Schatten über dem Inn - Christian Kössler - E-Book

Schatten über dem Inn E-Book

Christian Kössler

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Was lauert hinter Innsbrucks Fassaden? Ob Horrorclown, hungriger Vampir oder lokale Sagenfiguren im modernen Gewand: Ein ganzer Reigen von Spukgestalten macht Innsbruck und seine Umgebung unsicher und weckt die Lust am Gruseln. Sie lassen uns erschauern und in die Abgründe blicken, die sich zwischen den Häuserzeilen der Altstadt oder auf den beschaulichen Plätzen der Stadt ebenso wie in der Seele ihrer Bewohner und Bewohnerinnen eröffnen. In siebzehn atemberaubenden Erzählungen verwischen die Grenzen von Realität und Fiktion, vermengt sich Sagenhaftes mit einer ordentlichen Portion Regionalkolorit. Christian Kössler serviert uns Kurzgeschichten aus der Tiroler Landeshauptstadt als schaurige Häppchen. Und die haben es in sich!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 262

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Christian Kössler

Schatten über dem Inn

17 unheimliche, sagenhafte und gruselige Geschichten aus Innsbruck

Für den Inhalt ist der Autor selbst verantwortlich. Die Handlungen und Figuren dieses Buches sind fiktiv. Jede Ähnlichkeit mit realen Personen ist zufällig und nicht beabsichtigt.

© 2023 Verlag der Wagner’schen Universitätsbuchhandlung

Museumstraße 4, A-6020 Innsbruck

Projektleitung, Produktion und Rechte:

Universitätsverlag Wagner Ges.m.b.H.

Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

[email protected]

www.uvw.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7030-6624-5

Satz: Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig

Umschlaggestaltung: Karin Berner

Umschlagbild: Hermann Faschingbauer: Blick von der nördlichen Innseite auf den Hans-Psenner-Steg und die Christuskirche. Stadtarchiv Innsbruck, Ph-28127

In Liebe für meine Frau Silvia

INHALT

Vorwort

Verflucht

Schluss mit lustig

Böser Spuk?

Die Pfote

Anruf um Mitternacht

Henkersmahlzeit

Späte Rache

Abgründig

Reise in den Tod

Das Gespenst

Einer fehlt

Kinder der Nacht

Vollmond

Böse Buben

Wer reitet so spät

Schwein gehabt

Höllisch hitzig

Nachwort

Danksagung

Über den Autor

VORWORT

Innsbruck hat seine eigene Geschichte. Innsbruck schreibt seine eigenen Geschichten. Und manche schreiben Geschichten über die Stadt am Inn.

Wie aber schreibend herangehen an diesen faszinierenden Ort, an diese Häuser, Straßen und Gassen zu Füßen einer alles dominierenden Bergwelt, unter den kritischen Augen von Adler, Dohle, Gams, Murmeltier und Steinbock auf der Nordkette? Aus welchem Blickwinkel kann man literarisch die Tiroler Landeshauptstadt, die geprägt ist von Tourismus und Wirtschaft, von Bildung und Sport, von Verkehr und Natur, betrachten? Es gibt da einige Möglichkeiten – und eine ganz besondere hat mich durch die Seiten dieses Buches geleitet.

Auch wenn sie es mit der Wahrheit im Allgemeinen und im Speziellen nicht immer so ganz genau nehmen, manchmal verklärt, ein wenig sperrig und altmodisch wirken, sind Sagen für mich seit meiner Kindheit ein ungemein spannender Zugang zu einer Stadt, einer Region, einem bestimmten Schauplatz. Auch jetzt – in meiner Tätigkeit als Bibliothekar und als Autor.

Zu den Pionieren im Bereich der Sagensammlungen zählen ohne jeden Zweifel die Gebrüder Jacob und Wilhelm Grimm – und so findet sich in ihrem ersten diesbezüglichen Band aus dem Jahre 1816 denn auch die Geschichte von der „Frau Hütt“, einem der bekanntesten und wohl auch markantesten Wahrzeichen der Alpenstadt. Die erste Blütezeit der verschriftlichten Sagen, deren Spuren sich heutzutage vorwiegend an großen Bibliotheken verfolgen lassen, lässt sich dann etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts festmachen – interessanterweise auch jener Zeitraum, in dem Tourismus und die Erschließung des Landes, unter anderem durch die Eisenbahn, immer weiter vorwärtsschritten und die Alpen ihren ursprünglichen Schrecken und wilden Schauer ganz allmählich verloren.

Mit Ignaz Vinzenz Zingerle und Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg seien passend an dieser Stelle zwei bekannte regionale Sagensammler erwähnt, die auch einen nicht unerheblichen Innsbruckbezug aufweisen. Hätte ich 1858 als Bibliothekar an der damaligen Universitätsbibliothek gearbeitet, wäre Zingerle mein unmittelbarer Vorgesetzter gewesen. Er leitete das Haus damals kurzzeitig, bevor er von 1859 bis 1890 den Lehrstuhl für Germanistik innehatte.

Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg widmete sich als gebürtiger Oberösterreicher nicht nur den alten Überlieferungen aus dem Tiroler Raum – er war auch als Mäzen der Landeshauptstadt ein angesehener Bürger und gründete unter anderem auf Schloss Büchsenhausen die erste „Schwimmanstalt“ Tirols im Mai 1852. Viele dieser Sagentexte haben mich aufgrund ihrer doch vorwiegend mysteriösen, unheimlichen und oftmals herben und derben Schilderungen in den Bann gezogen – und sie tun es seit meiner Kindheit noch immer auf ihre ganz spezielle Weise. Die einzigartige Verbindung zwischen geheimnisvollen Texten und regionalen Bezugspunkten in Innsbruck und darüber hinaus hat mich damals schon nachhaltig beeindruckt. Mein erstes Sagenbuch mit spannenden Erzählungen aus Nord-, Ost- und Südtirol habe ich übrigens 1982, im Alter von sieben Jahren, zu Weihnachten unter dem Christbaum gefunden – und es hat nach wie vor einen Ehrenplatz.

Immer wieder blättere ich in diesem Buch, aber auch in anderen Sagenbänden, die den alpinen Raum als Handlungsort umspannen. Ob Berge, Flachland oder Meer – es ist schon faszinierend, wie sich Natur und Umgebung in diesen Erzählungen widerspiegeln, wie sie die Menschen geprägt haben und wie diese Geschichten ihrerseits als starke, als unsichtbare Magnete an so vielen unterschiedlichen Orten und Plätzen haften, historische Begebenheiten in ihr ganz eigenes Gewand kleiden, vom Seltsamen und vom Unerklärlichen berichten. Sie sind volkskundliches Zeugnis einer Welt, in der es oft nur ein kleiner Schritt vom Glauben hin zum Aberglauben war. Einer oft rauen Welt, in der auch Geister, Hexen und der Teufel selbst als Erklärungen für unterschiedlichste Phänomene und Begebenheiten herhalten mussten.

Diese Gestalten spielen auch im vorliegenden Buch eine nicht ganz unerhebliche Rolle. Innsbruck strotzt nur so vor seltsamen und schaurigen Überlieferungen, bietet ein wahrhaftiges Sammelsurium an merkwürdigen Geschichten, die man sich vor langer, langer Zeit erzählt hat. Einige sind vielen von uns geläufig, von manchen hat man vielleicht überhaupt noch nie gehört. Vor allem nördlich des Inns, in den ältesten Stadtvierteln Hötting, Mariahilf und St. Nikolaus, eröffnet sich ein äußerst faszinierender Blick in die durchaus „sagenhafte“ Innsbrucker Vergangenheit.

Wie auch immer: Diese „alten“ Texte und Motive dienen auf den kommenden Seiten in gewisser Weise als „roter Faden“, denn im vorliegenden Werk arbeiten Sie sich, geschätzte Leserin, geschätzter Leser, nicht nur durch ein Innsbruck der Jahreszeiten, sondern wandeln immer wieder auch auf den Spuren schaurigschöner Sagen aus der Stadt am grünen Inn. Aber auch abseits dieser überlieferten Stoffe geht es in meinen Erzählungen nicht mit rechten Dingen zu, verwischt sich regelmäßig die Grenze zwischen Realität und der Schattenwelt, präsentiert sich die Tiroler Landeshauptstadt als bestens geeignete Bühne des Schrecklichen und Unheimlichen.

Ich lade Sie ein, meiner Passion fürs Unerklärliche und Übernatürliche zu folgen – Zitate aus historischen Medien und interessante „Facts“ zu den jeweiligen Geschichten begleiten Sie dabei!

Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei der nachfolgenden Lektüre!

Christian Kössler

VERFLUCHT

„‚Die Höttinger Ried‘ heißt eine Viertelstunde lange Häuserreihe, welche vom Fallbach bei Büchsenhausen hinüber bis zum Dorfe Hötting sich zieht. An der kleinen Riederkapelle und einem Gottesacker, der Pestfriedhof genannt, geht der Weg vorbei. Diesen Weg sperrt Nachts ein großer schwarzer Hund, der an einer klirrenden Eisenkette angefesselt liegt, und nur einen ganz kleinen Wegraum frei lassen muß, daß einer nothdürftig sich vorbei drücken kann, weil über den ganzen Weg die Kette nicht reicht.“

Mythen und Sagen Tirols, gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg,

Zürich 1857

Es sind abertausende von Seiten, die das Geräusch aller Eintretenden dämpfen. Sie füllen dicke, schwere Lexika und kleinformatige Adelsverzeichnisse, umfangreiche Protokolle und Ortschroniken, wissenschaftliche Zeitschriften, Biografien und Bildbände – und sie sind Einladung, Neues zu entdecken, aber auch Altbekanntes wieder in Erinnerung zu rufen. Die Geschichte des Historischen Lesesaals an der Universitäts- und Landesbibliothek in Innsbruck, von 1912 bis 1914 errichtet, wird in seinen ersten Jahren vom Krieg und seinen Nachwirkungen geschrieben. Erst 1924 kann er seiner wahren Bestimmung übergeben werden, und wo einst Verletzte der Front behandelt wurden, lernen und studieren, lesen und recherchieren jetzt an den Wochentagen bis zu über hundert Personen, umgeben von unermesslichem, stillem Wissen und Jugendstilatmosphäre.

Für Ingeborg Profanter ist der freitägliche Ausflug an den Innrain ein fixes Ritual. Immer zur Mittagszeit öffnet die rüstige Rentnerin die schwere Türe des ehemaligen Hauptportals, steigt andächtig die Stufen entlang der goldfarbenen Handläufe hinauf in den ersten Stock zum denkmalgeschützten Lesesaal mit seinen silbernen Lampen, seinem Parkettboden, den hölzernen Stühlen und Regalen, den klassischen grünen Tischoberflächen und den beiden Wendeltreppen und lässt sich an einem freien Platz nieder, um in alten Zeitungen, Jahresberichten und Hochschulverzeichnissen zu stöbern. Hier in Innsbruck hat sie vor vielen, vielen Jahren studiert und unzählige Stunden in diesen Räumlichkeiten verbracht. War man damals auf gedruckte Medien angewiesen, so ist hier heute an der größten Bibliothek Westösterreichs das mediale Angebot so unglaublich breit gefächert, dass die Auswahl schwerfällt – von der digitalisierten mittelalterlichen Handschrift über den Bildband des 19. Jahrhunderts bis zum elektronischen Buch oder Artikel spannt sich der breite Bogen.

Ingeborg liebt es puristisch, ohne technischen Schnickschnack. Sollen sich doch die Jungen mit diesen neuen Technologien beschäftigen, mit Datenbanken und E-Journals herumhantieren – für sie liegt das Besondere in der haptischen Form, im Blättern und Schmökern und vor allem im Fühlen des jeweiligen Papiers, auf dem die Information gedruckt ist. Ganz besonders haben es ihr Märchen- und Sagenbücher aus dem 19. Jahrhundert angetan. Es sind oft echte Schmuckstücke, die zu dieser Zeit entstanden sind. In wenigen Stunden wird ihr der Paketdienst einen langersehnten Band in ihre Wohnung in Hötting, in der Nähe der Pfarrkirche bringen. Dort, wo sie seit der Trennung von ihrem Mann Hubert seit Jahren alleine wohnt und sich inmitten unzähliger Bücher ein stilles, fast schon heiliges Rückzugsgebiet geschaffen, aber auch einen Weg gefunden hat, ihre Schätze auf ganz besondere Art und Weise zu sichern.

Es ist kurz vor zwei Uhr, als sie den Lesesaal wieder verlässt, sich die warme Daunenjacke anzieht, sich zufrieden und voller Vorfreude durch die schneidende Kälte des unbeirrt fauchenden Winterwindes auf den Nachhauseweg, in ihr warm beheiztes Stübchen, ihr eigenes bibliothekarisches Refugium macht. Bald ist es so weit. Bald.

Die alpine Geländeformung Innsbrucks bringt naturgemäß nicht nur harmlose, an Herausforderungen dürftige Straßenverläufe mit sich. Speziell im Norden der Stadt lauern an allen Ecken und Enden noch echte und wahrhaftige Fahrabenteuer, die vor allem bei Schnee und Eis keinen Vergleich mit Expeditionen an einen der beiden Pole zu scheuen brauchen. Zwei Beispiele lassen hier Haare zu Berge stehen, so hoch wie die altehrwürdige Nordkette. Treibt schon der Schusterbergweg mit seiner anspruchsvollen, schaurig-schrecklichen Steigung blutigen Fahranfängern den eiskalten Schweiß auf die Stirn, so reiht sich die Höttinger Gasse wohl ebenso nahtlos in diese von zweifelhafter Berühmtheit gekrönte „Beliebtheitsskala“ ein. Die 30-km/h-Beschränkung am Beginn wird oftmals ignoriert, immer wieder mit überhöhter Geschwindigkeit in die Gasse hinein- und dann hinaufgefahren. Und selbst für versierte einheimische Fahrzeuglenkende ist diese Strecke bisweilen eine prallgefüllte Wundertüte. Im unteren Teil durchaus etwas beengt und zwei Mal geschmeidig geschwungen, lässt sie zwischen übermütigen Passanten und dem eigenen fahrbaren Untersatz oft nur einen klitzekleinen Hauch an Privatsphäre übrig und verschafft sich bei manch Auswärtigen, die aufgrund von Unkenntnis, schlechtem Timing oder purem Übermut diese Strecke gewählt haben, mit Sicherheit einen bleibenden, durchaus respektablen Eintrag ins Innsbrucker Städtereisetagebuch. Zu allem Überfluss kommt auch nicht immer alles Gute von oben – es ist nämlich nicht ganz ausgeschlossen, dass hier trotz strengsten Verbotes ein Fahrrad den Weg nach unten suchen kann.

Dennoch gibt es eine Zunft, der selbst diese Strecke nur ein müdes Lächeln abzugewinnen scheint. Es sind jene Frauen und Männer, die wir vielleicht im Stillen so manches Mal um ihre waghalsigen Fahrkünste und ihre Kaltblütigkeit bewundern, mit der sie Fahrzeuge, meist beträchtlichen Ausmaßes, durch engste Gassen und waghalsigste Winkel navigieren, vorbei an zahlreichen Gefahren und Herausforderungen, an Engstellen und an Baustellen mit ihren Markierungen, passend in den Tiroler Landesfarben und denen der Stadt Innsbruck gehalten. Und selbst mehr oder weniger tiefe Kratzer und Dellen nötigen uns immer wieder Staunen und Respekt ab – sind sie doch Zeichen von Mut, Furchtlosigkeit und Freiheitsliebe. Zeichen von hartgesottenem „fahrendem Volk“, das seine Schiffe trotz Narben und Furchen durch die Fluten des endlosen Straßenmeeres der Innsbrucker Gegenwart segeln lässt. Paketfahrer Georg, wie Profanter in Hötting zuhause, wartet am Herzog-Otto-Ufer mit seinem Kastenwagen auf die nächste Grünphase bei der Innbrücke, südwestlich belohnt sämtliche Verkehrsteilnehmende der Blick auf die Nockspitze. Wie ein Fenster in die Vergangenheit lugt linker Hand ein Teil der historischen Stadtmauer hinter Glas, die Nordkette spiegelnd, zu ihm herüber. Aus einer Zeit, in der man hinter diesen Mauern weder Christkindlmarkt noch „Golden Roof Challenge“ organisieren musste, noch nicht einmal wusste, wie das Wort „Stau“ geschrieben wird, und Abgase maximal von Pferden und Rindern produziert wurden.

Dann geht es weiter. Endlich. Dieses „Stop-and-go“. Einfach entsetzlich. Schnell, ruhig und erfahren steuert der „Schorsch“ das Fahrzeug über den graugrünen Fluss und die Höttinger Gasse hinauf, wo im selben Moment vier fernöstliche Kameraknipser die Häuser über ihnen ablichten und mit dem frostigen Hauch der Vergänglichkeit konfrontiert werden, als sich der Transporter im Takt volkstümlicher Schlager mit wenigen Zentimetern Abstand seinen Weg nach Norden bahnt.

Die Frau Profanter also wieder. Bestimmt ein Buch. Ein altes. Sie sammelt nur so altes Zeug. Aber sie gibt Trinkgeld. Und das nicht wenig. Georg schafft es, einen eben freiwerdenden Parkplatz zu erwischen. Das erspart ihm ein wenig Kopfzerbrechen und vor allem auch wertvolle Zeit. Die dicke Jacke über das Trikot seines Lieblingsvereines FC Bayern München ziehen, Schiebetür auf und zu, ab zu Frau Profanter. Kalt, furchtbar kalt ist es. Der Januar hat die Landeshauptstadt fest in seinem frostigen Griff. Schals, Handschuhe und Mützen sind Standardausrüstung und so manche haben sogar auf beheizbare Einlagesohlen umgerüstet. Generell aber weiß man zwischen „Kofl“ und „Gruabn“, dass das ganze Jahr über mit Kalt- und Schlechtwettereinbrüchen zu rechnen und deshalb nicht die gesamte Wintergarderobe zu verräumen ist. Doch die weiße Pracht lacht in diesem schneearmen Winter leider nur von ganz weit oben, wo so etwas wie ansatzweises Skifahren oder Tourengehen möglich ist. Die für Stadtohren so vertrauten Lawinensprengungen sind seit Wochen nicht mehr zu hören gewesen.

Ja, vermutlich hat ihn die Frau Profanter schon vom Fenster aus gesehen, denn sie steht eigentlich immer schon an der geöffneten Türe, noch bevor er auch nur ansatzweise läuten kann. Ein wenig kauzig und verschroben ist sie schon, die alte Dame, und ein bisschen seltsam. Aber nett und harmlos. Zumindest scheint es so.

„Grüß dich, Georg! Das ist ja schön, so schön, dass ich zum Wochenende hin noch Besuch von meinem Lieblingspaketfahrer bekomme. Was hast du mir denn da Nettes mitgebracht? Ist es … ist es wirklich das Buch, auf das ich schon so lange warte? Komm schnell herein, ich möchte es dir zeigen!“

Mit diesen Worten reißt ihn Ingeborg, mit bunter Kochschürze gewandet, in die Wohnung, das weiße Polsterkuvert aus der Hand und selbiges mit nervösen Fingern auf.

„Ach, wie schön! Sieh mal: Was für ein fantastisches Buch. So viele Jahre habe ich es an der Hauptbibliothek nur vor Ort nutzen können. Natürlich, natürlich gibt’s solche Werke auch digitalisiert, aber so ein Werk durchzublättern, ist schon ein besonderer Hochgenuss, findest du nicht? Wie es wunderbar riecht! Überall hab ich gesucht und gesucht und … dann hab ich es gefunden. Über ein Antiquariat hier in der Stadt. So ein Glück! Es musste ganz einfach zu mir!“

„Schorsch“ nickt fleißig und höflich, nickt höflich und fleißig, die Aufregung der Mittsiebzigerin scheint in mehreren Wellen dermaßen auf ihn überzuschwappen, dass er sich trotz seines athletischen Körpers für einen Moment im Türrahmen festhalten muss. Sein Blick schweift wie immer staunend über die zahllosen Bücher im dunklen, nur zaghaft beleuchteten Gang. Das heißt, eigentlich ist es ja gar kein Gang mehr, sondern eher eine Art langgezogene Medienschleuse, in der nicht einmal der Hauch von Mauerwerk zu erkennen ist. Buch an Buch reiht sich aneinander, zum Teil sind die Bände nach Farbe geordnet. Wie soll man hier eigentlich irgendetwas finden, sich orientieren? Und wenn es da im Gang schon so aussieht – wie mögen dann erst die einzelnen Zimmer ausgestaltet sein? Und erst das Bad? Und … und das WC? Das will er sich gar nicht richtig ausmalen. Und was kocht die Frau hier eigentlich? Walfischsuppe mit Graukäse? Es duftet wenig einladend bis hier heraus zur Eingangstüre … Zum guten Glück gibt es bei ihm zuhause, in der Schneeburggasse, nur ein paar Minuten von hier entfernt, in wenigen Stunden Pizza! Auf die freut er sich schon ganz besonders!

Da reißt ihn die verzückte Stimme der Ingeborg abrupt aus seinen kulinarischen Gedanken.

„Kinder- und Hausmärchen von Ignaz Vinzenz Zingerle aus dem Jahre 1852. Erste Auflage. Hör doch mal! Hier, aus dem Vorwort:

‚Es enthält die Kinderund Hausmärchen Tirols, die kindlichen, zarten Dichtungen, die den Kindern erzählt werden oder die man sich an langen Winterabenden mitteilt, wenn in getäfelter Stube das Kienscheit flammt, der Mond durchs Fenster schaut und die traulichen Räder schnurren.‘

Herrlich, nicht? Kannst du sie nicht auch hören, die schnurrenden Räder? Hör doch mal. Eines gilt es jetzt auf jeden Fall zu tun!“

Der Paketfahrer ahnt, was jetzt kommt. Ein, zwei Minuten muss er sich noch gedulden und hat dafür schon des Öfteren das Risiko eines Strafzettels auf sich genommen. Aber dieses Ereignis ist jedes Mal ein Event der Sonderklasse. Frau Profanter setzt sich mit großer, geheimnisvoller Geste an ihren kleinen Holztisch der ehemaligen Garderobe, die längst schon zu einem riesigen Bücherregal umfunktioniert worden ist, murmelt eine Art geheimnisvollen Zauberspruch und kritzelt mit geübten, flinken Fingern Zeichen in ihren soeben in Beschlag genommenen Neubesitz. Unkundige hätten wohl nur ratlos mit dem Kopf geschüttelt, aber Georg weiß ganz genau, was hier passiert ist. Und warum.

Ingeborg Profanter versieht jedes, wirklich jedes neu erworbene Buch mit einem sogenannten „Bücherfluch“. Dieser hatte bereits im Mittelalter eine nicht unerhebliche Bedeutung, denn die damaligen Schriften waren mitunter äußerst wertvoll und sollten so geschützt werden.

Was damals wohl für ordentlich Einschüchterung gesorgt hatte, lässt in heutigen Zeiten vermutlich nur mehr ein mildes Schmunzeln auf den Lippen des modernen Menschen und derartigen Hokuspokus allerhöchstens auf bibliothekarischen Social-Media-Einträgen erscheinen. Ja, die gute Frau Profanter ist eben eine etwas undurchsichtige, geheimnisvolle Frau und lässt es sich schlicht und ergreifend nicht nehmen, mit solchen Einträgen ihr kostbares Eigentum zu schützen. In der Bibliothek ist sie zum ersten Mal auf diese Sprüche aufmerksam geworden, und um das Ganze aber noch eine Spur absonderlicher zu machen, verfasst sie diese Ergüsse darüber hinaus ebenfalls in bestem Latein. So wie damals die Klosterbrüder.

„Ich hab ja keine Sicherungsanlage für meine lieben Kinderlein … Viel zu teuer! Aber trotzdem muss man auf sie aufpassen, denn sie haben alle ihre besondere Geschichte, haben ein Eigenleben, eine Seele, atmen und hören, müssen gehegt und gepflegt werden!“, wird die Höttingerin auch dieses Mal wieder etwas sentimental. Sie glaubt doch wirklich allen Ernstes, dass in diesen alten und staubigen Schwarten Leben steckt und irgendwer Interesse daran haben könnte, sie aus ihrer Wohnung zu stehlen – und dass aber obskure Mächte ihr dabei helfen würden, so etwas zu verhindern.

Dieses Mal jedoch, als sie ihren Eintrag erfolgreich vollzogen und Georg einen Fünf-Euro-Schein in die Hand gedrückt hat, hebt sie mit bedeutungsvoller Geste den Zeigefinger ihrer dünnen, knochigen Hand und sieht den Paketfahrer mit verschwörerischer Miene und eisblauen Augen an.

„Du glaubst vielleicht, ich ticke nicht mehr ganz richtig mit all diesem Brimborium, aber ich weiß ganz genau, was ich tue. Jedes einzelne meiner Bücher ist mit einem speziellen Fluch versehen. Zum Schutz! Und bislang musste noch keiner zur Wirkung kommen. Bislang. Denn vor zwei Tagen, ja, da ist etwas passiert … Ich sitze im Bus nach Hause und lese hochkonzentriert und voller Ungeduld in meinem neu ergatterten alten Tiroler Sagenbuch, als mich ein Tourist in ein Gespräch verwickelt. Ob er denn hier richtig säße am Weg zum Bergisel. Offenbar hat der arme Kerl seinen Stadtplan falsch gehalten und er hätte sich ohne mein Zutun vermutlich schwer gewundert, warum man in Gossensaß plötzlich Bayrisch spricht. Wie auch immer: Völlig abgelenkt von meiner gewissenhaften Tätigkeit als treue Staatsbürgerin schaffe ich es gerade noch, bei der Haltestelle auszusteigen und den wirren Weltenbummler aus dem Bus zu befördern, da wird mir mit einem Male heiß und kalt, es durchschießt mich der gleißende Blitz der Erkenntnis: Ich habe doch tatsächlich das Buch liegen gelassen. Liegen gelassen! Und da fährt er davon, der rote Bus, weg ist er, weg. Mit meinem Schatz! Mein Gott, wie furchtbar war das!“

Mit mitleidsvoller Miene nickt Georg und schluckt kurz. Wenn er nicht gerade Pakete zustellt, ist er nämlich auch gerne ein Nutzer öffentlicher Verkehrsmittel. Zusätzlich macht sich ein wenig Unruhe in ihm breit, denn zehn gefahrlose Parkminuten sind im Grunde genommen schon die Höttinger Gasse hinuntergeronnen.

„Gott sei Dank habe ich auch in diesem Werk einen meiner Flüche platziert. Einen der stärksten, den es überhaupt gibt:

‚Wer es findet und nicht zurückgibt, den soll die schwarze Bestie und ihr mächtiger Schatten furchtbar bestrafen!‘‘‘

Bei allen guten und bösen Geistern dieses Planeten, lieber Schorsch: Dieses Buch wird zu mir zurückkommen. Verlass dich drauf. Irgendwer hat es in schändlicher Absicht mit nach Hause genommen, denn bei den Verkehrsbetrieben ist es definitiv nicht abgegeben worden. Auch nicht im Fundbüro in der Fallmerayerstraße. Dort kennt man ja mittlerweile schon meine Schuhgröße, so oft war ich da zugegen.“

„Ja, dann hoffe ich, dass Sie es wiederbekommen, das Buch! Ich muss jetzt wirklich los! Sie wissen schon: Die Kurzparkzone …“

Schon will Georg die Profanter’sche Wohnung verlassen, da hält ihn die Frau noch einmal mit eisernem Griff an seinem Pullover fest. Ein eiskalter Windhauch dringt energisch durch den Türspalt. Dunkel und unheilvoll funkeln im geheimnisvollen Zwielicht des düsteren Korridors ihre großen Augen, als sie mit wildentschlossenem Blick flüstert:

„Es wird zurückkommen, verstehst du? Es wird!“

Sie streicht geheimnisvoll lächelnd, beinahe zärtlich, über den Einband ihres neuen Buches, flüstert noch einmal den soeben geschriebenen Spruch und schließt dann die Türe.

* * *

Er fährt mit den Fingern seiner linken Hand über den dicken Buchrücken. Nur noch den Tisch abräumen, dann kann er sich endlich ans Werk machen. Nach wenigen Minuten tanzen und zucken bereits die ersten großen Flammen wild hinter dem großen Sichtfenster des Ofens. Bald wird sich die Wohnung mit angenehmer, mit natürlicher Wärme füllen und die kalte Winterluft draußen vor der Türe vergessen machen.

Jetzt hat er Zeit. Im hellen Schein der Tischlampe blättert er sich durch die über vierhundert Seiten des alten Bandes in Frakturschrift. Ein in fremden, kaum zu entziffernden Worten geschriebener Spruch, Leineneinband, eingefärbter Schnitt. Anhang, Nachtrag, Inhaltsverzeichnis. Erstaunlich detailliert und genau ausgearbeitet kommt ihm das hier alles vor. Es geht um mystische Wesen, um Geister, Teufel und Gottesgerichte. Es ist eine Sagensammlung, die Johann Nepomuk von Alpenburg 1857 unter dem Titel „Mythen und Sagen Tirols“ herausgegeben hat. Ihrem Aussehen nach ist sie durch zahlreiche Hände gegangen. Er schmunzelt, schüttelt ständig den Kopf. Wundert sich über die uralten Überlieferungen und wüst-archaischen Erzählungen, den spröden, schnörkellosen Stil und den oftmals nur kleinen Schritt vom Glauben hin zum Aberglauben.

Dieses Buch, das ihm der Zufall oder das Schicksal in die Hände gespielt hat, könnte durchaus wertvoll sein. Zu schade, um es einfach wieder zurückzubringen. Ein wenig hat er im Internet recherchiert und es gibt immer wieder Literaturliebhaber, die für so alte Schmöker nicht unbeträchtliche Summen ausgeben. Was für eine willkommene Gelegenheit, um sich etwas dazuzuverdienen.

Er blättert weiter, liest weiter, entdeckt die Sage vom schwarzen Rieder-Hund in Hötting, der an eine Eisenkette gefesselt ist und Angst und Schrecken verbreitet. Eine grausige Gruselgestalt, entstiegen der Unkenntnis und Furcht längst vergangener Zeiten.

„Meine Güte, das ist doch alles nur lachhaft. Wirklich zum Totlachen …“, entfährt es ihm.

Doch dann hört er etwas. Ganz deutlich. Es kommt von draußen. Es legt sich über das Knacken der Holzscheite, durchdringt den gesamten Raum. Was ist das zum Teufel? Er legt das Buch zur Seite, steht auf und hört noch genauer hin. Woher kommt dieses Geräusch? Dieses Brummen oder Knurren? Kaum zu definieren. Die Wohnung befindet sich im Erdgeschoß. Ein Fenster ermöglicht die Sicht nach Süden, zur Stadt hin. Draußen liegt ein kleiner Garten. Er öffnet die Terrassentüre und taucht in die dunkle, winterliche Nachtluft hinaus. Es ist nichts zu sehen. Die Straße weiter vorn ist menschenleer, niemand mehr unterwegs. Kein Wunder, bei diesen Temperaturen. Nur das Brummen, das Knurren. Es scheint jetzt lauter zu werden. Aber woher rührt es? Das macht doch keinen Sinn! Rätselhaft. Er schließt für ein paar kurze Momente die Augen, kehrt dann zurück zum Tisch, starrt gedankenverloren auf das prasselnde Kaminfeuer, das jetzt mehr und mehr Wärme ins Zimmer streut und zugleich immer wieder wütend Funken gegen das Glas schleudert. Plötzlich beschleicht ihn ein Gefühl der Beklemmung. Kurz ist es still, dann hört er es wieder. Und ist sich nun ganz, ganz sicher: Das Geräusch. Dessen Quelle. Es muss in der Wohnung sein … Kurze Zeit später dringt ein lauter, ein furchtbarer Schrei durch die Wohnanlage in der Schneeburggasse.

Die Schorsch’sche Vollbremsung sucht wahrhaftig ihresgleichen. In absoluter, in fabelhafter Rekordzeit hat der Paketfahrer reagiert und ziemlich genau eine Nasenlänge zwischen den Kühler seines Wagens und die Gestalt, die plötzlich vor dem Transporter aufgetaucht ist, gebracht. Immerhin hat die Pizza am Beifahrersitz das Bremsmanöver unbeschadet überstanden – Georg gurtet als Profi nicht nur mögliche Beifahrer, sondern auch seine Essensbestellungen immer gewissenhaft an.

Vollgepumpt mit Adrenalin schnauft er kurz durch, um dann auszusteigen.

„Sind Sie verrückt? Einfach so vor das Auto zu laufen! Ich hätte Sie glatt überfahren können! Hallo! Ist mit Ihnen alles in Ordnung?“

Es ist ein Mann im Jogginganzug, der nur einige Schritte entfernt von Georg zitternd und mit weit geöffneten Augen vor dem Auto steht. Er sieht aus, als habe er ein Gespenst gesehen. Kurz treffen sich die Blicke der beiden, dann sackt der offenbar Lebensmüde im Scheinwerferlicht auf dem kalten Januarasphalt zusammen. Schorsch stürzt unverzüglich auf ihn zu, sucht hektisch nach Verwundungen und Puls – und findet beides. Die Kleidung des Mannes ist an einigen Stellen bereits rot gefärbt, auch am Hals sind deutlich Verletzungen zu sehen. Verletzungen, die jedoch unmöglich jetzt entstanden sein können. Georg hätte gemerkt, wenn es zu einer Kollision gekommen wäre.

Wie auch immer: Die Pizza muss jetzt erst einmal warten und Schorsch alarmiert sofort die Rettung. Unter Umständen zählt vielleicht doch jede Sekunde. Georg versorgt in der Zwischenzeit den Verletzten und legt eine warme Decke über ihn. Nun heißt es warten und hoffen … Da fällt sein Blick auf etwas, das im Halbdunkel neben dem bewusstlosen Mann auf der Straße liegt, aber das ist doch … ein Buch, so eine alte Schwarte und nicht nur das kommt ihm bekannt vor. Als Georg kurz darin blättert und den in Latein verfassten Spruch auf der ersten Seite sieht, wird ihm klar, dass sich Ingeborg Profanters Prophezeiung in diesem Moment bewahrheitet hat.

Als die Einsatzkräfte eintreffen, ist schnell klar: Das blutüberströmte Opfer wird durchkommen. Sein Überleben ist nur dem beherzten Eingreifen Georgs und seinem Heißhunger auf Pizza zu verdanken. Er war zur richtigen Zeit am richtigen Ort, hat geistesgegenwärtig und rasch, entschlossen und vor allem selbstlos reagiert. Woher die seltsamen Fellreste am Boden der Wohnung stammen, woher die unerklärlichen Bissspuren an Gliedmaßen und Hals des Schwerverletzten rühren, ist vorerst ein völliges Rätsel, denn Lebensretter Schorsch ist noch völlig durcheinander, kann sich nicht erinnern, einen Hund gehört oder gar gesehen zu haben. Die Befragung des angegriffenen Mannes wird mit Sicherheit Licht ins Dunkel bringen. Aber noch … noch fehlen diesem die Worte!

Fact:

Die Universitätsund Landesbibliothek Tirol unterstützt Forschung, Lehre und Studium, ist öffentlich zugänglich und spiegelt als Landesbibliothek auch die regionale Literaturlandschaft wider. In einer Reihe unterschiedlichster Medienarten beherbergt sie auch zahlreiche historische Drucke und Handschriften – das älteste Werk im Bestand ist das „Innicher Evangeliar“, vermutlich Anfang des 10. Jahrhunderts im Bodenseeraum entstanden.

Übrigens sind Bücherflüche (auch in Werken an der ULB Tirol) tatsächlich real – in alten Zeiten wollte man sich mit teils drastischen Sprüchen vor Raub oder verspäteter Rückgabe schützen.

SCHLUSS MIT LUSTIG

„Wohl selten wurde die Faschingszeit so emsig ausgenützt wie heuer; besonders sind es, nachdem Innsbruck groß geworden ist, und es der Köpfe zu viele und der Meinungen und Ansichten zu verschiedene gibt, um sie unter einen geselligen Hut zu bringen, kleinere Gesellschaften und die einzelnen Vereine, die recht fröhliches Leben entfalten, und wie vergnügt sich die junge Welt auch in diesen engern Cirkeln! ja, man will bemerkt haben, daß es in denselben oft viel gemüthlicher und ‚feiner‘ ist, als wenn sie größer wären.“

Innsbrucker Nachrichten, 11. Februar 1879

Die Kinder liefen an ihm vorbei in den Hausgang, lachten laut und schrill und herzhaft. Sie kamen von draußen, aus der noch frostigen Innsbrucker Februarsonne. Er sah ihnen lächelnd nach. Ein Ritter mit prächtiger Rüstung, ein Astronaut, eine weiße Fee mit schmalem Spitzhut, ein schwerfälliger Tyrannosaurus, eine Ärztin, ein bis an die Zähne bewaffneter Cowboy und ein dicker, lustig geschminkter Clown, dessen fülliger Bauch wohl aus einem riesengroßen Kissen bestand. Sie rannten an ihm vorbei, zur geöffneten Türe am Ende des Ganges und verschwanden in der Wohnung. Knarrend und knarzend, durchsetzt mit einem schrillen, alles durchdringenden Quietschen, setzte sich der Aufzug quälend langsam in Bewegung. Ein jahrzehntealtes, müdes Relikt, das seinen letzten Arbeitsstunden in diesem Wiltener Altbau bald entgegensah, wenn man dem Aushang ganz unten im Stiegenhaus glauben konnte.

Beim Anblick der platinfarbenen Aufzugs-Herstellerplakette überkam Fritz Geiger wie bei jeder Fahrt mit diesem Lift – und es waren in letzter Zeit einige gewesen – ein heftiger Anflug von nostalgischer Melancholie, denn das Produktionsdatum fiel zufälligerweise mit dem Geburtsjahr des altgedienten Sportartikelverkäufers zusammen. Das war schon eine geraume Zeit lang her und Geiger würde, wenn alles planmäßig über die zuständige Hausverwaltung und den Lifthersteller liefe, dem Aufzug in einigen Monaten in den mehr als verdienten Ruhestand folgen. Hoffentlich ohne Pensionsschock und mit dem großen Unterschied, dass der Aufzug völlig neu konstruiert werden würde – verschlissene Fußball- und Buckelpisten-Kniegelenke wie jene von Geiger waren diesbezüglich ziemlich arg im Nachteil, konnten aber immerhin künftig zur Entlastung auf die neue und moderne Transporttechnik eines arrivierten Lifterbauers zurückgreifen. Die Pension konnte also kommen. Mit ganz vielen neuen Aufzügen.

Noch völlig in Gedanken, wie rasch es denn in Zukunft zur und von der Praxis auf- und abwärtsgehen würde und vor allem, wie lange er diese Termine noch wahrnehmen müsste, öffnete sich die Türe des Aufzugs und ein langer, von riesigen Fenstern hellerleuchteter Gang tat sich vor Fritz Geiger auf. Der Pfad zur Residenz des Dachgeschoßkönigs. Ein angenehm dezenter Zirbengeruch, ausgestrahlt von hölzernen Wandpaneelen, stieg in die Nase des Besuchers, cremeweiße, grob strukturierte und mit Sicherheit sündteure italienische Fliesen auf Fußboden und Wand verliehen diesen beeindruckenden, aufpolierten Empfangsmetern bis hin zur Türe des praktizierenden Doktors ehrwürdigen und sterilen Glanz. Leise Klaviermusik aus an der Decke angebrachten High-End-Boxen untermalte die Schritte aller zur Ordination Schreitenden, abstrakte Malerei in unterschiedlichsten Farbtönen unterstrich Geschmack und gehobenen Anspruch jenes Mannes, dessen goldener, riesenhafter SUV unten vor dem Haus parkte. Der Verkäufer wusste aus erster Hand nur allzu gut, dass das gesamte Skitouren-Equipment in diesem Auto ein kleines Vermögen wert war. Der Doktor schleppte vor allem an Wochenenden das geschätzt Dreifache der Geiger’schen Pension an Materialwert über Pisten und tief verschneite Berghänge in die Tiroler Gebirgswelt und brachte sogar das waghalsige Kunststück zustande, die Farben des kompletten Equipments – Ski, Bindung, Tourenstöcke und Bekleidung – auf die des kolossalen Geländewagens abzustimmen.