Schatten über Jütland - Jonas W. Bentsen - E-Book

Schatten über Jütland E-Book

Jonas W. Bentsen

0,0
6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein dunkler Schwur. Ein Mörder ohne Gnade. Und eine Vergangenheit, die tödlich zurückkehrt. Ein rätselhafter Suizid in Deutschland ruft Kommissar Roland Schwarz auf den Plan – doch bald ist klar: Es war Mord. Zur gleichen Zeit stößt Ermittlerin Adalena Jacobsen in Dänemark auf einen Cold Case, der sich auf erschreckende Weise mit seinem Fall verknüpft. Ein altes Gruppenfoto, ein verschwundener Mann – und eine Spur, die tief in die Vergangenheit führt. Was geschah damals im Wald von Klosterheden? Als ein skrupelloser Journalist geheime Informationen in die Hände bekommt, beginnt für Jacobsen und Schwarz ein tödliches Rennen gegen die Zeit. Gemeinsam ermitteln sie im beschaulichen Jütland. Schnell merken sie: Die Schatten der Vergangenheit sind längst nicht vergessen und fordern ihren Tribut – erbarmungslos. Und die entscheidende Frage ist: Wer wird das nächste Opfer sein? Ein fesselnder Dänemark-Krimi über Schuld, Rache und die Gespenster der Vergangenheit, die ihre Opfer heimsuchen. 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Schatten über Jütland

Jonas W. Bentsen ist das Pseudonym von Wolfgang Breitkopf. Er ist geboren am 8. Juli 1966 in Plochingen, arbeitet und lebt in Stuttgart. Im Jahr 2004 begann er mit dem Schreiben von Kurzgeschichten und Märchen und liebt es, auf diese Weise seiner Kreativität Raum zu geben. Seine Freizeit verbringt er mit Schreiben und Reisen, wobei besonders die nördlichen Gefilde Europas es ihm angetan haben.

Jonas W. Bentsen

Schatten über Jütland

Ein Dänemark-Krimi

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Originalausgabe bei Ullstein eBooksUllstein eBooks ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin April 2025© Ullstein Buchverlage GmbH, Friedrichstraße 126, 10117 Berlin 2025Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Bei Fragen zur Produktsicherheit wenden Sie sich bitte an [email protected]: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © Wolfgang BreitkopfE-Book powered by pepyrusISBN978-3-8437-3521-6

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.

Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

35.

36.

37.

38.

39.

40.

41.

42.

43.

44.

45.

46.

47.

48.

49.

50.

51.

52.

53.

54.

55.

Danksagung

Leseprobe: Dänische Dunkelheit

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

1.

1.

1994: Dänemark

Nass vom Regen schlängelte sich der geschotterte Weg wie ein Band durch den Wald. Er glitzerte im schwindenden Tageslicht und lud den einsamen Fußgänger ein, ihm zu folgen. Eine Einladung, obwohl für Norman Frick das Licht am Ende des Tunnels seit einer gefühlten Ewigkeit erloschen war. Mächtige Rotfichten und Kiefern warfen lange Schatten und vermittelten den Eindruck eines düsteren Tunnels.

Sein Auto stand auf dem nahe gelegenen Parkplatz. Er benötigte es nicht mehr. In der Ferne konnte er bereits die Hütten erahnen, die als Grillplatz dienten. Für einen Junitag herrschten ungewöhnlich kühle Temperaturen. Ihn fröstelte. Sogar die ansonsten unvermeidbaren Jogger und Spaziergänger zogen bei dieser schlechten Witterung das gemütliche Zuhause vor. Niemand weit und breit, der ihn bei seinem Vorhaben störte.

Die schwarze Sporttasche wog schwer und drückte unangenehm auf seine Schulter. An einer Wegkreuzung hielt Norman keuchend inne. Die Lunge schmerzte bei jedem Atemzug.

Starrsinnig hatte er das Unvermeidliche hinausgezögert, doch es existierte keine Aussicht auf eine lebenswerte Zukunft, fern von Qual und Elend, für die es sich zu leben lohnte. Zuerst hatte ihn der Arbeitsplatzverlust ereilt. Dann die Krebsdiagnose. Zuletzt der Unfalltod Marits, die ihm fünfundzwanzig Jahre zur Seite gestanden hatte. Innerhalb zweier Jahre hatte er alles verloren, das ihm einst Halt gegeben hatte. Arbeit, Gesundheit und seine geliebte Ehefrau. Die Zeit für den finalen Akt war gekommen.

Heute war sein fünfzigster Geburtstag, den er allein mit sich zu feiern gedachte.

Rechts von sich sah er an einer Feuerstelle Rauch aufsteigen. An dem kleinen Unterstand lehnten Fahrräder. Jugendliche mit Bierflaschen in den Händen umringten die lodernden Flammen. Sie ignorierten den Passanten.

Mit wackligen Beinen schlurfte Norman weiter. Nach hundert Metern schlug er sich in die Büsche. Da das Tageslicht verschwunden war, vermochte Norman die Umgebung nur undeutlich zu erkennen. Egal! Er kannte den Weg. Dutzendmal war er ihn abgegangen. Die sorgsam ausgesuchte Stelle fand er problemlos wieder. Er öffnete den Reißverschluss seiner Sporttasche, entnahm ihr ein Seil und einen wegen der feuchten Witterung laminierten Brief. Ob die wenigen Zeilen jemanden interessierten, spielte für ihn keine Rolle mehr. Es war ihm vor allem darum gegangen, sich alles von der Seele zu schreiben.

Er holte eine rostige Petroleumlampe heraus und platzierte sie vor sich. Mit zittrigen Fingern hielt er ein Feuerzeug an den Docht. Kurz darauf tanzte unstetes Licht auf dem Waldboden. Ein letztes Mal wollte er einen Blick auf das Foto seiner geliebten Frau werfen.

Norman warf das Seil über den Ast einer hoch aufragenden Buche. Beim dritten Versuch funktionierte es. Er schlang das Ende um einen Baumstamm, verknotete es und steckte dann das Schriftstück in die Manteltasche. Mit Mühe stieg er auf einen Baumstumpf, streifte sich die Schlinge über den Kopf und zurrte sie fest.

Eine letzte Zigarette trotz des Stechens in der Brust. Ein Genuss! Einige Minuten stand Norman mit einem verträumten Lächeln regungslos da. Er nahm Abschied. Ein beherzter Schritt, und das Leid verging.

Sein Genick brach nicht. Er zappelte wie ein Fisch am Haken. Nach Luft japsend. Schließlich begann sein Bewusstsein zu schwinden. Das Einzige, was er noch wahrnahm, waren die vor Aufregung glänzenden Augenpaare, die ihn wie ein aufgespießtes Insekt ungerührt betrachteten. Wohltuende Finsternis legte sich auf seinen Geist.

2.

2025: Deutschland, Polizeipräsidium Stuttgart

Wie die Maus die Schlange betrachtete Kriminalhauptkommissar Roland Schwarz das eindringlich summende Telefon. Seine Motivation lief auf einen historischen Tiefpunkt zu, was nur teilweise an dem vom weinseligen Vorabend brummenden Schädel lag.

Die Träume von Verbrecherjagd im Stile eines Filmhelden waren mit Mitte vierzig längst ausgeträumt. Die Realität hielt Einzug. Bei der Arbeit und desgleichen im Privaten. Die Erkenntnis, dass der Arbeitsalltag zunehmend aus Verwaltungstätigkeiten, Personalführungsaufgaben und damit einhergehenden Papierbergen bestand, machte ihm zu schaffen. Es mangelte an neuen Herausforderungen.

Derzeit Junggeselle, fehlte zudem eine Partnerin zum Austausch. Regelmäßige Freizeitaktivitäten wie Radfahren, Konzerte oder ausgedehnte Spaziergänge im Freien waren Jahre her. Damals gab es noch eine Freundin, danach einen Hund. Den vermisste er, die frühere Liebschaft weniger. Sam, sein Golden Retriever, hatte sein Recht auf Gassigehen beharrlich bei jedem Wetter eingefordert. Förderlich für die Gesundheit des Herrchens, meinte zumindest der vierbeinige Herr des Hauses. Jetzt traf eher die Beschreibung »Couchtiger« auf Roland zu. Skatrunden und Zechtouren mit den Kollegen hoben die Stimmung lediglich vorübergehend. Bis zum nächsten Morgen. Dann schlugen die Nachwirkungen zu. Die Saufgelage steckte er nicht mehr so einfach weg und musste anschließend tagelang dafür büßen.

Sam, die letzte Bastion gegen die Vereinsamung und Verfettung der Herzkranzgefäße, war vor über einem Jahr während eines Dänemarkurlaubs grausam zu Tode gekommen. Ein verblendeter junger Mann hatte ihn erschlagen. Zuvor hatte Roland zufällig eine Frauenleiche entdeckt und eigentlich die Absicht verfolgt, sich aus den Ermittlungen der dänischen Polizei herauszuhalten. Erst der Tod Sams hatte ihn dazu bewogen, im Umfeld des Campingplatzes Nachforschungen anzustellen. Womit der feige Mörder Sams, das Gegenteil von dem erreicht hatte, was in seiner Absicht lag: Roland genau davon abzuhalten. Roland verdrängte stets die Gedanken an Sams Tod. Öfter dachte er dagegen an Lena, Adalena Jacobsen, eine dänische Kommissarin, die er bei dieser Gelegenheit kennengelernt hatte. Ihr waren die Ermittlungen zum Fall der toten Frau, die er in den Dünen entdeckt hatte, übertragen worden. Die gemeinsame Mörderjagd hatten sie erfolgreich bestritten und wurden dadurch zusammengeschweißt. Eine tiefe Freundschaft war daraus entstanden, vielleicht sogar Liebe.

Zurück in Deutschland, wurden der Entfernung geschuldet die Schmetterlinge im Bauch jedoch allmählich zu scheuen, farblosen Nachtfaltern. Der Alltag überlagerte das Gefühl verliebt zu sein. Ab und an telefonierte er mit Lena. Sobald er mit ihr sprach, erwachte umgehend wieder die alte Vertrautheit. Trotz aller weltanschaulichen Gegensätze. Für dieses Jahr existierte der unumstößliche Entschluss, sie in ihrer Heimat zu besuchen. Er nahm sich vor, Lena bald wieder einmal anzurufen.

Ohne Begeisterung vertiefte er sich in die vor ihm liegenden Akten. Roland verfluchte jedes einzelne Blatt, das ihn daran hinderte, einen frühen Feierabend zu genießen.

»Willst du nicht rangehen?«, unterbrach eine Stimme seine Überlegungen.

Roland schaute Kriminaloberkommissar Michael Weiland missmutig an. Tatsächlich summte und blinkte vor ihm das Telefon. Wer zum Teufel störte so penetrant? Unwillig griff er zum Hörer und meldete sich mit seinem Namen. »Roland Schwarz.«

»Polizeiobermeister Roflik hier«, tönte es ihm entgegen.

Das laute Organ des Gesprächspartners führte unvermittelt dazu, dass das unangenehme Pochen in seinem Kopf anschwoll. »Wie kann ich helfen?«, erwiderte Roland.

»Wir brauchen euch. Wir wurden in die Heidehofstraße gerufen. Überquellender Briefkasten, komischer Geruch, seit Tagen wurde niemand gesehen.« Roflik stockte einen Moment. »Wir haben den Bewohner gefunden. Hängt da schon eine Weile. Ein unschöner Anblick.«

»Was hat das mit der Mordkommission zu tun?«

»Na ja. Sieht aus, als hätte er sich selbst erhängt. Aber …«

Roland klopfte ungeduldig mit den Fingerknöcheln auf die Schreibtischunterlage. »Was?«

»Es ist seltsam.«

»Was ist seltsam?«

»Na alles! Das sollte sich jemand von euch ansehen. Ich habe mir schon mal erlaubt, die Kriminaltechnik zu informieren.«

Wer auch immer dieser ominöse »jemand« sein sollte, Roland verspürte kein Verlangen danach, Roflik jedes Wort aus der Nase zu ziehen. Er würde einfach hinfahren. Um diese Aufgabe kamen sie ohnehin nicht herum.

»Wir sind auf dem Weg«, kündigte er mit einem Seufzen an und legte auf. Einen Moment dachte er darüber nach, wen er entbehren und hinschicken könnte. Sie waren chronisch unterbesetzt. Noch etwas, das ihm auf den Magen schlug.

Roland witterte die Gelegenheit, den Aktenstapeln und unerledigten Berichten für ein paar Stunden zu entfliehen. Sollte es sich als Selbstmord herausstellen, würde er den unweigerlich folgenden Papierkram an einen Mitarbeiter abdrücken. Er bat seinen Kollegen Michael Weiland, seine Jacke zu holen.

Auf Weilands erstaunte Miene hin erklärte er: »Eine Leiche. Selbstmord oder nicht, ist die Frage. Roflik ist überfordert. Wir nehmen das höchstpersönlich unter die Lupe. Ein Ausflug in den Stuttgarter Osten ist doch eine hübsche Abwechslung.«

Roland schätzte an Weiland, dass er sich abgewöhnt hatte, die Beweggründe seines Chefs ergründen zu wollen, sofern er sich dafür entschied, einen Fall selbst in Augenschein zu nehmen.

Die Fahrt verlief wortkarg.

Mit seiner eigenbrötlerischen und mürrischen Art stellte Roland das Musterbild eines schwäbischen »Bruddlers« dar, der ständig damit beschäftigt ist, zu nörgeln und sich über Kleinigkeiten aufzuregen, was ihm aber durchaus bewusst war. Weiland hingegen war kommunikativ und weltoffen. Sie ergänzten sich bestens. Der junge Beamte stammte aus einer dreißig Kilometer von Stuttgart entfernten kleinen Gemeinde, bemühte sich aber im Gegensatz zu Roland, den Dialekt im Zaum zu halten. Man hörte ihm seine Herkunft selten an. Weiland hielt es als Person im Staatsdienst für angebracht, sich in einigermaßen verständlichem Deutsch auszudrücken.

Unnötig, urteilte Roland, zumal auf ihrer Dienststelle ohnehin »Multikulti« herrschte. Ein Bayer, ein Mitarbeiter mit türkischen Wurzeln und sogar ein Badener verstärkten das Team. Die Zusammenarbeit funktionierte seines Erachtens gut, auch ohne sich sprachlich zu verrenken. Rolands Überzeugung nach trotz und nicht wegen der zahllosen Fortbildungen zu Gender, Inklusion, einfacher Behördensprache und Diversität, die sie über sich ergehen lassen mussten. Moderner Schnickschnack. Aber vielleicht hauste er schon zu lange allein und entwickelte deshalb eigentümliche Verhaltensweisen nebst der Tendenz, Veränderungen aus tiefstem Herzen zu verabscheuen. Weiland behauptete oft, er sei seit dem Dänemarkurlaub im vorigen Jahr umgänglicher geworden. Zumindest vorübergehend, bis alte Gewohnheiten erneut Oberwasser bekamen. Roland hatte diese Feststellung mit eisiger Stille quittiert.

Erst als sie am Ziel ankamen und vor dem Haus hielten, brach Weiland das Schweigen: »Schickes Anwesen.«

Roland enthielt sich einer Antwort, stimmte aber innerlich zu. Sie befanden sich in einer der noblen Villengegenden Stuttgarts, der Gänsheide, die fast unberührt von den Bausünden der Nachkriegszeit war. Die Fenster im dritten Stock des Prachtgebäudes aus der Zeit der Jahrhundertwende und die Haustür präsentierten sich weit geöffnet. Auf der Straße tummelten sich Polizei, ein Krankenwagen und die unvermeidlichen Schaulustigen. Die beiden Beamten stellten den Wagen am Straßenrand ab. Sie drängten sich durch das Gewimmel und folgten den Treppen inmitten eines schmucken Vorgartens hinauf zum Eingangsportal. Im Treppenhaus schlug ihnen ein sanfter Windhauch entgegen, der den stechenden und unangenehmen Geruch von Verwesung mit sich brachte.

Der leitende Rechtsmediziner Franz Linder kam auf sie zu. Er trug einen hellen Schutzanzug und deutete grußlos nach oben. »Wir sind so weit fertig. Ihr könnt rein.«

»Wartest du auf uns? Wir verschaffen uns vorab einen Eindruck.«

Linder nickte, kramte eine Packung Zigaretten aus der Tasche und verließ das Gebäude.

Roland und Weiland betraten die Wohnung. Ein Altbau mit hohen Decken empfing sie. An den Wänden hingen Ölgemälde, die Möblierung war geschmackvoll und erlesen. Die echten Holzdielen knarzten bei jedem Schritt. Am Ende der Diele befanden sich zwei cremefarbene Flügeltüren und dahinter ein riesiger Raum, offenbar das Wohnzimmer. In dessen Mitte hing der Tote an einem in der Decke verankerten Metallhaken. Ein gigantischer Strauß weißer Lilien lag sorgsam drapiert unter der sanft hin- und herschwingenden Leiche.

Innerhalb einer Minute verschaffte sich Roland einen Überblick. Er konnte keine offensichtlichen Verletzungen ausmachen. Auf ihn wirkte der Raum keineswegs wie der Ort eines Suizids, sondern glich einer geschmückten Leichenhalle. Liebevoll dekoriert, geradezu penibel ordentlich. Eines fiel sofort ins Auge: die Abwesenheit eines Stuhls oder einer anderen Möglichkeit, zur Decke hinaufzugelangen, um das Henkersseil einzuhängen. Der einzige Tisch stand mindestens zwei Meter seitlich des baumelnden Körpers.

Roland schaute zu Polizeiobermeister Roflik hinüber, der stumm in einer Ecke des Raumes ausharrte und unglücklich aussah.

»Fehlt irgendetwas? Gibt es Einbruchsspuren?«

Der Polizeiobermeister antwortete ohne Zögern: »Kaum zu überprüfen. Es gab weder durchwühlte Schubladen, noch wurde der Safe angetastet, und auch Türen und Fenster sind unbeschädigt.«

Roland sah Weiland an.

Der zuckte mit den Schultern: »Na ja, der wird wohl kaum vom Tisch aus zirkusreif mit einem Satz in die Schlinge gesprungen sein. Was haben wir über ihn?«, wandte er sich an Roflik.

Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Ferdinand Kohler wäre in zwei Wochen fünfzig geworden. Wohnt seit über zehn Jahren hier. Von Beruf Kochbuchautor. Ledig. Eltern verstorben. Keine Informationen zu näheren Angehörigen oder Freunden. Kein Abschiedsbrief. Die Wohnung im mittleren Geschoss steht leer, aber die Nachbarn aus dem Parterre sind ihm das letzte Mal vor ungefähr zehn Tagen begegnet. Ihnen ist nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Herr Kohler lebte wohl zurückgezogen, bekam selten Besuch, deswegen haben sie sich lange keinen Kopf gemacht.«

»Das ist jede Menge«, lobte Michael Weiland. »Sehr merkwürdig. Vor allem dieses Arrangement aus Blumen«, sagte Weiland. »Wobei lebensmüde Menschen erfahrungsgemäß die absonderlichsten Anwandlungen haben. Trotzdem, meines Erachtens scheidet ein einsamer Suizid im stillen Kämmerchen aus. Jemand muss ihm geholfen haben. Die spannende Frage ist, ob diese Person ihm lediglich dabei half, sein Vorhaben zu verwirklichen oder aktiv nachhalf? Andererseits, was kann ein Kochbuchautor für Feinde haben? Es scheint kein Raubüberfall gewesen zu sein.«

Roland bekundete mürrisch Zustimmung. Eine Minute später traten sie vor das Haus. Vogelgezwitscher schallte ihnen entgegen. Der betörend süße Duft von Fliederblüten, die den Frühling ankündigten, kitzelte in Rolands Nase. Ganz so als ob die Natur den Schrecken konterkarieren wollte. »Hören wir uns an, was unser Rechtsmediziner zur Auflösung beiträgt«, schlug er vor.

Franz Linder erwartete sie mit einer Zigarette im Mundwinkel. Anscheinend hatte er die Bemerkung aufgeschnappt. Er setzte ein schräges Lächeln auf. »Jedem sein Hobby. Apropos Hobbys. Kochen ist eine wundervolle Beschäftigung. Vielleicht ist einem Leser ein Rezept im Halse stecken geblieben.« Er kicherte.

Roland verdrehte die Augen. Wobei Linder natürlich den Nagel auf den Kopf traf. Ein Schreiberling schien auf den ersten Blick aufgrund des beruflichen Umfeldes kaum prädestiniert für einen Mord. Dass es sich um Mord handelte, verriet ihm sein Bauchgefühl. Obgleich er eine Tötung auf Verlangen noch nicht ausschließen konnte. »Spuck schon aus, was du zu sagen hast«, drängte er.

Linder ließ sich Zeit und nahm einen tiefen Zug, bevor er die halb gerauchte Zigarette mit dem Finger achtlos in die Botanik schnippte. »Ich möchte die eigentümliche Grabgesteck-Komposition nicht bewerten. Das ist eure Spielwiese. Zweifellos hängt dieser Kohler bereits einige Tage am Haken. Es fehlen auf den ersten Blick Verletzungen, die darauf hindeuten, dass ihn jemand gegen seinen Willen aufgehängt hätte. Trotzdem ist ein Detail auffällig. Am Hals gibt es eineklare, scharf umrissene Druckspur des Strickes. Das ist ungewöhnlich, da er meiner Ansicht nach erstickt ist und nicht an Genickbruch starb.«

»Wieso?«, hakte Weiland nach.

»Es passiert häufiger, dass das Genick standhält und der Tod nicht sofort, sondern durch die Strangulation eintritt. Ersticken dauert ein Weilchen. Selbst wenn ein Mensch aus freien Stücken den Tod sucht, meldet sich, laienhaft für euren geistigen Horizont gesprochen, kurz vor dem Tod oder dem Bewusstseinsverlust der Überlebensinstinkt. Panik kommt auf, Adrenalin wird ausgeschüttet. Man kämpft gegen den Tod an. Das läuft unkontrolliert und ungewollt ab. Wenn sich der Sterbende bewegt hätte, müssten die Verletzungen auf der Haut anders aussehen, es wären deutlichere Abschürfungen zu finden. Da die Leiche in schlechtem Zustand ist, kann ich es sicherer beurteilen, sobald sie bei mir auf dem Tisch liegt. Entweder verfügte er über eine extreme Selbstkontrolle oder …«

»Oder er war außer Gefecht, und jemand erledigte es freundlicherweise für ihn«, vollendete Roland den Satz.

Linder nickte.

»Fahren wir in die Dienststelle und begeben uns an die Arbeit?«, erkundigte sich Weiland.

»Ja«, bestätigte Roland. »Da steht uns ausnahmsweise ein reizvoller Fall bevor. Fangen wir damit an, im Leben unseres Opfers herumzustochern.«

3.

2025: Deutschland, Stuttgart, Schlossgarten

Mühsam schälte sie sich aus ihrem Schlafsack. Sie war zu alt für diesen Mist. Zehn Jahre auf der Straße. Zehn Jahre Kälte, nicht wissen wohin, Armut. Vielleicht wäre es sinnvoll, die Offerte des Sozialarbeiters anzunehmen, der ihr einen Platz in einer Sozialpension angeboten hatte. Doch sie wollte ihre Freiheit keinesfalls gegen die Enge einer überfüllten Notunterkunft eintauschen.

Rosa, so nannten sie hier alle. Ihr eigentlicher Name, Rosalinde, hatte längst an Bedeutung verloren. Eine flüchtige Erinnerung an bessere Tage, die verblasste. Sie schraubte die Flasche billigen Fusels auf, die sie über Nacht an ihrem Körper verwahrt hatte. Ein kräftiger Schluck brachte die Lebensgeister wieder zum Erwachen. Die leere Flasche flog in hohem Bogen in einen Busch. Rosa stützte sich an der Betonwand in ihrem Rücken ab und erhob sich. Um diese Tageszeit war der Schlossgarten nahezu menschenleer. Die wenigen Menschen, die sie entdeckte, waren auf dem Weg zur Arbeit. Arbeit. Noch so ein Begriff, der nur noch eine entfernte Erinnerung darstellte.

Wohlbehütet aufgewachsen, hatte sie das Abitur absolviert und anschließend eine Ausbildung zur Medizinisch-technischen Assistentin gemacht. Doch dann kamen falsche Freunde, zu viele Partys, Cocktails und Drogen. Rebellion gegen das normale, spießbürgerliche Leben. Eins führte zum anderen. Es folgten der Absturz und die Entzweiung mit ihrer Familie. Ihre Eltern starben bei einem Verkehrsunfall ohne eine vorherige Aussöhnung. Psychiatrische Behandlungen schlossen sich an ihren Tod an, obwohl die Familienbande schon lange gekappt waren. Entgiftungen und Entzug. Zurück im Alltag dann weitertrinken, um zu vergessen. Harte Drogen kamen ins Spiel. Sie verlor ihren Job. Danach ihre Wohnung. Mit ihrer Schwester, die in Dänemark lebte, hatte sie zwar sporadisch telefonischen Kontakt, gesehen hatten sie sich aber seit vielen Jahren nicht mehr. Selbst aus der Ferne sorgte sich ihre Schwester um sie, kam aber gegen die Verlockung des Alkohols nicht an. Ihr Bekanntenkreis reduzierte sich auf die anderen Wohnungslosen, mit denen sie sich die Schlafplätze und den billigen Schnaps teilte.

Erst als sie sich mit einigen Euros und einem gebrauchten Schlafsack auf der Straße wiederfand, begriff sie, in welche Situation sie sich hineinmanövriert hatte. Ein Schock, der die Gespenster der Vergangenheit wieder an die Oberfläche spülte. Der Verlust jeglicher Hoffnung und Perspektive ging damit einher und quälte sie. Jede Stunde, die sie auf der kalten Straße verbrachte, verstärkte das Gefühl der Ausweglosigkeit.

Es war an der Zeit für ein zweites Frühstück. Rosa steuerte zielstrebig auf die Mülleimer der fest installierten Grillplätze zu. Sobald tagsüber die Sonne herauskam, wurde dort gefeiert, oft bis in die Nacht. Der Abfall blieb zurück. Gute Aussichten, eine angebrochene Weinflasche oder gegrillte Würste aufzustöbern, die niemand mit nach Hause nehmen wollte. Mit einem Stock stocherte Rosa in dem größten Müllhaufen herum, als es ihr plötzlich eisig den Rücken hinunterlief, was in letzter Zeit häufiger passierte. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass jemand sie beobachtete. Rosa blickte sich hektisch um, entdeckte aber nichts Verdächtiges. Ein paar Passanten, ein Jogger und eine ältere Frau mit Kinderwagen. Eine Alltagsszene. Dennoch, irgendetwas fühlte sich verkehrt an. Sie konnte nur nicht benennen, was es war. Einen Augenblick lang klebte ihr Blick an dem Sportler, der seine Runden drehte. Sein Atem dampfte in der kühlen Luft. Vermutlich war er öfter zum Laufen hier und kam ihr deshalb bekannt vor. Er lief vorbei, ohne ein einziges Mal in ihre Richtung zu schauen.

Rosas Herz hämmerte in der Brust. Sie vermochte die Ahnung nicht abzuschütteln, dass etwas Schreckliches passieren würde. Sie presste ihre Hände gegen die Ohren, um das Pochen in ihren Adern zu übertönen. Sie zwang sich dazu weiterzugehen.

Ihre Augen blieben an einer mit Mütze und Schal vermummten Frau hängen, die ihr vage bekannt vorkam. Auch sie eilte vorbei, ohne Rosa eines Blickes zu würdigen.

Sie sah Gespenster! Trotzdem dauerte das ungute Gefühl an. Es verging erst, als Rosa zu ihrer Freude einen zerknüllten Fünfziger inmitten des Unrats erspähte. Die Aussicht auf einen sorgenfreien Tag brachte alle Antennen zum Schweigen, die ihr vehement Gefahr signalisiert hatten.

4.

2025: Deutschland, Schurwald

Der Morgen startete mit einer dampfenden Tasse Instantkaffee und der üblichen miesen Laune. Vor sich hin stierend knetete Roland Schwarz seinen abgelaufenen Reisepass in den Händen. Seine Küche war typisch für einen Junggesellenhaushalt: unaufgeräumt, Geschirr stapelte sich in der Spüle, die Fenster waren mit einem Schleier überzogen und ließen allenfalls vage erahnen, dass sich ein sonniger Tag ankündigte.

Eigentlich müsste er unbedingt Passfotos anfertigen lassen. Aber wozu? Er plante ohnehin nicht, eine Fernreise zu machen. Mit wem auch und wieso überhaupt verreisen? Denn im Grunde genommen fühlte er sich pudelwohl hier, in dem überschaubaren Dorf am Rande des Schurwaldes. Das für seine Bedürfnisse überdimensionierte Häuschen mitsamt dem großen Garten war das Vermächtnis seiner kinderlos gebliebenen Tante an ihn gewesen. Von seinem Lieblingsplatz im Garten breitete sich in alle Richtungen beruhigendes Grün aus. Zumindest solange Horden lärmender Kinder den Rasen des gegenüberliegenden Bolzplatzes nicht in einen braunen Acker verwandelten. Dennoch war es beschaulich. Meistens. Die Autofahrt nach Stuttgart zur Arbeit nahm er für die ländliche Ruhe gerne in Kauf.

Alles könnte in bester Ordnung sein, dachte er sich. Trotzdem war er mit sich und der Welt unzufrieden. Eine sich anbahnende Depression? Nein, eher eine generelle Missstimmung. In ihm herrschte eine Leere vor. Er hatte das Gefühl, etwas fehlte ihm in seinem Leben. Aber er war unsicher, wo er danach suchen sollte.

Auch wenn es eine für Außenstehende wahrscheinlich kaum wahrnehmbare Veränderung war, empfand er für seine Verhältnisse im Vergleich zu den vergangenen Wochen geradezu Hochstimmung. Der Fall des Erhängten aus der Gänsheide interessierte ihn und weckte seine Lebensgeister.

Roland stellte die halb volle Tasse in die Spüle und verließ das Haus.

Im Büro schlug ihm die penetrant gute Laune Michael Weilands entgegen.

»Moin, moin! Die Post ist da«, verkündete sein Kollege lächelnd.

Roland verzichtete auf eine Grußformel und schaute ihn nur verständnislos an.

»Der vorläufige Bericht der Gerichtsmedizin.«

»Ach so. So schnell?«

»Willst du die lange oder die kurze Version?« Rolands Grunzen verstand er richtigerweise als Aufforderung, sich knapp zu fassen. »Wir lagen mit unserer Einschätzung richtig. Das Opfer, Ferdinand Kohler, erfreute sich bester Gesundheit.«

»Eier nicht herum«, insistierte Roland. »Suizid oder Mord?«

»Wir ermitteln in einem Mordfall. Zum Zeitpunkt des Todes mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt, bekam er mit absoluter Gewissheit nichts mit und wäre unfähig gewesen, sich aus eigener Kraft zu erhängen. Laut Linder machte sich der Mörder nicht einmal die Mühe, ihm ein Mittel zu verabreichen, das sich schnell abbaut und deswegen schwer nachweisbar ist. Ob aus Unwissenheit oder weil es ihm egal war, bleibt offen. Am Körper des Toten existieren, abgesehen von den Druckstellen am Hals, nicht die geringsten Verletzungen. Offensichtlich ging kein Kampf voraus. Das bedeutet, dass Kohler entweder außer Gefecht gesetzt war, bevor er realisierte, was mit ihm passierte, oder vorab eingewilligt hat.«

»Wie wurde das Sedativum verabreicht?«

»Eventuell über Tropfen in einem Getränk? Linder untersucht noch den Mageninhalt. Wir haben leider keine benutzten Gläser gefunden. Der Besucher hat die Wohnung ordentlich aufgeräumt. Ein Saubermann sozusagen. Die konkrete Bestimmung der Substanz steht noch aus. Es dauert bis die sichergestellten Fingerabdrücke und DNA-Spuren ausgewertet sind.«

Roland kratzte sich nachdenklich an der Nase. Welche Schlussfolgerungen ergaben sich daraus? Man konnte annehmen, dass der Täter darauf abgezielt hatte, Ferdinand Kohler Leid zu ersparen. Die klassischen Grabblumen am Tatort zeugten zumindest von einem gewissen Respekt gegenüber dem Opfer. Falls sie überhaupt vom Mörder stammten. Wies dies auf eine Frau als Täterin hin? Auf einen Schmierzettel notierte Roland die Worte: Blumenläden abklappern. Kohler hatte die Tür freiwillig geöffnet, dafür waren die fehlenden Einbruchsspuren ein starkes Indiz. Sprach das für eine persönliche Beziehung? Kannte er denjenigen oder diejenige? So zurückgezogen, wie Ferdinand Kohler anscheinend gelebt hatte, hielt Roland es für unwahrscheinlich, dass er einen flüchtigen Bekannten spontan zu einem Kaffeeplausch hereingebeten hätte.

Rätsel, die es zu lösen galt. Aus einem für ihn unerfindlichen Grund freute sich Roland auf das Puzzeln.

Die konstituierende Besprechung der Ermittlungsgruppe »Gänsheide« war auf zehn Uhr terminiert. Die Zeit bis zur Zusammenkunft nutzte Roland, um liegen gebliebenen Schreibkram abzuarbeiten. Er wollte sich voll und ganz auf den neuen Fall konzentrieren können. Zunächst hatte Roland befürchtet, die Ermittlungen könnten aus Kapazitätsgründen einem anderen Team zugewiesen werden, obwohl er angeboten hatte, diese zu übernehmen. Aber Personalknappheit herrschte überall, und sein Chef Manfred Molter hatte ihm, ohne zu zögern, die Leitung übertragen. Vermutlich war Molter einfach froh, einen Freiwilligen an der Hand zu haben, anstatt jemandem den Arbeitsauftrag aufdrängen zu müssen.

Die Auswahl der Mitarbeiter, die der Ermittlungsgruppe angehören würden, sowie die Verteilung der Aufgaben, gingen zügig vonstatten. Dann lief die Polizeimaschinerie an. Im Vordergrund stand erst mal, sämtliche möglicherweise relevanten Informationen zusammenzutragen, um Ermittlungsansätze zu entwickeln. Die dafür eingeteilten Kollegen schwärmten aus, um Personen im Umfeld des Verstorbenen ausfindig zu machen und zu befragen. Sein Laptop, Handy und die Unterlagen aus der Wohnung harrten der Auswertung, da die Kriminaltechniker und das Labor ohnehin an ihrer Belastungsgrenze arbeiteten. Die persönlichen Verhältnisse mussten genauer unter die Lupe genommen werden. Im Vordergrund stand erst einmal, sämtliche möglicherweise relevanten Informationen zusammenzutragen, um Ermittlungsansätze zu entwickeln.

Bis jetzt hatten sie nur den vorläufigen Bericht der Rechtsmedizin, einige Fotos und eine Liste über die sichergestellten Gegenstände. Noch gab es für Roland deshalb wenig zu tun. Aber sobald die ersten Protokolle und Erkenntnisse eintrudelten, galt es den weiteren Einsatz der Beamten zu koordinieren und zu entscheiden, was er in die eigene Hand nahm.

Um Punkt sechzehn Uhr schaltete Roland den PC aus und erhob sich. Michael Weiland zog irritiert eine Augenbraue nach oben. Es sah Roland nicht ähnlich, so früh nach Hause zu gehen. »Habe etwas zu erledigen. Meine letzte Gelegenheit, bevor es hier rundgeht und uns die Arbeit über den Kopf wächst«, fühlte sich Roland verpflichtet zu erklären.

»Wann tut sie das nicht?«, fragte Weiland mit einem Blick auf die sich stapelnden Aktenberge.

Die U13 beförderte Roland innerhalb weniger Minuten zum Wilhelmsplatz. Er fand es unglaublich, wie früh teilweise die Geschäfte in dieser angeblichen Großstadt Stuttgart schlossen und beabsichtigte rechtzeitig vor Ort zu sein. Wobei sich Bad Cannstatt eigentlich keinesfalls als popeliger Stadtteil der Landeshauptstadt begriff und nach über einhundert Jahren weiterhin der Eigenständigkeit nachtrauerte. Was jedoch an den Ladenschlusszeiten rein gar nichts änderte.

Roland stieg aus und schlenderte die Cannstatter Marktstraße hinunter. Vor einer Buchhandlung blieb er stehen. Er wühlte sich lustlos durch einen Ständer mit reduzierten Ausgaben zum Ramschpreis. Früher hatte er viel gelesen. Vor allem Kriminalromane, weil er sie so köstlich lebensfremd fand. Die romantischen Vorstellungen, wie die Arbeit von Kommissaren angeblich aussähe, gefielen ihm. Die Realität war freilich völlig anders. Mittlerweile kaufte er nur noch selten Bücher. Anstatt zu lesen, arbeitete er lieber lang, saß danach vor dem Fernseher oder trank ein Gläschen Wein mit seinem Nachbarn Horst.

Trotzdem verharrte er einige Minuten vor dem Schaufenster, um den Gang zu dem in einer Seitengasse der Fußgängerzone gelegenen Fotogeschäft zu verzögern. Obwohl er beruflich ständig mit Menschen in Kontakt treten musste, mied er sie privat wann immer möglich. Und einen Platz aufzusuchen, an dem er nie zuvor gewesen war, bereitete ihm Unbehagen. Aber sein Entschluss stand fest. Er würde das Passfoto anfertigen lassen. Roland gab sich einen Ruck und setzte seinen Weg fort.

An der Tür des unscheinbaren Fotostudios hing ein vergilbtes Schild mit der Aufschrift Geöffnet. Er schaute durch die Scheibe ins Innere. Es hielten sich keine Kunden im Verkaufsraum auf. Das Interieur vermittelte ein antiquiertes Erscheinungsbild. Als ob die letzten dreißig Jahre spurlos daran vorübergegangen wären. Durch die Holztür eintretend, erfreute sich Roland trotzdem an dem Klingeln von Glöckchen, die am Türrahmen herunterbaumelten und sein Kommen ankündigten. Der menschenleere, knapp bemessene Raum zeigte sich überfüllt mit Mobiliar und Fotoequipment. Hinter der massiven hölzernen Verkaufstheke versperrte ein purpurner Samtvorhang den Blick in den Nebenraum. Unschlüssig trat er von einem Bein auf das andere. Nach einigen Sekunden vernahm er ein gedämpftes Geräusch. Mit gutem Willen konnte er die Worte »Einen kleinen Moment bitte« heraushören.

Roland spielte mit dem Gedanken, das Fotostudio wieder zu verlassen. Der sich bewegende Vorhang nahm ihm die Entscheidung ab.

Eine dunkelhaarige Frau in seinem Alter schlüpfte hindurch. Von oben bis unten mit Staubflusen bedeckt, strahlte sie ihren Kunden an. »Womit kann ich helfen? Ein herrlicher Tag heute, nicht wahr? Entschuldigen Sie meinen Aufzug. Ich bin am Aufräumen. Wissen Sie, ich habe das Geschäft von meinem Vater übernommen. Der hob alles auf. Wirklich alles! Warten Sie, ich bringe Ihnen eine Tasse Tee. Sie trinken einen Tee mit mir?«

Abgesehen davon, dass Rolands Nahrung überwiegend aus Kaffee bestand, fühlte er sich durch den Redeschwall überfahren. Gerade ansetzend, dass er lediglich Passfotos wünsche, sah er die Ladeninhaberin bereits mit einem heiteren Lächeln auf den Lippen hinter der Theke verschwinden. Irritiert nahm er auf einem der Stühle Platz, die ohne erkennbare Ordnung im Raum verteilt waren, und harrte der Dinge, die da kommen mochten. Seine Gastgeberin kehrte mit zwei dampfenden Tassen zurück. »Ich heiße Dagmar Gaus. Mit wem habe ich das Vergnügen?«

Roland nannte seinen Namen. Er nippte schweigend am Tee, während Dagmar Gaus ihm unnötigerweise erzählte, dass ihr Vater vierzig Jahre lang das Fotogeschäft geleitet und in dieser Zeit jegliche Änderungen abgelehnt habe. Jetzt sei er im Ruhestand. Sie versuche, den Betrieb zu modernisieren.

Die Fröhlichkeit, die sie ausstrahlte, steckte an. Fast vergaß Roland den Zweck seines Besuchs.

»Was führt Sie her? Wie kann ich Ihnen helfen?«, vernahm er irgendwann zwischen dem Geplapper.

Er benötigte einen Augenblick, sich zu sammeln und antwortete einsilbig: »Passfotos.«

»Dafür bin ich da. Kommen Sie bitte mit.«

Sie lotste Roland unablässig weiterredend durch den Vorhang in das Nebenzimmer. Die fehlende Gesprächigkeit Rolands, schien sie nicht zu stören. Sie bat ihn, auf einem Stuhl vor einer weißen Leinwand Platz zu nehmen.

Im Vergleich zur sonstigen Ausstattung wirkte dieser Raum auf Roland hochprofessionell. Eine Fülle moderner technischer Gerätschaften umgab ihn, deren Zweck ihm fremd blieb. Eine geöffnete Tür gewährte die Aussicht auf einen Lagerraum. Dies war unübersehbar der Ort, an dem sich die Fotografin ihre Staubummantelung eingefangen hatte. Er quoll von Aktenschränken, Regalen, Schachteln und Ordnern geradezu über. Eine Sisyphusarbeit, dieses Chaos in einen anständigen Zustand bringen zu wollen.

Dagmar Gaus bemerkte seinen Blick. »Die gesammelten Errungenschaften meines Vaters. Wie gesagt, war er unfähig, irgendetwas wegzuwerfen. Negative, Rechnungen, Kundenunterlagen aus Jahrzehnten.« Seufzend fügte sie hinzu: »Das wird Monate dauern.«

Roland enthielt sich eines Kommentars. Es ging ihn nichts an.

Kurz darauf hielt er die Passfotos in den Händen und verabschiedete sich.

5.

2025: Dänemark. Polizeizentrale Holstebro