Dänische Dunkelheit - Jonas W. Bentsen - E-Book

Dänische Dunkelheit E-Book

Jonas W. Bentsen

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Beschreibung

Die raue Schönheit Dänemarks und die düsteren Abgründe menschlicher Grausamkeit Der bodenständige Stuttgarter Hauptoberkommissar Roland Schwarz verbringt den ersten Campingurlaub seines Lebens in der Hafenstadt Hvide Sand an der dänischen Westküste. Kaum angekommen, entdeckt er eine blutleere Leiche. Die ermittelnde, eigenwillige dänische Polizeibeamtin Adalena Jacobsen ist überzeugt, dass ein okkultistischer Ritus dahintersteckt. Trotz unterschiedlicher Lebenseinstellungen und Ansichten gehen die beiden Ermittler gemeinsam auf Mörderjagd und erkennen dabei, dass Lebende grausamer als Untote sind ... Sind Sie bereit für eine atmosphärische Reise an Dänemarks raue Küste? Hier lauert hinter der idyllischen Urlaubskulisse ein düsteres Geheimnis, das zwei grundverschiedene Ermittler zusammenführt.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Dänische Dunkelheit

JONAS W. BENTSEN ist das Pseudonym von Wolfgang Breitkopf. Geboren 1966 in Plochingen, arbeitet und lebt er in Stuttgart. Im Jahr 2004 begann er mit dem Schreiben von Kurzgeschichten und Märchen und liebt es, auf diese Weise seiner Kreativität Raum zu geben. Seine Freizeit verbringt er mit Schreiben und Reisen, wobei besonders die nördlichen Gefilde Europas es ihm angetan haben.

Der bodenständige Stuttgarter Hauptoberkommissar Roland Schwarz verbringt den ersten Campingurlaub seines Lebens in der Hafenstadt Hvide Sand an der dänischen Westküste. Kaum angekommen, entdeckt er eine blutleere Leiche. Die ermittelnde, eigenwillige dänische Polizeibeamtin Adalena Jacobsen ist überzeugt, dass ein okkultistischer Ritus dahintersteckt. Trotz unterschiedlicher Lebenseinstellungen und Ansichten gehen die beiden Ermittler gemeinsam auf Mörderjagd und erkennen dabei, dass Lebende grausamer als Untote sind.

Jonas W. Bentsen

Dänische Dunkelheit

Nordseekrimi

Ullstein

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Originalausgabe bei Ullstein eBooksUllstein eBooks  ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin April 2024© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic®Annabel SteadmanAutorenfoto: © Wolfgang BreitkopfE-Book powered by pepyrusISBN978-3-8437-2994-9

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

1.

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Dank

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

1.

1.

Ihre Hand liebkoste die dornigen Zweige der Dünenrose. Es fühlte sich falsch an. Stumpf. Als ob ihren Fingern jegliches Gefühl abhandengekommen wäre. Nur den Windstoß, der ihr blondes Haar zerzauste, spürte sie auf der Kopfhaut. Marie Hiller schlug die Augen auf. Verschwommen nahm sie die Umgebung wahr. In ihrem Kopf hämmerte ein ihr unbekannter, heftiger Schmerz. Die Welt um sie herum drehte sich. Gleich einem Karussell auf dem Jahrmarkt. Immer schneller. Sie schnappte krampfhaft nach Luft, versuchte ihrer Sinne Herr zu werden.

Allmählich beruhigte sich ihr Atem. Eine Möwe! Mitten in der Nacht? Vom Schlafe aufgeschreckt? Wie gelähmt starrte Marie den über ihr schwebenden Vogel an, der sich in der steifen Brise hin- und herwiegte. Zweifellos befand sie sich irgendwo zwischen den Dünen am Meer. Sie schmeckte das Salz auf den aufgesprungenen Lippen. Wie war sie hierhergekommen? Was war geschehen? Eine eigenartige metallische Ausdünstung lag in der Luft, bahnte sich einen Weg in ihre Nase. Sie übertönte selbst den Geruch von Algen und nassem Grün. Sie kam ihr fremd und gleichzeitig vertraut vor. Blut? Abgesehen von den Schmiedehämmern in ihrem Schädel spürte sie keinen Schmerz.

Ein Gedanke drängte in ihr Bewusstsein. Sie hatte in ihrem Smartphone eine Nummer gesucht. Warum?

Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken. Ein einem Sturzbach gleichendes Sausen ertönte in ihren Ohren. Ein Sturm, wo es keinen geben durfte. Mühsam tastete sie die Jackentaschen nach dem Handy ab. Sie brauchte Hilfe. Der Notruf. Ein flüchtiges Wischen über das Display, und Rettung kam.

Ein Schatten schob sich zwischen sie und den von vorbeiziehenden Wolken verschleierten Mond. Marie kämpfte mit aller Kraft gegen die drohende Ohnmacht an. Ein Gesicht tauchte über ihr auf. Vehement kehrte die Angst zurück. Mit der Angst die Erinnerung. Sie schloss die Augen in der Gewissheit, dass der Tod nahte. Es gab nichts, was sie dagegen tun konnte.

2.

Camping liegt im Trend. Nach Corona und unzähligen Überstunden verschloss sich Roland Schwarz dieser Tatsache nicht länger. Kurzerhand hatte er einen ausgebauten VW-Bus erworben und war zum Jahresurlaub an die dänische Nordseeküste aufgebrochen. Beste Aussichten, um für vier Wochen dem Arbeitsstress als Hauptoberkommissar und den unleidigen Mitarbeitern zu entkommen. Böse Kollegenzungen behaupteten zwar, er sei der einzige Unleidige im Team, diejenigen verkannten jedoch, dass er lediglich besonnen agierte und seinen Senf ausschließlich dann beisteuerte, wenn es tatsächlich Geistreiches zu sagen gab.

»Du beim Campen? In spätestens drei Tagen drehst du reumütig um!«, unkten neidische Stimmen.

Roland beabsichtigte, sie Lügen zu strafen. Was ihm allerdings angesichts des dritten gescheiterten Versuchs, das Vorzelt in die dafür vorgesehene Schiene einzufädeln, extrem schwerfiel. Am liebsten wäre er wegen des einsetzenden Nieselregens sofort wieder abgereist.

Dabei träumte Roland schon lange davon, die Weite der Strände, die naturbelassene Dünenlandschaft und die Gastfreundschaft der Dänen zu genießen. Dass das Wetter Ende September sich meist wechselhaft zeigte, war ihm bewusst gewesen. Es existierte demzufolge kein akzeptabler Grund zum Jammern.

Der Campingplatz seiner Wahl befand sich unweit des Städtchens Hvide Sande, einer kleinen Gemeinde an der dänischen Westküste, gelegen auf der Nehrung zwischen der Nordsee und dem Ringkøbing Fjord. Der weitläufige, in keiner Form parzellierte Platz lag inmitten der Dünen. Den Bus hatte er in einer abgelegenen Nische im Schutze zweier hoch aufragender Sandhügel platziert. Ein wunderbares, beschauliches Panorama bot sich ihm. Es strahlte den Frieden aus, den Roland suchte. Jetzt in der Nachsaison hielt sich die Anzahl an Gästen in Grenzen. Aus den Schornsteinen einiger fest installierter Hütten kringelte sich weißer Rauch in den Himmel. Auf dem Areal hatte er bisher nur vereinzelt weitere Campingmobile entdeckt.

Erneut studierte Roland die lustigen Bildchen der mit chinesischen Schriftzeichen verzierten Aufbauanleitung des Vorzeltes. Beim darauffolgenden Versuch verging ihm das Lachen endgültig. Ausnahmsweise machte er seinem Ärger durch lautes Fluchen Luft.

Sam, sein Golden Retriever, hob müde das Haupt. Er wedelte mit dem Schwanz und wendete sich dann in Hundeaugen interessanteren Dingen zu.

Frustriert knüllte Roland die Plane zusammen, schob sie unter das Fahrzeug und beschwerte sie mit Hilfe eines Steins. In der ersten Nacht würde es auch ohne Vorzelt gehen. Sein selten aufblitzender Frohsinn befand sich auf einem epochalen Tiefpunkt. Bevor in zwei Stunden die Dunkelheit anbrach, wollte er wenigstens noch einmal das Meer sehen, anstatt sich mit von Vollidioten entworfenen Gebrauchsanweisungen abzuplagen. Er zog eine Regenjacke über und winkte mit der Hundeleine.

Freudig sprang Sam auf, die schlechte Laune des Herrchens geflissentlich ignorierend.

Gesenkten Hauptes, den Blick starr nach unten gerichtet, schlurfte Roland den Aufgang zur Düne hoch. Anschließend folgte er dem sandverwehten Pfad. Ein mäanderndes Band inmitten niedrigen Gestrüpps und dunkelbrauner Gräser. Schwarze Wolken verdüsterten den Himmel. Dicke Regentropfen trommelten auf die Kapuze des Regenmantels. Die Farben der Natur verblassten zu einem alles vereinnahmenden Grau, das einem Leichentuch gleich die Dünenlandschaft bedeckte. Wie durch Watte gedämpft, drang das Rascheln des Strandhafers an Rolands Ohren. Der trübe Einklang kümmerte Roland kaum. Ebenso wenig, dass das Meer vorerst hinter den Dünen verborgen blieb. Der in wabernden Nebelschwaden verschwindende Trampelpfad schien ins Nirgendwo zu führen. Das kam Roland im Hinblick auf seine Gemütslage angemessen vor. Ohne seiner Umgebung große Aufmerksamkeit zu schenken, mühte er sich durch den tiefen, nassen Sand und hing schwermütigen Gedanken nach.

Das Bellen Sams, gepaart mit einem Stück unverschämt roten Stoffes abseits des Pfades, riss Roland aus seinem Grübeln. Angesichts der elegischen Stimmung, der er frönte, beleidigte die leuchtende Farbe seine Augen. Warum mussten ständig irgendwelche Deppen ihren Müll in zauberhaften Landschaften abladen? Zum Aus-der-Haut-Fahren! Er trat an den Rand des Weges, um den störenden Unrat genauer unter die Lupe zu nehmen.

Ihm stockte der Atem. Mit wenigen Schritten eilte er zu der in einer Kuhle liegenden Frau. Sie trug ein rotes Kleid. Ihr Blick war starr, der Hals überstreckt. Roland sah Blutschlieren auf der Haut und etwas, das wie eine Bisswunde aussah. Ein lila Blütenblatt auf der Wange bildete einen irritierenden Kontrast zum schneeweißen Teint. Die Glieder standen in unnatürlichen Winkeln vom Körper ab. Obwohl er keine Zweifel daran hegte, eine Leiche vor sich zu haben, prüfte er den Puls. Ohne Ergebnis. Der Arm fühlte sich eiskalt an. Sie lag sicherlich bereits eine ganze Weile an dieser Stelle. Im Bemühen, den Tatort keinesfalls weiter durch seine Anwesenheit zu verunreinigen, entfernte er sich vorsichtig.

Eine Zeit lang verharrte Roland regungslos. Er sog die Umgebung in sich auf. Möwen lachten im Wind. Er schmeckte unvermittelt den Geschmack des Meeres auf den Lippen. Salzig und in Anbetracht des schrecklichen Fundes mit einer bitteren Note versehen. Warum musste ihm das passieren? Verfolgten ihn die Toten jetzt schon in den wohlverdienten Urlaub? Er nahm sich fest vor, sich aus allem herauszuhalten und keinen berufsbedingten Gedanken an das zuzulassen, was dieser armen Frau zugestoßen war.

Roland griff nach dem Telefon und wählte den Notruf. Ihm blieb nichts, als zu warten. Selbst Sam schien zu spüren, dass Ungewöhnliches vor sich ging und vergrub den Kopf zwischen den Pfoten.

3.

Die Wolkendecke lichtete sich, und die im Sinken begriffene Sonne, die vorübergehend durch die Wolken blinzelte, badete den Himmel in eine Melange aus Rosa und Lila. Als ob die Natur dem Tod Schönes, ein romantisches Ambiente entgegensetzen wollte. Dieses farbenfrohe Bemühen verfehlte den beabsichtigten Effekt bei Roland gänzlich. Ihm kroch zunehmend die Kälte unter die Kleidung. Unleidig trat er von einem Bein auf das andere. Das Herumstehen nervte. Sam lag im Sand und döste. Glückliches Hundeleben, unberührt von den Abgründen menschlichen Daseins.

Endlich tat sich etwas. Zwei Uniformierte hetzten von der Straße her den Pfad zwischen den Dünen entlang. Sie hielten in Ermangelung von Alternativen direkt auf ihn zu.

»Are you the German who reported the accident?«

Unfall? Wohl kaum. Ungeachtet der Skepsis diesbezüglich nickte Roland.

»Where?«

Roland deutete stumm auf die Stelle inmitten der Büsche.

Die Polizisten folgten mit den Blicken dem ausgestreckten Finger und eilten davon. Nach wenigen Minuten kehrten sie zurück.

»Wait. Please. Here.«

Sie verschwanden so schnell, wie sie eingetroffen waren. Zeit, Einwände zu erheben, ließen sie Roland nicht. Er rief ihnen hinterher. Zwecklos. Der Wind verschluckte die Worte. Er würde ausharren müssen, bis jemand mit weitreichenderen Befugnissen sich seiner annahm. Die Polizisten hatten erwartungsgemäß entschieden, das große Besteck aufzufahren. Zweifellos erschien in Bälde ein Tatortteam.

Eine Viertelstunde danach wimmelte die Umgebung von emsiger Geschäftigkeit. Beamte sperrten das Gelände großräumig mit lustig im Wind flatternden Bändern ab. Techniker bauten Scheinwerfer auf. Irgendwo erwachte ein Notstromaggregat zum Leben. Helligkeit flutete die Landschaft. Roland und Sam standen nach wie vor wie bestellt und nicht abgeholt einsam am Rande des Geschehens. Zumindest ein Augenpaar betrachtete mit Interesse die Arbeit der dänischen Kollegen, deren Maßnahmen erkennbar der gebührende Nachdruck fehlte.

Eine für Anlass und Witterung absolut unpassend ausstaffierte Frau Mitte vierzig kam den Weg entlanggeschlendert. Sie trug eine schwarze Lederjacke, schwarze Jeans und einen zu kurz geratenen schwarzen Kapuzenpulli, der den Nabel in unangemessener Form präsentierte. Ihre Figur gab es her, gestand sich Roland widerwillig ein.

Überhaupt erschien alles an ihr düster, selbst die ungebändigt abstehende Mähne. Allein das bleiche Gesicht stach heraus. In einer Achtziger-Wave-Disco wäre sie der Hit gewesen. Hier wirkte ihr Erscheinungsbild fehl am Platz. In ihrem Schlepptau folgten zwei sich angeregt unterhaltende Männer in Zivil. Roland sah ihnen an, dass es sich um Polizeibeamte handelte.

»Hej. Politikommissær Adalena Jacobsen. Sagen Sie einfach Lena, so nennen mich alle. Ich leite die Voruntersuchung«, stellte sich die in Schwarz gekleidete Frau vor. »Das sind meine Mitarbeiter Fin Zimmer und Henrik Nielsen. Sie haben den Fund der Leiche gemeldet, nehme ich an? Sehr freundlich, dass Sie auf mich gewartet haben.«

Roland grunzte. »Ungern, aber ich hatte keine Wahl. Roland Schwarz. Ich suche weiterhin nach einem vernünftigen Grund, mir die Füße in den Bauch zu stehen. Meine Angaben hätten die beiden Polizisten, die zuerst vor Ort erschienen sind, aufnehmen können.«

»Da bitte ich vielmals um Entschuldigung. Der Kollege spricht leider schlecht Deutsch. Sie wollten sicherlich bezüglich Ihrer Aussage keine Übersetzungsfehler riskieren. Wissen Sie, wir in Dänemark …«

»Das ist weder notwendig noch ein Problem«, unterbrach Roland den Redeschwall. Er wechselte nahtlos ins Dänische. »Er hätte bloß fragen respektive mir Gehör schenken sollen.«

»Du sprichst Dänisch?«, schwenkte sie umgehend auf das in Dänemark übliche »Du« um.

»Meine Großmutter mütterlicherseits stammt aus Haderslev. In der Kindheit verbrachte ich dort viel Zeit.«

Roland verschwieg den Umstand, dass er es damals hasste. Langeweile pur. Das kühle Meer war definitiv ungeeignet zum Planschen. Die Schulkameraden vergnügten sich derweil in der Sonne an der Adria. Nach dem Tod seiner Oma flauten die Besuche in deren Heimat ab. Es überdauerten nur einige entfernte Verwandte, mit denen er in Kontakt stand, und die Sprachkenntnisse bis in die Gegenwart. In den letzten Jahren hatte er Dänemark höchstens auf der Durchreise oder für einzelne Tage mit seiner Anwesenheit beehrt.

»Erzähl mir, wie du auf die Frau gestoßen bist«, unterbrach die Kommissarin seine Gedanken.

»Unternahm einen Spaziergang ans Meer. Bin mit Sam dem Pfad zwischen den Dünen gefolgt.«

Der Golden Retriever hob bei der Erwähnung seines Namens interessiert den Kopf. Wobei Sams Aufmerksamkeit sich plötzlich dem Hosenbein der dänischen Polizistin zuwendete. Er fing an, daran zu lecken. Lena Jacobsen nahm es ungerührt zur Kenntnis und strich Sam über das Fell.

»Sam? Lass das! Das ist unhöflich«, wies Roland seinen Hund zurecht.

»Kein Problem. Hotdog«, kommentierte Lena.

»Wie bitte?«

»Hotdog. Mit Röstzwiebeln, Gurken, Senf und Ketchup. In Massen. Ich habe mich eingesaut.«

»Das erklärt so einiges.«

»Musst du unbedingt probieren. Eine Delikatesse. Gibt es an jeder Straßenecke. Inzwischen zusätzlich in veganer Ausführung. Ist extrem lecker.«

»Mir ist bekannt, was ein Hotdog ist. Um aufs Thema zurückzukommen. Mir fiel ein roter Fleck auf. Ich schaute nach und fand die Tote. Ende der Geschichte.«

»Ist dir jemand begegnet oder etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

»Außer der Leiche? Nein.«

»Was hast du genau getan? Beschreibe es mir.«

»Hingelaufen, Vitalzeichen geprüft, mich dann vorsichtig wieder entfernt. Ist in der Regel unklug, einen Tatort zu kontaminieren.«

»Wie darf ich das verstehen? Willst du andeuten, dass du dich öfters an Tatorten rumtreibst?«, ergriff zum ersten Mal der Polizist namens Fin mit einem lauernden Unterton das Wort.

»Arbeite in Stuttgart bei der Kriminalpolizei«, erklärte Roland, um einem Anfangsverdacht gegen ihn und unergiebigen Diskussionen aus dem Weg zu gehen. Er zog den Geldbeutel aus der Tasche und hielt den verdutzten Gegenübern seinen Dienstausweis vor die Nase.

»Sieh an, wir sind sozusagen Kollegen?«, stellte Lena fest. »Es ist wunderbar, sich einmal länderübergreifend auszutauschen. Ich liebe Deutschland. Schweinshaxen, Bratwürste, und das Bier ist vorzüglich. Da du vom Fach bist, könntest du mir eine erste Einschätzung geben.«

»Nein. Kann ich keinesfalls. Ich bin im Urlaub.«

»Auch gut«, lenkte Lena ein. Just im gleichen Augenblick konterkarierte sie ihre Äußerung und ignorierte nebenbei Rolands Statement. »Ich frage mich, ob ein Unfall vorliegt, ein Suizid oder ein Verbrechen? Was meinst du?«

Darüber hatte sich Roland bereits Gedanken gemacht. Unwillkürlich platzte es aus ihm heraus, trotz des Vorsatzes, sich herauszuhalten: »Wer läuft schon bei dieser Witterung im roten Sommerkleidchen durch die Gegend und legt sich zum Sterben zwischen die Büsche? Das stinkt bis zum Himmel.«

»Da hast du recht. Aber du solltest sehen, was man hier alles mit den Touristen erlebt. Die scheuen keine Peinlichkeit. Neulich sind sogar …«

Roland zog missbilligend die Augenbraue nach oben. Er unterbrach sie rüde. »Ich glaube, das trägt im Moment wenig zur Sache bei. Außerdem friere ich gottserbärmlich.«

»Na gut. Kannst du morgen zur Wache nach Holstebro kommen, so gegen dreizehn Uhr? Wegen einer schriftlichen Zeugenaussage. Das kennst du ja. Die leidige Bürokratie.«

»Wenn es sein muss.«

»Muss«, erklärte die Dänin, begleitet von einem Rolands Ansicht nach süffisanten Grinsen und einem Tonfall, der Widerspruch ausschloss.

Die Dame war augenscheinlich auch zu kurzen und bündigen Antworten in der Lage, sofern es ihr beliebte und sie harmlose, unbescholtene Urlauber damit drangsalieren konnte.

Es gab von Rolands Seite aus nichts hinzuzufügen. »Na dann. Bis morgen! Auf Sam. Gehen wir!«

Der Golden Retriever hegte jedoch unverständlicherweise Sympathien für die weibliche Herausforderung für Rolands Gemütszustand. Schwanzwedelnd ließ er sich von ihr am Nacken kraulen. Er zeigte mitnichten Ambitionen aufzubrechen. Mutmaßlich spielte der an der Hose haftende Duft von Würstchen die entscheidende Rolle.

Roland zog leicht an der Leine und wiederholte die Aufforderung energischer. »Los jetzt!« Er reichte den Polizisten zum Abschied die Hand. Henrik Nielsen begleitete Roland bis zur Absperrung. Dort hatte sich bereits eine bunte Mischung aus Einheimischen und Campern versammelt. Mit gezückten Handys fotografierten sie das Treiben und fertigten Selfies an, um ihre Abenteuer zu dokumentieren. Sensationslust machte eben auch vor einem Land, in dem Hygge, das Streben nach Wohlbefinden und Gemütlichkeit, zur Lebensart gehörte, keinen Halt.

Über sich vernahm Roland ein Sirren. Eine Drohne. Den Leuten schien nichts mehr heilig zu sein. Wo blieb der Respekt vor den Toten? Henrik verabschiedete ihn freundlich und eilte davon. Die neugierigen Blicke der Zaungäste strafte Roland mit Verachtung und stapfte durch den tiefen Sand in Richtung des Standplatzes seines VW-Busses. Der Aufruhr und die Festbeleuchtung fielen hinter ihm zurück. Der Campingplatz vermittelte unbeeindruckt von den tragischen Ereignissen, die sich einige Hundert Meter entfernt ereigneten, ein trügerisch friedliches Bild.

Roland freute sich auf ein Bier und am meisten auf die Standheizung, um wenigstens den Rest dieses ersten, suboptimal verlaufenen Urlaubstages zu genießen. Die Nacht senkte sich allmählich herab. Die Lust aufs Meer war ihm für heute vergangen. Die Leiche, das Umherstehen und die Begegnung mit der eigentümlichen und geschwätzigen Kommissarin hatten ihm gehörig Laune vermiest.

4.

Lena Jacobsen schaute dem Deutschen hinterher. Der Ausdruck »unkooperativ« war die freundlichste Bezeichnung, die ihr für dessen Gebaren in den Sinn kam.

Den Finger in den Himmel reckend, stürzte Henrik auf sie und Fin zu.

Lena benötigte eine Weile, bis sie verstand, was er ihnen damit sagen wollte.

»Verdammt! Wer zur Hölle lässt hier eine Kameradrohne steigen?«, entfuhr es ihr.

»Sieht nach einem Profiteil aus. Tippe auf Presse«, äußerte er seine Vermutung.

»So schnell?«

»Moskitos umschwirren Lampen. Schmeißfliegen kreisen um Mist, und Reporter zieht Blaulicht magisch an. Die riechen das.«

Eine Musterung der Umgebung blieb ergebnislos.

»Kann man das Scheißding abschießen?« Sie erwartete keine Antwort auf die Frage. »Ein paar Männer sollen ausschwärmen und nach dem Piloten suchen«, wies sie an.

Zwei mit weißen Schutzanzügen ausstaffierte Gestalten näherten sich. Lena entließ Henrik mit einer Handbewegung und wendete sich den beiden zu. Der verantwortliche Rechtsmediziner Lucas Gade schritt voran. Ein behäbig wirkender Bär von einem Mann, dessen derber Sprachgebrauch die beinahe liebevolle, respektvolle Art und Weise verschleierte, die er im Umgang mit den Verstorbenen an den Tag legte. Das Gesicht strahlte Freude aus.

»Schön, dich zu treffen, meine Hübsche.«

Die saloppe Ausdrucksweise nahm Lena ihm nicht übel. Sie konnte den bärbeißigen Kollegen gut leiden. In seinem Gefolge befand sich seit einigen Wochen ein junger Medizinstudent, der ein Praktikum absolvierte. Peter, soweit sie sich erinnerte. Jedenfalls mochte sie ihn nicht. Ein großspuriger Angeber, der mit Vorliebe die neueste Rolex am Arm herumzeigte und größten Wert auf sein Erscheinungsbild legte. Sie begrüßte Lucas mit einem Lächeln. »Nun?«, erkundigte sie sich bewusst unbestimmt und für ihre Verhältnisse extrem kurz angebunden. Sie empfand Druck, die Zeit lief davon. Um halb acht fand ihr privater Termin statt, den sie keinesfalls versäumen wollte, obwohl sie wusste, dass die Welt dadurch nicht unterging. Zudem schlug Lena die Begegnung mit dem deutschen Kommissar auf die Laune. Ein seltsamer Zeitgenosse.

Lucas antwortete indes mit einem Schulterzucken. »Mausetot.«

Lena schnaufte hörbar aus. »Du bist genial! Diese Scharfsinnigkeit. Weitere weltbewegende Erkenntnisse, die du uns mitteilen möchtest? Ich kenne da eine Geschichte über einen Mann, der immer das Offensichtliche kommentierte. Weißt du, was man mit ihm machte? Eines Tages kam ein alter Esel …« Sie brach mitten im Satz ab, weil ihr bewusst wurde, dass sie mal wieder ins Quasseln abrutschte. Schon als Kind hatte ihre Mutter ihr empfohlen, sie solle Politikerin werden, da die ebenfalls dauernd ohne Punkt und Komma wirres, unnützes Zeugs von sich gaben. Lena, war die eigene Neigung zu »Sprechdurchfall« wohl klar, sie vergaß es aber oft im Überschwang. Sie ermahnte sich selbst, angesichts des ernsten Anlasses, sich kurz und prägnant zu äußern.

»Sicher doch, Süße«, entgegnete Lucas. »Es existieren keine augenscheinlichen Verletzungen bis auf die Wunde am Hals. Keine Hinweise auf ein Sexualdelikt. Im Umfeld fanden wir weder ein Handy noch einen Ausweis oder Ähnliches.«

»Ist diese Wunde möglicherweise die Todesursache? Das scheint ja das einzige Handfeste zu sein, das du anzubieten hast.«

»Unwahrscheinlich. Der Sand darunter enthält kaum Blut. Vermutlich eine postmortale Verletzung. Zuerst habe ich als Verursacher ein Tier in Erwägung gezogen.«

»Können wir einen Unfall oder Selbstmord ausschließen?«

»Deine Aufgabe. Wir untersuchen ergebnisoffen. Allerdings, wer läuft im Kleidchen ohne Handy und sonstige persönliche Gegenstände bei dem Wetter in den Dünen rum und legt sich zum Ableben in die Pampa. Da kann ich mir angenehmere Orte vorstellen.«

Fast exakt dieselbe Aussage hatte sie vor Minuten bereits einmal gehört. Sie dachte unwillkürlich wieder an Roland, den unleidigen deutschen Kriminalbeamten. Irgendwie schaffte sie es nicht, ihn aus ihrem Kopf zu verbannen. Dann stieß ihr eine scheinbare Kleinigkeit in Lucas’ Ausführungen auf. »Was heißt denn zuerst?«, hakte sie nach.

»Du triffst den kritischen Punk. Es gibt da ein interessantes Detail. Ich glaube, der Hals wurde vom Blut gesäubert. Füchse laufen selten mit einem Wischtuch durch die Gegend. Bevor du weiterbohrst: Ich kann dir im Moment nicht sagen, woran sie konkret gestorben ist. Ich gehe aber aufgrund der Auffindesituation davon aus, dass man sie an dieser Stelle ablegte und sie zu diesem Zeitpunkt wehrlos war. Ob sie da noch lebte, kann ich nicht sicher sagen.«

Lenas Gedanken überschlugen sich. Die Vorstellung, dass Roland den Hals abgewischt hatte, fand sie mehr als abstrus. Demzufolge hielt sich zum Todeszeitpunkt eine weitere Person am Tatort auf. Das ließ in Anbetracht der Umstände nur eine plausible Schlussfolgerung zu: Mord. Absolute Gewissheit würde erst eine Bestimmung der Todesursache liefern. »Wie lange liegt sie schon da?«

»Zwölf bis zwanzig Stunden.«

»Also seit gestern Nacht.«

»Anzunehmen.«

»Komisch, dass sie erst jetzt gefunden wurde.«

»Es ist mitten unter der Woche. Wenig los. Bescheidenes Wetter. Sie lag abseits des Weges. Reiner Zufall, dass sie jemand entdeckte.«

»Oder auch nicht«, mischte sich Fin ein.

Lena wusste, worauf er hinauswollte. Es schien ihr jedoch weit hergeholt den Polizisten aus Deutschland, der die Leiche gemeldet hatte, zu verdächtigen.

»Bis wann ist mit Ergebnissen zu rechnen?«, erkundigte sie sich bei Lucas, Fins Anmerkung ignorierend.

Der Rechtsmediziner verzog das Gesicht. »Eine ausführliche Leichenschau machen wir frühestens morgen. Eigentlich habe ich längst Feierabend. Den lasse ich mir weder durch Leichen noch durch dich versauen.« Er bemerkte Lenas enttäuschten Gesichtsausdruck und fügte hinzu: »Deine weinerliche Miene zieht bei mir nicht. Weil du es bist, sehe ich nachher oberflächlich drüber und gebe dir Bescheid. Das kostet dich aber was.«

»Pizza mit dreifach Käse? Du bist ein Schatz!«, schlug Lena vor und erntete ein Grinsen.

»Du weißt, womit man Männer rumkriegt.«

Sie umarmten sich, was angesichts von Lucas’ Umfang und Lenas übersichtlichen 1,65 Meter Körpergröße ein eher kurioses Bild abgab. Mit dem Praktikanten im Windschatten kehrte Lucas zu seinem Team zurück.

Das Gelände leerte sich zusehends. Die Leiche wurde abtransportiert, das Equipment abgebaut, die gesammelten Beweismittel zur gründlichen Untersuchung in Kisten verpackt. Die Drohne war wie vom Winde verweht verschwunden, die Suche nach dem Piloten erfolglos verlaufen. Lena rief ihre beiden Mitarbeiter zu sich, um das weitere Vorgehen zu besprechen.

»Meiner Meinung nach dürfen wir von einer unnatürlichen Todesursache ausgehen. Ich hoffe, dass uns Lucas bald mehr mitteilt. Ich habe wie angekündigt einen wichtigen privaten Termin. Heute Abend können wir ohnehin nichts bewegen. Wir können Vorbereitungen treffen und herauszukriegen versuchen, wer die Frau ist. Fin, gehst du die Vermisstenanzeigen durch?«

Fin schüttelte zu Lenas Verwunderung vehement den Kopf.

»Ich bin seit zehn Stunden im Dienst und total kaputt. Das darf jemand anders machen. Außer du ordnest es mir offiziell an.«

Die kategorische Ablehnung erwischte Lena völlig unvorbereitet. Seit der junge Polizist vor einem Jahr zu ihnen gestoßen war, ließ er selten eine Gelegenheit aus, Zusatzaufgaben zu übernehmen und Diensteifer zu zeigen. Er bemühte sich, unersetzlich zu werden, und spielte sich häufig geradezu in den Vordergrund. Manchmal fragte sie sich, ob er auf ihre Position aus war. Umso erstaunlicher, fast unfair fand sie die unverhohlene Weigerung. Sprachlos und maßlos verärgert entschied sie sich dennoch, auf einen Konfrontationskurs zu verzichten. Sie war ohnehin spät dran.

»Henrik, übernimmst du das?«

Der Angesprochene nickte. »Kein Problem. Ich muss nur Tina anrufen, dass sie das Abendessen warm stellt.«

»Danke. Ich bin in zwei bis drei Stunden in der Wache. Dort besprechen wir das weitere Vorgehen.« Lena warf Fin einen bösen Blick zu, den er anscheinend gleichgültig zur Kenntnis nahm, obwohl er eine gewisse Nervosität ausstrahlte. Zu Henrik hingegen sagte sie warmherzig: »Ich komme so schnell wie möglich und löse dich ab.«

Mit dem angenehmen Polizisten, den die Liebe nach Mitteljütland verschlagen hatte, arbeitete sie nun seit mehreren Jahren zusammen. Sie schätzte dessen ruhige, unaufgeregte Art. Fern jeder Eitelkeit zeigte er sich immer bereit, sich für das Team und die Kollegen einzusetzen. Auf ihn warteten in dem kleinen Haus in Søndervig drei Kinder und eine nette Ehefrau. Sie wusste, wie sehr es Henrik belastete, diese nur unregelmäßig zu sehen.

Fin dagegen war alleinstehend, ohne größere soziale Kontakte oder Hobbys. Er stammte aus Kopenhagen. Sie ahnte, dass er das Leben in der Diaspora lediglich als Sprungbrett für die Karriere in der Hauptstadt ansah. »Sich auf dem Land im Feldversuch die Sporen verdienen«, titulierte er es selbst. Fin winkte zum Abschied und verschwand wortlos in Richtung des jenseits des Campingplatzes gelegenen Parkplatzes.

Lena kontrollierte die Uhrzeit. Kurz vor sieben.

»Geh ruhig, ich habe hier alles im Griff«, versicherte Henrik, der ihre Unruhe sah.

Wenige Minuten später bog Lena auf den Holmsland Klitvej ein. Die Verbindungsstraße, die zwischen Meer und dem Ringkøbing Fjord zum einige Kilometer entfernten Ort Hvide Sande führte. Tagsüber tummelten sich dort Massen von Wassersportlern, um diese Zeit waren jedoch wenige Autos unterwegs. Sie kam rasch voran. Die Blase drückte. Seit Stunden. In der Hektik und Aufregung hatte sie es erfolgreich verdrängt. Jetzt spürte sie krampfartige Schmerzen im Unterleib, die sie nicht länger auszublenden vermochte. Einen Augenblick spielte sie mit dem Gedanken, einfach unschicklich am Straßenrand zu halten, um sich zu erleichtern. Die Lichter eines Fahrzeuges im Rückspiegel ließen sie das Vorhaben verschieben. Einer der Scheinwerfer schien einen Wackelkontakt zu haben. Er flackerte ständig. Aber sie war weder von der Verkehrspolizei, noch verfügte sie über die Muse, den Fahrer darauf aufmerksam zu machen. Höchstens eine Viertelstunde Fahrt, das schaffte sie, ohne ein Malheur auf dem Sitzpolster zu hinterlassen.

Fünf Minuten darauf ging nichts mehr. Kein Vorbeikommen an einem Stopp. Lena passierte den Bunkerne På Troldbjerg, einen alten Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg, von dem aus man eine hervorragende Aussicht auf Hvide Sande und dessen Hafenanlagen genoss, falls man in der Verfassung dazu war. Sprich: Sich nicht vor Schmerzen krümmte. Im Kreisverkehr wählte sie die dritte Ausfahrt, um anschließend nach links abzubiegen, und kam vorschriftswidrig auf dem Gehsteig zum Halten. Hastig betrat sie das kleine, in einem der rot-weiß gestrichenen Häusern untergebrachte Restaurant.

Anja, der Bedienung, blieb das »Hej« im Halse stecken, als Lena an ihr vorbei zur Toilette raste. Das Lokal gehörte zu Lenas Favoriten. Die kutterfrische Scholle mit Bratkartoffeln und Remoulade war ein Gedicht. Kurz und gut, man kannte sie hier. An die Angewohnheit, hastig aufzuspringen und das Lokal für einen Einsatz zu verlassen, hatte sich Anja gewöhnt. Das Erstaunen über das Verhalten der Kommissarin hielt sich entsprechend in Grenzen.

Als Lena »erleichtert« in den Gastraum zurückkehrte, gebot die Höflichkeit nichtsdestotrotz ein bisschen Small Talk, auch um die Situation zu erklären. Immer wieder wanderten Lenas Augen zu ihrer Armbanduhr, bis sie eine Gelegenheit fand, sich zu verabschieden.

Nach dem Ortsschild drückte Lena das Gaspedal bis zum Boden durch. Während die nächtliche Landschaft und die Lichter der Häuser vorbeirasten, lief es ihr unvermittelt kalt den Rücken hinunter. All ihre Sinne waren plötzlich ohne einen ersichtlichen Grund auf Gefahr gepolt. Sie verlangsamte die Geschwindigkeit. Im Rückspiegel sah sie ein in gebührendem Abstand folgendes Fahrzeug, dessen linker Scheinwerfer heftig flackerte. Definitiv dasselbe Auto, welches ihr bereits beim Losfahren am Campingplatz aufgefallen war. Zufall, oder wurde sie verfolgt? Warum sollte das jemand tun? Andererseits befuhr sie die einzige Straße zwischen Fjord und Nordsee in Richtung Varde. Da war es nicht ausgeschlossen, dass man mehrfach auf dieselben Verkehrsteilnehmer traf. Trotz des Zwischenstopps zum Toilettengang?

Zumindest verdächtig.

Nach einigen Kilometern bog Lena rechts in den Skodbjergevej ein. Dort inmitten der Dünen befand sich eine Ansammlung von Ferienhäusern. Sie ging vom Gas, schaute erneut in den Rückspiegel. Fehlalarm. Das Auto fuhr an der Abzweigung vorbei. Sie sah Gespenster. Berufskrankheit. Zum Teil sicherlich ein Anzeichen der Nervosität, die sie immer vor einer Gruppensitzung ergriff. Ein ungutes Grummeln machte sich in ihrem Bauch breit.

Das Haus, das ihr Ziel beherbergte, lag abseits am Ende eines unscheinbaren Seitenwegs fast völlig von den Dünen umschlossen. Sie parkte direkt davor.

Für die Bauweise der Gegend untypisch, verfügte das einstöckige Gebäude über einen mannshohen Bretterzaun, der die Terrasse auf der Rückseite vor Blicken schützte. Lena hastete zum Eingang und klopfte energisch. Nach wenigen Sekunden öffnete sich die Tür.

»Du bist spät«, empfing sie eine tadelnde Stimme. »Wir wollten gerade ohne dich beginnen.«

Lena senkte schuldbewusst den Kopf und sparte sich eine Antwort. Sie eilte ins Innere, entledigte sich in dem eigens dafür hergerichteten Umkleidezimmer der Kleidung und trat auf die Terrasse.

Fünf Feuerschalen erhellten die Umgebung mit unstetem Lichtschein. Glücklicherweise gaben diese genügend Wärme ab, um die kühle Nachtluft zu verdrängen. In deren Mitte befand sich der massive Opferstein. Dunkle Flecken auf der Oberfläche verrieten den Beobachtern, dass dieser nicht zum ersten Mal als Bühne für eine Eingeweideschau diente. Der Mond schmückte noch immer den Nachthimmel. Sein blasser Schein tauchte die Szenerie in fahles Licht. Diese Art Orakel fand im Verborgenen statt.

»Ratsuchende? Bist du bei der Sache?«, drang die Stimme der Seherin Kassandra an Lenas Ohren. »Du musst dich konzentrieren, sonst funktioniert es nicht.«

»Entschuldigung. Natürlich.« Lena senkte schuldbewusst den Kopf und beobachtete die Vorbereitungen aus den Augenwinkeln.

Die Wahrsagerin trug einen mit heidnischen Symbolen bestickten schwarzen Umhang. Unter der Kapuze kringelten sich unzähmbare blonde Locken hervor. Sie platzierte einen Käfig neben dem Opferstein, entzündete Kerzen und Räucherstäbchen. Lena schätzte sie auf vierzig Jahre, etwa in ihrer Altersklasse. Eine attraktive Frau. Die Aura des Geheimnisvollen umgab sie wie eine zweite Haut.

Vier weitere Personen wohnten dem Ritual bei. Notwendig, um ein magisches Pentagramm zu bilden. Laut Kassandra unabdingbar für den Erfolg der Wahrsagung. Lena kannte weder die Namen der anderen, noch interessierten sie diese. Die Beisitzer stellten nur Mittel zum Zweck dar.

Seit Tagen plagten sie Albträume. Düstere Vorahnungen, die ihr Sorge bereiteten. Szenen aus der Vergangenheit, die sie verfolgten. Oft schien alles wie weggeblasen, sobald sie erwachte. Das Gefühl drohenden Unheils hielt an. Es misslang ihr, dieses in Worte zu fassen oder für den Verstand greifbar zu machen.

Kassandra trat vor den Opferstein. Sie stimmte ein rhythmisches Summen an. Es klang wie aus einer anderen Welt.

Die Anwesenden nahmen die Laute auf. Fielen in die Melodie ein. Wiegten die Körper im Takt. Der Himmel über ihnen schien sich zu verdunkeln. Die Zeremonie begann.

Kassandra zauberte aus dem kleinen Käfig ein Huhn hervor. Wie Schneeflocken schwebten Federn zu Boden. Die in Trance verfallene Seherin schenkte dem keine Beachtung. Fest umschlossen die Finger der linken Hand den Hals des Opfertieres. Das Summen schwoll an. Sie beschwor die Götter und bat die Toten um Beistand. Das Blau ihrer Augen leuchtete dämonisch unter der Kapuze. Kalter Stahl blitzte im roten Schein der Glut auf. Mit einer schnellen Bewegung enthauptete sie die bedauernswerte Kreatur. Sie legte sie vor sich auf den Felsblock. Dass das Federvieh vorab fachgerecht den Tod in einer Metzgerei gefunden hatte, tat der Dramatik keinen Abbruch.