Schatten über dem Seehotel - Marvin Hamschmidt - E-Book

Schatten über dem Seehotel E-Book

Marvin Hamschmidt

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Beschreibung

Ein Jahrhundertsturm. Ein isoliertes Hotel. Ein Toter, der erst der Anfang war. Der Schnee fällt nicht einfach – er begräbt die Welt unter sich. Im abgelegenen Seehotel Falkenstein sucht die ehemalige Kriminalpsychologin Elena Frost eigentlich Zuflucht vor einem traumatischen Fall und den Stimmen in ihrem Kopf. Doch die aggressive Stille des Schwarzwaldes wird jäh durchbrochen, als der Antiquitätenhändler Arthur Vogl tot in der verriegelten Turmsuite aufgefunden wird. Während das Feuer im Kamin erlischt und die Schatten länger werden, muss Elena erkennen: In diesem Hotel ist die Vergangenheit nicht tot – sie wartet nur darauf, neu geschrieben zu werden. Ein atmosphärischer Thriller über Schuld, Gier und die tödliche Macht der Erinnerung.

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Seitenzahl: 164

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Schatten über dem Seehotel

Von

Marvin Hamschmidt

Kapitel 1: Der letzte Gast

Der Schnee fiel nicht; er stürzte vom Himmel herab, als wollte er die Welt unter sich begraben.Elena Frost stand am hohen Fenster ihres Zimmers im dritten Stock des Seehotels Falkenstein und drückte die Stirn gegen das kalte Glas. Ihr Atem hinterließ einen feinen Nebel auf der Scheibe, der sofort wieder verschwand, als würde das Glas selbst die Wärme ablehnen. Draußen war der Titisee nur noch eine schwarze, gähnende Leere, verschluckt von der Nacht und dem tobenden Sturm. Seit drei Tagen war sie nun hier. Drei Tage, in denen sie versucht hatte, die Stimmen in ihrem Kopf durch die aggressive Stille des Schwarzwaldes zu ersetzen. Aber die Stille hier war anders. Sie war nicht friedlich. Sie war lauernd. Sie hatte Zähne.Ein schweres Poltern riss sie aus ihren Gedanken. Es kam von oben.Elena hielt den Atem an. Ihre Hand, die gerade nach ihrem Wasserglas greifen wollte, erstarrte in der Luft. Über ihr befand sich nur die Suite im Turmzimmer. Das Zimmer von Arthur Vogl, dem Antiquitätenhändler, der beim Abendessen so lautstark über den korkigen Wein geschimpft hatte und dessen Lachen wie das Bellen eines kranken Fuchses durch den Speisesaal gehallt war.Sie wartete. Zehn Sekunden. Zwanzig. Stille.Dann ein Geräusch, das wie ein nasser Sack klang, der auf Dielenboden aufschlug. Ein dumpfer, endgültiger Laut. Und dann wieder nichts. Nur das Heulen des Windes, der an den Dachziegeln rüttelte wie ein ungeduldiger Gast, der Einlass forderte.Jeder normale Gast hätte sich wieder ins Bett gelegt. Es ist ein altes Haus, hätte er gedacht. Die Rohre, der Wind, ein umgefallener Stuhl. Aber Elena war kein normaler Gast. Sie war auch keine Kriminalpsychologin mehr – zumindest stand das auf dem Papier, das sie vor sechs Monaten unterschrieben hatte – aber ihre Neugier war keine Tugend, sie war eine Berufskrankheit. Ein Reflex, der nicht verschwand, nur weil man die Dienstmarke abgegeben hatte.Sie zog ihren Morgenmantel enger, schlüpfte in ihre Pantoffeln und öffnete leise ihre Zimmertür. Der Flur lag im Dämmerlicht der wenigen Wandlampen, die im Sparmodus brannten. Die Tapeten mit dem jagdgrünen Blumenmuster wirkten im Halbschatten wie wucherndes Gestrüpp. Der Teppichläufer schluckte ihre Schritte, als sie die schmale Wendeltreppe zum Turmzimmer hinaufstieg.Die Tür zur Suite 401 stand einen Spaltbreit offen. Ein dünner, gelber Lichtstreifen fiel auf den Boden des Treppenabsatzes und teilte die Dunkelheit wie ein Schnitt.„Herr Vogl?“ Elenas Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, doch in der drückenden Stille des Treppenhauses klang es fast wie ein Schrei.Keine Antwort. Nur das Knacken des alten Gebälks.Sie schob die Tür mit den Fingerspitzen auf. Der Geruch schlug ihr sofort entgegen. Es roch nicht nach dem typischen Hotelduft von Lavendelpolitur und Staub. Es roch metallisch. Kupferartig. Süßlich und schwer. Ein Geruch, den sie seit einem Jahr zu vergessen versuchte, der sie aber bis in ihre Träume verfolgte. Blut. Oder Angst. Manchmal riecht Angst genauso.Arthur Vogl saß in dem schweren Ohrensessel aus Leder, der zum Kamin ausgerichtet war. Das Feuer war heruntergebrannt, nur noch ein wenig Glut glomm in der Asche und warf tanzende Schatten auf seine Beine. In seiner rechten Hand hielt er ein Whiskyglas, das so fest umklammert war, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Der bernsteinfarbene Inhalt schimmerte im schwachen Licht.Aber es war sein Kopf, der Elenas Blick fesselte. Oder besser gesagt, der unnatürliche Winkel, in dem er zur Seite geneigt war, als würde er versuchen, seinem eigenen Ohr auf der Schulter zu lauschen.Elena trat näher. Ihre Füße bewegten sich wie von selbst, getrieben von der alten Routine, während ihr Magen sich zusammenzog. Tatortsicherung. Erste Einschätzung. Vitalzeichen. Eigensicherung.Sie beugte sich über ihn. Vogls Augen waren weit aufgerissen und starrten ins Leere, fixiert auf einen Punkt irgendwo im Nirgendwo. Seine Pupillen waren Stecknadelköpfe. Sein Mund stand leicht offen, als hätte er im letzten Moment etwas Unbegreifliches sagen wollen. Auf seinem Schoß lag ein Buch, aufgeschlagen. Ein antiquarisches Exemplar, die Seiten vergilbt und brüchig.Aber da war kein Blut. Keine offensichtliche Wunde. Der metallische Geruch musste Einbildung sein, ein Phantomschmerz ihrer Erinnerung.Elena griff vorsichtig nach seinem Handgelenk, um den Puls zu fühlen, obwohl ihr Verstand die Antwort bereits kannte. Seine Haut war noch warm, doch es war eine abklingende Wärme, wie ein Motor, der gerade abgestellt wurde. Das Leben war fort.„Herzinfarkt“, würde der Landarzt sagen, wenn er es durch den Schnee hierher schaffte. „Ein bedauerlicher Unfall. Zu viel Stress, zu viel Whisky.“Elena ließ seinen Arm los. Er fiel nicht herab, sondern blieb auf der Lehne liegen. Sie trat einen Schritt zurück und zwang sich, das Bild als Ganzes zu sehen. Ihr Blick wanderte methodisch durch den Raum. Das Fenster stand sperrangelweit offen. Schneeflocken wirbelten herein, tanzten kurz im Schein der Glut und starben auf dem teuren Perserteppich. Warum sollte ein alter Mann, der ständig über Zugluft klagte, bei einem Jahrhundertsturm das Fenster aufreißen?Dann sah sie es.Auf dem kleinen Beistelltisch aus Mahagoni, direkt neben einer leeren Pillendose, lag ein Stück Papier. Es war kein Briefpapier des Hotels mit dem schwungvollen „S“-Logo. Es war ein grob herausgerissenes Stück aus einem karierten Notizbuch. Darauf standen nur drei Worte, hastig hingekritzelt, die Tinte leicht verschmiert, als wäre die Hand feucht gewesen.Sie sind hier.Ein Schauer lief über Elenas Rücken, kälter als der Wind, der durch das Fenster wehte. Sie. Plural. Nicht Er.Plötzlich flackerte das Licht in der Suite. Einmal. Zweimal. Das elektrische Summen der Glühbirne schwoll an, dann gab es ein trockenes Plopp, und die Dunkelheit fiel über den Raum wie ein schweres Tuch. Elena stand in der Finsternis, nur beleuchtet vom schwachen, sterbenden Glimmen der letzten Glut im Kamin.Und dann hörte sie hinter sich, im Flur, das leise Knarren einer Diele.Jemand war hier. Jemand hatte gewartet. Jemand hatte sie beobachtet, wie sie den Toten fand.Elena wirbelte herum, das Herz hämmerte gegen ihre Rippen wie ein gefangener Vogel. „Wer ist da?“Die Antwort war das metallische Klick eines Türschlosses, das verriegelt wurde. Von außen.Sie war gefangen. Mit einer Leiche. Und der Nacht, die gerade erst begonnen hatte.„Hey!“ Elena stürzte zur Tür. Sie rüttelte an der Klinke. Verschlossen. Sie hämmerte mit der flachen Hand gegen das massive Holz. „Machen Sie auf! Sofort!“Nichts. Keine weglaufenden Schritte. Kein Atmen auf der anderen Seite. Nur das Heulen des Windes draußen, das jetzt lauter zu werden schien, hämisch fast.Panik, heiß und unerbittlich, kroch ihre Kehle hoch. Die Dunkelheit war nicht leer. Sie war voll von Erinnerungen. Der Keller in Frankfurt. Das Klicken der Waffe. Die Dunkelheit, die damals drei Tage gedauert hatte.„Nein“, zischte sie. Sie presste den Rücken gegen die verschlossene Tür und rutschte daran herunter, bis sie in der Hocke saß. Sie schloss die Augen, zwang sich zu atmen. Vier Sekunden ein. Sieben halten. Acht aus.Sie war nicht mehr im Keller. Sie war in einem Hotel. Sie war am Leben. Der Mann im Sessel war es nicht.Sie tastete in der Tasche ihres Morgenmantels nach ihrem Smartphone. Ihre Finger zitterten leicht, als sie es herausholte. 12% Akku. Verdammt. Sie aktivierte die Taschenlampe. Der grelle weiße Kegel schnitt durch den Raum, ließ die Schatten an den Wänden springen. Der Lichtstrahl traf Arthur Vogls Gesicht. Im harten LED-Licht wirkte er noch toter, fast wächsern, wie eine Puppe, die man weggeworfen hatte.Elena stand auf. Sie durfte nicht hier bleiben. Wenn derjenige, der die Tür verschlossen hatte, zurückkam... oder wenn er nicht allein war...Sie ging zum offenen Fenster. Der Wind riss an ihrem Morgenmantel, peitschte ihr Schneekristalle ins Gesicht, die wie Nadelstiche brannten. Sie lehnte sich hinaus. Drei Stockwerke tiefer lag die Terrasse, begraben unter einem Meter Neuschnee. Ein Sprung war unmöglich. Aber rechts, vielleicht anderthalb Meter entfernt, war der Balkon des Nachbarzimmers.Das Geländer war aus schmiedeeisernem Stahl, vereist und rutschig.„Das ist Wahnsinn“, murmelte sie. Aber der Gedanke, hier im Dunkeln zu warten, bis die Kälte oder der Mörder sie holte, war schlimmer.Sie kletterte auf die Fensterbank. Der Wind versuchte, sie zurück in den Raum zu drücken. Sie griff nach dem eisigen Stahl der Dachrinne, die zwischen dem Turmzimmer und dem Hauptgebäude verlief. Das Metall brannte vor Kälte an ihren bloßen Händen.Einen Fuß auf das schneebedeckte Sims setzend, stieß sie sich ab. Für eine schreckliche Sekunde hing sie über dem Abgrund, nichts unter sich als wirbelndes Weiß und die schwarze Tiefe. Dann bekam ihre rechte Hand das Geländer des Nachbarbalkons zu fassen. Sie rutschte ab, schlug mit dem Schienbein gegen das Eisen, keuchte vor Schmerz auf, krallte sich fest und zog sich mit aller Kraft hinüber.Sie landete unsanft im tiefen Schnee auf dem Balkon von Zimmer 304. Keuchend blieb sie einen Moment liegen, spürte, wie die Kälte durch den dünnen Stoff ihres Mantels in ihre Knochen kroch.Das Zimmer hinter der Balkontür war dunkel. Elena rappelte sich auf, klopfte den Schnee von ihren Beinen und probierte die Balkontür. Verschlossen. Natürlich.Sie nahm ihren Pantoffel – Gott sei Dank hatte sie die mit der festen Gummisohle an – und schlug gegen die Scheibe, nah am Griff. Das Glas vibrierte, hielt aber stand. Sie schlug fester zu. Einmal. Zweimal. Beim dritten Mal splitterte das Glas mit einem hässlichen Klirren.Sie griff hindurch, drehte den Riegel und stolperte in die warme, muffige Luft eines unbewohnten Hotelzimmers.Ohne innezuhalten, hastete sie zur Zimmertür, riss sie auf und stand wieder im Flur. Er war leer. Die Stille war zurückgekehrt, schwerer als zuvor.Elena rannte. Nicht zurück zur Turmsuite, sondern die Treppe hinunter, vorbei an den dunklen Gemälden der Vorfahren des Hoteliers, deren Augen sie im Schein ihrer Handylampe zu verfolgen schienen.Als sie die Lobby erreichte, bot sich ihr ein Bild, das bizarr gemütlich wirkte im Gegensatz zu dem Grauen oben im Turm. Ein riesiger Kaminfeuer prasselte im Zentrum der Halle. Konrad, der Hotelier, stand davor und zündete mit fahrigen Bewegungen einen Kandelaber an. Sein Schatten tanzte nervös an der holzgetäfelten Wand. Auf einem der Sofas saß Sophie, das Zimmermädchen, die Knie an die Brust gezogen, und starrte in die Flammen. Dr. Hannes Riek, der einzige andere Gast neben Elena und Vogl, stand am Fenster und blickte hinaus in den Sturm. Er hielt ein Glas Rotwein in der Hand, als wäre es ein Abend wie jeder andere.„Frau Frost!“ Konrad drehte sich um, als er ihre hastigen Schritte hörte. Er wirkte erleichtert und verängstigt zugleich. „Gott sei Dank. Der Strom... der Generator ist ausgefallen. Ich versuche...“„Er ist tot“, unterbrach Elena ihn. Ihre Stimme war fest, kälter als sie sich fühlte.Die Stille, die darauf folgte, war absolut. Sogar das Feuer schien für einen Moment das Knacken einzustellen.Dr. Riek drehte sich langsam um. Sein Gesicht lag im Schatten, aber seine Haltung straffte sich. „Wer?“„Vogl“, sagte Elena. Sie trat näher an das Feuer, um das Zittern ihrer Hände zu verbergen. „In der Turmsuite. Er ist tot.“„Ein... ein Unfall?“ stammelte Konrad. Er hatte die Kerze in seiner Hand noch immer nicht angezündet; das Streichholz brannte herunter, bis es seine Finger versengte. Er zuckte zusammen und ließ es fallen.„Jemand hat ihn dort eingesperrt“, sagte Elena und fixierte Konrad. Dann wanderte ihr Blick zu Sophie, die sie mit großen, dunklen Augen anstarrte, und schließlich zu Riek. „Und dann hat mich jemand dort eingesperrt. Mit ihm.“„Das ist unmöglich“, sagte Sophie leise. Ihre Stimme war rau. „Ich habe die Türen kontrolliert. Alle Schlüssel hängen hinter dem Tresen. Niemand kommt in die Turmsuite, außer mit dem Generalschlüssel.“„Und wo ist der?“ fragte Elena.Konrads Hand wanderte unbewusst zu seiner Westentasche. Er tastete danach, sein Gesicht wurde bleich, dann aschfahl.„Er... er war hier. Ich hatte ihn den ganzen Abend.“„War?“ fragte Dr. Riek präzise. Er stellte sein Weinglas ab.„Er ist weg“, flüsterte Konrad.Ein schwerer Windstoß traf das Hotel, und irgendwo tief im Gebälk des alten Hauses ächzte ein Balken wie ein sterbendes Tier. Das Licht der wenigen Kerzen flackerte wild.Elena sah in die Runde. Vier Menschen in einer Lobby, abgeschnitten von der Welt. Einer von ihnen log. Oder es gab jemanden da draußen – oder hier drinnen –, den sie noch nicht gesehen hatten.Sie sind hier, hatte auf dem Zettel gestanden.„Wir müssen die Polizei rufen“, sagte Konrad und griff nach dem alten Telefon auf dem Tresen. Er hob den Hörer ab, lauschte, drückte die Gabel, lauschte wieder.Langsam ließ er den Hörer sinken. Er baumelte an der Schnur wie ein Gehenkter.„Tot“, sagte er. „Die Leitung ist tot.“Dr. Riek trat einen Schritt vor. „Dann schlage ich vor, wir verriegeln die Eingangstüren. Und dann, Frau Frost, zeigen Sie uns bitte die Leiche. Ich bin zwar seit fünf Jahren im Ruhestand, aber den Tod erkenne ich immer noch, wenn ich ihn sehe.“Elena nickte langsam. Aber ihre Hand in der Manteltasche umklammerte das Handy fester. Sie würde ihnen die Leiche zeigen. Aber den Zettel... den Zettel würde sie für sich behalten. Vorerst. Denn in diesem Hotel war Wissen die einzige Waffe, die ihr noch geblieben war.

Kapitel 2: Die Anatomie der Stille

Der Aufstieg zurück in den vierten Stock glich einer Prozession der Verdammten.Konrad ging voran, den schweren Kandelaber in der zitternden Hand erhoben. Das flackernde Licht der fünf Kerzen warf groteske, tanzende Schatten an die holzgetäfelten Wände des Treppenhauses. Die Schatten streckten sich, verzerrten sich und griffen nach den Porträts der Ahnen, als wollten sie die gemalten Gesichter aus ihren Rahmen reißen. Hinter dem Hotelier folgte Dr. Riek, dessen Schritte präzise und fest waren, ganz im Gegensatz zu Konrads schlurfendem Gang. Sophie, das Zimmermädchen, hielt sich dicht an das Geländer gedrückt, als würde das alte Holz ihr Halt in einer Welt geben, die gerade aus den Fugen geraten war. Elena bildete das Schlusslicht.Ihre Hand lag noch immer in der Tasche ihres Morgenmantels, die Finger fest um das zerknüllte Stück Papier geschlossen. Sie sind hier. Das Papier fühlte sich heiß an gegen ihre kalte Handfläche.Niemand sprach. Das einzige Geräusch war das Heulen des Windes, der nun mit voller Wucht gegen die Nordseite des Gebäudes prallte, und das Knarren der Dielen, die unter dem Gewicht der vier Menschen ächzten.Als sie den Treppenabsatz vor der Turmsuite erreichten, blieb Konrad stehen. Der Luftzug, der unter der Tür hindurchpfiff, ließ die Kerzenflammen fast erlöschen. Es war spürbar kälter hier oben.„Sie ist zu“, flüsterte Konrad, als wäre es ein Geheimnis. Er starrte auf das dunkle Holz der Tür zur Suite 401, als erwartete er, dass sie sich von selbst öffnen würde.„Natürlich ist sie zu“, sagte Dr. Riek ungeduldig. Seine Stimme war laut, zu laut für die gedämpfte Atmosphäre. „Frau Frost sagte doch, jemand habe sie eingeschlossen. Haben Sie einen Ersatzschlüssel?“Konrad schüttelte den Kopf, eine langsame, fast kindliche Bewegung. „Der Generalschlüssel... er ist weg. Ich habe nur die Einzelschlüssel an der Rezeption, aber der für die 401 fehlt. Herr Vogl hat ihn vermutlich bei sich.“„Dann müssen wir sie aufbrechen“, entschied Riek.„Warten Sie“, schaltete sich Elena ein. Sie trat an Konrad vorbei und legte das Ohr an das Türblatt. Drinnen war es still. Keine Schritte. Kein Atem. Nur das leise Flattern von Stoff im Wind – die Vorhänge, die durch das offene Fenster bewegt wurden.„Niemand ist mehr drin“, sagte sie. „Zumindest niemand, der lebt.“„Wir können die Tür nicht eintreten“, wandte Konrad ein, den Blick auf das antike Schloss gerichtet. „Das ist Eiche, massiv. Hundert Jahre alt.“„Dann nehmen wir den Weg, den ich genommen habe“, sagte Elena trocken. „Über Zimmer 304 und den Balkon.“Riek zog eine Augenbraue hoch, ein Ausdruck von klinischem Interesse huschte über sein Gesicht. „Eine riskante Route bei diesem Wetter, Frau Frost. Besonders für jemanden mit Ihrer... Konstitution.“Elena ignorierte die Spitze. Sie wusste, dass sie blass aussah, dass ihre Hände zitterten und die dunklen Ringe unter ihren Augen Bände über ihre schlaflosen Nächte sprachen. Aber Riek wusste nicht, was sie antrieb. Angst war ein mächtiger Motor, aber Wut war ein besserer Treibstoff.Sie gingen zu Zimmer 304. Die Tür war unverschlossen – Elena hatte sie auf ihrer Flucht offen gelassen. Der kalte Wind blies ihnen bereits auf dem Flur entgegen. Im Zimmer selbst herrschte Chaos; Schnee hatte sich auf dem Teppich vor der zerbrochenen Balkontür gesammelt, eine kleine, weiße Düne inmitten der biederen Hoteleinrichtung.„Ich gehe“, sagte Elena, bevor Riek den Vorschlag machen konnte. „Ich weiß, wo ich hintreten muss.“Ohne eine Antwort abzuwarten, stieg sie durch die zerbrochene Scheibe hinaus in den Sturm. Die Kälte traf sie wie ein physischer Schlag, raubte ihr für einen Moment den Atem. Sie kletterte vorsichtig über das eisige Geländer, griff nach der Dachrinne und schwang sich zurück auf den Balkon der Turmsuite.Als sie durch das offene Fenster zurück in das Zimmer trat, in dem Arthur Vogl starb, hatte sich die Atmosphäre verändert. Vorher war es ein Ort des Schocks gewesen. Jetzt war es ein Grab.Der Schnee hatte begonnen, Vogls Beine zu bedecken. Er sah aus, als würde er langsam mit dem Sessel verschmelzen. Elena vermied es, ihn anzusehen, und ging direkt zur Tür. Sie drehte den Riegel von innen. Das Schloss schnappte mit einem satten Klicken auf.Sie öffnete die Tür. Im Flur standen die drei anderen, angestrahlt vom Kerzenlicht, wie Besucher in einem Wachsfigurenkabinett.„Kommen Sie rein“, sagte Elena. „Aber fassen Sie nichts an. Absolut gar nichts.“Dr. Riek betrat den Raum als Erster. Er ging nicht zögerlich, sondern mit einer professionellen Distanz auf den Toten zu. Konrad blieb an der Tür stehen, das Gesicht in den Schatten verborgen, während Sophie mutig einen Schritt in den Raum machte, den Blick starr auf den Kamin gerichtet, als wolle sie den Anblick des Toten meiden.Elena schloss das Fenster. Der Lärm des Sturms wurde sofort gedämpft, aber die Kälte blieb. Sie hing in den schweren Vorhängen, kroch aus dem Teppich.„Licht“, verlangte Riek. Er hielt eine Hand hin, und Konrad reichte ihm zitternd den Kandelaber.Riek stellte die Kerzen auf den Kaminsims, direkt neben eine kleine Bronzestatue eines Jagdhundes. Dann beugte er sich über Vogl.Elena beobachtete ihn genau. Sie beobachtete seine Hände. Es waren gepflegte Hände, die Nägel kurz geschnitten, die Haut glatt. Chirurgenhände, dachte sie. Oder die eines Pianisten. Er berührte Vogls Hals, prüfte die Starre der Kiefermuskulatur, hob dann eines der Augenlider an.„Keine Petechien“, murmelte er, mehr zu sich selbst. „Keine offensichtlichen äußeren Verletzungen. Die Leichenstarre hat noch nicht eingesetzt, aber die Körpertemperatur sinkt rapide. Bei dieser Umgebungstemperatur ist das schwer genau zu bestimmen, aber ich würde sagen, er ist seit weniger als einer Stunde tot.“„Die Ursache?“ fragte Elena. Sie stand im Schatten, lehnte an der Wand, die Arme vor der Brust verschränkt. Sie wollte sehen, wie er arbeitete. Ob er etwas übersah. Oder ob er etwas sehen wollte.Riek richtete sich auf und wischte sich die Hände an einem Taschentuch ab, das er aus seiner Brusttasche zog. „Schwer zu sagen ohne Autopsie. Aber sehen Sie die bläuliche Verfärbung der Lippen? Die leichte Schwellung der Halsvenen?“„Herzinsuffizienz?“ schlug Elena vor, den Begriff bewusst laienhaft wählend.„Möglich“, nickte Riek. Er nahm das Whiskyglas aus Vogls erstarrter Hand. Er tat es vorsichtig, indem er nur den oberen Rand berührte. Er führte es an seine Nase, schnupperte kurz, dann intensiver.„Riechen Sie das?“ fragte er und hielt ihr das Glas hin.Elena trat näher. Der Geruch von teurem Single Malt stieg ihr in die Nase. Torfig, rauchig. Aber da war noch etwas anderes darunter. Etwas Süßliches, das nicht zum Eichenfass-Aroma passte. Wie überreife Kirschen.„Mandel?“ fragte sie leise.Riek schüttelte den Kopf. „Nicht ganz. Bittermandel würde auf Zyanid hindeuten. Das hier ist... blumiger. Eisenhut vielleicht? Aconitin?“ Er stellte das Glas auf den Tisch, weit weg von der Pillendose. „Oder es ist einfach ein sehr exotischer Blend, und das Herz eines alten Mannes hat schlicht aufgehört zu schlagen.“