Schatten über Sømarken - Michael Kobr - E-Book

Schatten über Sømarken E-Book

Michael Kobr

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Beschreibung

Der Hochsommer hat Bornholm fest im Griff, und Lennart Ipsen ist im Urlaub, denn bei der Insel-Kripo ist gerade nicht viel los. Dafür herrscht im noblen Restaurant Argousier von Lennarts Freundin Maren Hochbetrieb – bis eines Abends ein Gast tot zusammenbricht. Schnell stellt sich heraus, dass er am Gift einer heimischen Pflanze starb. Ein Unfall aus Unachtsamkeit? Oder Mord?

Lennart meldet sich sofort zurück zur Arbeit, darf aber wegen Befangenheit nicht offiziell ermitteln. Also zieht er auf eigene Faust los, denn der Verdacht gegen Maren, etwas mit dem Tod des Mannes zu tun zu haben, erhärtet sich – und bringt ihr gesamtes Lebenswerk in Gefahr …

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Seitenzahl: 448

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Zum ersten Mal, seitdem Lennart Ipsen Leiter der kleinen Bornholmer Kripo ist, hat er Urlaub. Eigentlich nicht so sein Ding, aber auf der dänischen Ferieninsel scheinen sich auch die Verbrecher gerade eine Auszeit zu nehmen. Obendrein hat seine Freundin, die Sterneköchin Maren, gerade wenig Zeit für ihn – ihr beliebtes Restaurant, das Argousier, ist jeden Tag ausgebucht. Wohl oder übel muss Lennart versuchen, allein ein wenig die Seele baumeln zu lassen.

Doch dann zerstört ein Todesfall jäh die sommerliche Idylle: Im Argousier bricht ein Gast zusammen. Schnell wird klar: Der bekannte Fernsehkoch wurde vergiftet. Weil Maren mit dem Mann eine gemeinsame Vergangenheit hat, wird sie zur Verdächtigen. Lennart sind offiziell die Hände gebunden, also ermittelt er undercover. Bis ein zweites Opfer auftaucht und er und Maren immer mehr zwischen die Fronten geraten …

Weitere Informationen zu Michael Kobr sowie zu lieferbaren Titeln des Autors bei Goldmann finden Sie am Ende des Buches.

Michael Kobr

Schatten über Sømarken

Ein Bornholm-Krimi

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe Mai 2025

Copyright © 2025 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Hafen Werbeagentur, Hamburg

Covermotiv: © picture alliance / blickwinkel / S. Ziese;

Malte Heidorn / shutterstock

Th · Herstellung: ik

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-30512-3V002

www.goldmann-verlag.de

Prolog

»Na, Finja, hab ich zu viel versprochen?« Falk deutete mit großer Geste auf die üppig blühenden Heckenrosen, mit denen die Böschung hier am Strand von Sømarken gänzlich bewachsen war. Am Horizont ging gerade die Sonne in der Ostsee unter und tauchte den Himmel in ein fast unwirkliches Licht. »Maren hat sich da echt was geschaffen – feinste Küche in erstklassiger Lage, und das schon seit Jahren. Das muss ihr erst mal jemand nachmachen.«

Finja zuckte gelangweilt die Achseln und hob ihren Blick nur kurz vom Teller vor ihr. »Ich kann nicht so gut mit Sonnenuntergängen. Sind mir zu kitschig. Außerdem hat Maren die Insel ja nicht selbst gebaut, sondern nur das Restaurant hier übernommen, das es schon vor ihr gab. Kein Grund also, in Ehrfurcht vor ihrem Lebenswerk zu erstarren.«

Er lächelte süffisant, warf seine Stoffserviette auf den groben Holztisch, nahm einen tiefen Schluck aus dem Weinglas und lehnte sich entspannt zurück. »Oh, höre ich da etwa einen Funken Eifersucht auf deine Vorgängerin heraus?«

»Pah«, zischte Finja mit funkelnden Augen. »Das glaubst du doch nicht wirklich, oder? Auf diese Wuchtbrumme? Bizarr genug, dass du mal auf sie abgefahren bist!«

Er zuckte die Achseln. »Lass uns nicht streiten, Babe. Das alles ist vorbei, und das weißt du auch. Aber kochen kann sie nun mal verdammt gut, das musst du zugeben. Deswegen sind wir ja hier. Ein Abend nur für dich und mich, an unserem Jahrestag.« Er griff nach ihrer Hand und drehte demonstrativ an dem sündteuren Ring, den er ihr auf den Tag genau vor einem Jahr geschenkt hatte.

Sie zwinkerte ihm versöhnlich zu. »Schon gut, ich freu mich ja. Und mit dem Essen hast du recht. Sie kann was, das wissen wir alle. Aber dass du nur privat hier bist, ist glattweg gelogen.«

Er zuckte die Achseln. Das stimmte natürlich. Schließlich war er nicht nur Marens Ex-Freund, sondern auch lange ihr Geschäftspartner gewesen. Bis sich ihre Wege getrennt hatten und er, der ungekrönte König des dänischen Kochfernsehens, seinen Fokus noch weiter aufs Showbusiness verlegt, Maren Fabricius sich aber auf ihr Restaurant, ihre diversen Kochbücher und neuerdings auf kulinarische Reportagen konzentriert hatte. Vor Kurzem hatten Finja und er dann die Idee für ein neues TV-Konzept gehabt, das er während seines Aufenthaltes gern mit Maren besprechen wollte. Alles ganz harmlos also. Auch wenn die Boulevardzeitungen und Klatschblätter, die vorab Wind von seinem geplanten Besuch bei Maren bekommen hatten – vielleicht weil er seine Reise auf Insta angekündigt hatte –, das anders sahen. »Sehnsucht nach der Ex – funkt es wieder beim kulinarischen Dream-Team?«, hatte eine der Überschriften gelautet, was Finja natürlich nicht sonderlich lustig gefunden hatte. Inzwischen aber hatte sie sich wieder beruhigt.

»So, wir kommen jetzt zum nächsten kleinen Gang, unserer nordischen Garnelen-Ceviche. Die Basis dafür bildet heimischer Rhabarbersaft, der für eine kalte Garung sorgt. Darüber findet ihr ein Coulis aus verschiedensten Beeren der Insel. Und als krönenden Abschluss reibe ich euch hier noch etwas jungen Steinpilz aus den Wäldern bei Dueodde darüber.« Lächelnd machte sich die junge Kellnerin mit den blonden Rastalocken daran, hauchdünne Pilzscheiben über den Teller zu hobeln.

»Wow, toller Duft, wirklich«, befand Finja und wedelte mit der Hand über ihr Essen, um sich den Pilzgeruch zuzufächeln.

»Heute Morgen aus dem Wald geholt. Frischer geht’s nicht«, sagte die Bedienung augenzwinkernd, wünschte den beiden guten Appetit und wandte sich zum Gehen.

Finja warf Falk eine Kusshand zu und nahm ihre Gabel zur Hand, da tauchte ein weiterer Ober auf. Er war groß und schlank und trug wie alle anderen Angestellten des Argousier ein grobes beiges Shirt, farblich passende Baggy-Pants von dem in letzter Zeit so angesagten schwedischen Workwear-Label, naturlederne Hosenträger und dazu ein lilafarbenes Tuch um den Hals. Seine Oberlippe zierte ein trendiges Hipster-Bärtchen, wie man es von den jungen Typen kannte, die in den Kopenhagener Werbe- oder Eventagenturen arbeiteten. Wenn sie sich nicht gerade mit ihrem neugeborenen Kind auf Mini-Sabbatical in Goa oder Myanmar befanden.

»Stopp, bevor ihr anfangt, bekommt ihr noch etwas ganz Besonderes: Marens spezielle Sphären aus Sascatoon-Beeren. Die sorgen für den Extrakick auf den Garnelen, versprochen. Geiler als jeder Kaviar, den ihr je gegessen habt. Und das wird wahrscheinlich nicht wenig gewesen sein, nehme ich an, oder, Falk?« Mit diesen Worten öffnete der Kellner zwei riesengroße Glaspipetten und ließ den Inhalt, jeweils fünf prall gefüllte dunkelrote Kügelchen, auf ihre beiden Teller gleiten. Falk nickte ihm zu. Man hatte ihn also erkannt. Mal wieder. Kein Wunder, in der Welt der Kulinarik kam man an ihm fast nicht vorbei. Wahrscheinlich würde der Typ gleich nach einer Autogrammkarte fragen. »Haut rein und lasst euch nicht weiter stören«, sagte der jedoch nur und entfernte sich wieder vom Tisch.

Auch wenn Falk kein großer Fan der sogenannten Molekularküche war, in der man aus allem irgendwelche Schäumchen, Kügelchen oder Gels in bunten Farben fabrizierte, nickte er anerkennend: Maren wusste schon, wie man Nordic Cuisine heutzutage inszenierte – auch wenn so viel Chichi früher nicht ihre Art gewesen war. Er griff sich seinen Löffel und schob eine Garnele samt zwei der geheimnisvollen Kügelchen darauf, zerdrückte sie zwischen Zunge und Gaumen und war verwundert: Die Flüssigkeit darin hatte einen Geschmack, den er so nicht kannte. Sauer, mit einer deutlichen Spur von roter Frucht, dazu aber auch nussige Anklänge wie Mandeln oder Marzipan mit dezenter Süße, gefolgt von einer subtil bitteren Note. Er musste unwillkürlich grinsen. Was für eine geniale Komposition. Nickend holte er sich auch noch die weiteren Kügelchen vom Teller und ließ sie fast erregt in seinem Mund platzen. Ja, auch nach all den Jahren vermochte es Maren noch immer, ihn zu überraschen. Es gab Geschmäcker, für die man sterben konnte. Und so einen hatte er zweifelsohne gerade auf der Zunge gehabt.

Sonntag, 20. Juli

Sorry, kann heute Abend nun doch nicht dabei sein. Morten möchte unbedingt was mit mir besprechen, dringend. Dann stör ich auch nicht bei deiner Unterredung mit Falk. Warte nicht auf mich, wird bestimmt später. Vielleicht schlafe ich dann auch bei mir zu Hause. Sehen uns morgen. Schönen Abend und bis morgen, Kuss.

Lennart Ipsen las sich die Nachricht noch einmal durch, die er vor seinem kleinen Schläfchen mühsam mit einem einzigen Finger in sein Handy getippt hatte, nickte zufrieden, fügte noch ein Herz-Emoji und eine kleine Sonne an, um nicht ganz so beleidigt zu klingen, und schickte sie ab.

Dann erhob er sich ein wenig steifbeinig aus seinem Liegestuhl im Schatten des großen Sonnenschirms. Er war vor einiger Zeit eingenickt und erst vor einer Minute mit einem aufgeschlagenen Buch und dem Mobiltelefon auf der Brust aufgewacht, weil die Müllabfuhr mal wieder einen Heidenlärm veranstaltet hatte. Seufzend blickte er auf den himmelblauen Laster mit der geschwungenen Aufschrift darauf: Lennart Ipsen. Wie oft war er schon auf diese Namensgleichheit angesprochen worden in dem knappen Jahr, in dem er hier auf der Insel lebte und arbeitete? Er konnte es längst nicht mehr zählen. Andererseits war der Umstand auch schon Türöffner in Gesprächen gewesen, weil er das Eis hatte schmelzen lassen.

Er streckte sich, gähnte und blinzelte dann in die nachmittägliche Sonne, die aus einem ungetrübten Hochsommerhimmel auf die Ostsee und das kleine dänische Eiland brannte. Das machte seinem Beinamen damit alle Ehre: Bornholm galt wegen des fast mediterranen Klimas im Sommer, in dem kaum hundert Kilometer südlich der schwedischen Küste sogar Feigenbäume wuchsen, gemeinhin als die Sonneninsel.

Lennart genoss die Wärme dieses endlos scheinenden und unbeschwerten Sommers, hatte das Gefühl, seine Akkus aufladen zu können, um ohne größere Stimmungsprobleme durch die dunkle und kalte Jahreszeit zu kommen. Seit einer Woche hatte er zudem Urlaub – was ihm jedoch, wenn er ehrlich war, nicht sonderlich behagte, denn er wusste nicht so recht etwas anzufangen mit sich und der vielen freien Zeit. Seine beiden Teenager-Töchter, die seit der Scheidung von seiner deutschen Frau Andrea mit ihr auf der Nachbarinsel Rügen lebten, hatten noch Schule. In einer Woche würde er mit ihnen dann für ein paar Tage nach Spanien verreisen. Und Maren Fabricius, seine Freundin, war in ihrem Sternerestaurant gerade so eingespannt wie selten, schließlich herrschte dort, anders als auf der kleinen Kripostation der Insel, die er leitete, momentan Hochbetrieb. Trotzdem hatte er diese drei Wochen Auszeit nehmen müssen, schließlich galt es, wenigstens einen Teil des aufgelaufenen Resturlaubs abzubauen, bevor der am Ende noch verfiel. Sicher, er hätte Fahrradtouren machen können, doch bei der Hitze war das wenig verlockend. Auch der Garten seines gemieteten Häuschens verlangte nach Pflege, doch dort würde er schon bald ausziehen müssen, was ihm jegliche Motivation nahm, sich noch darum zu bemühen. Tennis spielte er nicht mehr, und für Golf fühlte er sich noch zu jung. Kurz hatte er erwogen, ein paar alte Freunde in Kopenhagen zu besuchen, die mit ihm früher auf nationaler Ebene bei der Reichspolizei gearbeitet hatten, bevor er für Interpol zuerst nach Lyon und dann nach Brüssel gegangen und schließlich – nach überstandenem Burn-out – hierher auf die Insel gezogen war. Doch er war sich nicht sicher, ob die ihre Einladung nicht nur aus purer Freundlichkeit ausgesprochen und selbst vielleicht ganz andere Pläne hatten. Dann hatte er überlegt, seinen Vater zu besuchen, der auf dem Festland lebte, noch immer in dem Häuschen ganz im Süden Dänemarks unweit der deutschen Grenze, in dem auch Lennart aufgewachsen war. Doch der war erst vor ein paar Tagen von einer Bustour durch Österreich mit seiner Lebensgefährtin Mirjam zurückgekehrt. Sie war ein paar Jahre jünger als Karl Ipsen und hielt ihn ordentlich auf Trab.

Lennart musste unwillkürlich grinsen. Ob seine beiden Kinder Magda und Ida schon ähnlich über ihn und Maren dachten? Vielleicht. Immerhin konnte er froh sein, dass sie seine Freundin mochten und von Anfang an kein Problem mit ihr gehabt hatten. Er sah hinüber zu Marens Restaurant, dessen Terrasse man von hier aus gut im Blick hatte. Er hatte die letzten Tage bei ihr verbracht, in ihrem wundervoll gelegenen Strandhaus gleich neben dem Argousier, einem ebenso schlichten hölzernen Flachdachriegel wie das Restaurant selbst. Das war früher einmal ein einfacher Strandkiosk gewesen, bevor es Marens Vorgänger zum Nordic-Cuisine-Tempel umfunktioniert hatte.

Lennart schob den Liegestuhl zurück und ging durch die große Glasschiebetür ins Haus. Das bestand im Grunde nur aus zwei Räumen: einem offenen Wohnbereich mit Kochinsel und einem Schlafzimmer daneben. Alles hatte Maren zum Meer hin ausgerichtet: die Ledercouch, die Kochinsel, den kleinen Essbereich, das Bett. Und alles war minimalistisch eingerichtet. Ein wenig zu karg sogar für seinen Geschmack, aber was ging ihn schon an, wie seine Freundin wohnte? Andererseits … Maren hatte neulich vor dem Einschlafen vorgeschlagen, er solle sich doch überlegen, dauerhaft bei ihr einzuziehen, statt sich etwas Neues zur Miete zu suchen. Oder hatte sie das nur im Spaß gesagt? Er jedenfalls war so perplex gewesen, dass er nicht reagiert und das Thema auch nicht wieder angeschnitten hatte.

Natürlich hatte der Gedanke, über kurz oder lang zusammenzuziehen, etwas für sich. Aber so etwas barg auch Gefahren – und war ein großer Schritt in einer Beziehung, die in seinen Augen für eine derartige Entscheidung noch zu frisch war. Hier mit Sack und Pack einzuziehen, mit seinen Marotten, von denen er sich auch nicht gänzlich trennen wollte, kam für ihn im Moment noch nicht infrage. Natürlich, die letzten Tage war er meistens hier gewesen, aber eben nur zu Besuch. Er musste definitiv auf die Suche nach einer neuen Bleibe gehen. Spätestens, wenn er aus Spanien zurück war.

Lennart warf sein Buch auf die Couch und ging auf die Toilette. Als er kurz darauf zurückkam, stand Maren im Wohnzimmer vor dem Panoramafenster. Von ihm abgewandt, tippte sie etwas in ihr Handy. Wie immer an Arbeitstagen trug sie ihre Küchenkluft aus dem groben naturfarbenen Leinen oder Hanf oder was immer das für ein Stoff war, ihre braunen Haare hatte sie zu einem wirren Dutt hochgesteckt und ein Tuch eingeflochten, in derselben Farbe wie die lila Schürze, die sie umgebunden hatte. Als sie ihn kommen hörte, steckte sie ihr Telefon weg und blickte ihn unverwandt an. Lennart sah sofort, dass ihre Laune nicht die beste war. Demonstrativ stemmte sie die Hände in die Hüften.

»Maren, mein Herz, konntest du dich in der Küche mal kurz loseisen?«, säuselte er, ging auf sie zu und wollte sie küssen, doch sie hielt ihm lediglich ihre Wange hin.

»Spar dir dieses süßliche mein Herz und sag mir lieber, was du mit deinem kindischen Verhalten erreichen willst. Etwa, dass ich Falk und Finja auslade, weil du eifersüchtig auf meinen Ex-Freund bist, mit dem ich schon lange Schluss gemacht habe?«

»Worauf willst du denn hinaus?«, fragte Lennart scheinheilig. Natürlich wusste er, dass es um seine Nachricht von eben ging. So gut es mit ihren eins sechzig eben ging, baute Maren sich vor ihm auf und holte tief Luft. Am liebsten hätte er sie in den Arm genommen und ihr einen dicken Schmatzer gegeben, so niedlich fand er es, wenn sie sich aufregte: Ihre verkniffenen Lippen ließen die kleinen Grübchen besonders stark hervortreten, ihre großen braunen Augen funkelten, und ihre Haare wippten mit jeder Bewegung heftig mit, als wollten sie dadurch der Situation noch ein wenig mehr Dramatik verleihen.

»Verkauf mich nicht für blöd! Du verkrümelst dich heute Abend, weil du grässlich eifersüchtig auf Falk bist. Da hilft auch deine fadenscheinige Ausrede nicht.«

»Aber Morten will, dass ich ihn …«

»Schwachsinn, Morten will gar nichts. Wahrscheinlich hast du dich selber bei den Nygaards eingeladen, damit du den Abend nicht mit mir verbringen musst!«

Treffer. Lennart war erstaunt, wie gut ihn seine Partnerin kannte. Und fand es zugleich beängstigend, wie durchschaubar er für sie war. Tatsächlich hatte er bei Morten, seinem Vorgänger im Amt, geradezu um eine Einladung für den heutigen Abend gebettelt. Aber war das denn verwerflich? Schließlich hatte er nicht von Maren, sondern aus der Boulevardpresse erfahren, dass Falk Magnusson, seines Zeichens hochdekorierter TV-Koch, Datingshow-Moderator, Schönling der Nation und Marens Ex-Lover, sich auf der Insel einfinden, im Argousier essen und mit Maren Fabricius irgendwelche Zukunftspläne besprechen wolle. »Liebes-Comeback fürs kulinarische Dreamteam – Falk Magnusson besucht sein früheres Herzblatt Maren auf der Sonneninsel«, hatte eines der Klatschblätter geschrieben.

Natürlich hatte Maren Lennart gegenüber beteuert, sie habe es ihm längst sagen wollen, aber immer sei wieder etwas anderes dazwischengekommen, schließlich herrsche gerade Hochbetrieb im Restaurant. Außerdem gehe es beim Treffen nur um vage Pläne für ein neues TV-Format, das Falk und dessen jetzige Lebenspartnerin Finja, die als Redakteurin beim größten dänischen Privatsender arbeitete, ihr vorstellen wollten. Das mit dem Liebes-Gedöns sei natürlich völliger Bullshit. Lennart seufzte. Diesen Punkt glaubte er ihr ja sogar. Irgendwie. Dennoch hatte sie sich in seinen Augen reichlich seltsam verhalten, was Falk und dessen Besuch im Argousier heute Abend anging. Und da er weder Lust hatte, das fünfte Rad am Wagen zu sein, noch den Platzhirsch zu spielen, der es für nötig erachtete, einem Rivalen gegenüber sein Revier zu markieren, hatte er sich eben flugs bei den Nygaards eingeladen. Basta. Er hatte nicht vor, sich weiter dafür zu rechtfertigen.

»Ich … habe eben einfach andere Pläne. Ist das so schlimm? Ich kann doch nicht meinen ganzen Urlaub hier rumliegen, in der Sonne braten und warten, bis du mal eine halbe Stunde Zeit für mich hast.«

»Ach, ist dir langweilig? Ich hab dir schon vorgestern angeboten, ein wenig bei mir im Betrieb mitzuhelfen. Schnippelhilfen oder Spülkräfte kann ich immer gut gebrauchen. Und euch Beamten schadet es nicht, wenn ihr den echten Arbeitsmarkt mal am eigenen Leib zu spüren bekommt.«

»Klar, am besten wasche ich noch die Teller von deinem Fernsehschönling ab, oder wie?«

»Meinem … was?« Sie schnaubte. »Hakt’s bei dir? Hab ich denn ein Problem damit, wenn du mal wieder zu deiner Ex-Frau nach Rügen fährst und da gemütlich Familienfeste feierst und ein bisschen auf trautes Heim machst?«

Lennart hob seine rechte Hand. »Moment, das ist ja wohl was völlig anderes. Ich fahr schließlich nicht zu Andrea, sondern zu meinen Kindern, die nun mal bei ihrer Mutter wohnen. Und ich habe das auch noch nie heimlich gemacht, oder?«

»Aber du übernachtest doch sogar im Haus deiner Ex-Frau. Habe ich auch immer hingenommen.«

»Sag mal, geht’s noch? Ich schlaf auf der furchtbar unbequemen Auszieh-Couch in Magdas Zimmer, das weißt du.«

»Ja, vielleicht. Aber müsstest du dann nicht auch wissen, dass ich sicher nix mehr mit Falk anfangen will? Stattdessen stellst du dich so an, bloß weil wir ein Projekt planen und die Zeitungen sich irgendeinen Quatsch überlegen. Darf ich vielleicht neuerdings nicht mehr zu Besuch haben, wen ich will?«

»Du darfst alles, Maren. Alles. Ich will dich nicht einschränken, das liegt mir fern. Ich hab’s einfach nur gern, wenn man mit offenen Karten spielt, was du in diesem Fall nicht getan hast. Aber ich wünsch euch auf alle Fälle ganz viel Spaß heute Abend und wunderbare Gespräche.« Er gab sich keinerlei Mühe, den Sarkasmus in seiner Stimme zu verbergen.

»Ach ja? Herzlichen Dank! Werden wir bestimmt haben. Ich find’s nämlich immer ganz inspirierend mit den beiden. Dir natürlich auch viel Vergnügen bei deinem kindischen Alibi-Treffen! Hab Spaß, solange du willst!« Sie spie ihm die Worte geradezu entgegen. »Bis später dann.«

»Ich hab’s ja schon geschrieben, weiß noch nicht, ob ich danach hierherkomme oder doch lieber bei mir übernachte …«

»Klar, gar kein Problem. Sicher besser, wir sehen uns erst, wenn du wieder normal geworden bist und dein Vertrauen in mich und unsere Beziehung wiedergefunden hast! Ich für meinen Teil geh jetzt jedenfalls arbeiten. Sonst verdien ich kein Geld. Bis die Tage, Lennart!«

Damit wandte sie sich um und ließ ihn stehen.

***

Lennart sah ihr nach, wie sie resoluten Schrittes aus dem Haus marschierte, ohne sich noch einmal zu ihm umzudrehen. Sollte sie ruhig noch ein bisschen die Beleidigte spielen. Er würde sicher nicht bei ihr zu Kreuze kriechen. Jedenfalls noch nicht.

Um auf andere Gedanken zu kommen, beschloss er, sich bei seinen Töchtern zu melden. Doch Ida hatte ihr Handy gänzlich aus, bei Magda ging nur die Mailbox hin. Und auch bei seinem Vater, den er als Nächstes anrief, meldete sich nach endlosem Klingeln nur der Anrufbeantworter. Prima. Mal wieder hatte kein Mensch Zeit für ihn.

Er packte ein paar Sachen in seine Weekender-Tasche, spülte demonstrativ sämtliches Geschirr ab, das im Haus herumstand, um keine Altlasten zu hinterlassen, warf einen letzten Blick auf die aufgeschlagen herumliegenden Yellow-Press-Magazine mit den Bildern von Maren und Falk aus der Zeit, als sie noch ein Paar gewesen waren, und zog schließlich die Tür hinter sich zu. Seine Laune war bescheiden. Natürlich hatte er überreagiert. Na und? War das denn ein Wunder, so wie Maren sich verhalten hatte?

Gleich nach dem Einsteigen öffnete er alle Seitenscheiben sowie das Schiebedach seines betagten silbernen Mercedes-Coupés. Wie zu erwarten war, hatte es sich in der prallen Sonne auf Höllentemperaturen aufgeheizt. Natürlich verfügte der Wagen auch nicht über eine Klimaanlage. Wenn Lennart endlich eine neue Wohnung gefunden hätte, wäre die Anschaffung eines vernünftigen fahrbaren Untersatzes sein nächstes Projekt. Vielleicht könnte er das wenig geliebte Familienerbstück dann ja schon an Magda weitergeben, wenn die bald ihren Führerschein machte. Wobei die sich von ihrem monatlichen Taschengeld noch nicht mal eine komplette Tankfüllung des Spritschluckers leisten konnte – und bestimmt von einem ganz anderen ersten Auto träumte als diesem etwas angestaubten 280 SLC aus dem Jahr 1980. Er verband sein Handy mit der Stereoanlage – das mit Abstand modernste Teil im farblich gewöhnungsbedürftigen blau karierten Achtzigerjahre-Interieur –, wählte die Playlist »Songs zum Runterkommen« und startete den Motor. Geschmeidig setzte sich der Sechszylinder in Gang. Bei allen Nachteilen, die diese Karre im Alltag mit sich brachte: Ihr Klang war wie Musik in Lennarts Ohren. Dann setzte der erste Song ein: Like I do von Melissa Etheridge. Lennart hatte das Lied schon in seiner Jugend immer dann gehört, wenn es Frust in Liebesdingen gegeben hatte. Was gar nicht mal so selten vorgekommen war. Wie damals grölte er jetzt die Liedzeilen laut mit, so wie auch die der nächsten Songs: Temple of Love von den Sisters of Mercy, gefolgt von Sweet Dreams von Eurythmics. Und war, als er das Haus von Morten Nygaard und seiner Frau Rosa erreicht hatte, schon merklich ruhiger und ausgeglichener als bei seiner Abfahrt vom Argousier.

Morten und Rosa empfingen ihn gewohnt freudig, voller Gastfreundschaft und mit der ihnen eigenen Warmherzigkeit. Er mochte die beiden inzwischen richtig gern. Als sie sich kennengelernt hatten, war das hingegen noch nicht so gewesen: Morten, sein Vorgänger im Amt, war zu Beginn seiner Pensionierung ständig im Büro aufgekreuzt, hatte Britta Blomdal und Tao Nguyen – Lennarts einzige Mitarbeiterinnen im »polizeilichen Ermittlungsdienst für personengefährdende Kriminalität im Polizeiposten von Rønne« – stets zu den Details der aktuellen Fälle gelöchert und Lennart obendrein geradezu zu sich nach Hause zitiert, nicht zuletzt, um ihm seinen »Ermittlungskeller« zu zeigen. In diesem Kellerraum mit Kriminal-Bibliothek und einem mehrere Meter großen 3-D-Inselmodell stellte der Pensionär nämlich noch immer die ungelösten Kriminalfälle der Insel nach. Doch trotz Lennarts Skepsis war bereits im Laufe ihres ersten Abends das Eis geschmolzen, und Morten hatte sich als ungeheuer empathischer Zeitgenosse und zudem als Kriminaler mit messerscharfem Verstand herausgestellt. Wie auch als begnadeter Imker und Hobbypilot, Fähigkeiten, auf die Lennart inzwischen schon mehrmals zurückgegriffen hatte. Beim letzten spektakulären Mordfall hatte er ihnen selbstlos seinen Beistand angeboten und echt geholfen. Dazu kam, dass Rosa Nygaard fantastisch kochen konnte – ganz so, wie Lennart es mochte: bodenständig, aber mit einem feinen, unaufdringlichen Twist ins Besondere.

Wie immer hatte Lennart ihr auch diesmal Konfekt besorgt, natürlich ihre Lieblingssorte mit Karamell und einem Hauch Lakritz. Und für seinen Amtsvorgänger hatte er ein Fläschchen milden Rum aus der Dominikanischen Republik dabei, den der sich im »Herrenkeller« gern zu einer Pfeife schmecken ließ, wie Lennart wusste.

Auf der lauschigen Terrasse wurde diesmal als sommerlich-maritime Vorspeise ein herrlich kühles Lachstatar mit Avocadowürfeln und einem Hauch Wasabi serviert, und die drei plauderten angeregt über allerlei Belanglosigkeiten. Was Lennart dabei ein wenig schockierte, war, wie gut Morten Nygaard als Pensionär darüber informiert war, was im Moment im Kommissariat vor sich ging. Denn Lennart gegenüber hatten sowohl Britta als auch Tao sich immer bedeckt gehalten. Schließlich habe er Urlaub und solle einfach mal richtig ausspannen. Ihn störte das. Hatte er als Abteilungsleiter denn nicht weitaus mehr Recht auf Neuigkeiten als der Rentner Morten?

Nach einer Weile zog sich Rosa in die Küche zurück – mit dem Hinweis, sie müsse sich nun dringend um Beilagen und Salate kümmern, während Morten sich am Grill den in Speck eingerollten und in Alufolie verpackten Schweinefilets widmen solle. Nygaard machte sich ein kleines Bier aus einer der Craft-Brauereien der Insel auf, goss Lennart französischen Weißwein nach, drehte den Gasgrill an und wandte sich, nachdem er das Grillgut aufgelegt hatte, seinem Gast zu.

»Na, mein Lieber, was hast du auf dem Herzen?«, sagte er in ruhigem, fast väterlichem Ton.

Lennart zog die Stirn kraus. Worauf wollte Morten hinaus? Er hatte schließlich noch mit keinem Wort seinen kleinen Streit mit Maren erwähnt. Und auch was seine Urlaubs-Langeweile anging, hatte er sich bislang bedeckt gehalten.

»Na, komm schon, irgendwas drückt dir aufs Gemüt, das war mir schon klar, als du angerufen und gefragt hast, ob wir uns mal wieder treffen wollen.«

Ein Lächeln huschte über Lennarts Lippen. Dem alten Insel-Kriminaler Morten mit seiner fast schon legendären Menschenkenntnis konnte also auch er nichts vormachen.

»Ich … also … das ist nicht der Rede wert, ich meine …«

»Ist dir langweilig in deinem Urlaub? Wenn’s nur das ist: Ich mache in den kommenden Tagen zusammen mit einem Freund mehrere Rundflüge über die Insel und auch mal rüber nach Rügen, um ein paar alte Maschinen zu testen. Wenn du magst, kannst du gern mitkommen. Wir suchen ohnehin noch jemanden, der uns ein paar neue Luftaufnahmen von da oben schießt.«

Lennart rang sich ein Lächeln ab, schüttelte zugleich aber vehement den Kopf. Er flog ohnehin nicht sonderlich gern, und schon gar nicht würde er sich mit Morten und einem seiner Rentnerkumpane in eine selbst reparierte und zusammengeflickte Uralt-Cessna setzen und sich dadurch in höchste Lebensgefahr begeben. Dann lieber noch in Marens Küche Kartoffeln schälen. »Morten, danke vielmals, aber du weißt ja, das Fliegen ist nicht so meine Leidenschaft. Und nein, eigentlich ist mir gar nicht so furchtbar langweilig«, log er.

»Okay, mit den Mädchen fährst du nächste Woche in Urlaub, da scheint also alles in Butter zu sein. Deinem Vater geht es gut, sagtest du. Also gibt’s Ärger mit Maren, oder?«

Lennart zögerte kurz, dann zuckte er die Achseln. »Könnte sein, ja. Aber nix Dramatisches, nicht dass du jetzt denkst …«, beeilte er sich zu erklären, doch Morten hob abwehrend eine Hand und hielt Lennart seine Bierflasche zum Anstoßen hin.

»Zum Wohl, mein Freund. Ich denk gar nix. Erzähl’s mir einfach.«

Lennart zögerte.

Lächelnd fuhr Morten fort: »Nur wenn du magst, natürlich. Seit meiner Pensionierung führe ich nämlich nur noch freiwillige Unterhaltungen, keine Verhöre mehr.«

Seufzend gab Lennart nach und erzählte von ihrem kleinen Streit um Falk Magnussons Besuch auf Bornholm. Morten erwies sich dabei wie erwartet als geduldiger und aufmerksamer Zuhörer, der hin und wieder nachfragte und sich immer wieder versicherte, auch bestimmt alles richtig verstanden zu haben.

»Und das war alles?«, fragte Nygaard, als Lennart mit seinem Bericht geendet hatte.

»Das … war alles, ja, wieso? Findest du etwa, das reicht nicht für einen kleinen Streit?«, hakte Lennart fast ein wenig beleidigt nach.

Morten grinste. »Doch, das reicht mit Sicherheit. Zumindest in deinem Alter. Bei mir sähe es da wohl schon ein wenig anders aus.«

»Wie meinst du das?«

»Na ja, die Eifersucht nimmt mit zunehmendem Lebensalter exponentiell ab. Jedenfalls was mich angeht. Natürlich kennt ihr beide euch noch nicht so lange wie Rosa und ich. Deswegen ist das bei euch noch ein Thema.«

»Ich bin ja nicht eifersüchtig, sondern nur … genervt. Weil Maren mich nicht von sich aus in die ganze Sache eingeweiht hat.«

Morten klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. »Na ja, vielleicht ist sie einfach ein wenig konfliktscheu, wollte dich erst mal nicht damit belasten oder so.«

»Belasten? Warum sollte mich das denn belasten? Wie kommst du darauf?«

Morten prustete los. »Hast du schon mal in den Spiegel geschaut?«

»Was soll das heißen?«

»Dass du rumsitzt wie ein geprügelter Hund.«

»Unsinn. Aber wie gesagt, Maren nervt mich mit ihrem Rumgedruckse. Dieser angeblich so tolle und phänomenale Superkoch Falk lässt mich aber total kalt.«

»Falk? Falk Magnusson?« Rosa Nygaard war gerade mit einer Schüssel Kartoffelsalat samt Lachskaviar, Frühlingszwiebeln und ihrem einmaligen Sour-Cream-Dressing auf die Terrasse gekommen.

»Genau der«, murmelte Lennart.

Rosa strahlte übers ganze Gesicht. »So ein toller Mann! Er ist anscheinend auf der Insel, hab ich gelesen. Hab mir schon überlegt, ob ich versuche, ihn abzupassen für ein Autogramm oder ein Selfie. Ich bin so ein Fan von ihm, ehrlich! Er kocht nicht nur wie ein Gott, er ist auch lustig, geistreich, schlagfertig und sieht unverschämt gut aus! Bei einem solchen Mann, da könnte man auch als reife Frau direkt noch mal Gefühle bekommen«, schwärmte sie.

»Rosa, magst du nicht die restlichen Sachen noch holen?«, unterbrach Morten eilig seine Frau. »Das Fleisch müsste nämlich gleich fertig sein.« Damit drehte er demonstrativ eines der Schweinefilets um.

»Jetzt schon?«

»Ja, wieso? Ich kann schon auch kochen, so ist es nicht«, antwortete er seiner Frau ein wenig verschnupft.

»Ich geh ja schon, keine Sorge. Will eure Männerrunde gar nicht weiter stören«, gab die sich beleidigt.

»Schon gut, Rosa«, beschwichtigte Lennart. »Morten versucht nur gerade, mich vor weiteren Falk-Magnusson-Hymnen zu beschützen. Aber kein Problem, ich kann das ab.«

»Kann er nicht«, widersprach Morten.

»Oh, ich Idiotin! Ich habe ja gelesen, dass er auf die Insel kommt und die Käseblätter allerhand Unsinn schreiben, weil er vor Jahren mal mit Maren zusammen gewesen ist. Und jetzt komm ich Trampeltier und latsche mitten ins Fettnäpfchen mit meiner lächerlichen Schwärmerei. Klar, dass du bei so einem Wahnsinns-Typen eifersüchtig bist.«

»Ich bin gar nicht eifersüchtig«, beharrte Lennart weiterhin und fand selbst, dass er dabei klang wie ein kleiner Junge, der seinen Eltern gegenüber partout nicht mit der Wahrheit herausrücken wollte.

»Ach was, schäme dich bitte bloß nicht deiner Gefühle«, versetzte Rosa. »Lass sie einfach zu und überwinde sie. Du hast es nicht nötig, dir diesbezüglich irgendwelche Sorgen zu machen. Maren hat sich doch damals bestimmt aus gutem Grund von Magnusson getrennt und sich dann ganz bewusst für dich entschieden.«

Eine gute halbe Stunde später war auch Lennart davon überzeugt, dass es das Beste für alle Beteiligten sei, einfach in die Offensive zu gehen und ein wenig mehr Selbstbewusstsein zu demonstrieren. Die Nygaards hatten ihm nämlich empfohlen, gleich am Abend noch ins Argousier zu fahren, sich völlig cool und gelassen mit Maren und den anderen an den Tisch zu setzen und sich nicht mehr das Geringste von seinem Ärger anmerken zu lassen.

Und das kam ihm jetzt, da er wieder im Mercedes saß und im schwindenden Licht der Abendsonne Richtung Argousier fuhr, völlig plausibel vor. Er war schließlich erwachsen. Innerlich ruhig bog er von der Hauptstraße Richtung Restaurant ab. Die Sonne war bereits untergegangen, und die Nacht hatte ihre Schatten über Sømarken geworfen.

***

Schon bevor er die letzte Kurve vor dem Parkplatz genommen hatte, sah Lennart jedoch den Schein von Blaulichtern durch den Küstenwald zucken. Sie tauchten die lose stehenden Kiefern in ein grotesk kaltes Licht.

»Fuck«, entfuhr es ihm. Was war da bloß los? Hatte es irgendeinen medizinischen Notfall im Restaurant gegeben? Oder war in der Küche ein Topf mit Fett in Brand geraten? Vielleicht handelte es sich auch nur um Fehlalarm, versuchte er sich zu beruhigen, schließlich schlug wegen der Küchendünste immer mal wieder ein Rauchmelder an. Doch als er um die Ecke bog und neben dem offen stehenden, leeren Rettungswagen einen Streifenwagen der uniformierten Kollegen und schließlich auch noch den grauen Bus seiner eigenen Abteilung sah, hatte er Gewissheit, dass es sich nicht nur um irgendeine Bagatelle handelte.

Auf dem gekiesten Parkplatz machte er eine Vollbremsung, sprang aus dem Mercedes und rannte in Richtung Meer bis hin zur Terrasse, die jedoch bereits mittels einer Flatterleine mit Polizeibeschriftung abgesperrt war. Mehrere Scheinwerfer erhellten grell die Szenerie. Er hob das rot-weiße Plastikband an und steuerte auf die Menschentraube zu, die sich um einen der Tische herum gebildet hatte. Der stand direkt neben der Böschung aus Wildrosen, die sich bis hinunter zum Sandstrand zog. Lennart erkannte neben seinen beiden Kolleginnen Britta und Tao einige uniformierte Beamte, ein paar Sanitäter und auch eine Frau ganz in Weiß, die sich über eine leblos daliegende Gestalt am Boden gebeugt hatte. Wahrscheinlich Doktor Eklund, die Gerichtsmedizinerin, mutmaßte er. Genaueres konnte er aus seiner Warte jedoch noch nicht erkennen. Da fiel ihm auf, dass an einem weiteren Tisch, etwas abseits, Maren saß, ganz allein und den Kopf in ihren Händen verborgen. Er wechselte die Richtung, ging auf sie zu, zog sich einen Stuhl heran, setzte sich neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern.

»Maren, geht’s dir gut?« Erst jetzt hob sie den Kopf. Sie war blass, ihre Augen gerötet, ihr Blick unstet. Er sah sie forschend an. »Hey, sag doch: Bist du etwa verletzt?«, fragte er, zog sie sanft ein Stück näher zu sich und küsste sie auf die Wange. Kraftlos schüttelte sie den Kopf. »Gott sei Dank! Aber was ist denn dann passiert?«, wollte er wissen.

»Falk ist auf einmal am Tisch zusammengebrochen. Aus … heiterem Himmel. Scheiße. Keine Ahnung, warum er …«, stammelte sie. Lennart schluckte.

»Ist er …«

»Tot«, ergänzte sie, dann schluchzte sie laut auf. »Er ist einfach so vom Stuhl gekippt. Als der Rettungswagen kam, war längst alles zu spät. Ein Gast wollte ihn noch wiederbeleben, aber …«

»Scheiße! Was war denn los, ein Herzinfarkt, oder …«

Wieder schüttelte Maren weinend den Kopf, die Lippen fest aufeinandergepresst. Lennart schmiegte sich noch ein wenig fester an seine Freundin.

»Was denn dann?«

Es dauerte eine Weile, bis sie sich gefangen hatte und wieder in der Lage war zu antworten: »Finja glaubt, es ist wegen … irgendeinem … Gift. Weil er vorher schon so komisch die Augen verdreht hat.«

»Hast du deshalb gleich die Kollegen von der Streife gerufen?«

»Das haben die Sanitäter gemacht.«

»Und wieso, bitte, ist Britta hier?«

Sie sah ihm in die Augen. »Weil ich sie gebeten habe zu kommen.«

»Weshalb hast du da nicht mich angerufen?«

»Weil wir doch gestritten hatten«, brachte sie noch heraus, dann brach sie in einem Weinkrampf zusammen. Sie schluchzte wie ein kleines Kind. Lennart streichelte ihr tröstend über den Kopf und unterdrückte seinen Impuls, sofort hinüber zu den anderen zu eilen.

»Und das hat sich alles unter den Augen der anderen Gäste abgespielt?«

Maren nickte und schluchzte wieder laut auf.

»Wo sind die hin? Nach Hause?«

»Teilweise nach Hause, teilweise sind sie noch drinnen im Restaurant. Alle mussten ihre Personalien angeben. Britta hat auch schon so ein Kriseninterventionsteam verständigt, die kümmern sich um ein paar von ihnen – und um Finja.«

Er seufzte. »Vielleicht willst du dich auch mit jemandem von diesem Team unterhalten? Ich kenne eine von denen, die Pfarrerin von Østerlars, Birte Lauritsen …«

Sie schüttelte energisch den Kopf. »Nein, ich will nicht mit denen reden. Lieber mit dir, Lennart.«

Nun war sie es, die seine Hand nahm, sie fest drückte, sich dann an ihn schmiegte und ihn küsste. »Sorry, dass ich so ätzend war vorhin.«

Er schüttelte nur den Kopf. »Ich hab mich auch nicht gerade besonders erwachsen aufgeführt. Das ist mir echt …«

»Ist doch völlig egal jetzt. Lennart, das mit Falk ist so schrecklich. Und wenn stimmt, was Finja meint, dann … steht das alles hier auf dem Spiel. Dann kann ich zusperren.« Sie ließ ihren Blick über die Restaurantterrasse und das Gebäude dahinter schweifen.

»Wie meinst du das?«

»Na ja, weil Finja das Gefühl hatte, Falk sei an irgendeinem Gift gestorben. Deswegen hat sie sich auch sofort den Finger in den Hals gesteckt und sich übergeben. In die Büsche, vor allen anderen Gästen. Sie war völlig hysterisch und hat geschrien, dass das vielleicht giftige Pilze waren oder so und sie Angst hat, dass sie auch sterben wird, verstehst du?«

Lennart holte tief Luft. »Du meinst, sie gibt dir die Schuld?«

»Jedenfalls klang es so. Und jetzt ist es in der Welt. Ich bin mir sicher, dass einige Leute Fotos und Videos mit ihren Handys gemacht haben. Wenn davon einer was postet …«

»Maren, du selbst bist dir aber sicher, dass … alles …« Er zögerte. Sollte er es wirklich fragen? Doch das musste er früher oder später sowieso, falls es zu einer Ermittlung käme. »Also, ich meine … essbare Pilze waren?«

Sie sprang auf und blickte ihn entgeistert und mit unverhohlener Empörung an. Unglaublich, wie schnell sie manchmal von einer Stimmung in die nächste wechseln konnte. »Lennart, was soll denn der Scheiß jetzt, hm? Also, ich … wir schauen in der Küche alle drauf, dass es damit seine Richtigkeit hat. Die Sammler sind auch wirklich total erfahren. Ich kontrolliere selbst den kompletten Wareneingang. Willst du mir jetzt echt sagen, ich wäre nicht in der Lage …« Sie war ziemlich laut geworden, sodass einige der Umstehenden bereits die Köpfe wandten. Er machte eine beschwichtigende Handbewegung und bedeutete ihr, wieder Platz zu nehmen. Sie schien kurz zu überlegen, dann setzte sie sich.

»Ich will gar nichts sagen«, erklärte Lennart nun deutlich leiser. »Aber wenn sie so was verbreitet, müssen wir es doch entkräften können. Wahrscheinlich wird Doktor Eklund, die Gerichtsmedizinerin, eh spätestens morgen früh feststellen, dass er nicht an irgendeinem Gift in deinem Essen gestorben ist.«

Wieder holte Maren tief Luft. »Hoffentlich. Ich meine, dass Falk gestorben ist, hier bei mir im Lokal, ist doch wirklich schon schlimm genug. Und du weißt selbst am besten: Wenn so ein krasses Gerücht mal in der Welt ist …«

»Und es haben wirklich alle mitbekommen?«

Sie zuckte resigniert die Achseln. »Na ja, so wie sie gebrüllt hat: Die meisten schon, würde ich sagen.«

»War irgendjemand von der Presse da?«

Sie riss die Augen auf. »Shit! Daran hab ich noch gar nicht gedacht! Wenn ja, dann … bin ich ruiniert, das steht fest.«

Lennart legte ihr die Hand auf den Unterarm. »Also, du holst dir jetzt mal was zu trinken. Du musst dich beruhigen, schließlich brauchen wir später noch eine detaillierte Aussage von dir. Ich geh jetzt mal rüber zu den Kolleginnen und beende offiziell meinen Urlaub.« Mit diesen Worten erhob er sich und ging auf Britta und Tao zu.

Wie grässlich, dass ausgerechnet hier in Marens Lokal jemand gestorben war, noch dazu nicht irgendwer, sondern ihr prominenter und bei der Klatschpresse so beliebter Ex-Freund, und das möglicherweise durch irgendeine falsche Zutat im Essen – auch wenn Lennart das für ziemlich unwahrscheinlich hielt. Jäh hatte dieses Unglück seine Beziehungsproblemchen unwichtig und jede Form von sommerlicher Unbeschwertheit zunichtegemacht. Gleichzeitig aber auch seine Lethargie verjagt, die Unzufriedenheit über endlose, immer gleich ablaufende Sommertage beendet. Anscheinend tat er sich immer schwerer damit, einmal nichts zu tun, je älter er wurde. Und nun war irgendetwas in ihm froh darüber, dass es einen neuen Fall gab, in dem er zu ermitteln hatte – auch wenn er sich innerlich bereits für den Gedanken schalt, noch bevor er ihn zu Ende gebracht hatte.

»Guten Abend, ihr beiden! Sagt mal, wieso habt ihr mich denn nicht gleich verständigt?«, fragte er und begrüßte Tao mit einem Klaps auf die Schulter und Britta mit zwei Küsschen auf die Wange.

Die Mittfünfzigerin mit den grau-blonden Zöpfen und ins Haar geschobener Sonnenbrille schrieb noch etwas in ihr Notizbuch und lächelte ihn ein wenig verhalten an. Lennart konnte ihren Blick nur schwer deuten. Lag darin vielleicht etwas wie … Mitleid?

»Guten Abend, Chef!«

Lennart zog eine Braue hoch. Er hasste es, wenn Britta ihn so nannte – das wusste sie ganz genau. Schließlich besaß er auch einen Vornamen. Er räusperte sich vernehmlich.

»Stimmt, im Moment bis du ja gar nicht der Chef, weil du schließlich Urlaub hast. Wohlverdient, finden wir. Und schwupps, da hast du auch schon die Antwort auf deine Frage.«

»Verstehe ich nicht«, gab er offen zu.

Tao, deutlich jünger als Britta, zwinkerte ihm zu. »Britta will sagen, dass du nun mal nicht im Dienst bist. Und du deswegen auch nicht von uns mit irgendwelchen Fällen behelligt wirst.«

»Aber das hier ist doch nicht irgendein Fall, das wisst ihr genau. Was also …«

»Stimmt«, raunte Britta, doch wieder war es Tao, die erklärte: »Wir waren uns darüber im Klaren, dass Maren dich sowieso sofort einweihen wird.«

»Wir hatten eigentlich schon früher mit deinem Eintreffen gerechnet, ehrlich gesagt«, ergänzte Britta.

Lennart hielt es nicht für nötig, seinen beiden Mitarbeiterinnen von den atmosphärischen Störungen in seiner Beziehung zu berichten, und schon gar nicht, die Gründe dafür darzulegen.

»Gut, jetzt bin ich ja da. Also, was haben wir bisher?«

»Der Tote ist Falk Magnusson, Spitzenkoch und Fernsehmoderator«, begann Tao ihre Erklärung. »Aber das weißt du ja sicher längst von Maren. Frau Doktor Eklund ist gerade dabei, ihn in ersten Augenschein zu nehmen. Er ist am Tisch zusammengebrochen, nachdem er …«

»Das wird Maren Lennart sicher nachher alles haarklein erzählen, Tao«, fiel Britta ihrer Kollegin jäh ins Wort. Die sah überrascht drein und legte die Stirn in Falten. Man sah der jungen Frau mit den pechschwarzen langen Haaren und dem aparten Gesicht mit seinen asiatischen Zügen – Tao Nguyens Eltern stammten aus Vietnam – ihre Emotionen immer gleich an. Lennart mochte das, es gab ihr etwas Offenes und Nahbares – und sorgte dafür, dass man nicht lange überlegen musste, woran man bei ihr war.

»Sicher, aber Tao wollte mich ja nur auf den aktuellen Stand eurer ersten Ermittlungsergebnisse bringen«, bemerkte Lennart. Auch ihn hatte Brittas Reaktion ein wenig irritiert. »Damit ich jetzt auch gleich auf Augenhöhe einsteigen kann in den Fall.«

»Eben, darum ging es mir ja gerade.« Sie wandte sich ihm nun frontal zu und betonte die einzelnen Wörter besonders deutlich, als sie erklärte: »Du bist nicht Teil des Ermittlungsteams, Lennart. Du hast nämlich Urlaub. Also muss dich auch niemand auf Stand bringen. Ich glaube, Maren braucht dich momentan dringender als wir.« Sie deutete vage in die Richtung, aus der Lennart vorhin gekommen war. Er seufzte. Britta war eine wunderbare Kollegin: lustig, verlässlich, empathisch, unkonventionell, blitzgescheit, kreativ und nie um einen Spruch verlegen. Und sie hatte diese schwer zu beschreibende mütterliche Art – obwohl sie und ihr Lebensgefährte Mats Lund, mit dem zusammen sie in ihrer Freizeit noch einen wundervollen, idyllischen Künstlerhof betrieb, selbst keine Kinder hatten. Meistens fand Lennart auch diesen kümmernden Zug sympathisch an ihr, vor allem, wenn sie für ihn, Tao und die Hälfte des restlichen Polizeipostens Kuchen oder andere Snacks machte und somit verhinderte, dass irgendjemand während der Arbeit vom Fleisch fiel. Und wenn bei Tao oder ihm auch nur der Hauch einer Erkältung oder eines Magen-Darm-Virus im Anzug war, stand sie stets mit einer ganzen Batterie von Hausmitteln parat, deren Einnahme sie dann mit Argusaugen zu überwachen pflegte.

Doch wenn sie, wie jetzt anscheinend auch, glaubte, sie müsse Lennart irgendwelche Zwangs-Erholungspausen verordnen, um ihn nicht zu sehr zu stressen, dann nervte ihn das. Ja, er fand es sogar ein wenig übergriffig. Sicher, Britta wusste von seinem ziemlich heftigen Burn-out. Für den damals, als Lennart noch für Dänemark bei Interpol gewesen war, neben seinen familiären Problemen auch seine berufliche Überlastung verantwortlich gewesen war. Und der ihn schließlich hierher auf die Insel in sein gemütliches Drei-Personen-Kommissariat in Rønne geführt hatte. Hier hatte Lennart Entschleunigung und Ruhe gesucht, einen Neuanfang auf der Sonneninsel, weit weg von seinem alten Leben mit all den Baustellen einschließlich der Scheidung von seiner Ex-Frau Andrea.

Aber das war Schnee von gestern, und er hatte gefunden, wonach er gesucht hatte, war von einem erneuten Ausbrennen so weit entfernt wie Bornholm vom Südpol und hatte sich sogar wider Erwarten ziemlich schnell in eine neue, meist recht glücklich verlaufende Beziehung begeben. Er wusste also durchaus selbst, wann er arbeiten konnte und wann er besser kürzertrat. Dazu brauchte er nicht das Urteil von Super-Mutti Britta Blomdal.

»Liebste Britta, mein Urlaub ist hiermit offiziell beendet. Als Abteilungsleiter rufe ich mich mit sofortiger Wirkung in den Dienst zurück. Du musst keine Angst haben, ich hab mich in den letzten Tagen schon mehr als genug erholt. Also, was wisst ihr?«

»Du scheinst tatsächlich nicht verstehen zu wollen, worum es hier gerade geht, oder?«, fragte Britta mit zusammengezogenen Brauen.

Lennart holte tief Luft. »Doch. Du willst mich irgendwie schonen, deshalb hättest du gern, dass ich weiterhin Urlaub mache. Aber Maren ist meine Freundin, also ist für mich völlig klar, was ich zu tun habe.«

»Gut, dann geh zu ihr und tröste sie. Tao und ich kommen gleich zur Zeugenvernehmung.«

»Nein, Britta, ich werde wie gewohnt als euer Vorgesetzter die Ermittlungen leiten und damit basta. Wäre ja noch schöner!«

Doch Britta funkelte ihn weiter mit zusammengezogenen Brauen an. »Nein, das wirst du ganz sicher nicht. Wie du sagtest, Maren und du, ihr lebt in einer Beziehung. Also wirst du bei deiner Ermittlungsarbeit, womöglich gegen sie selbst, ganz automatisch in Interessenkonflikte geraten. Um es erst gar nicht so weit kommen zu lassen, bleibst du im Urlaub, und Tao und ich kümmern uns um den Todesfall. Im Moment spricht ja auch noch nichts Endgültiges für eine unnatürliche Todesursache.«

»Dafür würde ich meine Hand nicht ins Feuer legen«, ließ da auf einmal Doktor Eklund verlauten und richtete sich ein wenig auf. Für Lennart wurde damit der Blick auf den Toten frei. Dessen noch immer geöffnete, leblose Augen schienen in den Himmel zu starren, und Lennart hatte das Gefühl, Panik im blassen Gesicht von Falk Magnusson zu erkennen. Ebenso wie die unumkehrliche Gewissheit, dem Tod nicht mehr entgehen zu können. Er schluckte. Es war nur ein Bauchgefühl, aber diese Züge wirkten nicht natürlich. Gab es wirklich Anhaltspunkte für eine Vergiftung?

»Lennart, jetzt müsstest du uns aber unsere Arbeit machen lassen«, drängte Britta. »Es wird sowieso noch eine lange Nacht werden für uns.«

Sie schien allen Ernstes anzunehmen, dass er es mit ihrem kurzen Statement auf sich beruhen lassen würde. Doch da hatte sie sich getäuscht. Er war normalerweise alles andere als autoritär, was seinen Führungsstil anging, aber das ging nun wirklich zu weit. Anscheinend war es an der Zeit, mal eine richtige Ansage zu machen.

»Okay, also, nur falls das unklar geblieben ist: Ich bin immer noch dein Vorgesetzter, also hast du mir nicht zu sagen, was ich zu tun und zu lassen habe«, wies er sie mit unmissverständlichem Missfallen in der Stimme zurecht.

Britta kratzte sich am Kopf. »Lennart, nimm das bitte nicht persönlich, aber du weißt doch nur zu gut, wie schnell durch Befangenheit Probleme entstehen können.«

Lennart traute seinen Ohren nicht: Britta Blomdal, deren liebster Zeitvertreib es war, sich ständig über jegliche Art von Regelungen hinwegzusetzen, die ihrem Ex-Chef jedes Ermittlungsdetail brühwarm weitererzählte, die mit ihrem Lebensgefährten fröhlich Hasch in ihrem Garten rauchte, ermahnte ihn gerade zur Einhaltung von Dienstvorschriften? War sie von Außerirdischen entführt worden? Und wieso sagte Tao nicht auch mal was dazu?

Natürlich, rein formal mochte Britta ja im Recht sein. Aber wer Lennart auch nur flüchtig kannte, wusste, dass er sich bei einem Fall nie von familiären oder emotionalen Verquickungen leiten lassen würde. Er fühlte sich schon von jeher nur dem Recht und der Gerechtigkeit verpflichtet. Darüber war man auch in Kopenhagen im Bilde, da war er sich ganz sicher. Er schnaubte. Musste er tatsächlich Sven Meiers mit seinem Problem behelligen, den Chefermittler für die östlichen dänischen Provinzen bei der Reichspolizei, und ihn darum bitten, Britta in ihre Schranken zu verweisen? Das wäre reine Formsache, auch wenn Lennart die Sache nun mal lieber selbst und ohne großes Aufsehen geregelt hätte.

»Lennart, nimm das bitte nicht persönlich. Aber Vorschrift ist nun mal Vorschrift. Das sieht auch Sven so.«

»Sven?«, blaffte Lennart. »Welcher Sven?«

»Sven Meiers. Den hab ich vorsichtshalber vom Auto aus angerufen, als wir hierhergefahren sind. Er mailt dir das morgen noch, hat er gemeint, damit du es schriftlich hast.«

»Wie bitte? Du hast gleich am Sonntagabend schnell den Oberboss angerufen und dir bei ihm Schützenhilfe geholt, weil du mich raushaben willst? Noch bevor ich da war und du überhaupt mit mir geredet hast? Bei dir hakt’s doch, Britta!« Er schüttelte ungläubig den Kopf. War er vielleicht auf der Sonnenliege vor Marens Häuschen eingeschlafen und würde gleich aus einem üblen und ziemlich wirren Albtraum erwachen? Und wenn ja: Konnte er diesen Prozess vielleicht irgendwie beschleunigen? Ihm wurde das alles hier echt allmählich zu absurd. Er schloss die Augen bewusst ganz fest. Vielleicht würde der Traum enden, wenn er sie danach mit dem festen Vorsatz aufmachen würde …

»Lennart?«, hörte er Maren rufen. »Lennart, kannst du kurz kommen?« Er drehte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war – und musste, als er die Augen aufschlug, leider feststellen, dass die Szenerie sich nicht verändert hatte. Nur dass Maren ihn jetzt zu sich winkte. Also doch kein Erwachen aus dem Urlaubs-Nachmittags-Albtraum.

»Unser Gespräch ist noch nicht beendet, ihr beiden. Ich geh jetzt kurz zu Maren, danach klären wir das, verstanden?« Damit drehte er sich um und ging zurück zu seiner Freundin. »Maren, was kann ich für dich tun?«

Sie seufzte kraftlos. »Ich hab mitbekommen, dass ihr streitet, Britta und du. Darüber, wer die Ermittlungen führt.«

Lennart ärgerte sich, dass sie anscheinend doch lauter diskutiert hatten als gedacht. Und das nicht nur wegen Maren: Öffentliches Kompetenzgerangel von Polizeibeamten gab nie ein gutes Bild ab – im Beisein eines eben Verstorbenen, der noch nicht einmal untersucht war, und vor dessen Freundin sowie weiteren Augenzeugen konnte es sogar schnell pietätlos wirken. »Ach so, das ist … ich krieg das schon hin mit ihr«, sagte er und winkte ab. »Ich kümmere mich natürlich um die Sache, damit möglichst bald geklärt ist, dass du rein gar nichts dafür kannst, du dich wieder in Ruhe dem Laden widmen kannst und auch nicht mehr von der Presse behelligt wirst.«

Maren schüttelte den Kopf. »Unsinn, das musst du nicht, und das erwarte ich auch überhaupt nicht von dir.«

»Maren, es ist völlig selbstverständlich, dass ich für dich …«

»Was? Dass du für mich als edler Ritter in die Schlacht ziehst? Das brauch ich nicht. Und sicher hat sich ja sowieso schon morgen alles geklärt.«

»Ich will aber …«

Maren ließ ihn nicht ausreden. »Britta hat vielleicht recht, es bringt nichts, wenn auch noch die Polizei ins Gerede kommt, noch dazu, wo die Yellow Press jetzt derart heiß auf jede Story sein wird, die mit Falks Tod zu tun hat. Die haben bestimmt null Skrupel, sich auch euch vorzuknöpfen. Nach dem Motto: Die Fabricius wird von ihrem neuen Lover protegiert, nachdem der vorige auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen ist.«

Von dieser Warte aus hatte es Lennart noch gar nicht gesehen, und vielleicht lag Maren damit auch gar nicht so falsch. Wahrscheinlich sollte er erst einmal in Ruhe über alles nachdenken und morgen entscheiden, was zu tun wäre. Konnte ja sein, dass sich bis dahin wirklich bereits alles geklärt hatte. Sicher würde er aber nicht bloß untätig zu Hause sitzen und weiter urlauben. Nein, er würde Maren Trost spenden, ihr zur Seite stehen und ihr vielleicht auch anbieten, bei ihrer bevorstehenden Vernehmung durch Tao und Britta dabei zu sein.

»Du gehst vielleicht am besten rüber ins Haus und legst dich ein bisschen hin, Lennart«, schlug Maren vor.

Was sollte das denn jetzt? »Sicher nicht. Ich bleib bei dir.«

»Du muss nicht dasitzen und mit mir Händchen halten. Ich schaff das schon. Vielleicht ist es besser, wenn ich ein bisschen Ruhe habe und wir nicht alles tausendmal durchkauen.«

Er stieß hörbar die Luft aus. Sich hinzulegen war von allen denkbaren Alternativen mit Abstand die schlechteste. Er wollte wenigstens hier am Ort des Geschehens bleiben.

»Soll ich mich um irgendwas kümmern, in der Küche oder im Restaurant?«, bot er daher an. »Aufräumen, zusperren, spülen …«

»Nein, lass mal, deine Kollegen haben gemeint, man dürfe da noch gar nichts verändern, bevor der Spurensicherer da war.«

Lennart verdrehte die Augen. Der nervige Typ von der Spurensicherung – sein Name war ihm trotz seines ansonsten guten Personengedächtnisses schon wieder entfallen – war so ziemlich der einzige Kollege hier auf der Insel, mit dem Lennart es so gar nicht konnte.

»Das betrifft auch alle benutzten Teller, die ganzen Vorräte und die kompletten Tische auf der Terrasse. Weil sie nicht wollen, dass man da Spuren verunreinigt.«

Er nickte. Das ergab Sinn.

»Aber wenn du dein Handy anlässt, ruf ich dich gleich an, und du kommst rüber, falls ich dich brauche. Okay?«

»Okay«, antwortete Lennart schweren Herzens. Es gab anscheinend im Moment keine andere Möglichkeit. Er würde sich also in sein Schicksal fügen und fürs Erste die Füße stillhalten. Allerdings nur bis morgen, nahm er sich vor. Denn wenn herauskäme, dass beim Tod von diesem Falk tatsächlich irgendjemand die Finger im Spiel gehabt hatte, dann würde er die Umstände ans Licht bringen. Wenn es sein musste, auch auf eigene Faust.

Maren bat ihn, ihr noch schnell eine Powerbank fürs Handy aus der Restaurantküche zu holen.

»Wenigstens das«, murmelte er, als er die Terrasse überquerte, wobei er wohlweislich seine beiden Kolleginnen keines Blickes mehr würdigte.

Als er den großzügig verglasten Gastraum betrat, nickte ihm Birte Lauritsen zu, die mit Finja Madsen, der Lebensgefährtin des toten Kochs, an einem der Tische saß. Lennart kannte die junge Pfarrerin von einem seiner letzten Fälle, bei dem sie durch ein Gewaltverbrechen selbst zur Witwe geworden war, und hatte sie für ihre Stärke bewundert, die sie trotz des schweren Verlustes gezeigt hatte. Er war überzeugt, dass man für die Leitung des kleinen Kriseninterventionsteams der Insel niemand Besseren hätte finden können.

Auch an ein paar anderen Tischen saßen Leute und sprachen mit den weiteren Mitgliedern des Teams: zwei Ärzten, einem weiteren Pfarrer, sogar in Soutane, und einem Mann mit beeindruckender Adlernase in weißem kurzem Tennisoutfit, von dem Lennart wusste, dass er als Jugendpsychiater in einer Praxis in Rønne arbeitete.

Als er schließlich die Küche betrat, hielt er inne. Von Britta wusste er, dass die Köchinnen und Köche genauso wie das Servicepersonal im kleinen Aufenthaltsraum des Argousier auf ihre Vernehmung warteten. Vom Spurensicherer war zum Glück noch nichts zu sehen, sodass er im Moment ganz allein war. Alles sah aus, als wäre der Raum vor Kurzem geradezu fluchtartig verlassen worden: In den Backöfen und auf den Herden stand noch Essen, Teller stapelten sich neben der Spülmaschine, auf den Arbeitsplatten lagen allerhand Gemüse, Pilze, geschnittenes Brot und diverse Arten von Beeren herum. Und auf zwei Tabletts fein säuberlich geputzte und zum Teil schon in akkurate Scheiben geschnittene Pilze. Lennart schnürte es für einen Moment die Kehle zu bei dem Gedanken, dass womöglich ein aus Versehen gepflückter Giftpilz darunter war und den Tod des Fernsehkochs verursacht hatte. Er löste seinen Blick von den Pilzen, ging zu Marens Handtasche, entnahm ihr wie gewünscht die Powerbank und verließ die ziemlich gespenstisch wirkende Szenerie wieder. 

***