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Weiße Strände, goldgelbe Felder, idyllische Küstendörfer und Sonne rund ums Jahr: Die beschauliche dänische Urlaubsinsel Bornholm scheint der ideale Platz, um das Leben ein wenig ruhiger angehen zu lassen. Das denkt sich auch der hochdekorierte Kriminalpolizist Lennart Ipsen, als er – frisch geschieden – bei der überschaubaren Insel-Kripo anheuert. Doch statt Angelfahrten und Joggen am Strand wartet gleich sein erster Mordfall auf ihn: Schweinebauer Kristensen wird tot in der eigenen Räucherkammer aufgefunden. Schnell wird klar, dass Kristensen ein unangenehmer Zeitgenosse war, mit dem viele eine Rechnung offen hatten. Und dass eine Mordermittlung auch auf Dänemarks Sonneninsel so manche Schattenseite ans Licht zu bringen vermag …
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Seitenzahl: 526
Veröffentlichungsjahr: 2023
Dass sich Lennart Ipsen, hochdekorierter Experte für innere Sicherheit der dänischen Regierung, nach der Scheidung von seiner deutschen Frau ausgerechnet als gewöhnlicher Kriminalpolizist auf die zugegebenermaßen wunderschöne, aber eben auch etwas verschlafene Urlaubsinsel Bornholm bewirbt, kann in der Personalabteilung der Reichspolizei in Kopenhagen zunächst keiner so richtig glauben. Ipsen aber sehnt sich genau nach dem, was die Sonneninsel verspricht: keine stressigen internationalen Meetings, keine Zwölf-Stunden-Tage und keine Nadelstreifenanzüge, stattdessen ein paar malerische Örtchen, ein kleines Holzhäuschen am Meer, das strahlend blaue Wasser der Ostsee. Dazu Zeit zum Angeln, zum Lesen und endlich die Muße, die Seele baumeln zu lassen und die emotionalen Wunden zu lecken.
Doch die Realität holt ihn schnell ein, und Ipsens erster Mordfall lässt nicht lange auf sich warten: Schweinebauer Kristensen wird eines Morgens in seiner Räucherkammer aufgefunden – goldglänzend geräuchert wie seine auf der ganzen Insel geschätzten Schinken. Lennart und seine beiden sympathischen, wenn auch ein wenig unkonventionellen Kolleginnen stürzen sich in ihre erste gemeinsame Mordermittlung. Schnell wird klar, dass Kristensen zu Lebzeiten ein ziemlicher Stinkstiefel war, mit dem einige auf der Insel eine Rechnung offen hatten …
Weitere Informationen zu Michael Kobr finden Sie am Ende des Buches.
Michael Kobr
Ein Bornholm-Krimi
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Originalausgabe August 2023
Copyright © 2023 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: Hafen Werbeagentur, Hamburg
Covermotiv: © Michael Kobr
Th · Herstellung: ast
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-30510-9V003
www.goldmann-verlag.de
Der kalte Nieselregen, der Lennart Ipsen aus einem grauen Himmel ins Gesicht wehte, war die passgenaue meteorologische Entsprechung seiner Laune. Wie immer war seine Reihe die letzte gewesen, die man am Fährhafen aufgerufen hatte. Kein Platz mehr in der Lounge, kein Tisch mehr im Restaurant, sogar der Ruhebereich platzte schon aus allen Nähten. Zwar war inzwischen Nachsaison, die angeblich die ruhige Zeit auf Bornholm einläutete. Doch davon schienen die hier versammelten deutschen Rentner noch nichts gehört zu haben. Überwiegend in Campingmobilen besuchten sie nach den Schulferien in großer Zahl die dänische Insel mitten in der Ostsee, auf der Lennart von jetzt an arbeiten und leben würde. Für immer? Mal sehen. Zumindest bis heute Morgen war das noch sein Plan gewesen. Mehr noch: sein Traum, makellos, strahlend. Und nun hatte der schon nach den ersten zwei Stunden beachtliche Kratzer abbekommen. Trotzdem: Es war entschieden, und er musste da durch. Wenigstens für die Dauer eines Jahres, in dem er abschalten, runterkommen, sein Leben maximal entschleunigen würde. Danach könnte er weitersehen. Lennart zog seine Kapuze in die Stirn, hob den Blick zum Horizont. Rügen war längst außer Sichtweite, der Hafen von Rønne noch weit entfernt. Niemandsland. Er dachte an seine Abreise, bei der ihm Freunde und seine beiden Töchter Glück gewünscht hatten. Glück für seinen Neuanfang in der alten Heimat Dänemark. Heimat? Sicher, er war dänischer Staatsbürger, war gleich hinter der deutschen Grenze auf dänischem Gebiet geboren, auch wenn seine Mutter Hamburgerin und Flensburg immer seine Stadt gewesen waren. »Den Deutschen« hatten sie ihn deshalb beim Studium in Kopenhagen immer genannt. An dessen Ende hatte er dann Andrea kennengelernt, auch sie eine Deutsche, aber eine richtige. Sie hatte damals nach ihrem zweiten Lehramts-Examen ein Auslandsjahr gemacht, war schließlich geblieben und hatte begonnen, als Lehrerin zu arbeiten.
Lennart hingegen war inzwischen schon seit über zwanzig Jahren Beamter bei der dänischen Polizei, erst bei der Kripo in Kopenhagen, dann auf internationaler Ebene in Lyon und Brüssel. Und das mit vollem Einsatz: hochdekoriert, hochgelobt – und dennoch tief gefallen. Gefallen in ein Loch, das sich mit einem Mal vor ihm aufgetan hatte. Ohne Vorwarnung. Ohne Leiter, um herauszuklettern. Nichts hatte darauf hingedeutet, und doch hatte es ihn eingesaugt, ihm mit einem Schlag nicht nur sein Lächeln geraubt, sondern jegliche Energie und Lebensfreude. Still war es geworden in ihm. Still und grau und einsam. Seine Ärztin hatte das als Burnout, seine frischgebackene Ex-Frau Andrea hingegen lapidar als seinnerviges Miesdraufsein tituliert, das sie nicht mehr ertragen könne. Dann eben nicht. Eine Weile hatte er geglaubt, für immer in diesem Loch festzusitzen, doch dann hatte er alle Kräfte aufgeboten, um sich daraus zu befreien. Und es hatte geklappt. Zwar war er noch nicht ganz wieder auf dem Stand von vorher – aber er würde wieder rauskommen aus dieser Scheiße. Wenn es überhaupt eine Sache gab, auf die er stolz war an sich, dann auf seinen unerschütterlichen Mut weiterzumachen, den Kopf freizubekommen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.
Er lehnte sich weit über die Reling und ließ die feuchte Luft in seine Lungen strömen. Es roch nach Meer, nach Jod, nach Algen, dem Dieselqualm aus dem Schornstein über ihm. Nein, korrigierte er sich innerlich: Es roch nach Freiheit.
Frei würde er sich fühlen. Das vor allem. Frei. Ungebunden. Leicht. Keine internationalen Meetings mehr, keine »Dossiers zur inneren Sicherheit moderner Demokratien«, keine langweiligen Abendessen mit irgendwelchen Staatssekretären, leitenden Beamten und Europaabgeordneten, mit Hilfe derer die sich letztlich nur ihrer eigenen Relevanz versicherten. Und auch keine Ehefrau mehr, die abends schon im Bett war, wenn er heimkam, die ihm ständig vorhielt, den Beruf über die Familie zu stellen, der er zu sehr Technokrat und zu wenig Hausmeister, Vater, Liebhaber und Abenteurer in einer Person war. Die beiden Mädchen waren bei ihr geblieben, darauf hatte sie bestanden. Ida war dreizehn, Magda mit fünfzehn schon fast erwachsen. Es war bestimmt besser so. Für sie. Ihm allerdings würden sie furchtbar fehlen.
Immerhin: Andrea hatte eine Stelle an einem Gymnasium auf Rügen angenommen. In Binz, ihrer Heimatstadt und dem Wohnort ihrer Eltern. Auch wenn Lennart nicht gerade ein Faible für die deutsche Ferieninsel hatte: Die Mädchen konnten von dort aus ganz einfach die Fähre nehmen und ihn in seinem kleinen Paradies besuchen – und umgekehrt. Die beiden hatten natürlich gemosert. Dass sie nach Wohnorten wie Lyon, wo Lennart eine Weile bei Interpol gearbeitet hatte, und der Metropole Brüssel – hierhin hatte man ihn als Referent für innere Sicherheit bei der EU abgeordnet – jetzt den Rest ihrer Schulzeit in der deutschen Provinz zuzubringen hatten, war ein Schock für sie gewesen. Und als sie dann noch erfuhren, dass sie an derselben Schule sein würden wie ihre Mutter, hätten sie sich am liebsten an Amnesty International gewandt.
Lennart hob seinen Blick. Aus dem Dunst war überraschend nah ein großer Offshore-Windpark aufgetaucht. Langsam und stetig drehten sich die Rotorblätter an den mächtigen Masten. Kraftvoll und stoisch, als könne kein Sturm, kein Gewitter sie aus dem Takt bringen. Lennart nickte und zündete sich eine Zigarette an. Zwei Züge, dann warf er sie über Bord. Sie schmeckte schal und eklig, wie ein Eindringling aus seinem alten Leben. Lennart brauchte das nicht länger. Er schenkte einem der ohnehin kettenrauchenden Angeltouristen an Deck die restliche Packung Gauloises samt Feuerzeug, zog die Kabinentür auf und wollte gerade nach drinnen gehen, da bemerkte er im Augenwinkel das riesige Kampfflugzeug am Himmel, gefolgt von zwei kleineren Militärjets links und rechts. Die Maschinen rasten erstaunlich tief über das Schiff hinweg, begleitet vom ohrenbetäubenden Lärm der Triebwerke. Die restlichen Passagiere an Deck wandten wie Lennart den Kopf. Russische Flugzeuge, ohne Zweifel. Wie auf Kommando drehten die drei Jets nun scharf nach rechts ab und verschwanden aus Lennarts Sichtfeld. Ein ungutes Gefühl stieg in ihm auf. Er konnte dieses Säbelrasseln, das sich hier an einem der Außenposten der NATO immer mal wieder abspielte, nicht ausstehen. Zumal im Moment die politische Lage in Europa einem Pulverfass glich und jegliche Provokation weitreichende Folgen haben konnte. Folgen, an die Lennart im Moment lieber gar nicht denken wollte.
Seufzend ging er nach drinnen. Ein kurzer Blick in den Ruhebereich verriet ihm, dass mittlerweile wieder einige der wie kleine Stockbetten angeordneten Pritschen frei waren. Auf ihnen konnte man sich ausstrecken und durchs Fenster aufs Meer sehen, ohne dass einem der Nieselregen ins Gesicht peitschte. Er zog die Tür hinter sich zu. Im Raum herrschte wunderbare Ruhe – das leise Schnarchen einiger Reisender störte nicht weiter, im Gegenteil, es lockerte das allgegenwärtige Brummen des mächtigen Schiffsdiesels sogar ein wenig auf. Lennart schwang sich auf eines der oberen Betten, schob seine Jacke als Kissen unter den Hinterkopf. Er holte sein Smartphone aus der Hosentasche, stöpselte sich die drahtlosen Kopfhörer in die Ohren und stellte Entre dos Tierras, seinen Lieblingssong, dessen spanischen Text er allerdings nie wirklich verstanden hatte, auf Endlosschleife. Dann schloss er die Augen, und schon nach den ersten Takten konnte er sich entspannen.
Wundervoll würde es werden, sein neues Leben auf der beschaulichen Insel mitten in der Ostsee. »Sonneninsel« wurde sie im Rest von Dänemark und auf den kitschigen Souvenirtassen genannt. Es sah zwar heute beileibe nicht danach aus, aber Bornholm war für sein fast mediterranes Klima berühmt. Zumindest im Sommer, der sich allerdings seinem Ende zuneigte. Er öffnete die Augen, um auf dem Smartphone noch einmal die Fotos zu betrachten, die ihm der Vermieter des kleinen Hauses geschickt hatte. Seines kleinen Hauses. Lennart hatte es unbesehen im Internet für die Dauer von zwölf Monaten gemietet. Für einen guten Preis und mit der Bedingung, den Garten zu pflegen und nach den Bienenstöcken zu sehen. Nicht gerade seine bevorzugten Hobbys, aber auf diesen Deal hatte er sich einlassen müssen, um das putzige gelbe Häuschen sein Eigen nennen zu dürfen. Ein einfacher Riegel, zwei Stockwerke, zwei Gästezimmer, eine schlichte Küche, eine schöne Terrasse, irgendwo in den Feldern oberhalb der Küste zwischen den beiden verträumten Örtchen Svaneke und Gudhjem.
Nichts als verschwommene Erinnerungen hatte er an diese Namen. Als Kind war er zwei- oder dreimal auf Bornholm gewesen, im Sommerhaus einer befreundeten Familie. Und hatte stets das Gefühl gehabt, auf dem Eiland auf unsagbar angenehme Weise aus der Zeit gefallen zu sein. Ein vager Eindruck des Glücks, der kindlichen Unbeschwertheit, weiter nichts. Und dennoch so stark, dass er nie verschwunden war. All die Jahre hatte er es nicht gewagt, erneut dorthin zu fahren, damit die Realität sich nicht korrigierend einmischen konnte. So war Bornholm zu einer Art heiligem Gral für ihn geworden, einem zeitlosen Ort der Freiheit und Ruhe.
Dort würde er von nun an leben. Alle hatten ihn für verrückt erklärt, als er seine Entscheidung im Freundes- und Familienkreis publik gemacht hatte. Von »Abstellgleis« hatten sie gesprochen. Doch er hatte nicht nur blind ein Haus gemietet, sondern sich auch blind auf seine neue Stelle beworben, die er schon morgen antreten würde: Leiter des polizeilichen Ermittlungsdienstes für personengefährdende Kriminalität im Polizeiposten der Inselhauptstadt Rønne. Kein Wunder, dass er den Zuschlag für den Job bekommen hatte, alles andere hätte man schwer rechtfertigen können, bei seinen Beurteilungen. Auch wenn sich die Personalabteilung der Reichspolizei mehrmals bei ihm rückversichert hatte, ob es sich bei der Bewerbung nicht um ein Missverständnis handle, schließlich bestehe das »Rønne Headquarter«, wie es auf der Website vollmundig hieß, insgesamt nur aus zwei Dutzend Mitarbeitern – und seine zukünftige Abteilung aus dreien, ihn selbst eingeschlossen. Bornholm war eben auch in dieser Hinsicht ein ziemlich beschauliches Fleckchen Erde. Und damit genau das, was er suchte.
Zwei neue Kolleginnen würde er haben – das sollte ihm fürs Erste an Gesellschaft reichen. Bislang freilich hatte er keine Ahnung, um wen es sich dabei handelte. Nur sein Vorgänger im Amt, der seit beinahe einem halben Jahr pensionierte Morten Nygaard, hatte ihm bereits eine Mail geschrieben – und großzügig angeboten, ihm stets mit Rat und Tat beiseitezustehen, wenn Fragen auftauchen würden. Ein Anruf genüge, und Nygaard sei zur Stelle. Lennart hatte nett, aber derart zurückhaltend geantwortet, dass keine Zweifel aufkamen. Er kannte diese stressigen Typen zur Genüge, die trotz ihrer Versetzung in den Ruhestand ständig im Büro auftauchten, gute Ratschläge verteilten und dann stundenlang in der Kaffeeküche herumlungerten, um der drückenden Enge und Langeweile zu Hause zu entgehen.
Obendrein: Welche Hilfe würde er wohl nötig haben, wenn es darum ging, hier mal eine Schlägerei unter betrunkenen Fischern zu schlichten, dort einen Touristen aufzuspüren, der sich beim Pilzesammeln verlaufen hatte, ab und an einen Unfall zu untersuchen? Denn spektakuläre Kriminalfälle, bei denen Leute nennenswert zu Schaden gekommen waren, hatte es Lennarts Wissens nach auf Bornholm in letzter Zeit nicht gegeben, und so rechnete er auch fürs nächste Jahr mit nichts als Beschaulichkeit. Womöglich würden ihn die Kollegen vom Betrug ab und zu bitten, ein wenig Arbeit von ihnen zu übernehmen, dann würde er bei strahlendem Sonnenschein in die Räuchereien fahren und die Waagen auf ihre Eichsiegel überprüfen, die Online-Zahlungsterminals der Glasbläsereien kontrollieren oder mal einen Zechpreller in einem der Hafenlokale dingfest machen. Anschließend würde er mit den Kollegen gemütlich essen gehen – und wer weiß, vielleicht gab es im Polizeiposten ja sogar ein Sofa, das die Möglichkeit bot, ab und zu ein Mittagsschläfchen zu halten.
Ansonsten würde er in seiner Freizeit den Meerblick genießen, den man auf den Bildern des Vermieters erahnte, den Garten mit dem hölzernen Pavillon, den Beerensträuchern, Gemüsebeeten, den Blumen und dem mächtigen Feigenbaum im Zentrum. Würde lange Strandspaziergänge machen, im Meer baden, angeln gehen, vielleicht ab und an mit einem Kutter hinausfahren, um ein paar Dorsche zu fangen. Und natürlich lesen, wann und wie viel er wollte, sinnlos fernsehen, essen gehen, wenn ihm danach war – eben etwa in eine der zahllosen Räuchereien, für die die Insel bekannt war. Kurz: Er würde das beschauliche Leben eines kleinen Landpolizisten führen, ohne Stress und Hektik.
Lennart seufzte mit einem versonnenen Lächeln. Das Dröhnen des Schiffdiesels drang monoton durch die Musik, die Fähre schaukelte sanft mit den Wellen. Inselidylle mit Mittagsschläfen – wie lange hatte er keine Siesta mehr gemacht! Zehn Jahre? Er sah auf die Uhr und beschloss, dass es höchste Zeit war, das zu ändern.
Ein metallisches Hämmern drang unbarmherzig durch Lennarts Kopf. Er drehte sich brummend um, doch das penetrante Dröhnen hörte nicht auf. Was um alles in der Welt … Er schlug die Augen auf, starrte an die Decke – und hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Mit der Hand strich er über sein Gesicht. Allmählich verortete sich sein Hirn wieder. Natürlich: Bornholm, sein Haus, sein neues Leben.
Ob er verschlafen hatte? Nein, durch die Lamellen des Holzrollos drang das blasse, diffuse Licht der Morgendämmerung. Er hatte also noch gut und gern eine Stunde, bevor der Wecker klingelte. Woher aber kam nur dieser furchtbare Krach? Lennart musste der Quelle auf den Grund gehen, sonst würde er kein Auge mehr zumachen. Er stand auf, horchte, schlurfte dann barfuß ins Bad, wo sein Blick auf das Glasboard oberhalb des Waschbeckens fiel. Dort hatte er am Abend sein Handy liegenlassen, das nun durch den Vibrationsalarm das kleine Regalbrett und den darauf befindlichen Becher samt mehrerer Nassrasierer derart in Schwingung versetzte, dass es klang, als breche ein Panzer mitten durch sein kleines dänisches Paradies.
Er griff sich das Handy und sah aufs Display: Britta? Lennart seufzte. Seine Kollegin hatte den Nachtdienst in dieser Woche. Dass sie um diese Zeit anrief, verhieß nichts Gutes.
»Fuck! Morgen, Britta!«, brummte er ins Telefon und klang dabei mürrischer als gewollt.
»Morgen! Sorry für die frühe Störung, Chef, aber …«
»Britta! Lass das doch endlich mit dem albernen Chef. Du weißt, wie ich heiße.«
»Alles klar. Dann eben sorry, Lennart.«
Lennart wartete gespannt darauf, den Grund des Anrufs zu erfahren, doch Britta sprach nicht weiter. Wie immer, wenn man sie unterbrach. Er kannte diese Marotte schon zur Genüge. Trotz der kurzen Zeit, die er mit ihr zusammenarbeitete, war es schon öfter zu ungewöhnlichen Gesprächspausen gekommen. Lennart fiel seinen Gesprächspartnern einfach zu gern ins Wort. Berufskrankheit. Britta würde sich daran gewöhnen.
»Kein Problem. Warum rufst du an?«, fragte er, bemüht um den freundlichsten Ton, zu dem er zu dieser unchristlichen Zeit fähig war.
»Weil wir einen Fall haben, Chef. Lennart, besser gesagt. Sorry.«
Noch so ein Tick von ihr: Ihr unterwürfig dargebotenes Sorry bemühte sie immer und überall, auch wenn sie wie jetzt nicht den geringsten Grund hatte, sich zu entschuldigen.
»Ein Fall? Und deshalb rufst du mich zu nachtschlafender Zeit an?«
»Ja, sorry.«
Er seufzte. »Was ist denn passiert? Wieder eine Bierleiche beim Festival? Ist das nicht eh schon vorbei?« Tatsächlich hatten beim Raise Your Horns, einem Metal-Open-Air mit martialischen Wikinger-Anklängen, das am vergangenen Wochenende auf der Insel über die Bühne gegangen war, sowohl einige Besucher wie auch Musiker gewaltig einen über den Durst getrunken und irgendwelche Pillen eingeworfen, was zu mehreren Einsätzen von Lennarts Kollegen geführt hatte.
»Keine Bierleiche Lennart. Eher eine … Schinkenleiche.« Sie räusperte sich.
»Eine … was?« Lennart kratzte sich am Kopf.
»Am besten, du siehst es dir selber an«, erwiderte Britta. Man hörte, dass sie ziemlich unter Stress stand. Sie nannte ihm eine Adresse in der Nähe von Snogebæk, einem winzigen Örtchen an der Ostküste der Insel. Lennart sah sich noch nach Stift und Zettel um, da erklärte seine Kollegin bereits: »Es ist ein Bauernhof, nicht schwer zu finden. Ich schick dir den Standort auf dein Handy. Ach ja, ich würde an deiner Stelle nichts frühstücken.« Bevor er nachfragen konnte, schob sie ein »Bis gleich« nach und beendete den Anruf.
Lennart sah ein reichlich derangiertes Gesicht aus dem Spiegel entgegen. Und das, obwohl er es sich in seinem neuen Leben zur Angewohnheit gemacht hatte, geradezu unerhört früh ins Bett zu gehen. Meist schon gegen 22 Uhr, mit dem festen Willen, noch mindestens zwei Stunden einem Hörbuch zu lauschen – bei dem er dann regelmäßig nach fünf Minuten einnickte. Aber immer noch besser, als vor dem Fernseher auf der Couch einzuschlafen und schließlich um zwei Uhr morgens mit schmerzendem Nacken und halb bewusstlos durchs dunkle Haus zu wanken. So viel zu seinem Vorsatz, ganze Nächte lang vor der Glotze oder mit einem Buch auszuharren. Doch er war nicht unzufrieden mit seinen ersten Tagen, auch wenn die anders ausgesehen hatten, als er es sich auf der Fähre zusammengeträumt hatte.
Schon der erste Abend war ein wenig ernüchternd gewesen, als er den Schlüssel des Hauses, das zum Glück voll und ganz der Beschreibung entsprach und wirklich gemütlich eingerichtet war, nicht am vereinbarten Platz gefunden und erst nach einer zweistündigen Odyssee über die Insel von der Schwester des Besitzers ausgehändigt bekommen hatte. Bis er wusste, wo man das Wasser und den Boiler anstellte, die Elektroinstallation in Betrieb nahm, bis er seine Koffer aus dem Auto geladen, die vorab in den Schuppen gelieferten Umzugskartons zumindest grob gesichtet und endlich sein Bett bezogen hatte, waren noch mal mehrere Stunden vergangen. Lennart war schließlich ohne Abendessen in voller Montur auf dem Sofa weggedöst.
Und so hatte er nicht besonders gut geschlafen in seiner ersten Nacht auf der Insel und beim Dienstantritt am nächsten Morgen wahrscheinlich einen ziemlich zerknitterten Eindruck gemacht. Ansonsten waren die Tage seitdem behäbig dahingeplätschert, ohne dass er jedoch die Zeit gefunden hätte, wirklich etwas Substantielles für sich zu tun, »etwas Schönes zu machen«, wie seine Ex-Frau es immer genannt hatte. Stattdessen hatte er sich ein wenig eingerichtet in seinem neuen Leben, hatte immerhin mehrmals auf der kleinen Holzterrasse vor der Küche in der Sonne gesessen, Zeitung gelesen und die Ruhe genossen. Seine Joggingschuhe allerdings lagen noch immer in der Umzugskiste, und eine Angel hatte er lediglich in einem der Sonderangebots-Kataloge des Discounters im nächsten Ort gesehen. Er hatte sich einfach noch nicht dazu aufraffen können, seine Zeit mit richtigen Aktivitäten zu füllen. Kein Wunder, schließlich war niemand da, der ihn antrieb.
»Alter Sack!«, raunte Lennart seinem Spiegelbild zu. Wobei er sich ja eigentlich ganz gut gehalten hatte: Er war, wenn auch nicht sonderlich groß, athletisch gebaut und für Mitte vierzig nach wie vor in passabler Form. Nur auf seiner Stirn hatte sich im letzten Jahr eine Falte gebildet, die ein wenig an das Logo eines großen amerikanischen Internetversenders erinnerte. Und auch um die stahlblauen Augen herum war die Haut nicht mehr ganz so straff wie früher. Doch das verlieh seinem Gesicht einfach nur mehr Charakter, redete er sich ein. Immerhin hatte er nach wie vor volles Haar, dessen jugendliches Blond sich mit der Zeit eher in Richtung Braun entwickelt hatte und das er jetzt wieder ein wenig länger trug als früher. Sicher, es wies wie auch die Bartstoppeln ein paar graue Stellen auf, aber er war eben auch keine dreißig mehr.
Er seufzte und ordnete seine Frisur notdürftig mit den Händen, schließlich musste er sich beeilen. Britta hatte wirklich alarmiert geklungen – wobei er keine Ahnung hatte, was unter einer »Schinkenleiche« zu verstehen war. Ob es sich wirklich um einen Toten handelte? Oder war das nur eine Bezeichnung der Insulaner für jemanden, der zu viel Fleisch gegessen hatte? Egal, das würde er schon noch herausfinden. Er beschloss, dass eine Katzenwäsche genügen musste, putzte sich die Zähne und stieg die wunderschön knarzende Holztreppe hinab. In der offenen Küche, die direkt in den weitläufigen Wohnraum samt Esstisch, Couch und einer kleinen Nische vor dem Fenster überging – von wo aus man einen fantastischen Blick auf die heute nebelverhangene Ostsee hatte –, ließ er sich einen schnellen Kapselkaffee aus der Maschine, stürzte ihn im Stehen schwarz und viel zu heiß hinunter und verließ das Haus.
***
Mithilfe seines Handys war es für Lennart ein Leichtes, den Bauernhof zu finden, von dem aus ihn seine Kollegin angerufen hatte – unangenehm war nur, dass er das Gerät jedes Mal zur Hand nehmen musste, um auf das Display blicken zu können. Sein Auto hatte keine Telefonhalterung, von einem Navigationsgerät ganz zu schweigen. Nein, korrigierte er sich. Der Wagen, den er momentan fuhr, war nicht mit solchen Annehmlichkeiten ausgestattet. Sein richtiges Auto hatte alles, was man an Ausstattung brauchte – zugleich aber den Nachteil, dass es sich im Besitz seiner Frau befand. Denn das SUV aus schwedischer Produktion war bei der Scheidung wie die Kinder Andrea zugesprochen worden, während er den Oldtimer behalten durfte. Dabei hatte er das Mercedes-Coupé nie sonderlich gemocht. Der Wagen war früher das liebste Stück seines Großonkels gewesen, und als der mit über neunzig beschlossen hatte, den Führerschein abzugeben, hatte er ihn Lennart geschenkt – wie hätte dieser da Nein sagen können, ohne den alten Herrn vor den Kopf zu stoßen?
In den letzten Jahren hatte der Wagen dann meist in irgendwelchen Garagen herumgestanden, um hin und wieder in die Werkstatt gebracht und noch seltener zu einem Tagesausflug verwendet zu werden. Immerhin: Das Ding, ein silberner 280 SLC, Baujahr 1980 mit einer ziemlich schrägen blauen Innenausstattung, war ein Viersitzer und damit zumindest einigermaßen alltagstauglich. Wie es sich hier auf der Insel im Winter verhalten würde, wusste Lennart noch nicht, er würde es aber wohl oder übel auf einen Versuch ankommen lassen. Wenn es ihm dann unter dem Hintern wegrostete, musste er wenigstens nicht mehr einen Gutteil seines Gehalts in Sprit investieren, die Mühle schluckte nämlich gut und gern fünfzehn Liter. Er stellte den Mercedes neben dem Dienstwagen seiner Abteilung ab, einem dunkelgrauen Van, mit dem Britta gekommen war. Warum man für drei Beamte einen achtsitzigen VW-Bus brauchte, verstand er zwar nicht, aber es ging die Legende, dass sein Vorgänger, der alte Morten Nygaard, das Ding angeschafft hatte, um am Wochenende launige Personalausflüge samt Ehepartnern und Familien zu unternehmen.
Lennart zuckte die Schultern und stieg aus. Inzwischen war die Dämmerung dem Licht eines Spätsommermorgens gewichen, der strahlenden Sonnenschein verhieß – allerdings erst in ein, zwei Stunden, wenn sich die dichte Frühnebelsuppe, die momentan noch über dem Land lag, gelichtet haben würde. Das Anwesen bestand aus einem etwas in die Jahre gekommenen schlichten Wohnhaus, mehreren langgezogenen Ställen dahinter und einem niedrigen Nebengebäude mit mächtigem Schornstein, offenbar eine Räucherkammer, vor der Britta mit einigen Polizisten aus dem Streifendienst stand. Das blitzende Blaulicht zweier Einsatzwagen wurde vom Nebel reflektiert und tauchte die Szenerie in ein groteskes Licht. Lennart würde die Kollegen bitten, es auszuschalten, schließlich befanden sie sich nicht in irgendeinem schwedischen Kriminalfilm.
Das Erste, was Lennart auffiel, noch bevor er die anderen erreicht hatte, war der Geruch: Überraschenderweise stank es weder nach Kuh- noch nach Schweinemist, wie die ausgedehnten Stallungen es hätten vermuten lassen. Nein, über dem gesamten Gehöft lag der wunderbare, appetitliche Duft von Geräuchertem. Allerdings ein anderer als in den berühmten Fischräuchereien der Insel – und damit für Lennarts Nase sogar ein noch besserer. Denn es roch nach Schinken, frisch aus dem Rauch, noch warm, der sich ganz hervorragend auf einem Brötchen machen würde, ein bisschen Senf darunter, ein paar saure Gürkchen … Vielleicht hätte er doch etwas frühstücken sollen, dachte Lennart, dem derart das Wasser im Mund zusammenlief, dass er kräftig schluckte, bevor er sich endlich auch zu den Kollegen gesellte.
Als Britta ihn bemerkte, löste sie sich von den Uniformierten und kam winkend auf ihn zu. Die Metalltür der Räucherkammer stand offen. Daher also der betörende Duft. Lennart hob eine Hand zum Gruß und kniff die Augen zusammen, um genauer erkennen zu können, was da zwischen den Beamten auf dem gekiesten Boden lag. War das etwa … natürlich, kein Zweifel, es handelte sich um den Körper eines Mannes. Eines toten Mannes. Doch nicht diese bloße Erkenntnis war es, was Lennart mit einem Schlag taumeln und von einer Sekunde auf die andere jegliche Farbe aus seinem Gesicht schwinden ließ. Es waren die Umstände: Der Oberkörper des Toten war entblößt, hatte eine dunkle goldgelbe Farbe, sein Bauch glänzte wie eine frisch geräucherte Speckschwarte. Lennart wandte sich ab und übergab sich.
***
»Oh je, dabei hab ich doch extra gesagt: Nix essen, Chef!«
»Britta, Himmel, wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich …«
»Sorry! Nicht Chef, sondern Lennart, ich weiß.« Britta schenkte ihm ein mütterliches Lächeln und klopfte ihm auf die Schulter.
»Ich hatte nichts außer einem Kaffee im Magen«, murmelte er. »Gott sei Dank! Aber seit ich auf den Hof eingebogen bin, hatte ich ein Schinkenbrot vor Augen – und dann das!«
Lennart hatte sich kurz setzen müssen, so sehr hatte ihm der Anblick, vor allem aber der Geruch, den er auf einmal ganz anders wahrgenommen hatte, den Boden unter den Füßen weggezogen. Dabei waren ihm aus seiner Zeit als Mordermittler in Kopenhagen auch mitunter übel zugerichtete Leichen nicht fremd. Doch dass hier, auf seiner Idylle-Trauminsel, ein Mann vor ihm lag, den man allem Anschein nach wie einen Schinken heißgeräuchert hatte, diese Möglichkeit hatte er nicht auf dem Zettel gehabt.
Lennart erhob sich von dem klapprigen PKW-Anhänger, auf dessen Ladefläche er sich mangels Alternativen hatte niedersinken lassen, und seufzte. Toller Auftritt vor den neuen Kollegen! Britta sah ihn mitfühlend an, er lächelte mit ehrlicher Dankbarkeit zurück.
Britta! Was für eine Seele von Mensch. Auch wenn er sie erst knapp zwei Wochen kannte, war Lennart davon schon absolut überzeugt. Er hätte es mit seiner engsten Mitarbeiterin kaum besser treffen können. Zugegeben, sein erster Eindruck war ein anderer gewesen. Ein diametral entgegengesetzter sogar. Als er Britta Blomdal zum ersten Mal gesehen hatte, mit ihrem grau-blonden Zopf, der starken runden Brille, ihren Pausbacken und dem Batikrock über der Jeans, mit ihren selbst gestrickten Socken und ihrer unsäglichen gehäkelten Riesenhandtasche, hätte er die Chancen auf eine gute Zusammenarbeit auf unter zehn Prozent eingeschätzt. Er hatte die Mittfünfzigerin ohne zu zögern in die Schublade »alternde Ökotrine mit Hang zur Sonderlichkeit« einsortiert. Nicht ganz grundlos: Auch heute wirkte sie in ihrem unkonventionellen Aufzug eher wie eine Mischung aus Künstlerin, Hausfrau und Pipi Langstrumpf als wie eine Polizistin während einer Todesermittlung.
Nur dass Lennart jener oberflächlichen Einschätzung, die ihm der erste Eindruck eingeflüstert hatte, mittlerweile eben reichlich positive Schlagworte wie »kollegial«, »lustig«, »authentisch« und »verlässlich« hatte hinzufügen können.
»Wenn du ihn dir nicht näher anschauen willst, ist das auch okay«, flüsterte sie ihm zu, doch er winkte ab. Ihm reichten schon jetzt die Blicke der vier Uniformierten, die ihn mit einer Mischung aus Mitleid, Angst vor einem weiteren Zusammenbruch und unverhohlener Häme trafen.
»Morgen zusammen«, brummte er und beugte sich über den toten Körper. Immerhin, sein Magen gab fürs Erste Ruhe, was vielleicht auch daran lag, dass man inzwischen das Gesicht der Leiche abgedeckt hatte. Dennoch war das Bild, das sich Lennart bot, noch immer bizarr genug: Der freie Oberkörper des Mannes sah eindeutig heißgeräuchert aus, die Haare am beachtlichen Bauch wirkten wie Borsten auf einer Schweineschwarte.
»Enorme Portion Räucherspeck, was, Kollege?«, rief ihm der Leiter der Spurensicherung grinsend zu, ein Mittfünfziger, an dessen Namen sich Lennart im Moment beim besten Willen nicht erinnern konnte. Er rang sich ein gequältes Lächeln ab.
»Habt ihr die Gerichtsmedizin noch nicht verständigt?«, fragte er leise an Britta gewandt, die sich zu ihm gesellt hatte.
»Doch, Doktor Eklund war auch schon da, musste aber noch einmal kurz zu einem Notfall weg.«
»Er musste zu einem Notfall? Als Gerichtsmediziner?«, hakte Lennart erstaunt ein.
»Sie.«
»Wie?«
»Sie musste weg. Doktor Eklund ist eine Frau.«
»Verstehe. Aber trotzdem …«
»Wir sind hier nicht in irgendeiner Großstadt. Ein Gerichtsmediziner in Vollzeit hätte auf der Insel leider einen allzu lockeren Job.«
»Leider?«, fragte er und legte die Stirn in Falten.
»Beziehungsweise zum Glück, schon klar. Jedenfalls leitet Doktor Eklund ein medizinisches Labor in Nexø und hat obendrein vor zwei Jahren die Landarztpraxis ihres Vaters in Snogebæk übernommen. Und da musste sie gerade zu einem Notfall, weil sich eine Frau beim Zubereiten des Frühstücks mit ihrer Brotschneidemaschine … egal.« Britta schüttelte über sich selbst den Kopf.
»Hat die vielbeschäftigte Frau Doktor denn schon was zum Todeszeitpunkt sagen können?«, wollte Lennart wissen.
Britta presste die Lippen aufeinander und nickte. »Ja, irgendwann in der Nacht, glaubt sie, wobei sie sich mit dem genauen Zeitpunkt schwertut, weil sie nicht weiß, wie der Temperaturverlauf in der Räucherkammer war. Er war noch relativ … warm heute Morgen.« Sie wies auf die offene Metalltür des großen Raumes, aus der etwas Rauch drang. Als Lennart die darin aufgehängten Schinken und weitere Fleischstücke erkannte, spürte er erneut Übelkeit in sich aufsteigen. Hätte er nicht bei seiner Ankunft in Bornholm dem Rauchen abgeschworen, wäre er jetzt zu einem der Uniformierten gegangen, um sich eine Zigarette zu schnorren.
»Verstehe«, presste er hervor. »Und ist er am heißen Rauch da drin gestorben? Also erstickt? Oder an der Temperatur?«
»Noch unklar, bis jetzt«, erwiderte Britta.
»Hat er sich aus Versehen eingesperrt?«
»Nein, das ist sehr unwahrscheinlich, die Tür war von außen verriegelt. Wir müssen von einer Tötung mit Fremdverschulden ausgehen. Doktor Eklund hat bereits einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf diagnostiziert, der Mann dürfte also bewusstlos gewesen sein und nichts mehr mitbekommen haben. Bevor du fragst: Ja, beim Toten handelt es sich um den Besitzer des Hofs, Steffen Kristensen. Er ist einundsechzig Jahre alt und führt den Betrieb in zweiter Generation. Laut seinem Bekannten, der ihn heute Morgen gefunden hat …« Sie wies auf einen älteren Mann, der auf der kleinen Bank vor dem Wohnhaus saß und regungslos auf den Boden starrte. »… lebt er allein, seine geschiedene Frau wohnt schon seit Jahren auf dem Festland, seine Tochter ist verheiratet und wohnt irgendwo im Norden der Insel. Seine wichtigste Einnahmequelle ist anscheinend sein Rauchfleisch. Er züchtet ausschließlich Schweine. Irgendeine ganz bestimmte Rasse, die angeblich besondere Fleischqualität besitzt.«
Lennart runzelte die Stirn und sah auf. Dieses schmucklose, ziemlich unansehnliche Anwesen mit den Stallungen aus Beton, dem gepflasterten Hof und dem riesigen Silo darauf sah für ihn nicht gerade nach Schweinen sonderlich edler Provenienz aus, die hier glücklich aufwuchsen, sondern nach Turbomast und Massentierhaltung. »Okay, da wisst ihr ja schon mehr, als ich dachte«, lobte er, was Britta sichtlich genoss. »Irgendwelche Kampfspuren hier draußen, in der Räucherkammer oder im Haus?«
Britta lächelte unsicher. »Also, wir waren noch gar nicht im Haus, Chef«, räumte sie ein und schob das obligatorische »Sorry: Lennart« nach.
»Kein Problem, läuft uns ja nicht davon«, sagte Lennart nur und seufzte innerlich. Seine Ermittlungen hier würden wohl anders ablaufen als damals in Kopenhagen, wo er ein großes Team geleitet hatte, das sich mit nichts anderem als Todesermittlungen beschäftigte. Mindestens einmal die Woche hatten sie sich um einen neuen Fall kümmern müssen. Hier würde alles langsamer gehen – wogegen zunächst nicht unbedingt etwas sprach –, zwangsläufig aber auch ein wenig unprofessioneller, fürchtete er.
»Wie gesagt, die Räucherkammer war von außen ordnungsgemäß verriegelt, das muss also jemand mit voller Absicht getan haben«, erklärte Britta.
»War er … ich meine …«, er deutete zu den Schinken, Rippenbögen und Speckstücken, die in dem riesigen Räucherofen an metallenen Haken von der Decke baumelten, »… quasi … aufgehängt?«
»Nein. Herr Hansen sagte, er habe im vorderen Bereich unten an der Wand gelehnt. Und so haben wir ihn dann ja auch gefunden.«
»Herr Hansen ist der Bekannte, der uns informiert hat?«
Britta nickte.
»Alles klar, wir müssen uns sowieso mit ihm unterhalten. Aber erst will ich mir Kristensens Wohnung ansehen. Kommst du mit, Britta?«
»Nein, geh du mal. Ich will zusehen, dass hier alles geordnet weitergeht. Kann der Tote weg, oder hast du noch irgendwas mit ihm vor?«
Lennart winkte ab. »Nein, vielen Dank, ich habe alles gesehen – und gerochen. Wenn die Gerichtsmedizinerin ihn freigibt, kann er weg. Wo finden denn eigentlich die Obduktionen statt?« Da es sich bei Bauer Kristensen um seine erste Leiche hier auf der Insel handelte, hatte er davon noch keine Ahnung.
»Doktor Eklund hat im Keller des Krankenhauses in Rønne einen winzigen Sektionssaal. So klein, dass sie kaum selber um den Tisch rumlaufen kann. Wird also kuschelig für uns, wenn die spezielle Räucherware hier aufgeschnitten wird«, raunte sie mit einem vielsagenden Blick auf den Toten. Lennart zog die Brauen nach oben, ließ sich Handschuhe, einen Overall und Überzieher für die Schuhe geben und ging zum Wohnhaus. Er mochte es, als Erster die Wohnung eines Opfers zu betreten, wenn die Kollegen des Erkennungsdiensts noch nicht alles auseinandergenommen hatten. Obwohl er dafür immer diesen lästigen Schutzanzug in Kauf nehmen musste, um keine Spuren zu kontaminieren, hatte er in Kopenhagen sogar darauf bestanden, die Wohnräume erst einmal allein in Augenschein nehmen zu können. So würde er es hier auch halten, beschloss er.
***
Auch wenn draußen nach wie vor der Nebel über der Landschaft hing: Die Trostlosigkeit, die von Steffen Kristensens Wohnzimmer ausging, hatte andere Gründe. Selbst bei gleißendem Sonnenschein musste es hier drin dunkel und trist sein. Einem Reflex folgend ging Lennart zu einem der ziemlich verdreckten Fenster, um es zu öffnen, besann sich dann aber eines Besseren: Immerhin war hier drinnen der Rauchgeruch noch nicht ganz so penetrant wie draußen.
Er sah sich um. Gegenüber einer abgewetzten Kunstledercouch befand sich eine schwere, dunkle Schrankwand, bei der mehrere Türchen fehlten, davor auf einer Art Servierwagen ein riesiger Flachbildfernseher. Auf dem Couchtisch standen eine einzige leere Bierflasche und ein Suppenteller neben der Fernbedienung und der aktuellen Tageszeitung. Immerhin, dachte Lennart: Alles hier wirkte zwar schmuddelig, ungemütlich und in die Jahre gekommen, aber dennoch irgendwie aufgeräumt – und damit anders, als er zunächst vermutet hatte. Ein Junggesellenwohnzimmer eben, konstatierte er – und dachte mit Schrecken daran, dass ein Außenstehender das womöglich auch über seine eigene Wohnung sagen konnte. Er schüttelte den Kopf und versuchte, sich wieder auf den Fall zu konzentrieren. Einen Kampf hatte es also auch hier nicht gegeben, Gäste hatte Kristensen am Abend vor seinem Tod offenbar keine gehabt.
Lennart ging weiter zur eichenen Schrankwand. Wahrscheinlich war die noch von den Eltern des Toten angeschafft worden, so abgerockt, wie sie aussah. Darin vergilbte Taschenbücher, ein paar alte Reiseführer, wahrscheinlich Verlegenheitsgeschenke von Verwandten und Freunden. In mehreren Plastikrahmen hatte Kristensen Bilder aufgestellt: eine junge Familie mit einem Kleinkind, einige Angelfotos, die ihn selbst und ein paar Männer seines Alters mit kapitalen Meerforellen und Dorschen zeigten, und ein schwarz-weißes Hochzeitsbild, anscheinend das seiner Eltern. Dann noch ein Militärfoto aus den Achtzigern, das fünf junge Männer auf einem Schnellboot abbildete, und ein Junge in Sechzigerjahreklamotten an seinem ersten Schultag. Soweit so normal, fand Lennart. Eine Frau in Kristensens Alter jedoch war nirgends zu sehen. Ob der Landwirt nach seiner Scheidung womöglich nie wieder eine Beziehung angefangen hatte? Wieder musste Lennart an seine eigene Situation denken. Doch der Gedanke, allein zu bleiben, gefiel ihm momentan mehr, als dass er ihn ängstigte.
Er streifte durch die weiteren Zimmer des Hauses, ohne dabei auf irgendetwas Spektakuläres zu stoßen. Die schmuddelige Küche, in der sich der Räuchergeruch mit dem von Tütensuppen und Essiggurken mischte, der bis auf ein paar Eier, Schinken und Senf fast leere Kühlschrank, das Bad, in dem sich schmutzige Wäsche und Arbeitsklamotten auf einem großen Haufen stapelten, das Schlafzimmer mit dem weißen Einbauschrank und dem Doppelbett, bei dem nur eine Seite bezogen war, die Fernbedienung eines an der Decke aufgehängten Fernsehers darauf, ein paar abgegriffene Pornohefte und selbst gebrannte DVDs mit eindeutigen Titeln in der Schublade des Nachttisches: Alles in diesem Haus schien »alleinstehender Mann« zu schreien.
Der nächste Raum war das ehemalige Jugendzimmer eines Mädchens, das bei ihrem Auszug die besten Stücke mitgenommen und den Tand hatte stehen lassen. Kristensen bewahrte hier in mehreren Waschkörben seine gewaschenen Kleidungsstücke und Handtücher auf. Sein Büro hatte der Landwirt offenbar in einem winzigen Raum mit moosgrünem hochflorigem Teppichboden eingerichtet: Es bestand neben einem Resopalschreibtisch vor allem aus hölzernen Regalen, in denen sauber beschriftete Ordner standen. Auch hier hatte er erstaunlich gut Ordnung gehalten. Auf der Tischplatte fand Lennart ein Laptop samt Ladekabel. Er klappte den Computer auf – und wurde wie erwartet zur Eingabe eines Passwortes aufgefordert. Er schüttelte den Kopf. Darum sollten sich Leute kümmern, die sich besser damit auskannten.
Stattdessen beschloss er, einen Blick in die Schubladen zu werfen, die sich links und rechts unter dem Tisch befanden. Er setzte sich hin und nahm einige der Unterlagen zur Hand. Schnell formte sich vor seinem inneren Auge das Bild eines Mannes, der seine Geschäfte im Griff hatte, der profitabel gewirtschaftet und den Hof am Laufen gehalten hatte. Unter seinen Abnehmern für Frisch- und Räucherfleisch befanden sich neben einigen Läden und Restaurants vier größere Supermärkte auf der Insel. Seine Jungtiere bezog Kristensen stets von einem Züchter aus dem nahegelegenen Ystad in Südschweden, sein Futter von einer lokalen landwirtschaftlichen Kooperative. Auf den ersten Blick also keine Auffälligkeiten in den Geschäftsunterlagen. Er drehte sich um und sah auf die zahllosen Ordner. Lennart wusste noch nicht, ob ihn die Ermittlungen zwingen würden, tiefer in diese Welt einzutauchen, hoffte aber, dass dies nicht der Fall sein würde.
***
Lennart verließ die Wohnung mit dem Laptop des Toten und dessen Handy, das auf dem Küchentisch gelegen hatte. Er zog seine Schutzkleidung aus, knüllte sie zusammen und wollte eben zurück zu Britta gehen, da fiel sein Blick auf den Mann, der Kristensen gefunden hatte. Ein gewisser Hansen. Der saß immer noch auf der roten Kunststoffbank neben der Eingangstür und sah auf, als er den Polizisten wahrnahm. An seinem Gesichtsausdruck war unschwer zu erkennen, wie nahe ihm die Sache ging, wie tief der Schock über seinen grausamen Fund saß. Lennart legte den Overall auf einem Tischchen neben der Tür ab und ging auf den Mann zu.
»Sie sind Herr Hansen, nicht wahr?«
Der andere nickte.
»Sind das Ihre? Ich meine … hatten Sie die Schlüssel zu Kristensens Wohnung?« Lennart zeigte auf den Schließzylinder der Haustür, an dem ein Schlüsselbund baumelte.
»Das war nicht nötig. Bei Steffen war nie abgesperrt. Wie bei den meisten Häusern der Insel übrigens. Im Gegenteil, der Schlüssel steckte eigentlich immer von außen.«
Lennart runzelte die Stirn.
»Sie sind nicht von hier, oder?«, schob Hansen nach.
»Stimmt«, erwiderte Lennart und widerstand dem Impuls zu fragen, woher sein Gegenüber das wusste.
»Wie ist denn Ihr Name, Herr Kommissar?«
Lennart entschuldigte sich, streckte Hansen die Hand entgegen und stellte sich vor. Der Mann erhob sich ächzend. »Mikael Hansen. Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass das der richtige Zeitpunkt ist, mich auf den Arm zu nehmen, Kommissar.«
Lennart blickte ihn verständnislos an.
»Na kommen Sie! Lennart Ipsen, was Besseres ist Ihnen wohl auf die Schnelle nicht eingefallen, wie?«
Lennart zog seine Stirn in noch tiefere Falten, woraufhin Hansen seine Hand hob. Lennart folgte mit den Augen dem ausgestreckten Zeigefinger – und bemerkte den hellblauen Mülllaster, der eben über die hintere Einfahrt auf den Hof gebogen war. Jetzt fiel auch bei ihm der Groschen. Er lächelte. Schon an seinem ersten Tag, noch bevor er sein neues Büro unweit des Hafens von Rønne betreten hatte, war ihm ein identisch aussehender LKW begegnet – auf dem in geschwungenen weißen Lettern der Name »Lennart Ipsen« prangte. Seitdem hatte jedoch nur der Mitarbeiter des Stromversorgers, bei dem er seinen Anschluss angemeldet hatte, eine Anspielung darauf gemacht.
Lennart wollte eben etwas erwidern, da kam ihm ein Gedanke. Er rannte unvermittelt los, rief Hansen ein »Augenblick« über die Schulter zu und hielt auf den Müllwagen zu. Er musste verhindern, dass die Tonnen geleert und so womöglich wichtige Spuren und Beweisstücke vernichtet wurden. In seiner Zeit in Kopenhagen hatten sie einmal den Mörder einer Radiomoderatorin nur dadurch überführt, dass sie alle Abfallcontainer der Gegend untersucht hatten – tatsächlich hatte der Täter seine Einmal-Handschuhe samt eindeutiger DNA-Nachweise in den nächstbesten Behälter auf dem Studiogelände geworfen.
Lennart schickte also die Müllwerker vom Hof und bat den Leiter der Spurensicherung, dessen Abteilung streng genommen nur aus ihm und einem Teilzeitkollegen bestand, sich auch den Inhalt der Tonnen anzusehen, was der mit einem bloßen Nicken kommentierte. Irgendwie wurde Lennart nicht recht warm mit ihm. Vielleicht konnte er sich auch deshalb beim besten Willen seinen Namen nicht einprägen.
Nun musste er sich aber endlich Mikael Hansen widmen, der den Toten gefunden hatte. Der Mann, den er auf Anfang sechzig schätzte, saß wieder auf der Bank. Lennart nahm sich einen der Monoblockstühle, die an der Hauswand standen, und setzte sich ihm gegenüber.
»Entschuldigen Sie: Mein Name ist, ob Sie es glauben oder nicht, Lennart Ipsen. Ich bin wie meine Kollegin Britta Blomdal Todesfallermittler bei der Polizei in Rønne.«
»So? Gibt es dafür eine eigene Abteilung? Ich zumindest kann mich an kaum einen Mord erinnern die letzten Jahre.«
»Nun, wir haben auch noch andere Aufgaben, stimmt schon. Aber nun zu Ihnen, Herr Hansen …«
»Ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten mit meinem Kommentar wegen Ihres Namens.«
Lennart nickte und rang sich zu einem müden Lächeln durch.
»Also, was möchten Sie wissen, Kommissar?«
»Alles, was Sie mir zu sich selbst und zu Steffen Kristensen sagen können.«
»Schön. Ich bin dreiundsechzig Jahre alt, gebürtiger Bornholmer. Ich betreibe mit meiner Frau eine historische Windmühle an der Straße zwischen Svaneke und Gudhjem. Dort haben wir einen Laden, in dem wir Steinskulpturen und selbst hergestellte Andenken verkaufen. Esther führt auf dem Gelände ein Hofcafé. Vielleicht sind Sie schon mal vorbeigekommen?«
Lennart nickte. Natürlich. Er war einmal sogar auf den Parkplatz eingebogen und hatte sich die Windmühle aus der Nähe angesehen, deren mächtige Flügel sich im Wind drehten. Vor dem besagten Laden und dem Kitsch, der darin verkauft wurde, hatte er allerdings gleich wieder kehrtgemacht.
Er musterte Hansen von oben bis unten: Irgendwie war ihm der Kerl sympathisch. Seine Stimme klang warm, und mit seinen Wanderstiefeln, dem grob gestrickten Pulli und der blauen Wollmütze, unter der dichte graue Locken hervorquollen, erinnerte er ihn angenehm an seinen alten Erdkundelehrer. »Verstehe. Woher kannten Sie Steffen Kristensen?«, fragte Lennart.
»Wir kennen uns gut dreimal so lange, wie wir uns nicht kennen. Steffen ist einer meiner ältesten Freunde, schon unsere Väter sind zusammen mit dem Boot rausgefahren. Wir beide haben ziemlich miteinander viel erlebt. Und jetzt …« Er stockte, seine Stimme wurde brüchig.
»Furchtbare Sache, wirklich«, sagte Lennart sanft. »Aber wie kommt es, dass Sie in aller Frühe schon hier waren, um nach Kristensen zu sehen? Hatten Sie irgendeine Ahnung, einen Verdacht, oder …«
»Wie kommen Sie denn darauf? Wir hatten lediglich verabredet, dass wir Pilze suchen gehen, in den großen Wäldern im Inselinneren. Es ist höchste Zeit für Karl Johan.«
Lennart schmunzelte. Der deutsche Teil seiner Familie hatte sich immer über den bizarren Namen amüsiert, den die Dänen für Steinpilze hatten.
»Wann wollten Sie sich denn treffen?«, wollte Lennart wissen.
»Wir hatten gestern Nachmittag noch telefoniert. Ich hatte Steffen versprochen, dass ich ihn gegen sechs abhole, war aber schon um Viertel vor hier.«
Lennart kratzte sich verdutzt am Kopf. »Aber um die Zeit ist es ja noch dunkel – und im Moment sogar neblig. Warum wollten Sie so früh aufbrechen?«
»Ich wollte vormittags zurück im Laden sein, um meine Frau nicht allein zu lassen, außerdem hatte Esther ein Pilzrisotto zum Mittagessen geplant. Und Steffen wollte seine Pilzausbeute gleich mit der nächsten Ladung Schinken miträuchern. Na ja, und am wichtigsten: Im schräg einfallenden Morgenlicht sieht man die Karl Johan am besten – und gehört zu den Ersten im Wald.«
»Geräucherte Pilze?«, murmelte Lennart. »Gibt’s sowas?«
»Steffen hat damit experimentiert. Es gibt Restaurants, die ihm das Zeug regelrecht aus den Händen gerissen haben. Er hatte nun mal das Talent, alles zu Geld zu machen.«
Lennart runzelte die Stirn. Nach großem finanziellem Erfolg sah das Anwesen nicht gerade aus. Aber vielleicht gab es neben dem Girokonto, dessen Auszüge er überflogen hatte, noch ein weiteres Bankkonto des Toten, das aus allen Nähten platzte – es wäre nicht das erste Mal, dass sich sowas im Laufe einer Ermittlung herausstellte. Er beschloss, Hansen nicht ausgerechnet heute danach zu fragen. »Finden Sie so viele Pilze, dass Sie sie verkaufen können?«, wollte er stattdessen wissen.
Hansen schien den Sinn seiner Frage nicht zu verstehen. »Bei uns auf der Insel verkaufen doch alle Pilze. Kantereller und Karl Johan. Sind Ihnen noch nie die Stände in den Garageneinfahrten aufgefallen?«
Natürlich waren sie das. Kantereller, also Pfifferlinge, hatte er seit seiner Ankunft bald an jedem dritten Grundstück in den kleinen Holzregalen gesehen, in denen die Bornholmer Gemüse aus dem Garten, Brennholz, Marmelade, kleine Basteleien, gestrickte Socken oder einfach auch nur ihr ausgemustertes Geschirr feilboten. Es handelte sich um eine Art dänischen Volkssport, dem auf der Insel jedoch besonders ausgiebig gefrönt wurde.
»Doch, sicher. Steinpilze habe ich da allerdings noch nicht gesehen.«
»Die Saison kommt gerade erst richtig in Schwung. Da essen sich die Leute noch selber satt daran.
Aber dieses Jahr wachsen die Pilze kräftig.«
»Aha. Was ist denn passiert, als Sie hier auf dem Hof ankamen?«
»Nichts, das war es ja. Normalerweise war Steffen fertig, wenn ich kam. Er hatte dann schon die Schweine gefüttert, und wir tranken noch eine schnelle Tasse Kaffee zusammen. Ich geh also rein in die Küche und wundere mich, dass alles dunkel ist. Ich ruf ihn, keine Antwort. Nirgends Licht, kein Geräusch im Haus. Komisch, denk ich. Ich sag mir, schau mal im Stall nach, vielleicht ist er da. Auch nix. Und dann hing ja schon, als ich ankam, der Geruch nach Geräuchertem über dem Hof, also kommt mir der Gedanke, er schaut vielleicht nach seinen Schinken – und da find ich ihn dann.« Hansen hielt inne und sah Lennart mit hilfloser Miene an.
»Stand die Türe zur Räucherkammer denn offen?«
»Nein, die war verriegelt, wie immer.«
»Von außen?«
»Klar. Innen ist ja gar kein Riegel. Hab ich schon Ihrer Kollegin gesagt.«
»Wie kamen Sie dann drauf, dass Kristensen sich darin aufhalten könnte?«
»Ich … also … weiß nicht, ich bin einfach … so einem Impuls gefolgt.«
Lennart blickte Hansen unverwandt in die Augen, was den sichtlich nervös machte.
»Ist das nicht richtig gewesen? Habe ich was falsch gemacht?« Jetzt war jegliche Farbe aus dem Gesicht des Mannes gewichen. Er langte nach der Armlehne der Bank, um sich abzustützen.
»Nein, ich fand es nur ungewöhnlich, dass Sie ihn dort gesucht haben.«
»Gesucht, gesucht, ich …«
»Sie haben dann gleich die Kollegen verständigt?«
»Ja, ich bin sofort ans Auto zu meinem Handy und hab telefoniert. Es gab für mich keinen Zweifel, dass er tot war, ich hätte ihm also nicht mehr helfen können.«
»Haben Sie in der Räucherkammer irgendetwas verändert, bis die Polizei kam?«
»Nein, ich bin nicht mehr dorthin zurück. Ich konnte mir das nicht noch mal ansehen. Hab mir nur kurz drinnen ein Glas Wasser geholt, und seitdem sitze ich hier auf der Bank.« Er hielt für einen Augenblick inne. »Die Tür zum Rauchraum war verriegelt, das heißt, es hat jemand mit Absicht gemacht, oder?«
Lennart nickte.
»Scheiße!«
»Könnten Sie sich vorstellen, dass jemand Gründe hatte, das zu tun?«
»Steffen umbringen?«
»Genau.«
Hansen holte tief Luft, dann erklärte er: »Na ja, er konnte schon ein echter Stinkstiefel sein, mit einigen hat er es sich auch richtiggehend verschissen, was ihm aber egal war. Wer ihm blöd kam, der kriegte eine klare Ansage. Einige haben ihm das nachgetragen, logisch. Aber sowas? Das versteh ich nicht.«
Schon seit Lennarts Ankunft drang aus dem Stall das unruhige Quieken der Schweine, doch in den letzten Minuten war es noch einmal deutlich angeschwollen. Wenn Kristensen die Tiere sonst immer im Morgengrauen gefüttert hatte, waren sie bestimmt hungrig.
»Die vielen Schweine … gibt es denn dafür Angestellte auf dem Hof?«
Hansen lachte kurz auf. »Angestellte? Wo denken Sie hin? Dazu war Steffen viel zu sparsam. Na ja, vielleicht hätte es sich auch wirklich nicht gerechnet. Jedenfalls hat er hier alles selber gemacht.«
»Wüssten Sie jemanden, der die Viecher heute mal versorgen könnte?«
»Ich kann das rasch machen. Lenkt mich vielleicht ein bisschen ab. Ich weiß, wo Steffen das Futter lagert, und den Traktor werd ich wohl bedienen können. Hab früher öfter mal in der Landwirtschaft geholfen, bei Verwandten.« Mit diesen Worten erhob sich Mikael Hansen.
»Das wäre fantastisch, aber nur, wenn Sie sich wirklich dazu in der Lage fühlen. Meine Kollegin und ich würden später noch einmal bei Ihnen zu Hause vorbeikommen, dann können wir uns noch ein wenig über Ihren Freund Kristensen unterhalten, Ihre Personalien aufnehmen und so weiter.«
»Klar, was muss, das muss! Ihre Kollegin kennt unsere Mühle ja gut, war schon öfter da. Bis später«, sagte er schulterzuckend und ging schweren Schrittes auf die langgezogenen Stallungen zu.
Lennart legte Kristensens Telefon und dessen Laptop in den Mercedes und gesellte sich zu den anderen. Die ersten Sonnenstrahlen hatten es nun durch die Nebelschicht geschafft und tauchten den Hof in noch grelleres Licht.
»Sagen Sie, Kollege Ipsen, was passiert denn mit den ganzen Lebensmitteln, wenn wir hier durch sind?«, wollte einer der älteren Kollegen in Uniform wissen.
»Wie meinen Sie das?« Lennart klang ein wenig unwirscher als gewollt.
»Ich dachte bloß«, erwiderte der Grauhaarige und schob seine Polizeimütze gerade, »ich wüsste da einige hier auf der Insel, die … ein bisschen vom Leben gestreift sind. Die würden sich drüber freuen. An den Schinken ist ja nix, wär doch irgendwie schade drum.«
Mit diesen Worten holte er aus seiner Jackentasche ein Wurstbrot und begann zu essen. Lennart wandte rasch den Blick ab, der jedoch ausgerechnet auf den Toten fiel, auf dessen goldgeräucherter Bauchdecke sich die Sonnenstrahlen brachen. Wenn er je wieder etwas zu sich nehmen wollte, das Raucharoma besaß, musste er schnellstens weg hier.
***
Eine gute Stunde war vergangen, als Lennart und Britta auf den Besucherparkplatz der weiß gekalkten Windmühle einbogen. Einer der uniformierten Kollegen hatte angeboten, den Dienstbus zurück nach Rønne zu bringen, so dass Britta mit im SLC fahren konnte. Ganz anders als Lennart selbst hatte sie offensichtlich ein Faible für den Wagen. Vielleicht sollte er ihn an sie verkaufen und sich ein praktischeres Gefährt anschaffen.
Als sie am mächtigen Rundbau der Mühle vorbei auf das einstöckige, geduckte Häuschen zugingen, in dem sich das Hofcafé der Hansens befand, zog Lennart jedes Mal, wenn sich einer der Flügel dem Boden näherte, unwillkürlich den Kopf ein. Er sah den hölzernen Armen nach, die fast lautlos ihre Kreise zogen, und blinzelte in den nunmehr makellos blauen Himmel, während ihn Britta verschmitzt angrinste.
»Keine Angst, alles erprobt, seit Jahrhunderten hat es niemanden am Kopf getroffen, nicht mal echte Größen vom Festland«, gluckste sie.
»Wer weiß, irgendwann ist immer das erste Mal. Ich bin lieber auf der Hut, schließlich kenne ich noch nicht alle Fallstricke, die ihr Insulaner hier für Zugereiste und Touristen auslegt.«
»Für Touristen? Gar keine! Die brauchen wir doch«, erwiderte sie und stieß ihrem Kollegen einen Ellbogen in die Rippen. »Außerdem wacht er hier darüber, dass nichts passiert.« Sie zeigte auf das Rotorblatt, das auf sie zukam. »Siehst du den kleinen Krølle-Bølle an der Spitze?«
Lennart hielt eine Hand vor die Augen, um gegen die Sonne einigermaßen sehen zu können. Ganz außen am hölzernen Flügel war ein kleiner Gummitroll befestigt, der stoisch seine Kreise zog. »Ihr mit eurem komischen Insel-Maskottchen! Gib’s zu: Den hat die Tourismus-Initiative vor ein paar Jahren von irgendeinem Designer erfinden lassen, damit ihr etwas habt, was ihr den Urlaubern andrehen könnt.«
Tatsächlich gab es auf der Insel neben den eigentlichen Trollen aus Porzellan, Plastik oder Holz auch Eis, Brot, Bier und Schnaps mit dem kleinen Wesen, das unschwer an seinem schwarzgelockten Pelz, seiner auffälligen Tolle, gelber Haut und der riesigen Nase zu erkennen war.
»Von wegen! Verdirb es dir bloß nicht mit Krølle-Bølle, schon gar nicht jetzt zu Beginn deines Bornholm-Lebens. Das würde übles Karma bedeuten, glaub mir«, ermahnte ihn Britta mit einem verschmitzten Lächeln, dann betraten sie das kleine Café.
Der Gastraum besaß eine überraschend niedrige dunkle Holzdecke, und wieder duckte sich Lennart instinktiv. An einem der antiken Tischchen saß ein älteres Ehepaar in identischen Wanderjacken vor Kaffee und Kuchen. An der Stirnseite des Raums wischte eine blonde Frau Ende fünfzig den Tresen.
»Frau Hansen?«, sprach Lennart sie an, woraufhin sie heftig zusammenfuhr. Seine Stimme hatte schon immer der eines Feldwebels auf dem Kasernenhof geähnelt, und er vergaß einfach oft, dass es manchmal besser war, leisere Töne anzuschlagen, um andere Menschen nicht zu erschrecken. Die Frau wandte sich um und nickte ihnen zu.
Britta durchschritt vor Lennart den Raum und sagte, als sie bei Frau Hansen angekommen war: »Sorry. Wir sind von der Polizei, vielleicht hat Ihnen Ihr Mann schon …«
»Ja, natürlich!«, antwortete sie, legte ihren Lappen beiseite, trocknete ihre Rechte hektisch an der weißen Spitzenschürze ab und streckte sie Britta zum Gruß entgegen. »Esther Hansen. Mikael hat mir bereits von der schrecklichen Sache erzählt. Er ist ziemlich durch den Wind, hat sich gerade noch mal kurz hingelegt. Aber ich geh ihn gleich holen.« Ihr Dänisch besaß eine niederländische Färbung, wie Lennart auffiel. Sie machte auf dem Absatz kehrt und verschwand durch den Vorhang hinter der Bar, der offenbar zu den Privaträumen der Hansens führte. Keine zwei Minuten später war sie zurück und bat die beiden Polizisten an einen Tisch im Außenbereich.
»Hier sind wir ungestört – und können die Spätsommersonne genießen«, erklärte sie, als die beiden auf einfachen hölzernen Klappstühlen Platz genommen hatten. »Mikael kommt gleich, darf ich Ihnen Kaffee und ein paar Häppchen bringen? Zimtschnecke oder lieber eine mit Kardamom?«
Wenigstens kein Schinkenbrot, dachte Lennart und bestellte sich mit dem Hinweis, für alles bezahlen zu wollen, was sie konsumierten, lediglich einen Kaffee, während Britta auch das Kuchenangebot annahm. Zimt- und Kardamomschnecke wohlgemerkt.
»Endlich, ich hatte heute auch noch kein Frühstück«, flüsterte sie ihrem Kollegen zu, als sich Frau Hansen wieder entfernt hatte. »Dabei hat Mats gestern Overnight-Oats angesetzt. Aber Dienst ist eben Dienst.« Mats war Brittas Ehemann oder Lebensgefährte, so genau wusste das Lennart nicht.
Mit behäbigen Schritten näherte sich ihnen Mikael Hansen, gefolgt von seiner Frau, die Kaffee und Gebäck auf dem Tablett brachte.
»Ich hab ein paar Schnecken mehr gebracht, vielleicht bekommen Sie ja doch noch Hunger, Kommissar … wie war doch gleich Ihr Name?«
»Das ist Kommissar Ipsen, mein Engel. Lennart Ipsen«, erklärte Mikael Hansen und nahm Platz. Wenn seine Frau in dem Moment an einen blauen Mülllaster dachte, ließ sie es sich zumindest nicht anmerken.
»Sie waren also beide mit Steffen Kristensen befreundet, richtig?«, eröffnete Lennart die Unterredung, als sie alle vier um den kleinen Tisch saßen.
»Das kann man so sagen, ja«, antwortete Esther Hansen. Auch wenn man merkte, dass ihr naheging, was passiert war, machte sie den Eindruck, als könne nichts und niemand ihre grundpositive Lebenseinstellung erschüttern.
Hansen zuckte die Schultern. Er schien nach seinem Nickerchen noch angeschlagener als vorher.
»Na ja, so viel wie ihr miteinander unternommen habt …«, insistierte die Frau und wandte sich an die Polizisten: »Mikael und Steffen haben zusammen geangelt, Pilze gesucht, Beeren gepflückt im Wald, solche Sachen. Ja, und dann hatten wir ihn auch ab und an zum Essen da. Stimmt’s, Mikael?«
»Stimmt, stimmt«, murmelte Hansen abwesend.
»Wie war er denn so?«, hakte Britta ein und tunkte ein Stück Kardamomschnecke in ihren Kaffee.
Nun war es Mikael Hansen, der als Erster das Wort ergriff. »Wie gesagt: Auf viele wirkte er wahrscheinlich wie ein ziemlicher Stinkstiefel. Das lag dran, dass er aus seinem Herzen keine Mördergrube gemacht hat. Er hat gesagt, was er dachte. Ziemlich geradeheraus, für manche zu gerade.«
»Aber wenn man erst mal wusste, wie man ihn zu nehmen hatte, war er eine treue Seele«, präzisierte Esther Hansen. »Man durfte ihm sagen, wenn einem was nicht gepasst hat.«
Lennart nickte. »Wenn Sie sich so nahestanden, wissen Sie sicher auch um den restlichen Freundeskreis und um seine familiären Verhältnisse, nehme ich an?«
»Klar«, erklärte Frau Hansen. »Also, was die anderen Freunde angeht …«
»Moment mal, Esther, lass uns erst mal von Steffens Familie sprechen«, unterbrach ihr Mann sie. »Sie wissen, dass er geschieden ist und seine Ex-Frau auf dem Festland lebt?«
»Ja. Wollen Sie uns ein wenig über die Beziehung der beiden erzählen?«, bat Lennart.
»Sie war, wie er auch, keine ganz einfache Person. Ich hatte immer das Gefühl, dass sie nach Höherem strebte, als den Haushalt zu machen und bei der Stallarbeit zu helfen. Letztlich hat es nie richtig geklappt zwischen den beiden.«
»Sind sie im Guten auseinandergegangen?«, fragte Britta.
Esther Hansen lachte auf. »Die? Sicher nicht! Wobei wir die Geschichte nur aus seiner Sicht kennen. Sie ist ja abgehauen, zu diesem Typen, den sie eines Tages in irgendeinem schäbigen Lokal vorn am Strand kennengelernt hat. Unser Kontakt ist abgebrochen, als sie die Insel verlassen hat.«
»Und Kristensen?«
»Hat gelitten wie ein Schwein, oder, Mikael?«
Er nickte. »Absolut. Ich weiß gar nicht, wie oft er sie eine ›falsche Schlampe‹ genannt und sie zum Teufel gewünscht hat. Er war furchtbar gekränkt, dass sie ihn sitzengelassen hat. Wie das eben so ist mit den betrogenen Ehemännern.«
»Wann war das?«
»Vor knapp zehn Jahren«, erklärte Hansen. »Aber er war noch immer persönlich beleidigt. Und hat seitdem nie wieder was mit einer Frau angefangen.«
Britta runzelte die Stirn. »Können Sie sich erklären, warum?«
»Ich denke, er wollte keine Kompromisse mehr eingehen, ganz nach seiner eigenen Fasson leben.«
»Und hat dafür die Einsamkeit in Kauf genommen«, ergänzte Esther Hansen.
»Was wissen Sie über Kristensens Tochter?«, wollte Britta wissen.
»Sie heißt Agnes, ist verheiratet und hat einen Sohn. Die Familie wohnt in Hammerhavn. Ich kann mich nur nicht an den Nachnamen erinnern. Wie war das gleich, warten Sie … Bolt oder Bolts.«
Britta hob die Hand. »Agnes Holst. Kein Problem, die reinen Fakten kennen wir. Mir ging es eher um das Verhältnis zwischen Vater und Tochter.«
Hansen nickte zögerlich. »Steffen hätte sich mehr Kontakt gewünscht, glaube ich.«
»Man müsste Agnes dringend benachrichtigen, denke ich«, bemerkte seine Frau.
»Darum kümmern wir uns. Jetzt aber zurück zum Freundeskreis«, nahm Lennart seine zuvor gestellte Frage wieder auf. »Wen gab es da, außer Ihnen?«
»DieJungs, wie sie sich genannt haben, obwohl sie allesamt schon bald in Rente gehen«, warf Esther Hansen spöttisch ein. »Haben sich immer mal wieder zum Fischen getroffen. Eine eingeschworene Truppe.«
Ihr Mann zuckte die Achseln. »So zweimal im Monat fahren wir meistens raus. Ein gemeinsamer Freund, Flemming Bjerg, ist Fischer. Mit seinem Boot sind wir an seinen freien Tagen manchmal unterwegs zum Angeln. Auf Dorsche. Aber jeder hat schließlich seinen Beruf, seine Familie, für mehr bleibt meistens nicht die Zeit.«
»Und wer ist dann noch mit von der Partie?«
»Lars. Lars Rahbek. Als Busfahrer hat er allerdings blöde Schichten und kann nicht immer mit.«
»Sonst niemand?«, hakte Lennart nach.
»Nein, sonst niemand. Aber Steffen hatte natürlich auch andere Bekannte. Durch seine Geschäftskontakte. Wenn er nicht auf dem Hof arbeitete, war er immer für seine Produkte auf Achse. Seinen geräucherten Schinken gibt es auf der ganzen Insel: in Restaurants, Touristenläden, Supermärkten, Fischräuchereien – und manchmal hat er auch selber auf einem der Märkte gestanden. Aber selten, weil er es nicht so mit Touristen konnte.«
»Der Kristensen-Schinken ist in den letzten Jahren eine etablierte Marke geworden«, ergänzte Britta. »Ist auch nicht verkehrt, wenn man mal eine Abwechslung vom Räucherfisch braucht.«
»Haben Sie mitbekommen, dass es mit Geschäftspartnern Streit gab?«, fragte Lennart.
Esther Hansen nickte, doch es war ihr Mann, der antwortete: »Klar gab es da mal was. Wegen der Preise oder wenn seine Ware nicht so beworben wurde, wie er das gern gehabt hätte. Da ist er dann aufbrausend geworden. Ein unverbesserlicher Choleriker. Wenn ihn etwas aufregte, hatte er sich nicht mehr im Griff. Als hätte man einen Schalter umgelegt.«
»Ist er mit irgendjemandem besonders oft aneinandergeraten?«
»Sie meinen, ob er richtige Feinde hatte? Glaub ich nicht. Die wussten, wie man ihn zu nehmen hatte.«