aus der der Hufschlag kam.
Bald darauf loderte im Ofen ein angezündeter Kienspan auf. Ich näherte ihn den trockenen, im Ofen bereit liegenden Holzscheiten und gleich darauf veränderte sich das Innere meiner Wohnung bis zur Unkenntlichkeit. Die schweigsame Hütte war erfüllt von Geprassel, Geknatter; Hunderte von Feuerzungen schlichen zwischen den Holzstücken hin, umfingen sie, spielten, sprangen um sie, krachten, knisterten, prasselten. Etwas Lebendiges war in das Zimmer gestürzt, alle Winkel und Ecken durchstöbernd und sie mit Geräusch erfüllend. Von Zeit zu Zeit verstummte das prasselnde Feuer. Dann hörte ich, wie die brennenden Funken knisternd durch das Ofenrohr in die kalte Luft hinausflogen.
Gleich darauf begann das Spiel von neuem mit frischen Kräften und häufige Krache erfolgten in der Jurte, wie das Geknatter von Pistolenschüssen.
Jetzt fühlte ich mich nicht mehr so verlassen, wie früher. Alles um mich her schien zu leben, sich zu bewegen, zu tanzen. Die Fensterscheiben, die vor kurzem nur schwach den Frost von außen hineinblicken ließen, spielten jetzt in tausend Farben und spiegelten den Schein der Flamme wieder. Ich fand Gefallen an dem Gedanken, daß im Dunkel der Nacht meine alleinstehende Hütte weithin leuchte und, gleichsam ein kleiner Vulkan, Tausende von Funken hinauswerfe, die zitternd in der Luft tanzten und inmitten weißen Rauches erstürben.
Cerberus ließ sich gegenüber dem Ofen nieder und blickte angestrengt, bewegungslos wie ein weißes Gespenst in die Flamme; nur zuweilen wandte er seinen Kopf zu mir und in seinen klugen Augen las ich Dankbarkeit und Treue. Schwere Schritte wurden außen hörbar, doch Cerberus blieb ruhig – er wußte, daß es unsere Pferde waren, die bis jetzt irgendwo unter Dach standen, mit gesenktem Kopf und vor Frost zuweilen zusammenschauernd, und jetzt dem Feuer nachgingen, um an der Wand stehen zu bleiben, die lustig springenden Funken und das breite Band des weißen Rauches zu betrachten, der dem Schornsteine kerzengerade entstieg.
Doch jetzt wandte sich der Hund unzufrieden ab und knurrte, gleich darauf warf er sich auf die Thür. Ich ließ ihn hinaus und während er auf seinem Wachtplatze bellte, blickte ich hinaus in den Hof. Jener einsame Wanderer, dessen Annäherungaus ich vorhin durch die Stille der Nacht gehört hatte, ließ sich durch mein fröhliches Ofenfeuer verlocken. Er öffnete eben die Pforte, um sein gesatteltes und bepacktes Pferd hereinzulassen.
Ich erwartete keinen Bekannten. Ein Jakute wäre wohl schwerlich so spät in den Flecken gekommen, und selbst wenn er es gethan hätte, so wäre er bei einem Freunde eingekehrt und hätte sich nicht durch ein brennendes Feuer verlocken lassen, bei einem Fremden anzuhalten.
»So kann es denn nur ein Ansiedler sein« – überlegte ich bei mir. Zu anderer Zeit wäre ich über einen solchen Besuch weniger erfreut gewesen, jetzt war ein lebender Mensch mir sehr erwünscht. – Ich wußte, daß das lustige Feuer bald verlöschen, die Flämmchen nur träge von Holzscheit zu Holzscheit schleichen und dann nur noch ein Häufchen glühender Kohlen zurückbleiben würde, über die nur selten blaue Züngelchen huschen – immer seltener, langsamer ... Dann würde wieder in der Jurte die Stille und Dunkelheit anbrechen und in meinem Herzen sich wieder jene Sehnsucht erheben. Der Ofen würde nur sichtbar sein durch ein schwaches Glühen unter der Asche, dann endlich auch dieses verschwinden, ersterben. Wieder würde ich allein bleiben – allein eine ganze, tiefe, lange, sehnsuchterregende, unendliche Nacht lang.
Der Gedanke, daß ich vielleicht eine Nacht mit einem Menschen würde zubringen müssen, dessen Vergangenheit mit Blut besudelt sei, kam mir gar nicht in den Sinn. Sibirien lehrt uns, auch im Mörder den Menschen zu sehen, und wenn auch die nähere Bekanntschaft mit Solchen uns nicht gerade jene »Unglücklichen« idealisiert erscheinen läßt, die Schlösser aufbrechen, Pferde stehlen oder in dunkler Nacht ihrem Nächsten den Schädel einschlagen, so lehrt doch diese Bekanntschaft sich zurechtzufinden unter den so komplizierten Trieben und Beweggründen der Menschen. Man erkennt, wann und was man vom Menschen zu erwarten hat. Ein Mörder mordet ja nicht immer; er lebt noch und empfindet auch ebenso, wie alle anderen – darunter sicherlich auch Dankbarkeit zu demjenigen, der ihn in kalter Nacht in seiner Hütte aufnimmt und beherbergt. Wenn ich aber mit einem aus ihrer Mitte eine Bekanntschaft schloß und bei meinem neuen Bekannten sich ein frisches, gesatteltes Pferd und am Sattel noch verschiedene Säckchen und Päckchen vorfanden, dann blieb die Frage über den Besitzer des Pferdes noch zweifelhaft, und das Innere dieser Säckchen und Päckchen ließ ebenfalls mitunter Zweifel aufkommen betreffs dessen rechtmäßiger Erwerbung seitens des augenblicklichen Besitzers. Die schwere, mit Pferdehaut beschlagene Thür der Jurte wurde aufgehoben; vom Hofe herein schlug eine Dampfwolke und zum Ofen trat ein Fremder – ein Mann von hohem Wuchs, breitschultrig und stattlich. Auf den ersten Blick konnte man sehen, daß er kein Jakute sei, trotz der jukutischen Kleidung. An den Füßen trug er Stiefel aus blendend weißem Pferdefell. Die breiten Überwürfe des jakutischen Kaftans standen Falten werfend auf den Schultern, die Ohren bedeckend, Kopf und Hals waren umwickelt mit einem großen Shawl, dessen Enden um die Hüften gebunden waren. Der ganze Shawl, sowie überhaupt die Kleidung und die hohe Mütze waren mit Reif überzogen.
2.
Der Fremde hatte sich dem Ofen genähert und begann nun ungeschickt mit durchfrorenen, erstarrten Fingern den Knoten seines Shawls und dann den Riemen seiner Mütze zu lösen. Als er beides abgeworfen hatte, erblickte ich das jugendfrische, vom Frost stark gerötete Gesicht eines etwa dreißigjährigen Mannes; die groben, doch charaktervollen Züge hatten jenen eigentümlichen Ausdruck, wie ich solchen zuweilen auf den Gesichtern von Arrestantenaufsehern begegnet bin und überhaupt solcher Menschen, die gewöhnt sind, Achtung zu heischen und Furcht einzuflößen, und die doch selbst stets auf ihrer Hut sein müssen. Seine schwarzen, ausdrucksvollen Augen warfen kurze, durchdringende Blicke. Der untere Teil des Gesichts stand etwas hervor, eine leidenschaftliche Natur verratend, doch hatte der »Landstreicher« – denn daß er ein solcher war, hatte ich nach einigen charakteristischen, nicht wiederzugebenden Merkmalen sofort erkannt – offenbar gelernt, sie zu zügeln und zurückzuhalten. Nur ein leichtes Zittern der unteren Lippe und ein nervöses Spiel der Muskeln verriet zuweilen innere Unruhe und verborgenen Kampf.
Die Müdigkeit, die Kälte der Nacht, vielleicht auch das Sehnsuchtsgefühl, das der einsame Wanderer, der sich durch den undurchdringlichen Nebel hatte hindurchzwingen müssen, empfand, milderten einigermaßen die Schroffheit des Gesichtsausdrucks, gaben ihm einen Zug von Leid, was mit meiner Stimmung am heutigen Abend so sehr harmonierte und mir Sympathie zu meinem fremden Gaste einflößte, der indes, ohne sein Oberkleid abzulegen, den Arm auf den Ofen stützte und eine Pfeife aus der Tasche zog. –
»Guten Abend, Herr!« – sagte er, seine Pfeife ausklopfend und mich zugleich aufmerksam betrachtend. – »Guten Abend!« erwiederte ich, meinerseits die fremde Gestalt musternd.
»Sie müssen mich nun schon entschuldigen, daß ich so ungebeten bei Ihnen einkehre. Ich wollte mich nur etwas erwärmen und eine Pfeife rauchen – dann gehe ich weiter; ich habe etwa zwei Werst von hier Bekannte, die mich immer aufnehmen.«
In seiner Stimme sprach sich die Zurückhaltung eines Menschen aus, der nicht aufdringlich sein will. Indem er mit mir sprach, warf er einige kurze, aufmerksame Blicke auf mich, als wollte er meine Antwort abwarten, um danach sein ferneres Verhalten mir gegenüber einzurichten.
»Wie du mit mir, so werde ich mit dir sein« – schienen diese kalten, durchdringenden Blicke zu sagen. Jedenfalls fielen mir die Manieren meines Gastes auf, die einen angenehmen Kontrast zu der Aufdringlichkeit des jakutischen Ansiedlers bildeten, obgleich ich ja auch begriff, daß, wenn er nicht bei mir hätte nächtigen wollen, er sein Pferd nicht in den Stall geführt, sondern draußen angebunden hätte.
»Wer sind Sie? Wie heißen Sie?« fragte ich ihn.
»Ich? Ich heiße Bagilai – d. h. so nennt man mich hier – mein eigentlicher Name ist Wassili. Vielleicht hörten Sie – aus dem Bajagataischen Distrikt.«
»Vom Ural gebürtig? Ein Landstreicher?
Über das Gesicht des Fremden huschte ein kaum merkliches Lächeln der Zufriedenheit.
»Jawohl derselbe! So haben Sie also schon etwas von mir gehört?«
»Ja, von NN., Sie wohnten ja in der Nähe von ihm!«
»Ja, Herr NN. kennt mich.«
»Freut mich, bleiben Sie bei mir zur Nacht, machen Sie es sich bequem, bleiben Sie nur; zudem bin ich auch allein. Nehmen Sie ab, indes will ich Thee bereiten.«
Der Landstreicher kam der Aufforderung gern nach.
»Danke, Herr! Wenn Sie mich denn schon einladen, so werde ich bleiben. Ich muß nur noch die Mantelsäcke vom Sattel nehmen und einiges in die Hütte hereinholen. Zwar ist mein Pferd innen im Hofe, dennoch ist's aber so besser. Das Volk hier ist schlau, besonders die Tataren.«
Er trat hinaus und kam gleich darauf mit zwei Mantelsäcken wieder zurück, öffnete die Riemen und langte seine Vorräte heraus: ein Stück gefrorener Butter, gefrorene Milch, einige Dutzend Eier u. dgl. Einiges davon legte er auf die Wandbretter in der Hütte, den Rest trug er ins Vorhaus in die Kälte. Dann nahm er den Kaftan ab und den Pelz und blieb in seinem roten Hemde mit den üblichen Beinkleidern; er setzte sich mir gegenüber ans Feuer.
»Ja, Herr,« sagte er, und lächelte, »ich will Ihnen die Wahrheit sagen: da reite ich an Ihrer Pforte vorbei und denke dabei: wird er mich wirklich nicht bei sich nächtigen lassen? Ich weiß so recht wohl, daß von den Unsrigen mancher derartig ist, daß man ihn bei sich gar nicht behalten kann. Ich gehöre nicht zu solchen – das kann ich frei sagen. Sie sagten ja auch, Sie hätten von mir schon gehört.«
»Ja, ich hörte von Ihnen.«
»Nun, sehen Sie, ich kann, ohne zu prahlen, sagen: ich lebe ehrlich und recht; habe eine Kuh, einen Ochsen im Stall, ein Pferd; ich pflüge meinen Acker, mein Feld...«
Er sprach das alles in einem so seltsamen Tone, nachdenklich auf einen Punkt blickend; bei den letzten Worten schien es mir, als denke er selbst: »Es ist ja auch wirklich so, wie ich sage!«
»Ja« – setzte er fort – »ich arbeite. So, wie es nach Gottes Gebot uns befohlen ist. Nun, ich glaube, das ist auch besser, als zu stehlen und zu morden. Nun, um gleich ein Beispiel anzuführen. Da fahre ich nachts vorbei bei Ihnen, sehe Feuer, trete ein und gleich werde ich freundlich und achtungsvoll empfangen; ich muß das zu würdigen wissen – nicht wahr?«
»Allerdings« – erwiderte ich, obgleich eigentlich der Landstreicher mehr zu sich selbst gesprochen hatte, um sich selbst von den Vorzügen seines jetzigen Lebens zu überzeugen.
Über Wassili hatte ich wirklich von Bekannten einiges gehört; er war einer von den Landstreicheransiedlern, lebte schon seit zwei Jahren in seinem Häuschen, mitten im Walde am See, in einem der größeren jakutischen Gemeinden. Unter den so vielen arbeitsunlustigen und verrotteten Kolonisten, die von Diebstahl und häufig von Mord lebten, war er einer der Wenigen, die es vorzogen, ein Leben voll Arbeit zu führen, wodurch man sich hier übrigens leicht eine gute Lebensstellung erwerben kann. Die Jakuten sind im allgemeinen ein sehr gutmütiger Volksstamm und in mancher Gemeinde ist es Sitte geworden, Neuangekommenen eine recht wesentliche Hilfe zu leisten. Allerdings müßte der Mensch, der durch das Schicksal in diese Gegenden verschlagen wird, ohne diese Hilfe entweder vor Hunger und Kälte sterben oder von Raub leben. Auch wird diese Hilfe häufig denjenigen geboten, die weiterwandern wollen, um sie weiterzuschaffen, und selten kommen solche zurück; aber auch solchen Menschen wird Unterstützung geboten, die sich ernstlich um eine Lebensstellung daselbst bemühen wollen.
Wassili bekam von der Gemeinde eine Hütte, einen Ochsen und im ersten Jahre sechs Pfund Roggen zur Saat. Die Ernte fiel gut aus; außerdem hatte er unter vorteilhaften Bedingungen übernommen, den Jakuten das Heu zu mähen, handelte mit Tabak, und nach zwei Jahren hatte er eine recht ansehnliche Wirtschaft. Die Jakuten behandelten ihn mit Achtung und nannten ihn, wenn er dabei war, stets Wassili Iwanowitsch, und nur in seiner Abwesenheit Wassjka. Die Priester kehrten auf dem Wege zum Vollziehen ihrer Amtshandlungen gern bei ihm ein und setzten ihn an ihren Tisch, wenn er zu ihnen kam. Auch zu uns hielt er sich, der Intelligenz, die das Schicksal in diese fernen Gegenden verschlagen hatte. Warum hätte er also seines Lebens nicht froh, warum nicht zufrieden sein sollen? Hätte er nur noch heiraten dürfen! Jedoch wäre hierbei noch die Schwierigkeit zu überwinden, daß Landstreicher dem Gesetze nach nicht getraut werden, doch hier, in dieser entlegenen Ecke, läßt sich für Geld und gute Worte auch das in Ordnung bringen.
Nichtsdestoweniger gewahrte ich an diesem energievollen Antlitze des jungen Landstreichers eine gewisse Seltsamkeit. Jetzt gefiel mir dieses Gesicht schon weniger als im Anfange, doch blieb es noch immer angenehm. Die dunkeln Augen blickten zuweilen nachdenklich und verständnisvoll, alle Züge drückten Energie aus, sein Benehmen war offen und aus dem Tone seiner Stimme hörte man das befriedigte Selbstbewußtsein einer stolzen Natur heraus.
Nur von Zeit zu Zeit zuckte der untere Theil des Gesichts und seine Augen wurden trübe. Augenscheinlich war es Bagilai nicht leicht, diesen gleichmäßigen Ton einzuhalten, den ein Etwas durchbrechen zu wollen schien – etwas Bitteres, Trauriges, Sehnsuchtsvolles, das nur durch einen starken Willen unterdrückt wurde.
Anfangs konnte ich mir nicht erklären, worin dieses Etwas bestand, jetzt weiß ich es: der gewohnte Landstreicher betrog sich selbst, indem er sich zu überreden versuchte, er wäre zufrieden mit seiner ruhigen, sorgenlosen Existenz, seinem Häuschen, seiner Kuh, seinem Ochsen und seinem Pferde im Stall und der ihm entgegengebrachten Achtung. In der Tiefe seiner Seele war er sich bewußt – und dieses Bewußtsein suchte er zu unterdrücken – daß dieses graue Leben, dieses Leben in der Fremde, ihn nicht befriedigte. Aus der Tiefe seiner Seele erhob sich schon damals die Sehnsucht nach dem Walde; aus der Alltäglichkeit seines einförmigen Lebens rief es ihn in die lockende, trügerische Ferne. So erklärte ich mir diesen Zug später; damals sah ich nur, daß, ungeachtet der äußeren Ruhe, ein Etwas am Herzen des Landstreichers nage und herauswolle aus dem Innern.
Während ich mit dem Zubereiten des Thees beschäftigt war, saß Wassili am Ofen und schaute nachdenklich ins Feuer. Ich rief ihn an, als alles fertig war.
»Danke Herr« – sagte er, sich erhebend – »Danke für das freundliche Wort. Ach Herr,« fuhr er leidenschaftlich erregt fort – »glaubst du es mir oder nicht: als ich Feuer in deiner Hütte erblickte, klopfte mir das Herz im Busen. Ich wußte es ja, daß hier ein Russe wohne. Ich ritt so durch Wald und Feld – Nebel, Finsternis überall, Frost. Zuweilen ritt ich an Zelten vorbei, wo der Rauch aus dem Schornstein stieg und mein Pferd wandte sich stets dahin; mich aber zog mein Herz fort. Was sollte ich da? Erwärmt hätte ich mich allerdings, auch Branntwein hätte ich da gefunden. Doch das wollte ich nicht! Als ich aber dein Feuer sah, beschloß ich zu dir einzukehren, wenn du mich nur aufnehmen würdest. Danke dafür, Herr! Solltest du zu uns in unsere Gemeinde einmal kommen, dann vergiß mich nicht und nimm dann vorlieb, es kommt aus vollem Herzen.«
3.
Als er seinen Thee getrunken hatte, setzte er sich wieder zum Feuer; noch konnte er sich nicht schlafen legen, er mußte erst abwarten, bis sein Pferd sich abgekühlt haben würde, um ihm dann Heu vorzulegen. Das jakutische Pferd ist nicht besonders kräftig, dafür aber ungemein anspruchslos; der Jakute führt auf ihm Butter und andere Vorräte zu den Gruben oder in den Wald zu den Tungusen, zum entfernten Utschur; Hunderte von Werst fährt er durch Gegenden, wo an Heu auch nicht zu denken ist.
Zur Nacht lagert er im dichten Walde, zündet einen Scheiterhaufen an und läßt das gekoppelte Pferd in den Wald traben; hier findet es sein Futter selbst: das alte Gras unter dem Schnee – und ist am Morgen wieder bereit zu ermüdender Fahrt. Doch hat es eine Eigentümlichkeit: man darf es nicht gleich nach dem Marsche füttern und ein sattes Pferd läßt man vor der Fahrt auch häufig erst einen ganzen Tag ohne Futter stehen.
Wassili mußte drei Stunden warten. Ich legte mich auch nicht hin, und so saßen wir beide, nur selten ein Wort miteinander wechselnd. Wassili – oder, wie er sich zu nennen liebte, » Bagilai« – legte ein Scheit nach dem anderen dem erlöschenden Feuer zu. Das war eine Gewohnheit, zu der man im Laufe langer jakutischer Winterabende kommt.
»Weit!« – sagte er plötzlich nach längerem Stillschweigen, als beantworte er sich selbst einen Gedanken.
»Was?« fragte ich.
»Weit entfernt liegt unser Land – Rußland. Hier ist alles anders – selbst das Pferd: dort, bei uns zu Hause, ist für das Pferd das erste Bedürfnis nach einem Ritt – Futter; füttert man aber dieses hier, so krepiert es. Ebenso die Menschen hier: im Walde leben sie, essen Pferdefleisch, essen es roh – selbst Aas essen sie – Gott verzeihe es ihnen! Pfui! Gar kein Schamgefühl haben sie. Zieht man bei ihnen in der Jurte seinen Tabaksbeutel nur hervor, gleich strecken sie die Hände darnach: Gieb nur!«
»Nun, das ist so Sitte bei ihnen,« sagte ich. »Sie selbst geben ja auch. So haben sie Ihnen ja auch geholfen, eine eigene Wirtschaft anzulegen.«
»Ja, das wohl...«
»Sind Sie mit Ihrem Leben zufrieden?« fragte ich, ihn aufmerksam anblickend.
Er lächelte.
»Ja,« sagte er und schwieg, ein Holzscheit in den Ofen legend. Die Flamme beleuchtete sein Gesicht, seine Augen blickten trübe.
»Ach, Herr, wenn ich Ihnen erzählen würde! – Nichts Gutes habe ich in meinem Leben gesehen und sehe es auch jetzt nicht. Nur vielleicht noch bis zu meinem achtzehnten Jahre gab es Besseres für mich. Glücklich lebte ich, solange ich meinen Eltern gehorchte; als ich es nicht mehr that, war es auch mit meinem glücklichen Leben zu Ende. Seitdem rechne ich mich zu den Toten.«
Und bei diesen Worten zogen Schatten über sein Antlitz und seine Unterlippe zuckte wie bei einem Kinde – gleichsam als wäre er wieder ein Kind, das »seinen Eltern gehorcht«, nur daß dieses Kind bereit war, Thränen zu vergießen, zu weinen über sein verfehltes, verlorenes Leben.
Er merkte, daß ich ihn anschaute, faßte sich und schüttelte sein Haupt.
»Was soll's! ... Wollen Sie nicht lieber hören, wie ich von Sachalin flüchtete?«
Ich war bereit und lauschte den Geschichten des Landstreichers bis zum frühen Morgen.
In einer Sommernacht des Jahres 187. schwamm das Dampfboot »Nishni-Nowgorod« auf den Fluten der japanesischen Gewässer, in der Luft eine dunkle Rauchwolke hinter sich zurücklassend. Links trat schon das bergige Ufer vor in einem schmalen, bläulichen Strich am Horizonte, rechts gingen die Wellen der Meerenge La perouse fort in unübersehbare Weite. Das Dampfboot hielt seinen Kurs auf Sachalin, dessen felsige Ufer indessen noch nicht sichtbar waren.
Auf Deck war alles still. Vorn am Bug nur standen, vom Monde hell beleuchtet, die Gestalten der Lootsen und dejourierenden Offiziere. Durch die Luken schimmerte ein schwaches Licht und spiegelte sich auf der Oberfläche des ruhigen Oceans wieder.
Der »Nishni-Nowgorod« sollte Arrestanten an ihren Bestimmungsort Sachalin bringen. Die Gesetze der Marine sind im allgemeinen schon streng, auf einem Schiffe mit solcher Belastung sind sie aber noch strenger. Am Tage durften sich die Arrestanten abwechselnd auf dem Decke ergehen, von einer militärischen Kette umgeben. Die übrige Zeit verbrachten sie in ihren Kajüten unter Deck.
Ein großes Gemach war es, mit niedrig herabhängender Decke. Am Tage trat in diesen Raum das Licht durch die kleinen Luken hinein, die sich auf dem dunklen Fonds hervorthaten wie zwei Reihen glänzender Knöpfe, welche, immer kleiner und kleiner werdend sich an den abgerundeten Seiten des Dampfschiffkörpers ganz verloren. Mitten hindurch führte ein Korridor, der durch eiserne Gitter und Pfähle von den Zellen der Arrestanten getrennt war. Hier standen, gestützt auf ihre Flinten, die Wachen. Abends brannten hier schwach flimmernde Laternen.
Das ganze Leben dieser Passagiere spielt sich unverhüllt im Angesichte der Wachen hinter jenem Gitter ab. Mag über dem Meere die tropische Sonne ihre heißen Strahlen versenden, oder mag der Wind heulen, mögen die Masten sich ächzend biegen und die Wellen sich mächtig an den Schiffsbalken brechen – hier lauschen dem Heulen und Wüten des Unwetters hunderte immer zusammen eingepferchter Menschen, die kein Interesse mehr daran haben, was oben über ihren Häuptern und jenseits dieser Wände vorgeht, denen es gleich bleibt, wohin sie dieser schwimmende Kerker führt.
Es sind viel mehr Arrestanten auf dem Schiffe als bewachende Soldaten; dafür ist aber einem jeden Schritt, einer jeden Bewegung dieser Gruppe Menschen mit starker Hand ein bestimmtes Maß angewiesen und das Schiff sichergestellt gegen jede etwa ausbrechende Meuterei.
Übrigens ist alles, selbst das Unwahrscheinlichste, ins Auge gefaßt: selbst wenn sich hier dieses wütendste, verzweifelnde Tier erheben und der größten Gefahr ins Auge sehen wollte, wenn die Schüsse durch das Gitter ihre Wirkung verfehlen sollten und dieses Tier sein eisernes Gitter zerbrechen wollte, auch dann noch bliebe dem Kommandeur ein gewaltiges Mittel. Er brauchte nur in den Maschinenraum die wenigen Worte zu rufen: »das Ventil ist zu öffnen!«
»Zu Befehl!« – und gleich nach diesen Worten würden sich in die Zellen der Arrestanten aus dem Maschinenraum Ströme heißen Dampfes ergießen, wie in eine Spalte mit Ungeziefer. Dieses eigenartige Mittel verhütet am sichersten jede Auflehnung dieses Häufchens Menschen dort unten im Raume.
Nichtsdestoweniger lebte auch unter dem Druck eines so strengen Regiments dies graue Völkchen hinter dem eisernen Gitter ein gewöhnliches, menschliches Leben. In derselben Nacht, wo das Dampfschiff keuchend durch die Wellen fuhr, hinter sich einen Funkenregen in der Dunkelheit zurücklassend, als die wachthabenden Soldaten, auf ihre Gewehre gestützt, im Korridor schlummerten und die Laternen schwach den Durchgang zwischen den Zellen und die Lagerstätten der Arrestanten erleuchteten – in dieser selben Nacht vollzog sich dort hinter jenem Gitter lautlos ein Drama. Die gefesselte Gemeinschaft bestrafte ihre Abtrünnigen.
Am andern Morgen erhoben sich beim Aufruf drei Arrestanten nicht mehr von ihrem Lager. Sie blieben liegen trotz des drohenden Zurufes ihrer Vorgesetzten. Als man hinter das Gitter trat und die Mäntel aufhob, mit denen sie bedeckt waren, sahen die Vorgesetzten, daß diese Drei auf ihren Aufruf nie antworten würden.
In der Arrestantengemeinschaft werden alle wichtigeren Geschehnisse von einem einflußreichen Centrum aus vollzogen. Für die Masse, jenen Haufen, der eine Individualität vorzustellen aufgehört hat, sind diese nächtlichen Ereignisse häufig etwas Unerwartetes, Unverhofftes. Erschreckt durch diese nächtliche Tragödie, herrschte im Raume ein düsteres Schweigen; nur das Plätschern der Meereswellen und das Keuchen der Maschine hallte durch den Schiffsraum wieder.
Doch bald begannen unter den Arrestanten Gespräche und Mutmaßungen über die Folgen dieses »Ereignisses«. Die Obrigkeit wollte offenbar nicht den Tod einem Zufall oder einer schnell verlaufenden tödlichen Krankheit zuschreiben. Die Anzeichen dafür, daß Gewalt angewandt worden war, lagen auf der Hand, und man stellte ein Verhör an. Die Antworten der Arrestanten waren übereinstimmend. Zu einer andern Zeit wäre es der Obrigkeit vielleicht auch gelungen, den einen oder anderen durch Drohungen oder Versprechungen von Erleichterungen zum Anzeigen seiner Kameraden zu bringen, doch jetzt war eines jeden Zunge gebunden – nicht nur durch das Gefühl der Kollegialität. Denn wie furchtbar die Obrigkeit auch war, wie schrecklich sie auch drohte, die »Gemeinschaft« war noch schrecklicher; in dieser Nacht, dort, auf jenen Brettern, im Angesichte der Wachthabenden hatte sie ihre Macht gezeigt. Zweifellos hatte mancher nicht geschlafen; manches Ohr mag das kurze Stöhnen oder den leisen Kampf unter der Bettdecke gehört haben, jenes Röcheln und Atmen, das so verschieden von dem Atmen ruhig Schlafender ist. – Niemand aber zeigte die Vollstrecker des schrecklichen Urteils an. Der Obrigkeit blieb nichts anderes übrig, als diejenigen Genossen zur Rechenschaft zu ziehen, die offiziell verantwortlich waren – den Ältesten und seinen Gehilfen. Noch am selben Tage waren sie in Fesseln geschlagen.
4.
Der Gehilfe des Ältesten war der Erzähler, Wassili, gewesen, der damals einen anderen Namen führte.
Noch zwei Tage vergingen, und die ganze Angelegenheit war von den Arrestanten überdacht worden. Auf den ersten Blick schienen die Spuren verwischt, die Schuldigen nicht auffindbar zu sein und den legitimen Repräsentanten der »Gemeinschaft« schien nur eine leichte Disciplinarstrafe zu drohen. Auf alle Fragen hatten die Sträflinge nur die eine Antwort: »wir schliefen.«
Bei näherem Betrachten hatte die Sache indessen doch Zweifel wachgerufen, die sich auf Wassili bezogen. In solchen Sachen handelt die Gemeinschaft allerdings immer so, daß die Unschuld der Ältesten vollkommen auf der Hand liegt, und auch diesmal konnte Wassili leicht beweisen, daß er in diesem Falle völlig unbeteiligt gewesen. Indes schüttelten die alten Arrestanten, die durch Feuer und Wasser schon gegangen waren, beim Besprechen dieser Angelegenheit die Köpfe.
»Höre mal,« sagte, zu Wassili tretend, ein alter, ergrauter Landstreicher, »wenn wir nach Sachalin kommen, bereite dich zur Flucht vor. Deine Sache steht schlimm.«
»Wie so?«
»Ja, so. Bist du das erste oder das zweite Mal unter Gericht?«
»Das zweite Mal.«
»Nun also. Weißt du noch, gegen wen der verstorbene Fedjka ausgesagt hat? Gegen dich. Seinetwegen gingst du ja einige Wochen in Handfesseln? Nicht wahr?«
»Ja.«
»Nun, und was hast du ihm damals gesagt? Die Soldaten haben's doch gehört. Wie denkst du darüber – war das nicht eine Drohung?«
Wassili und die anderen sahen ein, daß Grund zu solcher Betrachtung vorhanden war.
»Nun also überlege und sei auf den Tod durch Erschießen gefaßt.«
Unter den Leuten erhob sich ein Murren.
»Schweig' still, Buran!« rief man ihm unwillig zu.
»Unnützes Geplapper!«
»Altersschwäche ... 'ne Kleinigkeit! Erschießen! Der Alte ist verrückt geworden.«
»Ich bin nicht verrückt,« sagte der Alte ärgerlich und spie aus. »Nichts versteht ihr, dummes Volk! Ihr urteilt, wie es in Rußland, ich, wie es hier der Brauch ist. Ich kenne die hiesigen Sitten und sage dir, Wassili: bringt man deine Sache vor den Gouverneur des Amurgebietes, so mache dich auf das Erschießen gefaßt. Vielleicht aus Gnade wirst du zum »Bock« verurteilt – das ist noch schlimmer: da wirst du nicht aufstehen. Sieh es doch ein, mein Lieber, wir sind zu Schiff, wo das Gesetz doppelt so streng ist, wie zu Lande. – Übrigens« – fügte er hinzu – »mir kann's ja gleich sein, meinetwegen könnt ihr alle zum Teufel gehen« ...
Die erloschenen Augen des Alten, der ermattet war durch ein freudloses Leben und ein schweres Schicksal, blickten nur trübe und mit mürrischer Gleichgültigkeit. Er setzte sich beiseite.
Unter den Arrestanten begegnet man nicht selten Kennern des Rechts, und wenn solche nach aufmerksamem Überlegen einer Sache den wahrscheinlichen Urteilsspruch voraussagen, so trifft dieser gewöhnlich auch ein. Im vorliegenden Falle waren sie alle mit der Meinung Burans einverstanden und daher wurde beschlossen, Wassili zur Flucht zu verhelfen.
Da er durch die »Gemeinschaft« in eine Gefahr gekommen war, sah sich diese verpflichtet, ihm bei der Flucht Beistand zu leisten. Ein Vorrat von Zwieback, der durch allmähliches Absparen von der Ration seitens der Genossen zusammengebracht war, wurde ihm überlassen und Wassili begann Leute anzuwerben, die an der Flucht sich beteiligten.
Der alte Buran war schon zweimal von Sachalin geflohen und daher fiel die Wahl sofort auf ihn. Der Alte war bald dazu bereit.
»Mir hat das Schicksal wohl bestimmt« – sagte er – »im Walde zu sterben. Und so wird's wohl auch besser sein. Nur Eines: ich bin nicht mehr so stark wie früher – «
Der alte Landstreicher wurde ernster.
»Nun, wirb nur immer an. Zu zweien oder dreien hat es keinen Zweck zu fliehen. Die Flucht ist schwer. Kannst du etwa zehn Mann anwerben, so ist's gut. Ich werde schon mitgehen, so lange mich meine Füße tragen. Nur sterben möchte ich wo anders, als an diesem Orte.«
Buran wurde noch ernster und über die gefurchten Wangen des Alten flossen Thränen.
»Schwach geworden ist der Alte –« dachte Wassili und warb Genossen an.
Um das Vorgebirge biegend, näherte sich das Dampfschiff dem Hafen. Die Arrestanten standen in Gruppen an den Luken und blickten erregt und neugierig auf die bergigen, hohen Ufer der Insel, die immer deutlicher trotz der zunehmenden Dunkelheit des anbrechenden Abends hervortraten.
Nachts lief das Schiff in den Hafen ein. Die Ufer der Inseln bildeten schwarze, düstere, mächtige Felsen. Der Dampfer hielt, die Wache ordnete sich, man begann die Arrestanten ans Land zu transportieren.