Schatten - Ursula Poznanski - E-Book
SONDERANGEBOT

Schatten E-Book

Ursula Poznanski

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine Entführung. Drei Morde. Und ein Täter aus der Vergangenheit … Ein Mann, grausam zugerichtet in seiner Wohnung. Eine Hebamme, ertränkt in einem Bach – zwei Fälle, die Beatrice Kaspary als Ermittlerin im Dezernat Leib und Leben der Polizei Salzburg lösen muss. Schnell erkennt Beatrice, dass die beiden Morde zusammenhängen – und dass sie etwas mit ihr zu tun haben müssen. Denn sie kannte beide Toten. Sie konnte sie nicht leiden. Und sie weiß: Wenn sie nicht handelt, wird es weitere Opfer geben …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 516

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ursula Poznanski

Schatten

Thriller

 

 

 

Über dieses Buch

Eine Entführung. Drei Morde. Und ein Täter aus der Vergangenheit …

Ein Mann, grausam zugerichtet in seiner Wohnung. Eine Hebamme, ertränkt in einem Bach – zwei Fälle, die Beatrice Kaspary als Ermittlerin im Dezernat Leib und Leben der Polizei Salzburg lösen muss. Schnell erkennt Beatrice, dass die beiden Morde zusammenhängen – und dass sie etwas mit ihr zu tun haben müssen. Denn sie kannte beide Toten. Sie konnte sie nicht leiden. Und sie weiß: Wenn sie nicht handelt, wird es weitere Opfer geben …

Vita

Ursula Poznanski wurde 1968 in Wien geboren. Sie war als Journalistin für medizinische Zeitschriften tätig. Nach dem fulminanten Erfolg ihrer Jugendbücher «Erebos», «Saeculum», «Layers» etc. landete sie bereits mit ihrem ersten Thriller «Fünf» auf den Bestsellerlisten. Bei Wunderlich folgten «Blinde Vögel» und «Stimmen» sowie zusammen mit Arno Strobel die Bestseller «Fremd» und «Anonym». Ursula Poznanski lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Wien.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2017

Copyright © 2017 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung Umschlagabbildungen: Image Source / Getty Images; rsooll/shutterstock.com

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-21301-2

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Prolog

Es ist sein Blick, der mich davon abhält, ihn sofort zu töten. Die weit geöffneten Augen, in denen all die Angst liegt, die er nicht herausschreien kann.

Von dieser Angst will ich mich noch nicht trennen. Sie wird in einem Moment animalischer Panik kumulieren und dann verlöschen, sobald ich dem Mann die Kehle durchschneide. Das Danach ist uninteressant; nur noch klebriges Blut und totes Fleisch.

Das Jetzt hingegen ist der rasende Puls, den ich an seinem Hals schlagen sehen kann, es sind die geblähten Nasenflügel, durch die der Mann Luft in seinen Körper saugt, weil der Knebel kein Atmen durch den Mund erlaubt. Es sind die scharfen, ruckartigen Bewegungen, mit denen er immer wieder gegen seine Fesseln kämpft, obwohl er längst begriffen hat, wie aussichtslos das ist.

Ich habe ihm die Möglichkeit genommen, mich um sein Leben zu bitten. Alle die guten Gründe, ihn zu verschonen, die sich zweifellos in seinem Kopf sammeln wie Treibholz an einer Flussenge, er kann sie mir nicht erklären. Also fleht er nur mit seinen Augen. Sein Blick lässt mich nicht los, und er vermeidet es, ihn auf die lange Klinge zu richten, die ich in der Hand halte.

Nur wenn ich sie bewege, zuckt sein Blick für die Dauer eines Wimpernschlags nach links. Jedes Mal.

Er weiß, was kommt. Ich habe es ihm gesagt, und wie erwartet hat er sich in seinen Fesseln aufgebäumt, hat gegen den Knebel angeschrien.

Er weiß, was passieren wird, aber er weiß nicht, warum. Ganz sicher hat er die eine oder andere Theorie, aber keine davon stimmt auch nur im Ansatz, wie sollte sie auch?

Ich frage mich, ob er seinen Tod bereitwilliger hinnähme, wenn ich ihm den Grund für sein bevorstehendes Ende nennen würde. Vermutlich nicht. Er fände es höchstens ungerecht, und ja, das ist es natürlich. Himmelschreiend ungerecht, aber trotzdem unvermeidlich.

Seien wir ehrlich, die Welt erleidet keinen großen Verlust durch seinen Tod. Im Gegenteil, einige Menschen werden erleichtert aufatmen, wenn sie davon erfahren.

Ich lächle ihn an, hebe das Messer.

Wieder bäumt er sich auf, als könne er dadurch auch nur das Geringste ändern. Er würde alles tun, alles, um sein Leben um ein, zwei Sekunden zu verlängern. Und damit die Hoffnung und die Angst. Menschen sind merkwürdige Geschöpfe.

Ich werde es jetzt nicht mehr länger hinauszögern. Es ist unwürdig, es ist, als würde ich einen Wurm quälen, den ich bewusst langsam auf den Angelhaken spieße.

Das trifft es genau. Nichts anderes tue ich gerade.

Ich stehe auf, trete hinter ihn, ziehe seinen Kopf in den Nacken und setze an der linken Seite an, mache einen einzigen tiefen, langen Schnitt. Mit seinen letzten Schlägen pumpt das Herz des Mannes Blut aus der Wunde, gegen die Wände, auf den Boden, in weiten, hellroten Fontänen.

Fast fertig. Jetzt fehlt nur noch eine Kleinigkeit.

Ich lasse meinen Blick durchs Zimmer wandern. Kurz verharrt er auf dem zusammengeknüllten T-Shirt, das unter dem Schreibtisch liegt. Nein. Keine gute Wahl.

Aber gleich darüber, an der Wand –

Mit ein paar Schritten bin ich dort, jeder davon sorgsam gesetzt – ich werde keinesfalls in Blut treten.

Der Mann hat Fotos an die Wand gepinnt. Mit Reißnägeln, direkt in die Mauer. Ich sehe sie mir eingehend an, schwanke zwischen einem, auf dem er im Skioverall mit zwei sichtlich betrunkenen Freunden vor einer Hütte sitzt und einem zweiten, auf dem er je einen Arm um je eine Frau gelegt hat. Links blond, rechts brünett.

Das zweite ist das weitaus bessere Souvenir. Ich ziehe den Reißnagel heraus und stecke ihn ein, ebenso wie das Foto. Dann erst drehe ich mich wieder um.

Kein Kämpfen mehr. Kein Zucken. Der Blick des Mannes ist zur Decke gerichtet, sein Mund steht offen, direkt darunter klafft ein breiteres, röteres Grinsen.

Alles ist bereit für den ersten Akt.

1. Kapitel

Das Klingeln ihres Telefons drang nur langsam bis in ihr Bewusstsein durch, es war der Refrain von Lilly Allens Fuck you, der Ton, den sie für Achim eingestellt hatte.

Beatrices Kopf lag noch an Florins Schulter, oder vielleicht auch schon wieder, und sie löste sich ebenso langsam wie unwillig aus seiner Umarmung, stieg aus dem Bett und ging ins Badezimmer. Schloss die Tür hinter sich, ehe sie das Gespräch entgegennahm. «Guten Morgen.»

«Von wegen, guten Morgen.» Achim war bereits auf Betriebstemperatur, sie hörte es an seiner Stimme. Wach und geladen bis zum Anschlag. «Kannst du mir verraten, wo du Minas Taschenrechner versteckt hast? Sie hat heute Mathetest, und er ist nirgendwo zu finden.»

Wo ich ihn versteckt habe. Beatrice ließ sich auf den Badewannenrand sinken. Es war gerade Viertel nach sechs, da schliefen die Kinder noch, auch wenn sie bei ihrem Vater übernachteten, der jetzt zwar nicht mehr nachts anrief, um sie zu terrorisieren, aber Beatrice mit Vorliebe frühmorgens aus dem Schlaf riss. Er wusste, sie stellte das Handy nicht lautlos, wenn Jakob und Mina bei ihm waren.

«Ich habe gar nichts versteckt. Wenn der Rechner nicht in Minas Tasche ist, hat sie ihn wahrscheinlich in der Schule gelassen.»

Achim schnaubte. «Wäre es zu viel verlangt, dass du in ihr Zimmer gehst und nachsiehst?»

Beatrice schloss für einen Moment die Augen. Sie würde wieder einmal lügen müssen, denn Achim wusste nichts von der Beziehung zwischen ihr und Florin; erst recht wusste er nicht, dass sie die Nächte, in denen die Kinder außer Haus waren, ebenfalls anderswo schlief. Ihr graute zu sehr vor dem, was er dann lostreten würde, er machte ihr schon jetzt das Leben so schwer wie möglich.

«Okay, ich gehe nachsehen. Moment.» Sie senkte die Hand mit dem Handy, zählte bis zwanzig, hob es dann wieder ans Ohr. «Nein, da ist nichts. Ich bin sicher, der Rechner ist in der Schule. Und Mina ist alt genug, um ihre Sachen selbst zusammenzuhalten.»

Achim lachte höhnisch auf. «Natürlich. Hauptsache, du musst dich um nichts kümmern, nicht wahr?» Damit legte er auf.

Beatrice widerstand der Versuchung, das Handy in die Ecke zu pfeffern. Stattdessen beugte sie sich über das Waschbecken und klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht.

Achim war nicht der einzige Unsympath, der heute ihren Weg kreuzen würde. Ihr stand ein anstrengender Tag bevor.

Sie seufzte. Erinnerte sich daran, wie beschwingt sie sich nach Kossars Mitteilung, er würde wieder einmal für ein Jahr in die USA gehen, gefühlt hatte. Er würde seine Profiler-Ausbildung fortsetzen und bei seiner Rückkehr noch besserwisserischer sein, aber das war okay. Beatrice hatte sich darauf gefreut, mit einem anderen Psychologen zusammenarbeiten zu können, oder diesmal vielleicht sogar mit einer Psychologin?

 

Florin war zu ihr gekommen, umarmte sie von hinten und küsste ihre linke Schulter. «Wir müssen, Bea. Willst du zuerst duschen?»

Sie stellte das Wasser so heiß, dass es beinahe schmerzhaft war; danach drehte sie den Hebel zur anderen Seite, bis an den Anschlag. Die Kälte brachte ihr Herz kurz aus dem Takt, sie ertrug sie nur wenige Sekunden lang. Dafür war aber spätestens jetzt jede Müdigkeit von ihr gewichen, und sie fühlte sich gewappnet für den Tag. Er würde schon sehr schlimm werden müssen, um den Ärger von eben zu toppen.

 

Der Besprechungsraum war bereits halb voll, als sie ihn betrat. Stefan Gerlach unterhielt sich mit Drasche von der Spurensicherung, der in den letzten Wochen sichtlich ein paar Kilo leichter geworden war. Beatrice hatte ihn noch nie in Markenjeans gesehen. Stand ihm aber nicht schlecht. Vielleicht hatte er ja eine Freundin?

Auf der anderen Seite des Tisches saß Bechner, der flüchtig aufblickte, als sie sich einen Stuhl heranzog, dann aber weiter auf seinem Smartphone herumtippte.

Neben ihm starrte Hoffmann ins Leere. Das Gesicht grau, der Mund ein weicher Strich, die Hände ineinander verschränkt.

Sein Anblick verursachte Beatrice jedes Mal größeres Unbehagen, schon allein, weil sie nicht wusste, welche Reaktion angemessen war. Hoffmann konnte sie ebenso wenig leiden wie sie ihn, daraus hatten beide nie ein Hehl gemacht, aber jetzt … sie hatte noch nie erlebt, dass jemand so massiv unter dem Tod des Ehepartners litt. Seitdem Hoffmanns Frau an Lungenkrebs gestorben war, schien es, als habe er die Verankerung in der Welt verloren. Gelegentlich überkam Beatrice sogar der Impuls, ihm eine Hand auf die Schulter zu legen. Oder ihm wenigstens mitfühlend zuzulächeln.

Nur würde er das wahrscheinlich als Hohn interpretieren. Als Schadenfreude. Alles denkbar.

«Ist Florin noch nicht da?» Stefan hatte sich ihr zugewendet, das rote Haar stand ihm in sämtlichen Richtungen vom Kopf ab. Flaumige Löckchen. Mit fünfunddreißig würde er kahl sein, schätzte Beatrice, aber bis dahin hatte er noch fast zehn Jahre Sturmfrisur vor sich.

«Er musste noch telefonieren. Wird gleich kommen.» Sie setzte sich, verschränkte die Finger auf der Tischplatte. In einer Stunde würde das hier hoffentlich vorbei sein, und sie konnten sich endlich dem Tagesgeschäft zuwenden.

Vom Gang her hörte Beatrice Florins Lachen, einen Moment später erschien er in der Tür, gemeinsam mit Ebner, Drasches rechter Hand. «Guten Morgen.» Er nickte in die Runde und setzte sich dann neben Bechner. Früher hätte er gezielt den Stuhl neben Beatrice angesteuert – fiel das niemandem auf? Umso besser. Obwohl sie Florin gerade heute gerne neben sich gehabt hätte.

Hoffmann warf einen müden Blick auf die Uhr. «Eigentlich sollte er schon hier sein. Fängt ja gut an.»

Nur Sekunden darauf klopfte es an der Tür.

«Es tut mir unendlich leid, dass ich zu spät bin.»

In dem eleganten, dunkelgrauen Anzug wirkte Vasinski völlig anders als in weißer Hose und weißem Poloshirt. Beatrice kannte ihn nur aus dem Umfeld der Psychiatrischen Abteilung des Klinikums Salzburg Nord, und dort war er immer in seiner typischen Arztkluft herumgelaufen.

«Der Verkehr war eine Katastrophe.» Er setzte sich neben Hoffmann, lächelte in die Runde. Schenkte Beatrice einen dieser durchdringenden Blicke aus seinen ungewöhnlich blauen Augen, die so merkwürdig mit seinem dunklen Haar kontrastierten.

Sie zwang sich ebenfalls ein Lächeln ab. Ein guter Teil ihres inneren Widerstands gegen Vasinskis Anwesenheit lag sicherlich darin, dass sie ihn lange Zeit verdächtigt hatte, die Morde in der Traumaklinik begangen zu haben. Das war ein Irrtum gewesen – für den sie sich nicht entschuldigen musste, auch wenn es sich irritierenderweise so anfühlte.

Ein zweiter Grund war seine mangelnde Qualifikation für den Job, den Kossar ihm vor seiner Abreise zugeschanzt hatte. Beatrice hatte auf jemanden gehofft, der frischen Wind ins Team bringen und es mit echtem Expertenwissen bereichern würde. Wenn Kossar einmal richtiggelegen hatte, dann war das aus Zufall gewesen – und er hatte seine Ausbildung immerhin beim FBI absolviert. Davon konnte bei Vasinski keine Rede sein.

«Schön, dass Sie jetzt hier sind.» Hoffmann klang völlig desinteressiert. «Mit einigen von uns haben Sie ja bereits früher Bekanntschaft gemacht, nicht wahr? Vor allem mit Florin Wenninger und Beatrice Kaspary, soviel ich weiß?» Hoffmann zog den linken Mundwinkel nach oben. «Frau Kaspary ist übrigens gar nicht damit einverstanden, dass Sie unseren Kollegen Kossar interimistisch als Profiler vertreten wollen. Allerdings ist sie selten mit etwas einverstanden.»

Sie hätte wissen müssen, dass Hoffmann es schlimmer machen würde. Egal, dann musste sie mit ihren Bedenken wenigstens nicht mehr hinter dem Berg halten. «Ich habe lediglich kritisiert, dass Sie für diese spezifische Tätigkeit nicht qualifiziert sind, und das sollten Sie eigentlich selbst wissen, Dr. Vasinski. Sie haben mit Traumapatienten gearbeitet, nicht mit Straftätern. Sie haben keine polizeiliche Ausbildung. Unter diesen Voraussetzungen könnten wir theoretisch jeden Psychiater zur Hilfestellung heranziehen.»

Vasinski hatte ihr zugehört, immer noch lächelnd. In seinem Gesicht zuckte kein Muskel. «So ganz richtig ist das nicht. Sehen Sie …», er legte die Fingerspitzen aneinander, «… ich bin sowohl Psychologe als auch Psychiater, und ich habe sehr wohl in der forensischen Psychiatrie gearbeitet. Sieben Jahre lang, in Wien. Ich bin erst nach Salzburg gegangen, als eine Stelle in Prof. Klements Abteilung vakant geworden war. Und nachdem die Traumastation nun aufgelöst wurde, bin ich in mein altes Gebiet zurückgekehrt.» Er hob die Hände, als wolle er einen Einwand abwehren, noch bevor jemand auch nur den Mund aufgemacht hatte. «Natürlich haben Sie trotzdem recht, Frau Kaspary. Ich bin kein Profiler. Ich habe keine Polizeiausbildung, nichts dergleichen. Aber soweit ich verstanden habe, brauchen Sie jemanden, der Ihnen kurzfristig zur Seite stehen kann, wenn es um Tätereigenschaften geht. Wenn Sie bei einer Fallanalyse Unterstützung wünschen. Dann werde ich Ihnen sehr gern behilflich sein – natürlich nur so lange, bis Sie jemand Qualifizierteren gefunden haben.» Sein Lächeln vertiefte sich. «Aber trauen Sie mir bitte ein gewisses Fachwissen zu. Sobald eine Frage meine Expertise übersteigt, werde ich das in aller Ehrlichkeit sagen.»

Das war auf jeden Fall mehr, als sie von Kossar jemals hätten erwarten können. Beatrice nickte und hoffte, dass es freundlich, nicht gönnerhaft wirkte. Florins Gesichtsausdruck zufolge gelang ihr das nur bedingt.

«Wenn es so bleibt, wie es derzeit ist», sagte er, «werden Sie kaum etwas zu tun bekommen. Wir haben zwar viel Arbeit, aber es sind alles Routinefälle.»

«So ist es ja meistens», warf Bechner ein.

Vasinski wirkte nicht im Mindesten enttäuscht. «Das ist mir durchaus bewusst. Und ich bin keinesfalls unterbeschäftigt, falls Sie das denken sollten. Meine derzeitige Tätigkeit füllt mich wirklich aus, fordert mich …» Er warf Florin einen kurzen Blick zu. «Routinefälle gibt es bei uns allerdings nicht. Leider.»

 

Beatrice hielt sich zurück, bis Florin die Tür ihres gemeinsamen Büros hinter sich geschlossen hatte. «Er ist ein arroganter Idiot, sogar wenn er versucht, bescheiden zu tun. Ach was, vor allem dann.» Sie setzte sich mit so viel Schwung auf ihren Drehstuhl, dass er zwei Meter vom Schreibtisch wegrollte.

«Allein die Bemerkung mit den Routinefällen. Und Hoffmann verwandelt die Vorlage. Wir sind eben Beamte, und das Beamtenleben besteht aus Routine.» Unwillkürlich tastete sie nach ihrem linken Arm, den sie sich im Zuge der Aufklärung des Falls rund um das Klinikum Salzburg Nord gebrochen hatte. Alles war sauber verheilt, nur gelegentlich fühlte Beatrice ein Ziehen, das bis in die Schulter reichte.

«Du magst ihn nicht, ich habe das begriffen und alle anderen auch, schätze ich.» Florin trat hinter sie und küsste sie auf den Scheitel. «Man könnte den Eindruck gewinnen, du hättest etwas gegen Psychologen, dabei hast du doch selbst Psychologie studiert.»

Wahrscheinlich lag es daran. «Nein, ich habe nichts gegen den Beruf im Allgemeinen. Wir kriegen nur immer solche Prachtexemplare ab.» Sie öffnete am Computer ihr File zu dem Fall, den sie aktuell bearbeitete. Erwin und Mathilde Hagenauer. Ein achtundachtzigjähriger Mann hatte seine fünfundachtzigjährige, pflegebedürftige Frau erstickt und sich danach selbst erschossen. Keine offenen Fragen, nur noch eine Menge Schreibarbeit. Manchmal lagen die Fakten von Anfang an klar zutage. Meistens, eigentlich.

«Mit ein bisschen Glück», sagte Beatrice, «werden wir Vasinskis Unterstützung überhaupt nie in Anspruch nehmen müssen.»

Schon während sie es aussprach, beschlich sie das unbehagliche Gefühl, dadurch das Schicksal herauszufordern. Doch sie hätte nie damit gerechnet, dass es diese Herausforderung so schnell annehmen würde.

2. Kapitel

Die Nachbarn zur Rechten standen im Türrahmen; der Mann hatte seinen massigen Arm um die Schultern der Frau gelegt, sie verschwand beinahe in seinem Griff.

Die Nachbarn zur Linken hatten ihre Tür nur einen Spalt weit geöffnet, durch den in erster Linie Babygebrüll drang. In zweiter Linie der Geruch von gekochtem Kohl, der sich auf brechreizerregende Weise mit dem Verwesungsgestank mischte, der das ganze Haus durchzog.

Die Quelle dieses Gestanks war zweifellos die mittlere Wohnung, auf deren Tür ein verblasstes Schild mit dem Namen Wallner angebracht war. Ein junger Beamter in Uniform stieß die Tür von innen auf und blickte ihnen entgegen. «Sie sind die Kollegen vom LKA?»

«Ja.» Florin warf den Nachbarn jeweils einen kurzen Blick zu. «Wer von Ihnen hat die Polizei gerufen?»

Der Mann mit den fleischigen Armen hob einen davon, wie ein übereifriger Schüler. «Ich. Weil der Geruch echt nicht mehr auszuhalten war. Dreimal haben wir es dem Hausmeister schon gesagt, aber der kümmert sich ja um nichts.»

«Okay. Danke. Wir würden dann gern später mit Ihnen sprechen. Sobald wir da drin fertig sind.» Er wandte sich der anderen Tür zu. «Und mit Ihnen bitte auch.»

Der Spalt schloss sich umgehend, das Babybrüllen drang nur noch gedämpft bis auf den Flur hinaus.

Sie betraten die Wohnung, der uniformierte Kollege musterte Beatrice zweifelnd. «Ich sage es Ihnen lieber gleich, es ist kein schöner Anblick.»

Na so was, dabei sind unsere Leichen doch sonst immer so hübsch. Die Erwiderung lag Beatrice auf der Zunge, aber sie beherrschte sich. Die Warnung war nett gemeint gewesen, und vielleicht wollte der junge Polizist damit nur seiner eigenen Beklemmung Luft machen.

Niemand hatte ein Fenster geöffnet. Das war gut, es verbesserte die Chancen der Gerichtsmedizin, wenigstens einen ungefähren Todeszeitpunkt bestimmen zu können. Mehr als ungefähr würde nicht drin sein, wie Beatrice nach einem ersten Blick auf den Toten klar war.

Er hing auf einem Stuhl, den Kopf im Nacken, seine Hände waren hinter der Lehne gefesselt. Das T-Shirt war bis über den Nabel hochgerutscht, darunter sah man den aufgetriebenen Bauch, grünlich verfärbt.

Beatrice beugte sich über den Toten, darauf bedacht, nicht in das angetrocknete Blut auf dem Parkettboden zu treten. Keine Chance, das Gesicht des Mannes erkennen zu können. Aufgedunsen. Pechschwarz.

Sie verständigte sich über einen stummen Blick mit Florin. Besser warten, bis Drasche und Ebner ihre Arbeit gemacht hatten und sich das Ganze dann noch einmal ansehen.

Erleichtert atmete sie durch, als sie wieder auf den Gang hinaustraten. «Komm», sagte Florin. «Nehmen wir uns die Nachbarn vor.»

 

Eine schwarze Couch voller Hundehaare, davor ein Furnierholztischchen, von dem seit Tagen niemand mehr die Gläser geräumt hatte; Beatrice zählte neun Stück. Sie stand am gekippten Wohnzimmerfenster. Weniger, weil sie sich nicht mitten ins Chaos setzen wollte, sondern weil dort die Luft am besten war. Der Verwesungsgeruch haftete an den Schleimhäuten, sie hatte den Eindruck, als würde ihre eigene Kleidung ihn schon verströmen.

«Der Name Ihres Nachbarn ist also Wallner», hörte sie Florin eben sagen.

«Ja. Markus Wallner. Wissen Sie, wenn so was passiert, liest man immer in der Zeitung, dass die Leute unauffällig, ruhig und freundlich waren», sagte der Mann. Roschek hieß er, Andreas Roschek. «Aber bei Herrn Wallner war das nicht so. Er hat viel getrunken und war dann sehr laut. Wenn jemand aus dem Haus bei ihm geklingelt und ihn gebeten hat, seine Musik leiser zu stellen, ist er extrem unhöflich geworden.»

Beatrice sah aus dem Fenster. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite versuchte ein weißer Golf seit Minuten, sich in eine viel zu kleine Parklücke zu zwängen. «Also war Herr Wallner kein angenehmer Nachbar?», fragte sie.

«Nein.» Zum ersten Mal meldete sich Frau Roschek zu Wort. «Überhaupt nicht. Ein paar Mal hat er nach Sammy getreten.» Sie deutete auf den Retriever, der winselnd an der Tür stand.

Markus Wallner … irgendetwas brachte der Name in Beatrices Kopf zum Klingen. «Das heißt, es könnte eine Menge Leute geben, die Herrn Wallner nicht allzu freundlich gesonnen waren?»

«Der hatte ziemlich oft Streit», bestätigte die Frau. «Manchmal haben wir ihn durch die Wände brüllen gehört, wenn er telefoniert hat.»

Florin, der sich auf dem angebotenen Polstersessel niedergelassen hatte, hob interessiert die Augenbrauen. «Können Sie sich noch erinnern, wann das zuletzt der Fall war? Wann haben Sie Markus Wallner zum letzten Mal gesehen oder gehört?»

Das Ehepaar tauschte einen Blick. «Das ist … etwas länger her.» Andreas Roschek richtete seine massige Gestalt auf. «Eine Woche, denke ich. Mindestens. Da ist es mir aufgefallen, es war Fußball im Fernsehen, UEFA-Cup. Normalerweise hat man den dann durchs ganze Haus gehört, aber da nicht.»

Beatrice wandte dem Fenster den Rücken zu. «Wann war dieses Spiel?»

«Am Mittwoch.» Roscheks Stimme war anzuhören, wie unfassbar er es fand, dass jemand das nicht wusste.

Acht Tage. Das konnte zum Zustand der Leiche passen.

«Fünf Tage vor dem Spiel habe ich ihn noch bei den Briefkästen getroffen», warf die Ehefrau ein. Karin hieß sie, genau.

«Er hat sich extra breitgemacht, damit ich nicht an unser Fach komme. Sagte, ich würde ja wohl die zwei Minuten warten können.»

«Und in den folgenden Tagen?», hakte Florin nach. «Irgendetwas Auffälliges? Besucher zum Beispiel?»

Das Ehepaar schüttelte einmütig den Kopf.

Der Geruch nach Tod musste sich in Beatrices Haar festgesetzt haben. Jedes Mal, wenn sie den Kopf senkte, wurde er intensiver. «Danach sind Sie ihm nicht mehr begegnet? Keiner von Ihnen?»

Die beiden überlegten angestrengt oder täuschten das wenigstens glaubhaft vor. «Nein», sagte Andreas Roschek schließlich. «Ich würde zwar keinen Eid darauf schwören, aber ich bin mir ziemlich sicher. An diesem Wochenende dachte ich noch, er ist vielleicht weggefahren.»

Von einem Kampf oder einem gewaltsamen Eindringen in die Nachbarwohnung hatte keiner der Roscheks etwas mitbekommen. Die Hündin hätte seit einer knappen Woche immer an Wallners Tür geschnüffelt, aber das sei auch früher schon vorgekommen. «Er hatte es nicht so mit der regelmäßigen Müllentsorgung.» Von draußen drangen bekannte Stimmen durch die Tür – das Haus war wirklich hellhörig und Drasches Bass unverkennbar. Als Beatrice und Florin auf den Gang hinaustraten, lehnte er im Türrahmen zu Wallners Wohnung, in seinem weißen Schutzanzug mit den türkisfarbenen Schuhüberziehern. «Ich mache nur eine kurze Pause», verkündete er. «Euch beide kann ich da drin noch nicht brauchen.»

Sie klopften also an der Tür der Nachbarn zur Linken. Eine alleinerziehende Mutter mit einem vier- und einem einjährigen Mädchen, die nur schlecht Deutsch sprach, doch das Ergebnis war das Gleiche wie bei den Roscheks: Markus Wallner war ein unfreundlicher, aggressiver Widerling gewesen. Laut, rücksichtslos. Hämmerte gegen die Wand, wenn das Baby schrie, obwohl es sein eigener Krach war, der es geweckt hatte. Auch diese Nachbarin hatte nichts Auffälliges bemerkt. Nur den Geruch, seit ein paar Tagen.

Als sie sich von der Frau wieder verabschiedeten, war Drasche so weit fertig, dass er die Wohnung für die anderen Kollegen freigab. Ebner fotografierte noch, vor allem die Blutspuren als Gesamtbild und im Detail.

«Für die Todesursache brauchen wir diesmal keinen Rechtsmediziner», stellte Drasche fest. «Kehle durchgeschnitten, und zwar da, wo der arme Kerl immer noch sitzt. Wir haben fächerförmige Spritzmuster an der rechten Wand, die genau zur Position des Opfers passen. Ich bin sicher, Vogt wird jede Menge eingeatmetes Blut finden. In den Blutlachen da …», er wies mit dem behandschuhten Zeigefinger auf den Parkettboden, «… sind massenhaft Bubbles und Auflagerungen von Speiseröhrensekret. Ziemlich eindeutige Sachlage, wenn ihr mich fragt.» Er nickte ihnen kurz zu und fuhr dann fort, Fingerabdrücke von dem Stuhl zu nehmen, an den der Tote immer noch gefesselt war.

Beatrice ging vorsichtig ein paar Schritte weiter ins Zimmer hinein. Der Zustand der Wohnung ließ sich sehr gut mit den Aussagen der Nachbarn zu einem Bild verbinden. An mehreren Stellen hing die Tapete in Fetzen von den Wänden, der Staub bildete an manchen Stellen eine zarte graue, anderswo eine fettig verschmierte Schicht auf den Möbeln. Sie zählte allein vier leere Pizzakartons, die zwischen schmutzigen Kleidungsstücken, alten Zeitungen und diversem undefinierbarem Gerümpel auf dem Boden lagen.

Ein Blick in die Küche: Dort quoll der Mülleimer über; am ordentlichsten wirkten die leeren Bierflaschen, die in einer Dreierreihe vor der Längswand aufgestellt standen. Natürlich, Wallner wollte sich das Pfand zurückholen.

Ein winziges Schlafzimmer mit einem furnierten Doppelbett und fleckigem Bettzeug. Beatrice kehrte in den Wohnraum zurück, dort waren Drasche und Ebner dabei, den Leichnam vom Stuhl zu schneiden. Durch die Bewegung wurden weitere Gase frei. Unwillkürlich legte Beatrice eine Hand vor Mund und Nase.

Den Schreibtisch hatte sie noch nicht inspiziert. Im Vergleich zum Rest der Wohnung wirkte er beinahe aufgeräumt. Ein alter Computer, jede Menge Papier. Korrespondenz. Auf dem obersten Briefumschlag stand in roten Lettern das Wort Mahnung, und Beatrice nahm an, dass es sich in dem Stapel von Briefen noch häufiger finden würde.

An die Wand neben dem Schreibtisch waren Fotos gepinnt, die aus mehreren Jahrzehnten zu stammen schienen. Eines musste kürzlich entfernt worden sein – das winzige Loch, das der Reißnagel hinterlassen hatte, war noch deutlich zu sehen, ebenso wie der Umriss des Bildes. Ein rechteckiger, hellerer Fleck auf der Tapete.

Konnte es sein, dass …

Der Gedanke versandete auf halber Strecke. Beatrices Blick war an einem der Fotos hängengeblieben. Nun wusste sie, woher der Name Markus Wallner ihr so bekannt vorgekommen war.

Es war lange her. Sie war bereits mit Achim verheiratet gewesen und im dritten Monat schwanger; kurz darauf hatte sie die Schwangerschaft ihrem Vorgesetzten gemeldet und war in den Innendienst versetzt worden. Markus Wallner hatte einen Mann auf der Straße niedergeschlagen, als der ihn zur Rede stellen wollte, weil Wallner seine Freundin belästigt hatte. Was er natürlich vehement abstritt, als sie und ihr Kollege Herbert ihn befragten.

Der Mann, den er angegriffen hatte, lag mit Schädelbruch im Krankenhaus. Das Mädchen, um das es ging, hatte ihre blauen Flecken und Quetschungen dokumentieren lassen. Hatte eine versuchte Vergewaltigung angezeigt, die Anzeige aber nach zwei Tagen wieder zurückgezogen.

Dieses Gesicht. Beatrice konnte die Augen kaum von diesem einen Foto wenden. Wallner grinsend, er prostete dem Fotografen mit einem Bierglas zu.

Genau so hatte er dreingesehen, als sie ihn zur Vernehmung aufs Präsidium hatten bringen wollen. Beatrice war gemeinsam mit einem jungen Kollegen bei Wallners damaliger Wohnung aufgetaucht. Der Mann war betrunken gewesen, hatte sich aber trotzdem blitzschnell bewegt. Hatte sie am Handgelenk gepackt, sie über die Schwelle gezogen, an die Wand gedrängt und ihr über den Hals geleckt, hinauf bis zum Ohr.

Sie hatte sich unfassbar überrumpelt gefühlt. Dreckig. Wie gelähmt. Seine Hand hatte sich um ihre rechte Brust gelegt und zugedrückt, bis sie vor Schmerz aufgeschrien hatte, dann erst war es ihrem Kollegen gelungen, Wallner zu überwältigen.

Der Vorfall war ihr lange nachgegangen. Ja, sie war noch nicht allzu erfahren gewesen; ja, es hätte auch jemand anders passieren können, aber die Verunsicherung war geblieben. Wieso hatte sie nicht schneller reagiert? Souveräner? Und wieso konnte sie dieses Erlebnis nicht einfach ad acta legen und daraus lernen, statt die Bilder wieder und wieder im Kopf abzuspulen?

Sie hatte mehrfach mit Achim darüber gesprochen, ebenso wie mit ihrer Therapeutin. Achims Reaktion war immer die gleiche gewesen: Der Beruf sei eben nichts für eine Frau, schon gar nicht für eine, die verheiratet sei und bald Mutter werden würde. Nicht sehr hilfreich.

Die Therapeutin hatte irgendwann den richtigen Ansatz gefunden. Stärkung des Selbst, Imaginieren besserer Handlungsweisen. Das hatte geholfen.

Beatrice drehte sich um; Wallner lag jetzt auf dem Boden, zwei Männer trugen gerade einen Aluminiumsarg herein. Sie blickte in das schwarz verfärbte Gesicht, auf die klaffende Wunde am Hals, ebenfalls schwarz.

Es war nicht schwierig, sich vorzustellen, dass jemandes Hass auf Wallner ausgereicht hatte, um ihn zu töten. Sie würden eine unerfreulich große Anzahl an Verdächtigen haben.

 

Beatrice wartete, bis sie wieder im Auto saßen und Florin den Motor startete. «Ich hatte schon einmal mit dem Mann zu tun. Mit Markus Wallner», sagte sie, den Blick nach vorne gerichtet. «Das ist mir aber erst klargeworden, als ich die Fotos gesehen habe. Die Nachbarn haben recht. Er war wirklich ein Arschloch.»

Florin hielt mitten im Ausparken inne. «Du kanntest ihn?»

«Kennen ist zu viel gesagt.» Sie erzählte ihm die ganze Geschichte; alles, woran sie sich erinnerte. Während sie sprach und Florin fuhr, brachte ihr Gedächtnis Details zum Vorschein, die sie längst vergessen zu haben glaubte. Wie sehr ihr die Schwangerschaftsübelkeit zu schaffen gemacht hatte, als sie in Wallners Wohnung gestanden hatten, zum Beispiel. Dass sie gedacht hatte, sie würde sich über ihn erbrechen, als er sie anfasste. «Das ist über dreizehn Jahre her, aber ich habe mir überlegt, dass es vielleicht trotzdem sinnvoll wäre, die Frau zu vernehmen, die ihn damals angezeigt hat. Und den verprügelten Freund.»

Florin seufzte. «Ja, und ich gehe jede Wette ein, dass wir ganze Aktenordner voll mit Anzeigen gegen Wallner finden werden. Aber bevor wir uns der Vergangenheit zuwenden, sollten wir uns seine aktuellen Kontakte ansehen. Drasche hat sein Handy sichergestellt, und die Freigabe seiner Verbindungsprotokolle ist auch schon beantragt.»

«Das ist gut.» Das schwarz verfärbte Gesicht des Toten stand Beatrice wieder vor Augen. Jemand hatte ihn gefesselt und ihm die Kehle durchgeschnitten. Wer weiß, wie lange er sich damit Zeit gelassen hatte, um die Angst seines Opfers auskosten zu können …

Sie fand es schwer vorstellbar, dass die Nachbarn nichts von dem Geschehen in der Wohnung mitbekommen hatten, dennoch schien es so zu sein. Wahrscheinlich hatten sie ein wenig Gerumpel überhaupt nicht wahrgenommen, zumal der Lärmpegel in Wallners Wohnung ohnehin immer hoch war. Gut möglich auch, dass der Täter einfach die Anlage aufgedreht und die übliche Musik durch die Etage hatte wummern lassen.

Aber jedenfalls war er geschickt vorgegangen. Beatrice seufzte. Wenn sich nicht eine schnelle und naheliegende Lösung für diesen Fall fand, würden sie um eine Zusammenarbeit mit Vasinski nicht herumkommen.

3. Kapitel

Die Fotos, die Ebner am Tatort geschossen hatte, lagen noch am gleichen Nachmittag vor. Beatrice klickte sich durch die Dateien, blieb wieder lange an Wallners Gesicht hängen. Aufgequollen, dunkel, kaum erkennbar. Aber er war es, daran hatte sie keinen Zweifel. Sie betrachtete eines nach dem anderen, vergrößerte die Details auf dem Bildschirm, merkte kaum, wie kalt der Kaffee in ihrer Tasse schon geworden war.

Etwas war diesmal anders als sonst, und es brauchte einige Zeit, bis sie wusste, was es war: Sie empfand keinerlei Mitgefühl für das Opfer. Wallner war einen schrecklichen Tod gestorben, und normalerweise ließ Beatrice so etwas bei aller Professionalität nicht kalt. Doch diesmal fand sie in sich keinen Funken Mitleid.

Sie klickte weiter. Eine Nahaufnahme der gefesselten Hände, eine des gebeugten Nackens, in den eine Zombiefratze tätowiert war.

Nach den Bildern des Opfers folgten die der Wohnung. Die Zimmer im Überblick und im Detail, all der Dreck und das Chaos. Da waren der Schreibtisch und darüber die Fotos; das helle Rechteck, an dem bis vor kurzem noch etwas die Tapete verdeckt haben musste, war gut zu erkennen. Beatrice machte sich eine Notiz – falls das fehlende Foto unter Wallners Habseligkeiten nicht auftauchte, war es zumindest möglich, dass der Täter es mitgenommen hatte.

Weil er selbst mit drauf war?

Sie klickte sich jetzt schneller durch die Bilder, später würden sie sie ohnehin noch einmal genauer durchgehen müssen und mit den sichergestellten Gegenständen abgleichen, aber …

Sie stutzte. Ging ein paar Fotos zurück; da war etwas gewesen, an dem ihr Unterbewusstsein sich festgehakt hatte. Ein Fremdkörper, etwas, das nicht in Wallners Wohnung gehörte, sondern in eine andere Zeit, ein anderes Universum.

Die Hand, mit der Beatrice die Maus hielt, war plötzlich ganz klamm und fast gefühllos, wie bei einem Schock, ihr Puls hatte sich beschleunigt, als wisse ihr Körper etwas, das ihr Geist noch nicht begriffen hatte.

Und dann sah sie es. Auf einem Foto, das den Schlafzimmerboden zeigte, übersät mit Schmutzwäsche, alten Verpackungen … und Zeitungen.

Sie kannte dieses eine Titelblatt so gut, sie hatte es selbst aufbewahrt, damals, es immer wieder hervorgeholt. Es wurde von einem Foto beherrscht, das sie eigenhändig geschossen hatte, vor langer, langer Zeit, und das sich unauslöschlich in ihr Bewusstsein eingebrannt hatte.

Evelyn. Ihre wilde, rothaarige Freundin, die nach einer fröhlichen Partynacht von einem Unbekannten ermordet worden war.

Nicht einfach nur getötet. Zerfleischt. Beatrice war es gewesen, die die Leiche gefunden hatte, an einem sonnigen Morgen im Mai. Danach war ihr Leben nie wieder so gewesen wie zuvor.

Sie vergrößerte die Aufnahme, bis Evelyns Gesicht den ganzen Bildschirm ausfüllte.

Grausamer Mord an Wiener Studentin (23), lautete die Headline. Die Zeitung war sechzehn Jahre alt; dass Wallner sie rein zufällig bei sich zu Hause liegen hatte, war so gut wie unmöglich. Er hatte sie aufbewahrt, er musste sie sogar aus seiner früheren Wohnung mitgenommen haben, und das ergab nur dann Sinn, wenn er Evelyn entweder gekannt oder etwas mit ihrem Tod zu tun hatte.

Beatrice fühlte ihr Herz im ganzen Körper schlagen. War das denkbar? War sie eben auf Evelyns Mörder gestoßen, auf den Mann, nach dem der ganze Wiener Polizeiapparat jahrelang gesucht hatte? Von ihr selbst ganz zu schweigen, auch wenn ihr damals keinerlei Mittel zur Verfügung gestanden hatten. Stundenlang war sie durch die Straßen gelaufen, hatte jedem ins Gesicht geblickt, auf unvernünftige Weise davon überzeugt, sie würde Evelyns Mörder erkennen, wenn sie ihn sähe. Das war die einzige Möglichkeit gewesen, mit dem Geschehenen zurechtzukommen. Mit ihren eigenen Schuldgefühlen. Denn Evelyn hatte sie gebeten, sie von der Party abzuholen, sie war nur deshalb auf die Idee verfallen, per Anhalter nach Hause zu fahren, weil Beatrice nein gesagt hatte. Weil sie so unsagbar verliebt gewesen war und nicht bereit, sich aus Davids Armen zu lösen.

Zu ihrem eigenen Erstaunen fühlte sie das schlechte Gewissen erneut pochen, zwischen Brust und Magen. Was würde Evelyn heute tun, wenn sie noch am Leben wäre? Sie hatte immer von einer Karriere als Anwältin geträumt und hatte ihr Studium bei aller Lebensfreude sehr effizient durchgezogen.

«Bea?»

Sie schreckte hoch. Hatte Florins Anwesenheit fast vergessen. «Ja?»

Kurz und genervt, so hörte sie sich an. Es tat ihr sofort leid, als Florins irritierter Blick sie traf. «Entschuldige bitte, ich war nur gerade so … konzentriert.»

«Konzentriert?» Er stand auf, kam um den Schreibtisch herum. Hastig klickte sie das Bild weg.

«Du hast eher gequält gewirkt. Ist alles in Ordnung?»

«Ja. Sicher.» Zu lächeln kostete Beatrice Mühe, aber sie wollte jetzt nicht ausgefragt werden, sie wusste nicht, ob sie Florin von ihrer Entdeckung erzählen sollte.

Nein. Jedenfalls im Moment noch nicht. Erst musste sie sich überlegen, wie sie mit diesem Fund umgehen wollte. Ob man sie nicht vielleicht von dem Fall abziehen würde, wenn die Möglichkeit bestand, dass er sie zu stark persönlich berührte.

Allein der Gedanke war inakzeptabel. Evelyns Tod war es gewesen, der Beatrice auf Umwegen zu ihrem Beruf geführt hatte – wenn sich jetzt auch nur die kleinste Chance ergeben sollte, diesen Mord doch noch aufzuklären, dann wollte sie dabei sein. Niemand anders würde sich so in die Sache verbeißen wie sie.

«Wallner wird heute noch obduziert.» Florin wirkte nicht, als wären Beatrices Beschwichtigungsversuche erfolgreich gewesen. «Ich muss gleich los, und ich schätze, es genügt, wenn nur ich dabei bin, außer, es wäre dir aus irgendeinem Grund wichtig …»

«Nein, schon gut. Ich bin froh, wenn ich das hier in Ruhe zu Ende bringen kann.» Sie deutete auf den Bildschirm, auf dem jetzt ein Foto der blutbespritzten Wand zu sehen war.

«Okay.» Er trat zu ihr, drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel. «Und du bist sicher, es ist alles in Ordnung?»

Sie zwang sich zu einem Lächeln, spürte im gleichen Moment, dass sie es übertrieb – warum war sie so schlecht darin, Dinge zu verbergen? «Alles bestens. Ich ruf dich an, wenn die Kinder im Bett sind.»

Er nickte, strich ihr sanft über die Wange. «Tu das. Ich werde dich vermissen, heute Nacht.»

Er würde ihr auch fehlen, das wusste Beatrice, aber ein Großteil ihrer Gedanken würde um Wallner kreisen. Sie wartete, bis Florin die Tür von außen hinter sich geschlossen hatte, dann klickte sie das Foto wieder auf.

Evelyns Mörder war damals sehr geschickt gewesen. Er hatte keine verwertbaren DNA-Spuren hinterlassen, kein Material, das man mit dem von Wallner würde abgleichen können. Aber vielleicht fanden sich in der Wohnung ja noch weitere Hinweise, Indizien, irgendetwas. Möglicherweise ließ sich herausfinden, ob Wallner am Tag von Evelyns Ermordung in Wien gewesen war.

Beatrice druckte das Foto mit der Zeitung aus, faltete es zusammen und steckte es in ihre Handtasche. Sie würde aufpassen müssen, dass sie dem alten Fall nicht viel mehr Aufmerksamkeit schenkte als dem neuen.

 

«Er wollte sich helfen lassen. Er hatte es mir versprochen.» Sowohl Stimme als auch Blick des Mannes waren anklagend, als mache er Beatrice persönlich dafür verantwortlich, dass sein Bruder diesen Vorsatz nicht in die Tat umgesetzt hatte.

Tobias Wallner war der einzige lebende Verwandte des Opfers, von einer elfjährigen Tochter, die mit ihrer Mutter in Deutschland wohnte, einmal abgesehen. Die beiden Brüder hätten unterschiedlicher nicht sein können. Während Markus Wallners Leben von Rechtsbrüchen, Chaos und Konflikten geprägt gewesen war, wirkte Tobias Wallner wie die fleischgewordene Definition des Begriffs «bieder».

Er trug Anzug und Krawatte, beides geschmacklos, aber nicht in auffälliger Weise. Sein Kopf war, bis auf einen blonden Haarkranz, kahl, und er neigte zu Übergewicht.

«Setzen Sie sich doch.» Florin wies auf einen der Stühle. Es war Wallners Wunsch gewesen, seine Aussage im Polizeigebäude abzugeben – seine Frau würde sich über das Thema Markus bloß aufregen, und die Kollegen bei der Versicherung sollten möglichst nichts von dem mitbekommen, was vorgefallen war.

«Er war schon als Kind streitsüchtig. Und brutal.» Tobias Wallner knetete seine linke Hand mit der rechten. «Meistens hat er seine Aggressionen an mir ausgelassen, und obwohl ich der Ältere war, hatte ich nur selten eine Chance, mich zu wehren. Er hat einfach immer sofort dorthin geschlagen, wo es am schlimmsten geschmerzt hat.»

Beatrice dachte an ihre einzige Begegnung mit dem Opfer zu dessen Lebzeiten. An die Hand, die ihre Brust zusammengequetscht hatte. «Wie war Ihr Verhältnis zu ihm in den letzten Jahren?»

Tobias Wallner schnaubte. «Welches Verhältnis? Wir haben uns kaum gesehen, er hat sich nur gemeldet, wenn er etwas brauchte. Meistens Geld. Und ganz ehrlich, es war mir auch lieber so.» Sein Blick senkte sich auf die Tischplatte. «Es ist schlimm, so etwas über den eigenen Bruder sagen zu müssen, aber er war ein furchtbarer Mensch. Er war immer wieder im Gefängnis, das wissen Sie sicher, meistens wegen Einbruch oder Körperverletzung.»

In Beatrices Kopf arbeitete es. War es denkbar, dass jemand, der sich bei vergleichsweise harmlosen Delikten immer wieder fassen ließ, einen Mord beging und damit davonkam?

Ihr Instinkt sagte nein. Trotzdem …

«Hat Ihr Bruder immer in Salzburg gelebt? Oder irgendwann auch anderswo?» Sie spürte Florins irritierten Blick von der Seite; das war keine der Fragen, die jetzt Vorrang hatten.

Wallner dachte kurz nach. «In München, ein halbes Jahr lang, das war … 2009. Und davor einmal in Düsseldorf, aber wann genau das war – keine Ahnung mehr, tut mir leid.»

«Macht nichts.» Beatrice verbarg ihre Enttäuschung darüber, dass er Wien nicht genannt hatte, hinter einem hoffentlich überzeugenden Lächeln. Markus Wallner hatte nie in Wien gelebt, schön, deswegen konnte er aber trotzdem dort einen Mord begangen haben.

Sie wollte weiterfragen, doch Florin kam ihr zuvor. «Fällt Ihnen jemand ein, der Ihren Bruder so gehasst hat, dass er ihn töten wollte? Oder jemand, mit dem er regelmäßig Streit hatte?»

Wallner schnaubte und hob die Arme, nur um sie in einer ratlosen Geste wieder fallen zu lassen. «Wahrscheinlich alle, die ihn kannten. Wenn ich Sie wäre, würde ich unter seinen Gefängnisbekanntschaften suchen, da hat er immer wieder mal jemandem Geld geschuldet.»

Beatrice und Florin wechselten einen schnellen Blick. Ja, die Szenerie, in der sie den Toten vorgefunden hatten, sprach für einen Täter mit Erfahrung und ohne Skrupel. Wenn Markus Wallner beispielsweise der russischen Mafia in die Quere gekommen war …

Dann war sein Mörder längst außer Landes. Aber die Auftraggeber vermutlich nicht.

«Vielen Dank, Herr Wallner.» Florin erhob sich und streckte dem Mann die Hand hin. «Es kann gut sein, dass neue Fragen auftauchen, dann melden wir uns bei Ihnen.»

Wallner verabschiedete sich hastig, die Erleichterung darüber, dass er so schnell in sein geordnetes Leben zurückkehren durfte, war ihm anzusehen.

Wieder im Büro, vertiefte Beatrice sich sofort in ihre Unterlagen, aber sie entging Florins Frage trotzdem nicht. «Warum hast du dich nach Markus Wallners Wohnorten erkundigt? Irgendein spezieller Grund?»

Sie zögerte ein wenig zu lange, bevor sie mit den Achseln zuckte. «Es kam mir gerade in den Sinn. Keine Ahnung, wieso.»

Er glaubte ihr nicht, sie sah es an seinem Blick, aber er fragte nicht weiter nach, sondern schaltete die Espressomaschine ein. Während sie schnarrend zum Leben erwachte, drehte er sich wieder zu Beatrice um. «Ich schicke Stefan und Bechner noch einmal zu den Nachbarn, es kann einfach nicht sein, dass niemand etwas mitbekommen hat.»

«Ja, gute Idee», sagte Beatrice, obwohl sie nur mit einem Ohr hingehört hatte. Ob es eine Möglichkeit gab, die Kollegen aus Wien dazu zu bringen, ihr die Ermittlungsunterlagen zum Mord an Evelyn zur Verfügung zu stellen? Am besten so, dass nicht alle es mitbekamen?

Florin hatte wieder etwas gesagt, diesmal hatte sie definitiv kein Wort verstanden. «Entschuldige bitte, ich war abgelenkt. Kannst du das noch einmal wiederholen?»

Er lächelte und runzelte gleichzeitig die Brauen. «Das Wochenende, Bea. Du hast diesmal die Kinder, nicht wahr?»

«Das weißt du doch.»

Er stellte ihren Cappuccino auf einer der wenigen freien Stellen des Schreibtisches ab. «Findest du nicht, wir sollten langsam anfangen, mit offenen Karten zu spielen? Was spricht denn dagegen, dass wir an einem der Tage etwas gemeinsam unternehmen? Irgendwann müssen deine Kinder doch sowieso erfahren, was los ist.» Er trat hinter sie, streichelte ihr übers Haar. «Und Achim.»

Florin hatte recht, natürlich hatte er das, aber sie wollte daran jetzt nicht denken, schon gar nicht nach dem Telefonat heute Morgen. Weil sie sich in allen Details ausmalen konnte, wie furchtbar es werden würde. Achim würde es aufnehmen wie eine Kriegserklärung, würde verkünden, dass er es schon immer gewusst habe und dass das sicher schon seit Jahren so ging …

Beatrice drehte sich zu Florin herum. «Ich verstehe dich. Wirklich. Und wir regeln das, sobald sich eine gute Gelegenheit ergibt, aber im Moment – ganz ehrlich, Florin, das schaffe ich nicht. Mit diesem speziellen neuen Fall auf dem Tisch und so … ich möchte mir meine Kraft einteilen.»

Er war immer bereit, sie zu schonen, wo es nur ging. Mehr als das, er bat sie regelmäßig, sich nicht zu viel zuzumuten. Doch diesmal sah Beatrice ihn zögern.

«Das ist ein ganz normaler Fall, Bea. Brutal, ja, aber da hatten wir schon viel Schlimmeres zu bewältigen.» Er lächelte sie an, und zum ersten Mal sah sie so etwas wie Resignation in seinem Blick. «Du möchtest diesen Schritt nicht tun, also warten wir. In Ordnung. Aber du musst nichts vorschieben, okay?»

Es war dumm von ihr gewesen, den Fall ins Spiel zu bringen – was Florin sagte, war völlig richtig –, wenn man die sechzehn Jahre alte Zeitung in Wallners Schlafzimmer außer Acht ließ. Wenn man keine Verbindung zu Evelyn sah.

«Vielleicht in zwei Wochen», sagte sie. «Ich möchte nichts falsch machen. Euer Start soll gut sein, verstehst du das?»

«Natürlich.» Er sah auf die Uhr. «In ein paar Minuten muss ich zu Hoffmann rüber. Gehen wir danach gemeinsam mittagessen?»

«Ja, unbedingt.» Sie streichelte Florin über den Arm. Fragte sich zum wiederholten Mal, warum er sich diese Sache mit ihr antat, warum er nicht eine Beziehung mit einer kinderlosen, unbeschwerten Frau einging. Er konnte es so viel einfacher haben.

Zumindest sollte sie ihm erklären, was sie beschäftigte. Was in ihr vorging. Sie sollte ihm von ihrer Entdeckung erzählen. Und das würde sie auch tun. Bald, wenn sie klarer sah.

Ihre Erleichterung, als er zu der Besprechung mit Hoffmann aufbrach, erfüllte sie mit schlechtem Gewissen; gleichzeitig listete sie im Kopf bereits die Wiener Kollegen auf, die ihr am ehesten behilflich sein konnten. Auf keinen Fall würde sie jemanden fragen, der damals mit den Ermittlungen betraut gewesen war. Sie hatte so oft bei der Polizei angerufen und nachgefragt, ob es schon einen Verdächtigen gebe, dass sie fürchtete, man würde sie wiedererkennen. Trotz der vielen Zeit, die vergangen war, und obwohl ihr Nachname sich geändert hatte.

Beatrice wog die Möglichkeiten ab, die sich ihr boten. Da hatte es eine Anita Behringer gegeben, mit der sie vor ein paar Monaten mehrmals zu tun gehabt hatte, in Zusammenhang mit der Fahndung nach einem Mann, der Strichjungen schwer misshandelte. Er hatte sich von Wien nach Salzburg abgesetzt, und sie hatten ihn in einer verlassenen Wanderhütte gefunden. Die Zusammenarbeit war angenehm und reibungslos gewesen; die Kollegin sympathisch und unkompliziert.

Behringers Nummer hatte Beatrice gespeichert, und sie überlegte nicht lange; sie wollte dieses Gespräch beendet haben, wenn Florin zurückkam.

«Bea, hey, schön, von dir zu hören!» Anitas Stimme war dunkel und warm und von unverkennbarem Wiener Dialekt geprägt.

«Hallo, Anita. Wie geht es dir?»

«Alles bestens. Was kann ich für dich tun?»

Unwillkürlich musste Beatrice grinsen. Sie und Behringer waren aus ähnlichem Holz geschnitzt; keine wäre auf die Idee gekommen, nur anzurufen, um Smalltalk zu machen. «Wir haben einen Mordfall, und es könnte sein, dass es Verbindungen zu einem anderen, einem alten Fall gibt. In Wien.»

Papierrascheln am anderen Ende der Leitung. «Aha. Wie alt ist alt?»

«Sechzehn Jahre. Das Opfer damals hieß Evelyn Rieger, der Täter wurde nie gefunden. Aber in der Wohnung unseres aktuellen Opfers lagen Zeitungsartikel zu Riegers Tod herum.» Damit hatte sie Anita mehr verraten als Florin. Das schlechte Gewissen meldete sich erneut, ein Ziehen auf Höhe des Zwerchfells. «Ich würde mich gern in die Akten von damals einlesen, vielleicht kannten die beiden sich.» Sie merkte, dass sie schneller sprach als sonst, hoffentlich klang es bloß nach Stress, nicht nach Verlegenheit. «Aber das ist nur so eine Idee», fügte sie mit einem kleinen Lachen hinzu.

«So, wie es sich anhört, keine schlechte Idee», meinte Anita. «Da würde ich auch nachhaken. Ich seh zu, dass du die Unterlagen bekommst. Oder – willst du nicht bei uns vorbeikommen? So weit ist Wien auch wieder nicht entfernt, wir könnten Kaffee trinken, und du könntest mit ein paar Kollegen reden, die damals bei den Ermittlungen dabei waren.»

Bloß das nicht. «Ich würde gerne, aber im Moment ist es schwierig, hier wegzukommen. Mir wäre es lieber, du könntest mir die Sachen mailen.»

Ihre Kollegin zögerte. «Sechzehn Jahre, sagst du? Ich fürchte, dann wird das nichts mit der Mail. Die Unterlagen sind vermutlich nicht digitalisiert, das heißt, du wirst dich durch jede Menge Papier kämpfen müssen. Aber ich schicke es dir gern.»

«Du bist ein Schatz, danke.»

«Keine Ursache. Du hörst von mir!»

Das Gespräch ließ Beatrice in einer seltsamen Mischung aus Zufriedenheit und Unbehagen zurück. Ein Gefühl ähnlich dem, das sie als Kind gehabt hatte, wenn sie Eiswaffeln aus der Gasthausküche ihrer Mutter entwendet hatte, ohne dabei erwischt worden zu sein.

Unsinn. Was sie tat, konnte durchaus für den Fall relevant sein. Aber mit den anderen besprechen würde sie es erst, wenn klar war, dass sie keinem Hirngespinst nachjagte. Sie würde ihre eigenen alten Wunden aufreißen, aber Hoffmann erst dann die Gelegenheit geben, darin herumzuwühlen, wenn sie sicher sein konnte, dass es sinnvoll war.

Beatrice wollte gerade ihre leere Kaffeetasse zum Waschbecken tragen, als das Telefon klingelte.

«Hallo, hier spricht Bremmayer, Mordkommission Lübeck.»

Lübeck? Es dauerte einen Moment, bis Beatrice den Zusammenhang einordnen konnte. Wallners frühere Lebensgefährtin, die Mutter seiner Tochter, lebte in Lübeck. «Guten Tag, Herr Bremmayer. Was haben Sie für mich?»

Er ging auf ihren lockeren Ton ein. «Ein Alibi für Jessica Singer. Sie war in der fraglichen Zeit ganz sicher nicht in Salzburg, sondern ist jeden Tag auf der Arbeit erschienen. Sie ist Kassiererin in einem Drogeriemarkt. Die Wochenenden hat sie mit Kind und ihrem neuen Mann verbracht, das konnten sowohl Nachbarn als auch Freunde bezeugen. Und …» Er legte eine effektvolle Pause ein. «… sie ist im siebten Monat schwanger. Zwei Wochen noch, dann beginnt ihr Mutterschutz.»

Beatrice war nicht davon ausgegangen, dass Wallners Ex-Freundin die Tat begangen hatte, trotzdem war es gut, sie von der Liste der Möglichkeiten streichen zu können.

«Vielen Dank, Herr Bremmayer. Sagen Sie, könnten Sie mir die Telefonnummer von Frau Singer geben? Ich würde sie gern ein paar Dinge zu Markus Wallner fragen. Immerhin kannte sie ihn ziemlich gut.»

Bremmayer lachte. «Ich habe ihr schon angekündigt, dass sich die österreichischen Kollegen wahrscheinlich bei ihr melden werden, und sie ist einverstanden. Mehr als das, um genau zu sein.» Er diktierte Beatrice eine Mobiltelefonnummer und verabschiedete sich. Da sie den Hörer schon in der Hand hatte, tippte Beatrice die Nummer umgehend ein, auch wenn die Chancen, Singer zu erwischen, gering waren. Als Kassiererin arbeitete sie sicher zu dieser Tageszeit – aber einen Versuch war es dennoch wert.

Wie zu erwarten, hob niemand ab, sondern die Sprachbox sprang an, schon nach dem zweiten Läuten. Beatrice hinterließ eine Nachricht und ihre Telefonnummer plus Durchwahl, dann wandte sie sich Drasches Bericht zu.

Die Tatwaffe war nicht gefunden worden, aber Schnitträndern und Schnitttiefe zufolge schien es sich um ein sehr scharfes Messer mit langer Klinge gehandelt haben. Ein Kochmesser, mutmaßte Drasche, und Vogt, der Gerichtsmediziner, schloss sich seiner Vermutung an. Der Schnitt hatte die Carotis und die Jugularis ebenso durchtrennt wie die Luftröhre, und er war in einem Zug geführt worden. Ohne abzusetzen.

Der Täter wusste genau, was er wollte, und zog es im wahrsten Sinn des Wortes durch, dachte Beatrice, als wieder ihr Telefon klingelte.

«Ich habe eben Ihre Nachricht gehört. Hier ist Jessica Singer, Sie wollten mich sprechen?»

Das war wesentlich schneller gegangen, als Beatrice erwartet hatte. «Ja, danke, dass Sie sich melden.» Sie griff nach Block und Kugelschreiber; versuchte ihre Gedanken von durchschnittenen Blutgefäßen loszureißen und auf die Fragen zu richten, die sie der Frau stellen wollte. Doch die wartete nicht einmal, bis Beatrice Luft geholt hatte.

«Wissen Sie, ich bin ja echt erstaunt, dass erst jetzt jemand das Arschloch gekillt hat. Eigentlich dachte ich, das würde viel früher passieren.» Singers Stimme kippte immer wieder nach oben. Schwer zu sagen, ob das die Aufregung oder eine Eigenheit von ihr war. «Und ich wünsche Ihnen, dass Sie den Täter finden, aber irgendwie hat er die Welt besser gemacht. Sie ist besser ohne Markus. Wissen Sie, was ich meine?»

«Ich denke schon», sagte Beatrice und fragte sich, ob die Frau auch so offen gewesen wäre, hätte sie nicht ein derart wasserdichtes Alibi gehabt. «Erzählen Sie mir doch ein bisschen. Wie lange haben Sie mit Herrn Wallner zusammengelebt?»

«Zu lange.» Die Antwort kam, noch bevor Beatrice ihr letztes Wort fertig gesprochen hatte. «Ich war echt dumm. Hab mir viel zu viel gefallen lassen, Sie können sich gar nicht vorstellen, was alles. Er hat mich geschlagen und bedroht und eingesperrt. Ich bin trotzdem bei ihm geblieben. Fragen Sie mich nicht, warum, ich verstehe es heute auch nicht mehr.»

Beatrice nutzte Singers Atempause, um das Wort zu ergreifen. «Gab es damals jemanden, der einen Grund gehabt hätte, Markus Wallner zu töten?»

Ihre Gesprächspartnerin lachte auf. «So ungefähr jeder Zweite, der ihn kannte. Er hat die meisten seiner Freunde in irgendwelche illegalen Sachen verwickelt und ein paar von ihnen um viel Geld gebracht. Er ist immer wieder grob geworden, wenn ihm etwas nicht gepasst hat. Einmal hat er mit einem Ziegelstein die Motorhaube eines Toyota zerbeult, nur weil der Fahrer ihm den Parkplatz weggenommen hat. Das war ein alter Mann, und Markus hat gesagt, wenn der die Polizei ruft, geht der nächste Schlag nicht auf sein Auto, sondern auf seinen Schädel …» Beatrice hörte sie schlucken.

«Man kann sich das fast nicht vorstellen. Aber wenn Sie ihn gekannt hätten, wüssten Sie, was ich meine.»

Habe ich und weiß ich, dachte Beatrice. «Wie hat es zwischen Ihnen geendet? Hat er Sie rausgeworfen, oder sind Sie gegangen?»

Zum ersten Mal antwortete die Frau nicht sofort, und als sie dann sprach, war ihre Stimme viel leiser. «Er hat Tammy aus dem Fenster im dritten Stock gehalten, da war sie ein halbes Jahr alt. Hat gesagt, er lässt sie fallen, wenn ich nicht endlich tue, was er will. Am nächsten Tag bin ich abgehauen, ganz früh am Morgen.»

Beatrices Bild von Wallner hatte eben eine weitere ekelerregende Komponente hinzugewonnen. «Hat er Sie danach in Ruhe gelassen?»

Sie schnaubte. «Er wusste nicht, wo ich bin. Ich komme eigentlich aus Nürnberg, bin aber extra nicht dorthin zurückgegangen, sondern ganz weit in den Norden gezogen. Zuerst zu einer Tante, die hier wohnt, und dann habe ich Dennis kennengelernt. Markus hat mich nicht gefunden, aber ich weiß von Freunden, dass er es lange Zeit über versucht hat.»

Freunde. Das war ein gutes Stichwort. «Können Sie mir ein paar Namen nennen? Von gemeinsamen Bekannten, die vielleicht ihre Probleme mit Markus hatten? Oder von seinen früheren Kollegen?»

Singer zögerte. Offenbar hielt sie es tatsächlich für möglich, dass jemand aus ihrem österreichischen Freundeskreis Wallner auf dem Gewissen hatte, und wollte niemanden an die Polizei verpetzen.

«Thomas Prokop und Ahmed Erdem. Mit den beiden würde ich sprechen, wenn ich an Ihrer Stelle wäre. Thomas hat Markus immer wieder Geld geliehen, es aber fast nie zurückbekommen, und mit Ahmed hat er sich zweimal geprügelt. Soweit ich es weiß, vielleicht war es auch öfter.»

Beatrice notierte sich die Namen und vergewisserte sich, dass die Schreibweise stimmte; von Erdem hatte Jessica Singer sogar die Adresse. Die eine Frage, die ihr am heftigsten unter den Nägeln brannte, hatte sie sich bis zum Schluss aufgespart. «Hat Herr Wallner Ihnen gegenüber je angedeutet, dass er schon einmal jemanden getötet hat? Vielleicht auch nur im Scherz? Erinnern Sie sich an eine Bemerkung dieser Art?»

Die Frau überlegte kurz. «Nein. Ich glaube, das hätte ich mir gemerkt.»

«Hat er je eine Evelyn Rieger erwähnt?»

Wieder zögerte sie. «Keine Ahnung, ehrlich gesagt. Er hat mir oft von seinen früheren Frauengeschichten erzählt, aber ich kann mich an keine Namen erinnern.»

Beatrice rieb sich über die Stirn, in der Hoffnung, damit die beginnenden Kopfschmerzen zu vertreiben. «Das war’s fürs Erste. Wenn neue Fragen auftauchen, würde ich mich gerne noch einmal melden. Bis dahin danke. Und alles Gute für Sie.»

Die Kopfschmerzen waren jetzt nicht mehr zu verleugnen, und sie waren gleichzeitig ein guter Vorwand, ein paar Dinge zu delegieren. Beatrice gab die Namen, die Singer genannt hatte, an Stefan weiter, bat ihn, herauszufinden, ob die beiden Männer noch in Salzburg lebten.

Ihr Mittagessen mit Florin verlief entspannter, als sie befürchtet hatte. Die Gespräche kreisten um Jakobs Rechtschreibprobleme, Beatrices neues Handy und darum, dass Hoffmann immer mehr abbaute. Um alles, nur nicht um den Fall und schon gar nicht um Evelyn.

Sie verbrachte den Nachmittag allein im Büro. Florin saß gemeinsam mit Hoffmann und der Staatsanwältin in einer Besprechung. Als es an der Tür klopfte und Vasinski den Kopf hereinstreckte, war Beatrice beinahe dankbar für die Gesellschaft.

«Ich will nicht stören. Aber wenn Sie fünf Minuten Zeit haben?»

«Natürlich.» Sie stand auf und schüttelte ihm die Hand. Es war wohl vernünftig, sich auf eine Zusammenarbeit mit ihm einzustellen, zumindest für die nächsten Wochen. Falls sich das als überflüssig erwies, weil sie einen richtigen Profiler zur Verfügung gestellt bekommen würden, umso besser. «Möchten Sie einen Kaffee?»

Er lächelte, sichtlich überrascht, sie so viel freundlicher vorzufinden als zuletzt. «Sehr gerne. Ich bin froh, dass wir uns kurz unter vier Augen unterhalten können, Beatrice. Mir ist klar, dass Sie mich nicht für die ideale Ergänzung des Teams halten, aber ich habe vor, mich wirklich in diesen Fall hineinzuknien. Cappuccino, bitte.»

Sie holte den Milchbehälter aus dem kleinen Kühlschrank und schloss ihn an die Espressomaschine an. «Geht das denn überhaupt?», erkundigte sie sich, bemüht, das Gespräch auf Smalltalk-Niveau zu halten. In Gedanken war sie schon wieder bei der alten Zeitung aus Wallners Wohnung, bei der Akte aus Wien. «Haben Sie denn die Zeit? Bei unserer Besprechung sagten Sie, Sie seien voll ausgelastet.»

Die Milch schäumte, Vasinski hob die Schultern. «Das ist relativ. In der Klinik habe ich derzeit nur eine halbe Stelle, ansonsten arbeite ich an einer Studie, aber ohne großen Termindruck.»

Beatrice reichte Vasinski seine Tasse und setzte sich zurück an ihren Platz. «Eine Studie?», sagte sie. Die zehn Minuten, bis er ausgetrunken hatte, mussten sie ja irgendwie überbrücken. «Worum geht es?»

«Posttraumatische Belastungsstörung», sagte er, als wäre das etwas ähnlich Erfreuliches wie Urlaub. «Lag ja nahe, zumal ich so lange an der Traumaklinik gearbeitet habe. Es ist eine Evaluierung von verschiedenen Therapieansätzen bei schwer traumatisierten Patienten. Bedeutet vor allem, dass ich sehr viel lesen muss. Therapieberichte, Krankengeschichten – ich habe derzeit Berge von Papier zu Hause.»

Beatrice hatte nur mit einem Ohr zugehört, stutzte aber dennoch. «Therapieberichte? Haben Sie da die Einwilligung der Patienten?»

«Ist natürlich alles anonymisiert. Anders wäre es nicht vertretbar, da haben Sie recht.»

Nachdenklich kaute Beatrice an ihrem Bleistift. «Denken Sie, es gibt eventuell auch zu Wallner therapeutische Daten, die uns nützen könnten? Vom Gefängnispsychologen beispielsweise?»

Vasinski nippte an seinem Kaffee. «Möglich, aber um da Einsicht zu bekommen, brauchen wir einen guten Grund und einen Beschluss der Staatsanwaltschaft. Er ist Opfer, nicht Täter – das heißt, es wird vermutlich schwierig.»

Da hatte er recht, leider. Versuchen konnten sie es trotzdem – was, wenn er in einem der Gespräche Evelyn erwähnt hatte? Sie schrieb sich eine entsprechende Notiz. Vasinski nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. «Nebensächlichkeiten wichtig nehmen, das ist möglicherweise das Geheimnis Ihres Erfolgs, Beatrice. Ist mir schon aufgefallen, als Sie bei uns an der Klinik ermittelt haben.»

Vielleicht würde sie sich ja doch noch an ihn gewöhnen. Sie erwiderte sein Lächeln. «Ja, und am besten wenig Zeit vertrödeln.»

Er verstand ihren Wink, lachte auf und trank den Rest seines Kaffees auf einen Zug aus. «Sie haben absolut recht, ich möchte Sie auch gar nicht länger aufhalten. Grüßen Sie Herrn Wenninger von mir. Bis bald!» Vasinski deutete auf die leere Tasse. «Und – danke.»

4. Kapitel

Die Akte aus Wien traf am nächsten Morgen ein, zehn Minuten nachdem Beatrice im Büro angekommen war. Sechs umfangreiche, blaue Ordner in einem Karton. Unmengen an Papier.

Viel Erfolg und liebe Grüße, hatte Anita Behringer auf ein Post-it geschrieben, das auf dem obersten Ordner klebte. Beatrice hob ihn heraus, brachte es aber nicht über sich, ihn zu öffnen.

Die Erinnerung an diesen Tag, an dem sie Evelyn gefunden hatte, war einerseits schmerzhaft scharf, manche Details standen ihr auch nach sechzehn Jahren noch plastisch vor Augen, wie etwa der silbrige Nagellack ihrer toten Freundin. Oder ihr leuchtend rotes Haar, dessen Farbe vom Kinn abwärts den schwarzbräunlichen Ton antrocknenden Blutes angenommen hatte.

Andererseits hatte sich etwas wie ein Schleier über die Bilder gelegt, schon damals, hatte ihnen etwas Surreales verliehen. Wie bei einem abstrakten Gemälde, dessen Inhalt sich erst nach längerem Betrachten erschloss.

So erinnerte sich Beatrice etwa an einen schlauchartigen Bogen in schimmerndem Grau, der sich aus all dem Rot erhob. Erst viel, viel später hatte sie begriffen, dass es sich wohl um eine Darmschlinge gehandelt hatte.

Wenn sie gleich die Tatortfotos öffnete, würde sie es genau wissen, würde diesen gnädigen Schleier für immer wegreißen. Sie würde zum ersten Mal in allen Einzelheiten sehen, was der Täter wirklich mit Evelyn angestellt hatte. In Totale. In Nahaufnahmen. Sie würde den Bericht des Gerichtsmediziners lesen, der seine Rückschlüsse aus den Wunden zog, und das Beschriebene dabei vor Augen haben.

Mit dem Gefühl, auf dem Trockenen zu ertrinken, legte Beatrice den Ordner zurück und schob die Kiste unter den Schreibtisch, bis sie an die Heizung stieß. Sie hatte in den letzten Jahren so viele Tote gesehen, manche von ihnen nicht weniger schlimm zugerichtet als Evelyn. Trotzdem fiel ihre Ermordung in eine ganz andere Kategorie: Es war dieses Ereignis gewesen, das Beatrices Leben von Grund auf umgekrempelt und sie in ihrem Wesen verändert hatte. Nichts war danach gewesen wie zuvor. Mit diesem einen Schritt, den Beatrice in die rote Hölle von Evelyns Schlafzimmer getan hatte, war die Welt eine andere geworden.

Sie würde sich damit konfrontieren, sagte sie sich, sie würde ihre ganze Professionalität zusammenkratzen und die Bilder als das sehen, was sie waren: Tatortfotos wie andere auch. Immerhin war sie mittlerweile Polizistin, verdammt, und keine verschreckte Studentin mehr, die dachte, das Leben sei eine einzige Abfolge von Happy Ends.

Aber noch war sie nicht bereit. Vielleicht heute Nachmittag. Sie würde es wissen, sobald ihre innere Mauer stark genug war.

Beatrice schrieb Anita Behringer per Mail ein kurzes, herzliches Dankeschön, dann widmete sie sich den Unterlagen zu Markus Wallner, die sich rasend schnell vermehrten.