Schatten über Honeychurch Hall - Hannah Dennison - E-Book

Schatten über Honeychurch Hall E-Book

Hannah Dennison

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Beschreibung

16.50 ab Honeychurch Hall

Als auf dem Grundstück von Honeychurch Hall die Leiche des Verkehrsministers entdeckt wird, fällt der Verdacht sofort auf die Bewohner des Anwesens. Kat Stanford wird in den Skandal hineingezogen, und schon bald bekommt auch ihre Erzfeindin Wind von der Sache: die Zeitungsreporterin Trudy Wynne. Sie versucht mit allen Mitteln, Kat anzuschwärzen. Da taucht eine weitere Leiche auf, und Kat muss dringend herausfinden, wer hinter den rätselhaften Vorkommnissen steckt - bevor es zu weiteren Morden kommt.

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

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Danksagung

Über das Buch

16 Uhr 50 ab Honeychurch Hall

Als auf dem Grundstück von Honeychurch Hall die Leiche des Verkehrsministers entdeckt wird, fällt der Verdacht sofort auf die Bewohner des Anwesens. Wer sonst hätte den Bau einer Schnellzugstrecke mitten durch die idyllische Landschaft Devons verhindern wollen? Die ehemalige TV-Moderatorin Kat Stanford wird in den Skandal hineingezogen, und schon bald bekommt auch ihre Erzfeindin Wind von der Sache: die Zeitungsreporterin Trudy Wynne. Sie versucht mit allen Mitteln, Kat anzuschwärzen. Kat muss dringend herausfinden, wer hinter den rätselhaften Vorkommnissen steckt – bevor es zu weiteren Morden kommt!

»Ein perfekter englischer Kleinstadtkrimi mit viel Charme, Esprit und einem modernen Touch.« Rhys Bowen

Über die Autorin

Autorenfoto: © Pourio Lee

Hannah Dennison arbeitete als Zeitungsreporterin in Devon, England, bevor sie nach Los Angeles umzog und mit dem Schreiben von Drehbüchern begann. Inzwischen hat sie sich vor allem als Krimiautorin einen Namen gemacht. Dennison lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Portland, Oregon.

HANNAH DENNISON

Schatten über Honeychurch Hall

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Corinna Wieja

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Deadly Desires at Honeychurch Hall« bei Thomas Dunne, an imprint of St. Martin’s Publishing Group, New York.

Deutschsprachige Erstausgabe Januar 2016 bei LYX.digital in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2015 Hannah Dennison

Published by arrangement with St. Martin’s Press, LLC., Sydney, NSW, Australia.

Dieses Buch wurde im Auftrag von St. Martin’s Press LLC durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen, vermittelt.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

bei Bastei Lübbe AG, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Redaktion: Joern Rauser

Umschlaggestaltung & -illustration: bürosüd, München

Satz und eBook: KCS GmbH, Stelle | www.schriftsetzerei.de

ISBN 978-3-7325-5891-9

www.lyx-verlag.de

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Für Jason

1

»Nur über meine Leiche lasse ich zu, dass diese verflixte Regierung hier eine Schnellzugstrecke baut.« Mum deutete auf das grüne Plakat am Pfosten eines Weidetores.

Stoppt die Operation Bullet!

Spart Minuten, verliert Jahrhunderte!

Schließen Sie sich unserer Bürgerinitiative noch heute an!

»Operation Bullet«, wetterte Mum weiter. »Was für ein dummer Name. Operation Nonsens trifft es eher.«

»Nonsens?«, spottete ich. »Wer sagt denn heute noch Nonsens?«

»Interessiert dich das denn gar nicht?« Mum stellte einen Gummistiefel-Fuß auf die unterste Stange des Tores und zog sich mit der anderen Hand daran hoch.

»Vorsicht«, rief ich, als sie abrutschte. »Du bist nicht mehr die Jüngste.«

»Noch bin ich nicht siebzig, vielen Dank«, erwiderte sie. »Und überhaupt hat dieser Ausrutscher nichts mit meinem Alter zu tun, sondern mit meiner Hand. Die ist nach dem Bruch immer noch nicht wieder richtig fit.«

»In diesem Fall sollten wir uns einfach über das Tor lehnen und die Aussicht genießen.«

»Ehrlich, ich mache drei Kreuze, wenn du wieder nach London zurückfährst und mich nicht länger bevormunden kannst. Wann wolltest du noch mal fahren?«

»Wenn ich mir sicher bin, dass du allein zurechtkommst«, gab ich zurück. »Und mir versprichst, dass du keine Dummheiten anstellst, die dich in Schwierigkeiten bringen.«

»Ich und Dummheiten?« Mum sah mich mit Unschuldsmiene an. »Ich weiß gar nicht, wovon du redest.«

Vor knapp sechs Monaten war mein Vater gestorben – und vor gut zwei Monaten hatte ich festgestellt, dass meine Mutter unser kleines Haus in London heimlich verkauft hatte und in das über zweihundert Meilen entfernte Dorf Little Dipperton in Devon gezogen war. Als ob dieser Schock nicht schon groß genug gewesen wäre, hatte ich, als ich ihr wegen ihrer gebrochenen Hand beim »Abtippen einiger Unterlagen« half, obendrein die erstaunliche Entdeckung gemacht, dass meine so bieder wirkende Mutter die international bekannte Bestsellerautorin Krystalle Storm war und heiße Liebesromane schrieb. Krystalle Storms Identität und ihr Einkommen waren ein streng gehütetes Geheimnis. Zum Glück hatten weder mein Vater noch die Finanzbehörde Ihrer Majestät über das Alter Ego meiner Mutter Bescheid gewusst, was man wohl als Ironie des Schicksals bezeichnen kann, da mein Vater sein ganzes Leben lang als Steuerprüfer gearbeitet hat.

Das war aber erst der Anfang.

Nach meinem Ausstieg als Moderatorin bei der Fernsehsendung Kopien & Kostbarkeiten hatten wir eigentlich gemeinsam ein Antiquitätengeschäft eröffnen wollen. Bei meinem Besuch verkündete sie mir jedoch aus heiterem Himmel, ihre Meinung geändert zu haben, was mich, gelinde gesagt, völlig aus den Socken haute. Und nun standen wir vor einer Kuhweide und zankten uns mal wieder.

»Also, ich schließe mich jedenfalls dieser Bürgerinitiative an«, entschied Mum.

»Siehst du?«, rief ich. »Du schreist ja förmlich schon wieder nach Ärger. Halt dich da raus, Mutter. Außerdem muss die Regierung erst mal die HS2 von London nach Birmingham fertigstellen. Es wird sicher noch Jahre dauern, bis sie mit dem Bau beginnen.«

»Ich sehe nicht ein, warum hier überhaupt eine neue Bahnstrecke entstehen soll. Was ist denn an der, die wir haben, so verkehrt?«

»Sie ist steinzeitlich, deswegen.«

»Ich hatte auch nicht erwartet, dass du das verstehst.«

»Lass uns doch nicht streiten, bitte«, sagte ich.

Mum sog die frische Oktoberluft tief ein und blies sie vernehmlich wieder aus. »Kein Smog wie in der Stadt. Das wirst du vermissen. Warte es nur ab.«

»Kühe und Gestank von Dünger? Das bezweifle ich.« Insgeheim wusste ich jedoch, dass sie recht hatte. Ich würde es wirklich vermissen.

Strahlender Sonnenschein hatte den strömenden Regen abgelöst, während wir von einem Mosaik aus uralten Hecken und hügeligem Ackerland umgeben waren, das sich bis hinunter zum Fluss Dart erstreckte. Dichte Pinienwälder wechselten sich mit kleinen Laubwäldern ab, deren rostrote und goldgelbe Kronen farbenfrohe Tupfer zu der Vielzahl von Grüntönen hinzufügten, die im lauen Herbstwind schimmerten.

»Wusstest du, dass Honeychurch Hall im Bürgerkrieg eine Festung der Royalisten war?«, fragte Mum. Ihre Stimme klang verträumt.

»Ja.«

»Die Puritaner haben hier oben gegen die Royalisten gekämpft, weshalb es an diesen Orten natürlich auch spukt. Es gibt zahlreiche Gespenstergeschichten.«

»Natürlich.«

»Hörst du nicht auch das Kanonenfeuer?«

»Im Moment zum Glück nicht.«

»Von hier oben aus hat Sir Ralph seine Truppen befehligt.«

»Ja, ich weiß. Das hast du mir schon erzählt. Mehrmals.«

Wir spazierten über den Hopton’s Crest, einen Hügel, der nach Sir Ralph Hopton, einem royalistischen Truppenführer im Bürgerkrieg, benannt worden war, der den Südwesten Englands für König Charles I. hatte sichern sollen. Die Schotterstraße, die seit fast vierhundert Jahren über den Hügel führte, musste damals einen atemberaubenden Blick über das Tal geboten haben. Auch heute noch war die Aussicht spektakulär, obwohl sie teilweise durch überhängende Äste und wild wuchernde Hecken begrenzt wurde. Am Ende des Hügels verengte sich die Straße zu einem steilen Pfad, der sich an Wäldern und Marschland vorbeizog, das passenderweise Coffin Mire, Sargsumpf, hieß.

An die eine Seite des Hügels schmiegte sich das Dorf Little Dipperton; auf der anderen, versteckt zwischen Bäumen und jahrhundertealten Trockenmauern, stand das herrliche Herrenhaus Honeychurch Hall in seinem verblassenden Glanz. Zu diesem Anwesen gehörten ein Pferdefriedhof, Ziergärten, eine viktorianische Grotte und ein riesiger ummauerter Garten mit halb verfallenen Gewächshäusern.

Mum lebte in Carriage House, der ehemaligen Remise, direkt neben dem hässlichen Schrottplatz ihres verfeindeten Nachbarn Eric Pugsley. Früher hatte ein dichter Baumstreifen die Grundstücke voneinander getrennt, aber Eric hatte die Bäume gefällt, und zwar nur, um meine Mutter zu ärgern. Behauptete sie jedenfalls.

Von unserem Aussichtspunkt hatten wir, vor allem jetzt im Herbst, da kein Laub die Sicht versperrte, einen guten Blick auf die alten Schrottmühlen – oder, wie Eric sie nannte, »Altfahrzeuge«. Ein Leichenwagen, Reifenpyramiden und verstreute Teile von Farmgeräten ergänzten das Sammelsurium. In der Mitte thronte eine Schrottpresse und vor einem ramponierten Wohnwagen, der als Büro diente, parkte Erics riesiger roter Massey-Ferguson-Traktor.

»Sieh’s doch mal von der positiven Seite«, meinte ich. »Falls die Operation Bullet tatsächlich in die Tat umgesetzt wird, bedeutet dies auch das Ende von Erics Königreich.«

»Soll mich das etwa trösten?«, erwiderte Mum. »Eric ist auf die Idee gekommen, eine Bürgerinitiative in Little Dipperton zu gründen. Die Bahnstrecke soll quer durch das ganze Dorf und das Honeychurch-Anwesen verlaufen.«

»Ich wünsche ihm viel Glück. Wie heißt es so schön, gegen den Amtsschimmel kommt man nicht an.«

»Oh doch, wir schaffen das. Ich habe beschlossen, mich ihm anzuschließen«, verkündete Mum.

»Was?«, rief ich. »Du tust dich mit Eric zusammen?«

»Ja, am Donnerstag findet im Pub eine Versammlung statt.«

Ich lachte. »Du kannst ihn doch nicht ausstehen, dachte ich.«

»Kann ich auch nicht. Aber welche Wahl habe ich schon? Eric hat Lord Honeychurch um Unterstützung gebeten, der ihm jedoch gesagt hat, dass er sich nicht in Angelegenheiten einmischen soll, die ihn nichts angehen.«

»Und deine Angelegenheit ist es auch nicht«, stimmte ich zu.

»Ist es doch. Schließlich lebe ich hier.«

»Was sagt denn Edith dazu?«, fragte ich.

»Lady Edith, meinst du wohl.« Mum konnte sich noch immer nicht überwinden, Lord Rupert Honeychurchs Mutter mit dem Vornamen anzureden, obwohl sie ihr das bereits mehrere Male angeboten hatte. Für meine Mutter war es undenkbar, mit dem Adel – wie sie die Oberschicht nannte – auf Du und Du zu sein. »Wir sollen nicht mit ihr darüber sprechen«, fuhr Mum fort. »Seine Lordschaft möchte nicht, dass sie sich aufregt.«

»Na, das wäre ja mal was ganz Neues. Noch vor ein paar Wochen hat er versucht, sie in dieses Pflegeheim abzuschieben …«

»Sunny Hill Lodge. Ich glaube aber gar nicht, dass sie Demenz hat, Kat.«

»Wie dem auch sei, sicher hat Edith die Plakate längst gesehen. Die ganze Gegend ist damit gepflastert. Und Muriel vom Postamt sammelt schon seit Wochen Unterschriften für eine Petition.«

»Das stimmt«, gab meine Mutter zu. »Vielleicht möchte Seine Lordschaft seine Mutter nicht damit belasten, weil er glaubt, dass die Bahnstrecke nicht mehr zu ihren Lebzeiten gebaut werden wird.«

»Möglich. Wie alt ist Edith eigentlich? Achtzig?«

»Fünfundachtzig, aber das merkt man ihr nicht an. Sicher wird sie noch jahrelang unter uns weilen.«

Dieser Ansicht war ich auch. Lady Edith ritt nach wie vor jeden Tag im Damensattel aus, war Vorsitzende des örtlichen Reitvereins und überhaupt eine imposante Persönlichkeit.

»Weißt du, wie alt Queen Mum geworden ist?«, fragte Mum.

»Ich habe keine Ahnung. Die königliche Familie ist dein Fachbereich, also nehme ich an, du wirst es mir gleich verraten.«

»Einhunderteins!«, rief Mum. »Ja, einhunderteins. Und sie hatte immer noch alle Zähne.«

Ich winkte mit dem Korb, den ich in der Hand hielt. »Lass uns endlich die Schlehen für Mrs Patmore pflücken.«

»Mrs Patmore?« Mum runzelte die Stirn, dann grinste sie. »Du hast recht. Mrs Cropper sieht wirklich wie die Köchin aus Downton Abbey aus. Muss wohl an der Tracht und der Haube liegen.«

Mum zeigte auf ein Wäldchen am Rande einer Weide. »Sie hat gesagt, dass die Schwarzdornhecke da unten Schlehen trägt.«

»Na, wunderbar, das ist ganz in der Nähe vom Coffin Mire.« Ich zog eine Grimasse. »Dieser Ort ist gruselig. Außerdem wird es dort nach dem Regen ziemlich matschig sein.«

»Mach, was du willst.« Mum ging ein Stück weiter und blieb vor einem Zauntritt stehen. »Ich gehe jedenfalls.«

»Warte.« Ich seufzte tief auf. »Irgendjemand muss dich ja im Auge behalten.«

Nach einer Weile gelangten wir an ein Tor. Ein Schild verkündete, dass unbefugtes Betreten strafrechtlich verfolgt werde und Wilddiebe erschossen würden. Darunter prangte in roter Farbe auf einem Stück Holz die Warnung: »Vorsicht vor dem Bullen!«

»Das war’s dann.« Erleichtert wollte ich umkehren. »Da ist ein Bulle auf der Weide.«

»Hier ist kein Bulle.« Mum machte sich daran, in ihren nicht gerade schmeichelhaften Gummistiefeln das Tor zu erklimmen. Ihr grüner Wollrock erschwerte die Kletterpartie allerdings. »Das soll nur Unbefugte abschrecken.« Sie schwang ein Bein über das obere Geländer, und es machte ratsch. »Verflixt!«

»Ich hab dir ja gleich gesagt, zieh lieber eine Hose an. Ich komme zwar aus London, aber wenigstens weiß ich, wie ich mich einer Situation entsprechend anziehen muss.« Ich trug Jeans und hatte mir eine Regenjacke und Barbourstiefel gekauft – in der Nähe von Dartmouth, einem kleinen Fischerstädtchen mit echten Läden.

Nachdem ich Mum geholfen hatte, ihren Rock zu befreien, setzten wir unseren Weg fort.

Sie hatte recht. Nirgendwo waren Kühe zu sehen.

»Hab ich ja gesagt«, murmelte sie.

»Ich hoffe, Mrs Cropper weiß deine Anstrengungen zu schätzen.«

»Für Schlehen-Gin tu ich beinahe alles«, sagte Mum. »Übrigens könnte Mrs Cropper eine Küchenhilfe gebrauchen. Sie haben auch immer noch keine neue Haushälterin gefunden. Offenbar ist Vera schwer zu ersetzen.«

Wir schwiegen. Obwohl es schon mehrere Wochen her war, dass ich die Leiche von Erics Frau Vera in der Grotte gefunden hatte, würde ich diesen Tag niemals im Leben vergessen.

Mum drückte mir den Arm. »Tut mir leid, Liebes«, sagte sie sanft. »Ich weiß, du denkst immer noch an sie. Aber wie Lady Edith sagen würde, das Leben geht weiter. Moment mal!« Sie schnappte nach Luft. »Was um Himmels willen …«

Aus dem Boden ragte eine große rechteckige Plakatwand. Leuchtend rote Tinte auf schwarzem Grund verkündete: HS3kreuzt hier.

»Operation Bullet.« Mums Miene verhärtete sich. »Sie haben bereits angefangen, den Streckenverlauf zu markieren.«

Ich zählte neun weitere Plakate, die in regelmäßigen Abständen bis zum Fuß des Hügels über der Weide verteilt waren.

Das war ein eindeutiger Hinweis darauf, wie stark die Landschaft verschandelt werden würde, und plötzlich war ich zu meiner Überraschung ebenso verärgert wie meine Mutter. »Was hast du vor?«, fragte ich.

»Ich spreche mit Eric, und wir berufen eine Krisensitzung ein«, sagte Mum grimmig. »Wehe, wenn ich den erwische, der die Plakate aufgestellt hat. Das wird er noch bereuen.«

»Sollen wir die Schlehen morgen sammeln?«

Mum schüttelte den Kopf. »Jetzt sind wir eh schon hier, und die Plakate laufen uns nicht weg.«

Wir folgten dem Weg, der an einen frisch ausgehobenen Graben grenzte, die Erde lag noch daneben. Vögel flogen auf, als wir vorüberspazierten, und erinnerten uns daran, dass nicht nur Menschen vom Bau der neuen Bahnlinie betroffen sein würden, sondern auch die Tierwelt.

Rechts von der Schwarzdornhecke erhob sich ein weiteres Tor. Es stand offen und gab den Blick auf einen schlammigen Reitweg frei, der irgendwo auf der Rückseite von Erics Schrottplatz endete. Auf der anderen Seite des Tals konnten wir weitere Plakate erkennen.

»Sie werden das ganze Tal zerstören«, sagte Mum.

»Schau dir all diese Schlehen an«, erwiderte ich, in der Hoffnung, sie damit abzulenken. Selbst aus der Entfernung konnte man die blauschwarzen Beeren erkennen.

»Nehmen wir die Abkürzung«, sagte Mum.

Vor uns erstreckte sich der Coffin Mire, ein breiter Streifen sumpfigen Marschlands. »Im Ernst? Das ist doch Morast. Wir sollten lieber außen rum an der Hecke entlanggehen, auf festem Boden.«

»Unsinn. Ich geh voran, und du machst einfach dasselbe wie ich.«

Grasbüschel ragten aus tintenschwarzen Pfützen hervor. Die Luft roch modrig, und schon bald versanken wir knöcheltief in schlammigem Wasser. Die Sonne versteckte sich hinter den Wolken, der Wind frischte auf.

»Weißt du, dass es hier spukt?«, rief Mum über die Schulter.

»Wenn man dir glaubt, spukt es überall«, gab ich zurück.

»Ich habe dir doch von Sir Maurice erzählt. Hier hat er die Puritaner-Truppe ins Verderben gelockt, weil er vorgab, ihr Kommandeur zu sein. Sie sind im Coffin Mire ertrunken.«

»Harrys Version klingt viel interessanter.« Ich erzählte die Version der Tragödie, so wie sie mir der siebenjährige Sohn des Earls bildhaft geschildert hatte. Ihm zufolge waren die Männer von Alienwürmern mit Piranhazähnen bei lebendigem Leib verspeist worden.

»Dieses Kind ist eigenartig.« Mum schüttelte den Kopf. »Hier musst du gut achtgeben.« Sie lief plötzlich schneller. »Pass auf, dass du nur auf das Gras trittst, und bleib nicht stehen.«

Vorsichtig setzte ich den Fuß auf ein Grasbüschel, aber der Untergrund gab unter meinem Gewicht buchstäblich nach. »Das ist so, als ob man auf Wackelpudding läuft!« Ich schrie auf, als mein Stiefel mit schmatzendem Gurgeln bis zum Knie versank. Es stank ganz fürchterlich.

»Mum, warte!« Ich kämpfte meinen Fuß frei und hüpfte von Grasbüschel zu Grasbüschel hinter ihr her.

»Nicht stehen bleiben!«, rief sie. »An dieser Stelle ist es ziemlich sumpfig. Oh!«

Sie wollte einen Schritt nach vorn machen, aber ihre Füße steckten fest und sie drohte nach vorn zu kippen. Instinktiv umfasste ich den Zipfel ihres Regenmantels und zog sie zur Seite. Ihr Fuß kam mit einem Ruck frei, und sie verlor das Gleichgewicht, wodurch wir beide wie ein Tango tanzendes Paar schwungvoll hin- und herschwankten, bevor wir auf schlammigen, aber zumindest festen Boden plumpsten.

»Na toll. Echt klasse.« Ich wand mich unter ihr frei. Mum lachte. »Du solltest dich sehen. Von oben bis unten mit Schlamm bedeckt. Und du stinkst!«

»Vielen Dank! Wenn ich nicht gewesen wäre, hättest du ertrinken können wie ein entflohener Sträfling aus Dartmoor.«

»Ich glaube, wir gehen doch besser deinen Weg.« Mum hielt sich kichernd die Nase zu. »Aber ich schreite voran, damit ich deine Dunstfahne nicht einatme.«

Fünf Minuten später stand der Korb zwischen uns, und wir pflückten einträchtig Schlehen.

»Apropos entflohene Sträflinge«, sagte Mum beiläufig. »Habe ich dir erzählt, dass mein Bruder auf Bewährung frei ist?«

»Meinst du deinen Stiefbruder Alfred?« Vor zwei Monaten hatte ich nicht mal gewusst, dass Mum einen Bruder hatte. Tatsächlich hatte sie sogar zwei gehabt. Beide waren in den Fünfziger- und Sechzigerjahren bei Bushmans Schaukampftruppe Boxer gewesen. Noch eines der gut gehüteten dunklen Geheimnisse meiner Mutter, das unverhofft ans Tageslicht gekommen war. »Ich hatte eigentlich angenommen, dass Alfred schon längst entlassen wurde, denn du hattest doch gesagt, er hätte dir beim Umzug geholfen.« Neugierig sah ich zu ihr hinüber. »Warum erzählst du mir das jetzt? Willst du dich mit ihm treffen?«

»Oh ja. Ich dachte, er könnte dein Zimmer haben.«

»Was?«, quiekte ich. »Er kommt nach Honeychurch?«

»Ja, am Donnerstag.«

»Das ist nicht dein Ernst. Du kennst ihn doch kaum. Er ist ein Krimineller.«

»Blödsinn. Er hat nur ein paar Pässe gefälscht. Mach aus einer Mücke keinen Elefanten. Alfred hat vor, sich unserer Bürgerinitiative anzuschließen. Er kann gut organisieren. Hast du von dem Aufstand im Wormwood-Scrubs-Gefängnis vor ein paar Jahren gehört?«

»Jetzt sag nicht, dass er …«

»Doch. Alfred war der Anführer.«

»Und wieso haben sie ihn dann jetzt auf Bewährung entlassen?«

»Er hat da so seine Tricks. Er will uns T-Shirts besorgen. Wir können sie mit unserem Spruch bedrucken: Stoppt die Operation Bullet. Spart Minuten, verliert Jahrhunderte.«

»Und ich nehme an, Alfred wird mietfrei bei dir wohnen?«

»Von wegen! Da täuschst du dich«, erwiderte Mum. Ihre Augen blitzten triumphierend. »Ihre Ladyschaft freut sich schon sehr auf das Wiedersehen. Es ist alles arrangiert. Er wird in den Pferdeställen helfen … und wo sonst noch Arbeit anfällt.«

»Was?! Er wird auf dem Anwesen arbeiten?«

»Das habe ich doch gerade gesagt. Hörst du mir eigentlich zu?«

»Seit wann weißt du das alles?«

Mum kratzte sich am Kopf. »Seit ein paar Wochen, vielleicht auch schon ein bisschen länger.«

»Warum hast du mir nichts davon erzählt?«

»Ich sag es dir doch jetzt.«

»Warum tust du das immer?«, rief ich. »Willst du mich absichtlich quälen?«

»Eigentlich geht dich das ja gar nichts an«, erwiderte Mum. »Und jetzt, wo William nicht mehr da ist, wird dringend ein neuer Stallmeister gebraucht.«

»Nicht mehr da?«, erwiderte ich verärgert. »Er sitzt wegen Totschlags im Gefängnis, wenn ich dich daran erinnern darf.« Schon wieder Gefängnis, dachte ich. Scheint ein wiederkehrendes Muster zu sein.

»Das war ein Unfall.«

Einen Moment war ich sprachlos. »William hat die Haushälterin erwürgt, Mum.«

»Ich möchte jetzt nicht über Vera sprechen.« Mum ließ eine Schlehe in den Korb fallen.

»Außerdem hat er sich für deinen Stiefbruder ausgegeben. Das hast du wohl auch vergessen. Ganz zu schweigen von dem Angriff auf mich!«

Ein glasiger Blick trat in ihre Augen, und sie fing zu summen an. Ich sah ein, dass ich nur meine Zeit verschwendete.

»Kennt sich Alfred überhaupt mit Pferden aus?«

Mum inspizierte unsere Ausbeute im Korb. Er war bereits zu einem Viertel voll. »Lady Edith und Lady Lavinia brauchen Hilfe …«, sagte sie ausweichend.

»Ich habe ihnen mit den Pferden geholfen.«

»Du fährst aber zurück nach London. Noch dieses Wochenende, wenn ich mich recht entsinne.«

»Mum, bitte. Du kennst Alfred doch kaum.«

»Er gehört schließlich zur Familie«, beharrte sie stur. »Er braucht eine Arbeit, und mit den Pferden, die wir früher hatten, ist er sehr gut zurechtgekommen.«

»Das ist über ein halbes Jahrhundert her.«

»Wir haben ihn immer Dr. Dolittle genannt, weil er mit den Tieren sprechen konnte.«

»Ach … egal.« Ich seufzte und versuchte, mich ganz darauf zu konzentrieren, die Beeren von der Hecke zu zupfen und mich nicht von den Dornen durchbohren zu lassen. Mum hatte recht. Es ging mich nichts an.

»Deshalb ist es auch besser, wenn du nach London zurückfährst, Liebes. Aber versprich mir eines …«

»Und was kommt jetzt?«

»Lass dich auf keinen Fall von Dylan zu einer Versöhnung überreden.«

»Sein Name ist David! Und das wiederum geht dich nichts an.« Mit mütterlicher Zielsicherheit hatte sie einen weiteren wunden Punkt getroffen. Zugegeben, ich hatte tatsächlich schon mit der Idee gespielt, meinen Ex auf einen Kaffee zu treffen.

»Dylan gibt sich jedenfalls alle Mühe, sich wieder bei dir einzuschleimen. Ich habe noch nie so viele Blumen auf einem Haufen gesehen. In deinem Zimmer sieht es schon aus wie bei einer Beerdigung. Ich wünschte, du würdest jemand anderen kennenlernen, Schatz. Jemanden, der verfügbar ist. Jemanden, der Kinder haben möchte.«

»Jetzt fang nicht wieder mit …«

»Hallo?«, unterbrach mich eine männliche Stimme. »Ich dachte, ich hätte eine Stimme gehört.«

Blätter raschelten, und kurz darauf tauchte ein großer, glatt rasierter Mann Ende vierzig in einem schicken Tweedjackett auf, der gerade über den Reitweg auf der anderen Seite der Hecke ging. Er trug eine Mütze und einen wunderschönen altmodischen Spazierstock und humpelte leicht, als er zu uns herüberkam.

»Was sagt man dazu«, flüsterte Mum. »Hier kommt ein Rivale um deine Gunst!«

2

»Guten Tag, meine Damen«, grüßte der Fremde. »Ich hoffe, ich störe Sie nicht bei Ihrem Spaziergang.«

»Wir pflücken Schlehen«, erklärte Mum und musterte ihn von Kopf bis Fuß, nachdem er über den Tritt zu uns geklettert war. »Ich bin Iris Stanford, und das ist meine reizende Tochter Katherine.«

Ich nickte zum Gruß. Meine Mutter konnte in ihren Absichten gar nicht offensichtlicher sein. Wie peinlich. Noch peinlicher war allerdings die Tatsache, dass wir nach Sumpf stanken.

Der Mann betrachtete mich eindringlich. Mein Blick schweifte über seine grauen Augen mit den langen dunklen Wimpern zu dem sexy Grübchen im Kinn und seinen vollen sinnlichen Lippen. Ich spürte, dass ich rot anlief. Offenbar hatten die bildhaften Beschreibungen der männlichen Helden im letzten Werk meiner Mutter mein Urteilsvermögen getrübt.

»Auf der anderen Seite der Hecke wachsen übrigens deutlich mehr Schlehen. Valentin Prince-Avery.« Er lächelte und streckte die Hand aus, zog sie aber sofort wieder zurück und rümpfte die Nase.

»Tut mir leid, ich weiß, dass wir etwas … riechen«, sagte ich.

»Valentin!« Mums Augen wurden groß. »Liebe Güte, was für ein wundervoller Name. Sehr regencymäßig.«

»Kat Stanford?« Valentin schnippte mit den Fingern. »Natürlich! Sie sind mir gleich so bekannt vorgekommen. Von Kopien & Kostbarkeiten. Sie sind Rapunzel. Das sind Sie doch, oder? Ihre Haare haben Sie verraten.«

Mein hüftlanges kastanienbraunes Haar war während meiner Zeit als TV-Moderatorin mein Markenzeichen gewesen. »Ich überlege gerade, sie abzuschneiden.«

»Kat hat die Löwenmähne von meiner Seite der Familie geerbt«, sagte Mum stolz. »Ihr Vater wurde schon früh kahl, aber das wird ihr wahrscheinlich nicht passieren – oder ihren Kindern. Falls sie jemals Kinder hat, heißt das.«

»Das freut mich zu hören.« Valentin unterdrückte ein Grinsen. »Es ist zu schade, dass Sie aufgehört haben, Kat. Ich habe keine Ihrer Sendungen verpasst. Ich bin selbst Sammler.« Er deutete auf seinen Spazierstock.

»Den habe ich schon bewundert.« Er hatte einen auffälligen Griff aus Elfenbein in Form einer Französischen Bulldogge. »Höchst ungewöhnlich.«

»Er hat meinem Urgroßvater gehört«, erklärte Valentin. »Der war Kuriositätensammler. Ich bin wegen der Auktion in Chillingford Court in Devon. Zu schade um das Haus.«

Leider passierte so was öfter. Das Haus aus der jakobinischen Ära befand sich seit Jahrhunderten im Besitz der Familie, doch der Sohn, der es inzwischen geerbt hatte, wollte – oder konnte – sich die Kosten zur Erhaltung des zwanzigtausend Quadratmeter großen Anwesens nicht länger leisten. Alles, einschließlich der Wände, Armaturen, Böden und Türen sollte am Mittwoch unter den Hammer kommen.

»Wir fahren übermorgen auch zu der Auktion«, rief Mum. »Vielleicht kann Ihnen Kat einige Tipps geben?«

»Das wäre nett.«

Unsere Blicke trafen sich, und ich war froh, dass in seinen Augen Belustigung funkelte.

»Leistet Ihnen Ihre Frau Gesellschaft?«, fragte Mum unverblümt.

»Mutter!«, zischte ich und entschuldigte mich bei Valentin. »Es war nett, Sie kennenzulernen. Komm, Mutter, wir haben noch zu tun.«

»Um Ihre Frage zu beantworten«, sagte Valentin. »Ich bin Witwer.«

»Oh, das tut mir leid.« Mum sah peinlich berührt aus. »Aber Ihre Kinder sind Ihnen gewiss ein großer Trost.«

Am liebsten hätte ich meine Mutter in den Coffin Mire geschubst, aber Valentin blieb gelassen.

»Das wären sie sicher, wenn ich welche hätte.«

Mums Miene leuchtete auf. »Ich sage Kat immer wieder, dass man nicht zu lange warten sollte.«

Valentin lachte. Offensichtlich hatte er Sinn für Humor. »Ich denke, ich überlasse die Damen nun ihrer Arbeit. Oh, übrigens, ich wohne im Hare & Hounds.« Er holte eine Visitenkarte heraus und drückte sie mir in die Hand. »Falls Sie Lust auf einen Drink hätten – heute Abend; ich würde wirklich gern Ihre Meinung zu ein paar Objekten hören, auf die ich ein Auge geworfen habe. Natürlich nur, wenn Sie nicht zu beschäftigt sind.«

»Das ist sie nicht«, sagte Mum entschieden.

Ich warf einen raschen Blick auf seine Visitenkarte und stieß überrascht die Luft aus. Valentin Prince-Avery, AbfindungsberaterHS3 stand darauf. Außerdem waren eine Telefonnummer und eine Website angegeben.

Die Ironie der Situation entging mir nicht, aber ich bezweifelte, dass Mum dafür Verständnis haben würde.

Sie schaute mir über die Schulter und schnaubte. »Was sagt man dazu?! Diese Unverfrorenheit! Dann sind diese Plakate, die hier die Landschaft verschandeln, also Ihr Werk.«

»Mum«, wandte ich ein. »Mr Prince-Avery tut doch nur seine Arbeit.«

»Sie haben uns absichtlich getäuscht!«, ereiferte sie sich. »Warum haben Sie erzählt, dass Sie wegen der Auktion hier sind?«

»Weil ich das bin«, erwiderte Valentin gelassen. »Und gleichzeitig nutze ich die Gelegenheit, mich mit den Eigentümern zu unterhalten, die vom Bau der neuen Eisenbahnstrecke betroffen sind.«

»Sie haben dieses Gelände unbefugt betreten«, schimpfte Mum weiter. »Ich hätte Lust, Sie anzuzeigen.«

Valentin ertrug Mums Schimpftirade wiederum mit Gelassenheit. Sie ließ sich über eine Verschwörungstheorie, den Premierminister und unerklärlicherweise auch über die tragischen Ereignisse am 11. September aus. Endlich ging ihr die Puste aus. »Also stecken Sie sich das an den Hut und verschwinden Sie.«

Ich war zutiefst beschämt. »Es tut mir leid, Mr Prince-Avery …«

»Valentin, bitte. Und ich bin daran gewöhnt.« Er verzog den Mund zu einem sarkastischen Lächeln. »Aber ich möchte Sie gerne über Ihre Optionen aufklären, Mrs Stanford.«

»Ich will keine Optionen …«

»Vor allem bezüglich des Güterwagendepots …«

»Güterwagendepot?«, stieß Mum empört aus.

»Wir bleiben in Kontakt«, sagte ich. »Ich glaube aber, Sie gehen jetzt besser.«

Eine Hupe schreckte uns alle auf. »Verschwinden Sie hier! Sie haben kein Recht, sich hier herumzutreiben!«

Wir drehten uns um und entdeckten ein vierrädriges Elektromobil. Der Korb, der daran angebracht war, war mit Einkaufstüten vollgestopft, weitere hingen an den Griffen. Auf dem Sitz saß eine Frau in den Siebzigern. Ihr Gesicht war knallrot, und sie trug einen lila Wollmantel und eine dazu passende Strickmütze mit roten Blumen. Eine jüngere Version von ihr im gleichen Outfit, bloß in orange, trottete hinter ihr her, eine abgeknickte Schrotflinte über dem Arm.

»Oh Gott«, murmelte Mum. »Das sind die Gullys.«

Valentin blickte erschrocken. »Wer?«

»Joyce und Patty Gully. Mutter und Tochter.« Mum deutete mit dem Arm auf ein kleines Stück Wald, aus dem das Dach eines Cottages hervorlugte. »Sie leben am Ende des Reitwegs im Bridge Cottage.«

»Bridge Cottage? Das Haus beim Fluss?«, sagte Valentin. »Ich war dort, aber mir hat niemand geöffnet.«

»Sie sind ein wenig seltsam«, meinte Mum.

»Du liebe Güte. Ist das ein Gewehr?«, rief er.

Joyce hupte erneut und blieb mit ihrem Gefährt nur wenige Meter von uns entfernt stehen. Sie nickte ihrer Tochter zu. Patty fummelte in ihrer Tasche und holte zwei Patronen heraus.

»Was macht sie denn da?« Valentins Stimme klang alarmiert. »Ist das Ding geladen?«

»Jetzt schon«, sagte Mum. Nachdem Patty die Patronen in den Lauf geschoben hatte, reichte sie die Flinte ihrer Mutter.

Wir sahen uns entsetzt an.

»Sie wird doch nicht schießen?« Vor Angst standen Valentin Schweißtropfen auf der Stirn.

Im gleichen Moment hallte ein ohrenbetäubender Schuss durchs Tal, und die Vögel flogen auf. Mum packte schreiend meinen Arm.

»Die nächste Kugel geht nicht daneben«, rief Joyce und richtete die Flinte auf Valentin.

Wie der Wind machte er auf dem Absatz kehrt, kletterte über den Zauntritt und rannte über die Weide davon, so schnell sein Humpeln dies zuließ.

Joyce richtete das Gewehr auf seine kleiner werdende Gestalt und schoss erneut. Zum Glück verfehlte sie ihn um Meilen.

»Sie haben auf ihn geschossen!« Ich wollte nicht glauben, dass das tatsächlich passierte.

»Er hat sich unbefugt hier aufgehalten«, rechtfertigte sie sich.

»Trotzdem hätten Sie das nicht tun dürfen.« Fassungslos vor Entsetzen schüttelte ich den Kopf. »Er hat doch gar nicht gewildert.«

»Mutter hat sich sehr aufgeregt«, sagte Patty. »Muriel vom Postamt hat uns erzählt, dass es für Bridge Cottage keine Ausgleichszahlung geben wird. Die Bahnstrecke führt nur ein paar Meter an unserer Eingangstür vorbei, und es gibt nichts, was wir dagegen tun können. Er sollte sein Gesicht hier besser nicht mehr zeigen, sonst verfehlt ihn Mutter beim nächsten Mal bestimmt nicht mehr.«

Inzwischen hatte auch meine Mutter ihre Stimme wiedergefunden. »Du liebe Güte. Aber … gut gemacht. Das hat ihm sicher einen tüchtigen Schrecken eingejagt.« Sie lachte nervös.

Joyce murmelte etwas Unverständliches. Ihr Ton klang nicht gerade freundlich.

Wir betrachteten uns argwöhnisch. Irgendwie war es unheimlich – Mütter und Töchter, alle ungefähr im selben Alter.

»Am Donnerstag findet eine Versammlung der Bürgerinitiative statt«, sagte Mum. »Sie sollten kommen.«

Weder Joyce noch Patty antworteten. Joyce knickte den Lauf der Flinte ab und reichte die Waffe ihrer Tochter. Dann setzte sie ihr Vehikel in Gang, und die beiden verschwanden ohne ein weiteres Wort in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

»Du kannst dich glücklich schätzen, dass ich deine Mutter bin«, meinte Mum.

»Das weiß ich und bin es auch.« Und das meinte ich sogar ernst. »Vor allem, weil du keine Schusswaffe hast. Die arme Patty. Stell dir vor, du hättest so eine Mutter.«

»Patty ist genauso schlimm wie Joyce. Sie sind vom selben Schlag.«

»Moment mal. Ist das die Patty, die kürzlich in Honeychurch Hall gearbeitet hat?«

»Ganze drei Wochen lang. Offensichtlich bleibt sie nirgendwo lange, jedenfalls behauptet das Mrs Cropper.«

»Warum?«

»Ihre Mutter braucht sie wohl mehr. Joyce hat ein schwaches Herz, zu hohen Blutdruck und irgendeine neurologische Krankheit. Egal, welche Krankheit dir auch einfällt, sie hat sie sicherlich. Patty arbeitet Teilzeit im Pub, damit sie über die Runden kommen, aber ich glaub nicht, dass sie dort lange bleiben wird.«

Ein Motor erwachte dröhnend zum Leben. Auf der anderen Seite des Tals tauchte über der Hecke das Dach eines metallic-blauen Autos auf und verschwand kurz darauf außer Sichtweite.

»Vermutlich Valentins Wagen«, sagte Mum. »Ich hab noch nie jemanden so schnell humpeln sehen.«

»Tja, da ist die aufblühende Romanze wohl im Keim erstickt worden«, stellte ich trocken fest. »Sollen wir nachsehen, ob auf der anderen Seite tatsächlich so viele Schlehen wachsen, wie er behauptet hat?«

Wir traten durch eine Lücke auf den Reitweg, der auf einer Seite von alten Eichen gesäumt wurde. Vor einem der Bäume lag eine Merrythought-Jerry-Maus mit roter Strickjacke auf dem Boden.

»Mum! Schau dir das an.« Ich hob das Spielzeug auf. »Das ist Ella Fitzgerald.«

»Wo ist dieser freche Junge?« Mum suchte die Gegend mit Blicken ab.

»Harry!«, rief ich. »Wir wissen, dass du dich hier versteckst. Wo bist du?« Offen gestanden war ich besorgt. Harry und Ella Fitzgerald waren unzertrennlich.

Mum und ich lauschten angespannt auf verräterische Geräusche. Schon zum dritten Mal in den vergangenen vier Wochen war Harry aus dem Internat ausgebüxt.

»Harry!«, rief ich erneut. »Wir sind nicht böse auf dich. Wir wollen nur sehen, ob es dir gut geht. Bitte zeig dich.«

Über uns erklang ein Rascheln. Wir legten den Kopf in den Nacken und entdeckten Harry auf einer Holzplattform hoch in der Eiche. Er trug seine Biggles-Montur: Pilotenhaube, Fliegerbrille und einen weißen Schal. Ein Fernglas hing um seinen Hals.

»Geschwaderführer Bigglesworth«, rief ich und grüßte Harrys Alter Ego.

»Ich frage mich, ob Lady Lavinia schon weiß, dass er ausgerissen ist«, flüsterte Mum.

»Was tun Sie denn hier, Sir?«, fragte ich.

»Ich bin auf Beobachtungsposten, Offizier Stanford«, antwortete Harry. »Der Feind ist ganz in der Nähe. Er will eine Flugzeugpiste bauen, aber fürs Erste haben wir ihn verscheucht.«

»Er hat den Schuss wohl mitbekommen.« Besorgt runzelte Mum die Stirn.

»Ist Offizier Fitzgerald bei dir?«, fragte Harry.

»Ja, Sir.« Ich hob die samtige Maus hoch. »Zum Glück geht es ihr gut. Sie hat nur einen kleinen Schock bekommen, weil sie aus dem Baum gefallen ist.«

»Sie ist nicht gefallen! Sie ist runtergeschossen worden.« Grimmig presste Harry die Lippen aufeinander. »Wir brauchen eine bessere Verteidigung.«

»Warum kommen Sie nicht runter und erstatten uns Bericht, Sir.«

Mum verdrehte die Augen. »Ermutige ihn nicht auch noch zu diesem Unsinn.«

»Es ist doch nur ein Spiel, Mum.«

»Unser erster Todesfall«, fuhr Harry fort. »Und es wird weitere geben. Wir müssen Honeychurch beschützen. Stehen Sie mir bei, Stanford?«

»Ja, Sir«, sagte ich und salutierte zackig.

»Gut, denn wir sind jetzt offiziell im Krieg.«

3

»Glaubst du, die Tütenladys sind Doppelagenten?«, fragte Harry, als er von dem Baum geklettert war.

»Tütenladys?«, fragte Mum verwundert.

»Mummy nennt sie die Tütenladys«, erklärte Harry. »Weil sie immer haufenweise Tüten mit sich herumschleppen. Sie sagt, sie leben auf einer Müllkippe.«

»Ach, du meinst Joyce und Patty Gully.« Mum unterdrückte ein Grinsen.

»Ihr Panzer war aber ein Reinfall«, verkündete Harry. »Und die lila Tütenlady ist eine miserable Schützin. Sie hat ja meilenweit danebengeschossen.«

»Das Gewehr ging nur versehentlich los«, sagte ich rasch. »Joyce wusste nicht, dass es geladen ist.«

»Das ist dumm«, stellte Harry fest. »Vater hat mir alles über Waffen beigebracht. Unsere werden in einem verschlossenen Schrank im Waffenzimmer aufbewahrt.«

»Hier ist der verletzte Krieger.« Ich gab ihm die Jerry-Maus, bemüht, das Gespräch auf ein anderes Thema als Waffen zu lenken. »Offizier Fitzgerald wird überleben.«

»Aber was passiert mit den anderen Mäusen, den echten?« Harry kaute besorgt an seiner Unterlippe, und plötzlich war Biggles vergessen. Vor uns stand nun ein sehr bekümmerter kleiner Junge.

»Ich erinnere mich noch gut an die Haselmäuse – von früher«, sagte Mum.

»William hat gesagt, wir müssen sie beschützen, aber wie soll ich das tun, wenn ich in dieser blöden Schule bin.«

»Sicher geht es ihnen gut«, beschwichtigte ich.

»Wenn diese Wälder erst abgeholzt werden, nicht mehr«, fuhr mir Mum in die Parade.

»Pst«, zischte ich.

»Wann kommt William aus dem Himalaja zurück?« Harry sah uns mit großen Augen an.

»Aus dem Himalaja?« Auf die Erwähnung des ehemaligen Stallmeisters waren wir nicht vorbereitet. Wir tauschten einen verwirrten Blick. Ich wusste zwar, dass die Familie den wahren Grund für Williams Abwesenheit – eine Gefängnisstrafe für Totschlag – vor Harry geheim hielt, aber ich hatte nicht nachgefragt, welches Märchen sie ihm stattdessen aufgetischt hatten.

»Mummy sagt, dass William und Vera auf einer Bergexpedition im Himalaja sind und sehr lange wegbleiben werden«, erklärte Harry feierlich.

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Harry machte oft kluge Bemerkungen, die bewiesen, dass er ein ausgesprochen helles Köpfchen besaß. Und dann wiederum gab es Momente wie diesen, in denen er so leichtgläubig wirkte. Das Internat musste für einen sensiblen Jungen wie ihn – mit blühender Fantasie – eine wahre Folter sein. Ich mochte Harry, und es gefiel mir nicht, dass er sich dort nicht wohlzufühlen schien.

»Genug davon«, sagte Mum fröhlich. »Gehen wir nach Hause. Deine Eltern sind bestimmt schon ganz krank vor Sorge.«

Harry schabte mit dem Schuh über den Boden. »Ich gehe nicht zurück, und Sie können mich nicht zwingen!«

»Sei kein Dummkopf«, schimpfte Mum. »Du bist doch schon ein großer Junge.«

»Ich bin sicher, wir finden eine Lösung für das, was auch immer dir Kummer macht«, sagte ich und warf Mum einen finsteren Blick zu.

»Versprochen?«

»Ja. Gehen wir.«

»Du handelst dir nur Ärger ein, Kat«, murmelte meine Mutter.

»Wo ist eigentlich deine Schuluniform?«

»Oh, die.« Harry lief hinter den Baum. Wir hörten ein Rascheln, und wenig später tauchte er in seinem Schuljackett, grauer Hose, gestreifter Krawatte und Mütze wieder auf.

»Geschwaderführer James Bigglesworth hat sich leider in Luft aufgelöst«, sagte er düster.

Ich lachte. »Natürlich nicht. Er hat sich bloß als Harry Honeychurch verkleidet.«

Harrys Miene hellte sich auf. »Ja, genau, das hat er. Ich meine, ja, genau, das habe ich.«

Wir machten uns auf dem Rückweg zum Herrenhaus.

»Wie bist du überhaupt von der Schule hierhergekommen, Harry?«, fragte Mum. Ich hatte mich schon dasselbe gefragt. Das Internat lag gut und gerne fünfzig Meilen entfernt.

»Mit dem Bus. Ich bin ja nicht doof.«

Mum flüsterte mir zu: »Stell dir das mal vor. Er hätte entführt werden können. Das Land ist neuerdings voller Perverslinge.«

»Sei still, Mutter!«, wisperte ich.

»Aber es war nur gut, dass ich geflüchtet bin«, fuhr Harry fort. »Jemand muss den Feind im Auge behalten.«

»Stimmt«, sagte ich.

»Dieser Mann mit dem Hinkebein hatte schon eine Ewigkeit auf euch gewartet.«

»Wie kommst du darauf, dass er auf uns gewartet hat?«, fragte ich scharf.

»Er hat sich hier versteckt und euch eine Weile beobachtet, wie ihr die Schlehen gepflückt habt.« Harry lachte. »Ich habe gesehen, wie du in den Matsch gefallen bist. Du hast Glück gehabt, dass du nicht von Alienwürmern mit piranhascharfen Zähnen aufgefressen worden bist!«

»Ich frage mich, warum er wohl auf uns gewartet hat«, sinnierte Mum.

»Um dich zu sehen, Mum. Er wollte dir doch von dem Güterwagendepot erzählen und die Optionen mit dir besprechen.«

»Was ist ein Depot?«, fragte Harry.

»Lass uns später darüber reden, Mum«, flüsterte ich.

Harrys Augen weiteten sich. »Bewahrt man da Munition und Bomben auf? Wie in einer Fabrik?«

»Nein«, erwiderte ich. »Harry, warum erzählst du mir nicht mehr von den Haselmäusen? Wo leben sie?«

»Oh, im Cavalierhain. Sie leben in Bäumen und Hecken.« Harry strahlte. »William hat gesagt, dass sie von Baum zu Baum wandern können, ohne je den Boden zu berühren. Sie schlafen bis in den April hinein.« Seine Miene verdunkelte sich. »William sagt, sie bauen ihre Nester in hohlen Bäumen und zwischen Wurzeln, aber wo sollen sie denn wohnen, wenn alle Bäume gefällt werden?«

»Das wird nicht passieren«, erwiderte Mum grimmig. »Nicht, solange ich etwas dagegen tun kann.«

»Und was fressen Haselmäuse so?«, fragte ich in der Hoffnung, ihn abzulenken.

»Insekten«, antwortete Harry. »Am liebsten aber Haselnüsse.«

Während Harry fröhlich über die Haselmäuse von Honeychurch plauderte, schlenderten wir zum Zauntritt am Rande der Weide. Eine ganze Weile waren »der Feind« und das Internat vergessen.

Plötzlich tauchte eine Herde Devonshire-Red-Ruby-Kühe mit ihren Kälbern vor uns auf.

»Kühe.« Eindringlich sah ich Mum an. »Wusste ich’s doch, dass auf dieser Weide Kühe stehen.«

»Oh, schnell. Beeilt euch!« Harry kletterte über den Zauntritt. »Ich weiß von William, dass Kühe mit Babys es gar nicht mögen, wenn jemand auf der Weide ist. Er hat mir erzählt, dass ein Urlauber im vergangenen Sommer bei einem Spaziergang mit seinem Hund zu Tode getrampelt worden ist.«

»Das ist ja schrecklich!«

»Ich hab auch davon gehört«, sagte Mum. »Offensichtlich ist der Mann in Panik geraten und davongelaufen. Man soll vor Kühen nie davonrennen, vor allem nicht, wenn sie Kälber haben.«

»Sprach das Mädchen vom Land«, scherzte ich, während ich meiner Mutter über den Zauntritt half und wir beide auf der anderen Seite heruntersprangen.

»In meiner Kindheit habe ich jeden Sommer auf dem Land verbracht, vergiss das nicht«, verkündete Mum.

»Die Kühe sind in Panik geraten«, erzählte Harry genüsslich weiter. »In null Komma nix war er von einer Million Kühe umrundet, die über ihn getrampelt sind, bis ihm die Arme und Beine abgefallen sind und seine Eingeweide durch die Gegend spritzten.« Harry seufzte tief auf. »Aber ich würde mich auch lieber zertrampeln lassen, als zurück zur Schule zu gehen.«

»Sag mir mal, was dir an der neuen Schule gefällt«, bat ich.

»Nichts.«

»Irgendwas muss dir doch gefallen«, beharrte Mum.

»Du wirst sicher bald Freunde finden. Niemand ist gern der neue Junge.«

»Das werde ich nicht. Ich hasse es dort. Die machen sich alle lustig über mich.« Harrys Oberlippe zitterte. »Sie haben mich ein Weichei genannt, weil ich meine Spielzeugmaus mitgenommen habe.«

»Ich wette, manche von ihnen haben auch heimlich Spielzeuge dabei, sind aber nicht mutig genug, um das zuzugeben«, versuchte ich ihn aufzumuntern.

Harry ergriff meine Hand. »Du hast mir versprochen, dass ich nicht zurück muss.«

»Ich habe dir ja gleich gesagt, du sollst dich raushalten«, zischte mir Mum zu.

»Und wenn du die Schule wechselst?«, schlug ich vor und wusste im selben Moment, dass ich einen Riesenfehler begangen hatte.

Harrys Gesicht leuchtete auf. »Ja, gute Idee. Ich könnte in die Dorfschule gehen – wie mein Freund Max. Dann könnte ich jeden Tag nach Hause kommen!«

»Tja, das müssen deine Eltern entscheiden«, meinte ich hastig.

»Wirst du Mummy fragen? Bitte, Kat, bitte!«

Inzwischen waren wir im gepflasterten Stallhof des Herrenhauses angekommen und liefen in Richtung des Dienstboteneingangs.

»Himmel, hier hat aber einer fleißig aufgeräumt«, stellte Mum fest.

Sie hatte recht. Das übliche wilde Durcheinander aus alten Landmaschinen, Holz, verrostetem Eisen und bergeweise Müll war beseitigt und in einen großen Container geworfen worden, der in der Ecke stand.

Harry fing an zu trödeln. »Kann ich nicht bei dir wohnen? Vater wird wütend sein.«

»Nicht wütend, nur besorgt«, erwiderte ich. »Komm schon, wir begrüßen zuerst Mrs Cropper. Vielleicht macht sie dir einen heißen Kakao und etwas zu essen. Du musst doch am Verhungern sein.«

»In Ordnung«, flüsterte Harry und drückte meine Hand noch fester.

Wir traten durch die Hintertür und blieben überrascht stehen.

»Offenbar war die fleißige Biene auch hier!«, rief ich.

Der lange Steinboden im Flur, der zur Küche führte, war immer voller Schmutz und Spinnweben gewesen. Davon gab es nun keine Spur mehr. Selbst die gelben Wände waren frisch gewaschen.

»Was stinkt hier so?«, fragte Harry.

Tatsächlich lag der Geruch von Desinfektionsmitteln in der Luft und trieb uns die Tränen in die Augen.

»Wenn ich zwischen Eau de Morast und Eau de Desinfektionsmittel wählen könnte, würde ich jederzeit das Letztere vorziehen«, sagte Mum.

»Schaut mal!«, rief Harry. »Alle Türen zum Kerker stehen offen. Die Gefangenen sind bestimmt entkommen.«

Im Korridor reihten sich zahlreiche Türen aneinander, hinter denen sich Vorratskammern für Fleisch, Milchprodukte und Fisch befanden. Es gab ein Blumenzimmer, eine Speisekammer und ein Lampenzimmer. Der ehemals düstere Korridor erstrahlte nun in fröhlicher heller Frische.

Wir schauten in die erste Kammer – die Speisekammer. Am anderen Ende des rechteckigen Raums befand sich ein Fenster, vor dem ungepflegte Büsche aufragten. Es war zwar immer noch düster, aber Boden, Wände – sogar die Decke – sahen geschrubbt aus. Die tönernen Töpfe standen ordentlich aufgereiht im Regal. Und auch auf der massiven Kommode, die fast eine ganze Wand einnahm, fand sich kein Staubkorn mehr.

»Mrs Cropper hat wohl doch noch eine Haushälterin gefunden«, überlegte Mum. »Ich frage mich, ob sie aus dem Dorf kommt.«

Manche Familien arbeiteten schon seit Generationen in Honeychurch Hall als Dienstboten, falls man diese Bezeichnung in unserer modernen Zeit überhaupt noch verwenden sollte. Nach Veras sogenanntem »unglücklichen Unfall« hatte Mrs Cropper brummig gemurmelt, dass es so gut wie unmöglich sei, jemanden mit der richtigen »Ausbildung« zu finden.

Ein paar Aushilfen aus Little Dipperton waren ihr tagsüber zur Hand gegangen – Patty Gully war eine davon gewesen. Aber keine war länger als zwei oder drei Wochen geblieben.

Harry rannte zwischen den Zimmern hin und her und rief: »Das ist übel!«

»Die Stimme kenne ich doch!« Mrs Cropper tauchte am Ende des Korridors auf. »Ist das Master Harry?«

Sie trug ihre übliche Tracht, eine rosa gestreifte Schürze über einem weißen kurzärmeligen Leinenkleid und dazu eine weiße Haube, unter der ihr graues Haar hervorlugte.

»Die Schule hat heute Morgen angerufen, dass du schon wieder weggelaufen bist«, sagte sie streng. »Seine Lordschaft und Lady Lavinia warten mit Shawn im Salon auf dich.«

Obwohl der örtliche Detective Inspector Mr und Mrs Croppers Enkel war, konnte ich mich einfach nicht daran gewöhnen, dass ihn hier alle beim Vornamen nannten.

Harry zog eine Grimasse. »Ich geh da nicht wieder hin. Niemals.«

»Das hast nicht du zu entscheiden«, erwiderte Mrs Cropper.

»Kat sagt, ich könnte auf dieselbe Schule gehen wie Max.«

Mrs Cropper warf mir einen bösen Blick zu. »Tut sie das?!«

»Wusstest du, dass die Tütenladys heute fast einen Mann erschossen hätten?«, erzählte Harry sensationsfreudig.

Mrs Croppers Augen weiteten sich vor Schreck. »Wovon redet Master Harry da?«

»Ganz so war es nicht«, beschwichtigte ich.

»Oh doch, war es«, fiel mir Mum in den Rücken. »Dieser verabscheuungswürdige Mensch hat das Gelände unbefugt betreten, und Joyce hat ihm mit ihrer Flinte Beine gemacht.«

Harry nickte eifrig. »Auf dem Schild steht schließlich auch, dass Unbefugte bestraft und Wilddiebe erschossen werden.«

»Er war aber kein Wilddieb, Harry«, entgegnete ich. »Meine Mutter übertreibt. Die Flinte ging versehentlich los.«

»Was wollte dieser Unbefugte denn?«, fragte Mrs Cropper.

»Eine Landebahn für Flugzeuge bauen«, antwortete Harry. »Überall stehen große schwarze Schilder mit der Aufschrift HS3 verläuft hier.«

»Operation Bullet, nehme ich an«, sagte Mrs Cropper grimmig. »Na ja, genug davon. Komm mit, Master Harry …«

»Moment noch, den hätten wir fast vergessen.« Mum reichte ihr den Korb mit den Schlehen.

Mrs Cropper nahm ihn in eine Hand und Harry an die andere. »Komm schon, Harry. Dein Vater wird mit dir reden wollen.«

Harrys Miene trübte sich. Er wirkte so bekümmert, als laste das Gewicht der ganzen Welt auf seinen kleinen Schultern. »Vergiss nicht, mir zu schreiben, Kat.«

»Und du vergiss nicht, mir zu schreiben. Ich bekomme gern Post von dir.«

Mrs Cropper schleifte Harry mit sich.

»Ich hoffe, es wird ihm gut gehen.«

»Ich würde ja zu gern ein wenig in diesen alten Vorratskammern herumschnüffeln.« Mum reckte neugierig den Hals. »In Verboten gibt es eine Szene, die in einer Vorratskammer spielt.«

»Hoffentlich keine Liebesszene. Aber haben wir das Manuskript nicht schon eingereicht?«

»Wir?«, fragte Mum. »Wir haben das Manuskript eingereicht?«

»Ohne meine Schreibmaschinenfertigkeiten hättest du es wohl kaum beenden können.«

»Beenden? Es ist noch lange nicht fertig«, schnappte sie. »Das Einreichen des Manuskripts ist ja nur der Anfang. Mein Lektor schickt mir sicher bald seine Anmerkungen. Eigentlich hätte ich sie schon gestern bekommen sollen.«

»Ich dachte, du schickst es ein, und das war’s.«

»Natürlich nicht! Es ist ein langwieriger Prozess. Keine Fließbandarbeit.«

Ich wusste, dass ich einen wunden Punkt getroffen hatte, aber mir blieben weitere Erklärungen erspart, denn eine Frau Anfang dreißig trat aus einer der Speisekammern, einen Eimer mit Schmutzwasser in der Hand. Sie trug ein graues Kleid und eine wasserfeste Fleischerschürze. Eine schwarze Locke, die ihrer hübschen Haube entflohen war, fiel ihr in die Stirn. Sie war sehr hübsch, mit herzförmigem Gesicht und großen braunen Augen.