Schattenfahrt mit dem Tod - Tiara Young - E-Book

Schattenfahrt mit dem Tod E-Book

Tiara Young

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Beschreibung

Sophie Bach arbeitet als Profilerin der Berliner Vermisstenstelle. Als eine weibliche Leiche mit eingedrücktem Brustkorb gefunden wird, deutet alles auf einen Täter aus der Rennradszene hin. Zu Sophies Entsetzen schließt das Täterprofil ihren Lebensgefährten Gerome als Verdächtigen ein. Misstrauisch stellt sie Gerome auf die Probe und wiegt sich in trügerischer Sicherheit, bis sich ihr Verdacht immer mehr erhärtet. Emotional tief in die Ermittlungen verstrickt, erkennt Sophie beinah zu spät, dass der Täter auch sie ins Visier genommen hat.

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Ähnliche


 

Schattenfahrt

mit

dem Tod

 

Thriller

 

Tiara Young

 

Zur Autorin:

 

Tiara Young ist das Pseudonym, unter dem Dagmar Helene Schlanstedt Thriller veröffentlicht.

 

Dagmar Helene Schlanstedt, ein Kind der kreativen Sechziger, brennt für alles Künstlerische, vom malerischen Gestalten angefangen bis hin zur Lyrik und – voller Leidenschaft – zum Schreiben von Romanen. Ihr ursprünglicher Beruf als Kommunikationstechniker machte ihr lange Zeit Freude, bis das Schicksal sich ihrer Liebe zur Natur erinnerte und sie mit einem Kräuterlädchen einen Neuanfang wagte. Endlich angekommen, unterstützt sie seitdem Ratsuchende mit ihren Kräuter- und Energie-Heilungen. Heute lebt sie zusammen mit ihrer rennradverrückten Familie an einem bezaubernden See inmitten duftender Wildkräuterwiesen im schönen Sachsen-Anhalt.

Tiara Young

Schattenfahrt mit dem Tod

 

Sophie Bach arbeitet als Profilerin der Berliner Vermisstenstelle. Als eine weibliche Leiche mit eingedrücktem Brustkorb gefunden wird, deutet alles auf einen Täter aus der Rennradszene hin. Zu Sophies Entsetzen schließt das Täterprofil ihren Lebensgefährten Gerome als Verdächtigen ein. Misstrauisch stellt sie Gerome auf die Probe und wiegt sich in trügerischer Sicherheit, bis sich ihr Verdacht immer mehr erhärtet. Emotional tief in die Ermittlungen verstrickt, erkennt Sophie beinah zu spät, dass der Täter auch sie ins Visier genommen hat.

 

 

Inhalt

Prolog

01

02

03

04

05

06

07

08

09

10

11

12

13

14

15

16

Epilog

 

 

 

 

 

 

 

Für alle Rennradsportler, die sich täglich über Pisten quälen – ausgelaugt bis zur Erschöpfung und doch scheinbar mühelos und voller Glück

 

 

 

 

Prolog

 

Innerlich wie gelähmt rieb er sich über das Gesicht. »Was war das gerade?« Sein sonst üblicher gigantischer Höhepunkt war diesmal nichtssagend, platt und alles andere als berauschend gewesen, ja hatte ihm sogar Schmerzen bereitet. Diese Erfahrung war ihm ein Rätsel und brachte ihn völlig aus dem Konzept.

Ein kaum vernehmbares Räuspern zwang ihn, sich umzudrehen. Mandy, genau genommen Dr. Mandy Grosser, seine neueste Eroberung, setzte eine fragende Miene auf. In voller Nacktheit rekelte sie sich auf dem breiten Bett des Hotelzimmers, das sie ab und an für ihre Schäferstündchen buchten. Ihren schlanken Körper, das schön geschnittene, ebenmäßige Gesicht und vor allem den außergewöhnlich großen Busen konnte er guten Gewissens als anbetungswürdig bezeichnen.

»Ich will dir ja nicht zu nahe treten«, säuselte sie mit einem Funkeln in ihren tiefblauen Augen, »aber du hast doch was?« Ihr verklärter Blick, erwartungsvoll und neugierig, reflektierte die beinah greifbare Spannung.

Er stützte sich auf den Ellenbogen und blinzelte, dann wich er ihrem Blick aus. »Ich? Was? Wieso?« Seine Stimme klang rau, denn zu seinem Leidwesen traf sie mit ihrer Vermutung punktgenau ins Schwarze. Mit ihm stimmte tatsächlich etwas nicht. Das war ihm schon seit Längerem bewusst.

Sie kam näher. Die Knospen ihres Busens strichen über das seidene Bettlaken. »Ich habe absolut kein Problem damit«, hauchte sie und lächelte. »Schließlich kann man nicht immer gut drauf sein.« Sanft fuhr sie mit ihren schlanken Fingern über seinen Rücken. Eine Strähne verlor sich aus der Fülle ihres schwarzblauen Haares und kitzelte seinen Hals. Heißer Atem streichelte über seine Haut. Die Berührung ließ ihn zusammenzucken und heftig erschaudern. In seinen Lenden prickelte es verräterisch. Erneut machte sich das schmerzhafte Ziehen in seinem Unterleib bemerkbar.

Ihr Blick fiel auf seinen Schwanz. Die Haut darauf straffte sich, während er sich langsam zu versteifen begann, was diesen gottverdammten Schmerz verstärkte. »Das sieht ja schon wieder richtig gut aus«, sagte sie mit rauchiger, herausfordernder Stimme. »Tun wir es noch mal?«

Er schwang sich hoch, sodass ihr Arm wegrutschte. »Mir geht es nicht gut. Wahrscheinlich bin ich zu abgespannt. Ich glaube, ich benötige noch etwas Schlaf.«

»Och«, tönte sie und formte ihre Lippen zu einem Schmollmund. Ihr Blick verweilte nach wie vor auf seinem erigierten Glied. Erregung breitete sich von seinem Unterbauch abwärts aus, aber auch Nervosität, denn normalerweise hätte er sie jetzt ein zweites Mal genommen. Doch der Gedanke an das stechende Ziehen entfachte Panik in ihm. Also sah er sie flehentlich an, in der Hoffnung, sie würde es dabei belassen.

Herausfordernd legte sie ihm die Hand auf die Schulter. »Schade.« Mandy stöhnte. »Wäre schon schön gewesen. Ich bin noch total heiß.«

»Vergiss es.« Er stieß sie von sich.

»Was ist denn nur los mit dir? Warum dieser schnelle Sinneswandel?« Verzweiflung lag in ihrer Miene. »Habe ich etwas falsch gemacht? Liegt es an mir?«

»Quatsch! Nein.« Er biss sich auf die Lippe, zwang sich, ihren Blick zu erwidern.

»Was ist es dann? Du kannst mir ja nicht einmal in die Augen sehen.«

Aufgewühlt strich er sich über den akkurat rasierten Dreitagebart und schwieg. Ihr zu sagen, was ihn bedrückte, war verdammt schwierig, fast peinlich. Die Angelegenheit war zu intim für eine so kurze Beziehung. »Mandy, entschuldige, ich will nicht unhöflich sein, aber es ist besser, wenn du gehst. Ich wäre dir dankbar.«

»Dankbar?« Sie starrte ihn an. Im schummrig gedimmten Licht der Nachttischlampe wirkten ihre Augen fast künstlich. »Okay!« Ihre Erwiderung klang wie ein erstickter Schrei. »Dann verschwinde ich wohl besser.« Mit bebenden Händen kramte sie BH und Slip aus einem Gewühl von verstreut umherliegenden Klamotten, unter denen auch ihre schnell abgestreiften Stilettos herausragten. Die elegante weiße Leinenhose mit den drei roten Knöpfen an der Seite war total zerknittert, denn sie hatten es vorhin eilig gehabt, sich auszuziehen. Ohne einen weiteren Blick an ihn zu verschwenden, entwirrte Mandy das Knäuel und begann, sich mit schnellen, fließenden Bewegungen anzuziehen.

Wortlos beobachtete er sie und schluckte gepresst. Ihr Unverständnis schnürte ihm die Kehle zu. »Nimm es doch bitte nicht persönlich«, sagte er, »und versteh mich nicht falsch.«

»Pah!« Sie lachte auf, ihre blauen Augen glühten zornig. »Ich versteh dich schon richtig.« Ihre Nasenflügel zitterten. »Du hattest deinen Spaß und das war’s. Weißt du was?« Sie warf ein Kissen nach ihm. »Für mich bist du das Allerletzte.« Peinlich auf Distanz bedacht, zog sie sich weiter an, richtete den knallroten Gürtel ihrer Hose und streifte die Schuhe über. Das erregte Zucken ihrer Gesichtsmuskeln war deutlich zu sehen. Mit einem leisen »Tschüss« machte sie erhobenen Hauptes kehrt und ging mit Trippelschritten in Richtung Tür.

Am geräuschvollen Klackern ihrer Absätze ahnte er, wie wütend sie war. Entsprechend heftig krachte die Tür hinter ihr ins Schloss.

Sollte er ihr nachlaufen und sich entschuldigen?

In seinem Innersten war er erleichtert, allein zu sein. Unter Schmerzen mit ihr zu schlafen, war wahrlich kein Vergnügen für seine Libido gewesen.

Angespannt ließ er sich in die kuschligen Daunendecken fallen und versuchte, den Frauen ein Bild zu geben, mit denen er ungeschützt geschlafen hatte. Sie alle zu erfassen, war mühsam, so viele waren es. Wie ein Schatten schwebte die schreckliche Vermutung über ihm, sich eine Krankheit eingefangen zu haben. Bloß bei wem? Je fieberhafter er darüber nachdachte, desto mehr engte ihn die Erkenntnis ein, dass es unverantwortlich gewesen war, sich so gehen zu lassen. In dem Zusammenhang ging ihm auf, dass jede seiner Eroberungen in ein und dasselbe Raster passte. Keine war flachbrüstig, zudem lang- und schwarzhaarig und ausgestattet mit wundervollen blauen Augen.

Und wenn es überhaupt nicht an seinen Gespielinnen lag und er ernstlich krank war? Krampfhaft schob er die beängstigende Situation zur Seite und konzentrierte sich stattdessen auf seine sexuelle Vergangenheit. Unglaubliche, hemmungslose Orgasmen hatte sie ihm eingebracht. Mit gewaltigem Ausmaß waren sie tagtäglich über ihn hinweggerollt wie die Wellen von Schneelawinen. Dass dies alles zu Ende sein sollte, war schwer zu ertragen.

Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihm aus, denn er würde ohne sexuelle Aktivitäten nicht mehr leben wollen. Er musste umgehend einen Urologen konsultieren.

 

01

 

Tour de France, 24. Juli 2016

Gerome konzentrierte sich auf die letzte Etappe der Tour de France. Sie wurde in diesem Jahr zum hundertsten Mal ausgetragen und führte wie immer durch die legendäre Pariser Avenue Champs-Élysées. Mit geballter Energie rauschten die Größen des Radsports an ihm vorbei, unter anderem seine Teamkollegen. Da das Rennen längst entschieden war, konnten sich die vorderen Platzierten traditionsgemäß locker geben. Um die Ränge weiter hinten musste dagegen noch gekämpft werden.

Er war Radrennsportler mit Leib und Seele und bei dem französischen Team Sojasun unter Vertrag. Mit einer Größe von einem Meter fünfundachtzig entsprach er nicht den typischen Maßen eines Radrennfahrers, was ihm keinen Platz auf dem Siegertreppchen in Aussicht stellte. Aber er besaß gute Sprintfähigkeiten und war in der Lage, kurzzeitig extrem hohe Geschwindigkeiten zu halten. Darum eignete er sich hervorragend, einem Spitzenfahrer Windschatten zu geben, um für ihn den Sieg herauszufahren.

In diesem Jahr hatte er einen denkbar schlechten Saisonauftakt hingelegt. Bei einer Trainingsfahrt auf einer kurvenreichen und Respekt einflößenden Passstraße in den Alpen war es zu einem dramatischen Sturz gekommen. Das Bezwingen des steilen Berges bedeutete nach der Winterpause die reinste Schinderei. Der Anstieg war kräfteraubend und seine Konzentration am Boden, als er oben ankam. Kein Wunder, dass die Aussicht auf eine entspannte Abfahrt lockte. Während er im Affentempo die Straße hinunterbretterte, schlug das Wetter um. Windböen mit prasselndem Platzregen stürmten frontal auf ihn ein und verminderten die Sicht. Gerome konnte nicht umhin, sich trotz des Geschwindigkeitsrauschs die Regenjacke überzustreifen. Als er zum Reißverschluss griff, um ihn zu schließen, passierte es. Was hundertfach ausgeführt immer reibungslos geklappt hatte, wurde ihm an diesem Tag zum Verhängnis. In einer unaufmerksamen Sekunde raste er unsauber in eine Kurve, übersah einen Ast und kam ins Schleudern. Das Vorderrad blockierte beim Bremsen, er schlug einen Salto über den Lenker und schlitterte ungebremst einige Meter über den Asphalt. Gerome zog sich Schürf- und Quetschwunden an Ellenbogen und Handgelenken zu und eine Zerrung im Schulterbereich, weil er den Lenker nicht losgelassen hatte.

Am schlimmsten war die Stauchung im Becken, die der Aufprall verursacht hatte. Sie setzte ihn für Wochen außer Gefecht. Die Qualifizierung für die Tour konnte er begraben. Mehr noch, sein letztes Fitzelchen Hoffnung, alle zukünftigen Rennen des Jahres zu bestreiten, war futsch. Das war es mit seiner Profikarriere. Er konnte sie endgültig an den Nagel hängen. Dabei hatte er sich zusammengerissen, gekämpft und es unbedingt gewollt, auch wenn ihn der Schmerz in der lädierten Hüfte regelmäßig zerriss und er nach wenigen Kilometern einknickte. Ihm gelang es nicht, seine Leistungen auf das alte Niveau zu bringen. Was nutzten ihm Wille und Ausdauer, wenn die Kraft nicht genügte? Seine Teamkollegen überschütteten ihn mit Mitgefühl. Klar, sie waren gerade mal zwanzig und stark und sie besaßen die nötige Kondition. Aber wie sollten sie ermessen, wie es in seinem ramponierten Inneren aussah?

Wenn alle Stricke rissen, könnte er jederzeit als Bauarchitekt in die Berliner Firma seines Onkels zurückkehren.

Die Erkenntnis spülte allmählich die unerbittliche Härte aus seinen Gedanken und schaltete den Trübsinn in seinem Hirn ab. Er spürte wieder die Sonne, hörte den Lärm der Leute und empfand seine ausweglose Situation gleich viel entspannter.

Mit neuer Motivation blickte er auf und betrachtete das Rennen vom Straßenrand aus. Ein Teamkollege sauste vorbei, zwei Finger zum Gruß in die Höhe gestreckt. Beherrscht nickte Gerome, ohne erkannt zu haben, um wen es sich handelte. Sie wussten ohnehin alle, dass er zu einem gewissen Maß neben der Spur war und wie bescheuert in der Gegend umherspazierte. Wozu sich also verstellen? Er schob die Erinnerungen beiseite und weitete seinen Blickradius aus, um mit scheinbarem Interesse die eine oder andere Frau zu beobachten. Von manch einer erntete er ein Lächeln, was er meist ignorierte. Durch eine Lücke im bunten Fahrermeer wanderte sein Blick zur gegenüberliegenden Straßenseite. Auch dort rissen jubelnde Zuschauer die Hände hoch, schrien Parolen und winkten mit farbigen Bannern, auf denen anspornende Sprüche für ihre Favoriten standen. Eigentlich müsste er zufrieden sein, schließlich hätte er auch tot sein können.

Eine vergleichsweise gleitende Bewegung zu den sich rhythmisch bewegenden, kilometerfressenden Tritten der Rennprofis schwebte durch sein Blickfeld. Gefangen davon gewahrte er ein weibliches Wesen bei einer beinah Yoga-ähnlichen Leibesertüchtigung. Den Hals zeitlupenlangsam zur Seite geneigt, vollführte sie eine Drehung, bei der sich ihr Pferdeschwanz einmal komplett um den Kopf wickelte. Was für eine Erscheinung! Sekundenlang konnte Gerome den Blick nicht von ihr abwenden. Seine Sinne waren auf ihren Körper fixiert, wie bei einem sexuell angespannten, lüsternen Kater, der im Begriff war, jeden Moment seine Kätzin zu bespringen. Es war die typische Macht von lustvollen Gedanken, die in ihm beim Anblick einer sich sinnlich rekelnden, ungeheuerlich kurvenbetonten Frau aufwallten und die Gefühle Achterbahn fahren ließen. Dass er sie wie blöd anstarrte und sich zum Affen machte, war ihm egal, genau wie der Ständer in seiner einengenden Radlerhose, den er bekam, als sie sich den Schweiß von der Oberlippe leckte. Sie war schlank, kurvig, mit großen stahlblauen Augen, die mit der Sonne um die Wette blitzten, und das ausgerechnet in seine Richtung. Taktik oder Zufall? Er war unsicher. Frauen wussten immer, wie sie sich in Szene setzen konnten und welche Wirkung sie auf einen Mann hatten. Vor Erregung wie erstarrt blähten sich seine Lungenflügel auf und sämtliche Unterleibsmuskeln und Herzklappen pochten im Gleichklang zu seiner Adrenalinausschüttung. Wenn er nicht aufpasste, rann ihm noch der Speichel aus dem offen stehenden Mund. Als ihm das klar wurde, riss er sich zusammen und sofort verschwand die unwirkliche Zeitlupenoptik. In aller Ruhe beobachtete er die Kleine. Sie trug die typische Shirt-Hose-Kombination einer Rennfahrerin, hauteng und am unteren Rücken leicht verlängert. Über der Brust spannte es gewagt und das allein genügte, um seinen Herzschlag in die Höhe zu treiben. »Wow«, stieß er hervor und versuchte zu zwinkern. Da sie ihr Gesicht nach wie vor in seine Richtung drehte, hatte sie es unter Garantie bemerkt. Tatsächlich, flugs nahm sie die Sonnenbrille vom Kopf und schob sie auf ihre etwas zu lange, aber hübsche Nase. Auch wenn er ihre Augen hinter den dunklen Gläsern nicht mehr erkennen konnte, war er sicher, dass ihre Blicke weiterhin an ihm hingen. Er war von dieser Frau fasziniert. Sie durfte ihm unter keinen Umständen entkommen.

Voll stimmungsgeladenen Glücks und versunken in einen Traum aus farbenfrohen Trikots der unzähligen Radsportbegeisterten beugte sich Sophie nach vorn, um ihre Mähne über Kopf zu einem Pferdeschwanz zu binden. Endlich war sie da angelangt, wo sie schon immer sein wollte, bei dem größten Straßenradsportrennen der Welt, der Tour de France. Zusammen mit ihren Freundinnen Sina und Iren war sie nach Paris gereist, in die Stadt der Lichter, um als ambitionierte Radfahrerin während der letzten Etappe die Ikonen unter den Radprofis anzufeuern und ihre spannenden Duelle hautnah mitzuerleben. Der Trip sollte ein einmaliges Erlebnis werden, der Höhepunkt ihres gemeinsamen Urlaubs. Zu diesem Zweck hatten sie ihre Rennräder dabei, zu denen zugegebenermaßen auch eine straff sitzende Fahrradkluft gehörte. Noch bevor sie sich richtig in Szene setzen konnten, war Sina mit fürchterlichen Kopfschmerzen zusammengebrochen, ausgerechnet während des spektakulären Wettkampfes der Anführer in den letzten Runden. Diagnose der Rettungssanitäter: Hitzschlag. Kein Wunder, Sina hatte nicht aufgepasst und ihre blasse Haut gnadenlos frontal der herunterknallenden Sonne ausgesetzt. Nachdem sie eine halbe Flasche Wasser ausgekotzt und eine weitere intus hatte, Sophie ihr zudem eine kleine Dosis ihrer Notfalltropfen auf die Zunge träufeln durfte, ging es ihr leidlich besser. Danach konnten sie zuschauen, wie sich Sina zusehends erholte. Dennoch sah das einst strahlende Mädel furchtbar aus. Wimperntusche und Schminke waren zerlaufen, die Augen verquollen und die kunstvoll hochgesteckten roten Haare hingen ihr in verklebten Strähnen ins Gesicht. Zitternd und schlaff wie ein Häufchen Elend hockte sie auf der Bordsteinkante und gab ein jammervolles Bild ab.

Sophie gab sich Mühe, sie mithilfe von Papiertaschentüchern sauber zu machen. »Keinen Schimmer, warum du das Zeug immer schichtweise auftragen musst, wo du doch ohne viel hübscher aussiehst.«

Iren begleitete Sina zurück zum Wohnmobil, einem Leihfahrzeug, und Sophie stand währenddessen die Aufgabe zu, den Rest der Etappe für die beiden mit zu zelebrieren. Fotos von hoffentlich aussagekräftigen Eindrücken gehörten dazu und natürlich auch das Einheimsen von Autogrammen, was Sophie am meisten nervte, denn in ihrer Freizeit vermied sie gewöhnlich den direkten Kontakt zu fremden Menschen.

Als eine Fernsehkamera zu Sina geschwenkt war, um ihr mitleiderregendes, von feuchten Tüchern bedecktes Gesicht einzufangen, hatte sich Sophie hastig weggeduckt. Für sie war es der blanke Horror, gefilmt zu werden. Jeder andere hätte sie darum beneidet. Dennoch war sie froh, von Iren zum Bleiben genötigt worden zu sein, denn die Freundin wusste, dass Paris für Sophie der schönste Fleck der Erde war und die Tour de France ein Mythos.

Kein Wind wehte und so fächerte Sophie sich Luft zu, während sie die atemberaubende Skyline betrachtete, die sich entlang der luxuriösen Hotels und Cafés an der berühmtesten Straße von Paris bis zum Zen-trum der Stadt erstreckte. Mit ihrem Handy in der Hand versuchte sie, die Stimmung einzufangen, doch sobald ein Rad heranstürmte, kam Bewegung in die Massen an den Straßenrändern. Ein ohrenbetäubendes Geschrei ertönte und Arme fuchtelten wild in der Luft herum. Es war fast unmöglich, dem zu entkommen und ein halbwegs vernünftiges Foto zu schießen.

Sophie beschloss, die Straßenseite zu wechseln. Sie nahm einen kräftigen Schluck aus ihrer Trinkflasche, schulterte ihren Rucksack und versuchte, sich einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen. Auf der Suche nach einer schattigen Lücke schweifte ihr Blick umher und blieb an einem farbigen Tattoo hängen, das zu einem muskulösen Oberschenkel gehörte, der aus einer giftgrün gemusterten Radlerhose herausguckte. Die dazugehörige glatt rasierte, muskulöse Wade baumelte lässig über der Stange eines Rennrades von selbiger Farbe. Sophie verfiel in Schnappatmung. Das lag nicht an der vor Hitze schwirrenden Luft, sondern an dem geilen Bike und nicht zuletzt an seinem hoch aufgeschossenen Besitzer, der sie intensiv musterte. Du meine Güte, sah der Typ sexy aus. Sophie betrachtete ihn genauer. Mit zögerlicher Geste hob er die Hand, um einen vorbeiradelnden französischen Fahrer zu grüßen, der ihm flüchtig zuwinkte. Dabei wirkte er jedoch nicht sehr freudig, sondern wie in Gedanken versunken, beinah mutlos oder traurig. Würde ihr so jemand zuwinken, sie würde auf der Stelle in die Luft springen. Der Typ hingegen sah dem Rennfahrer mit stumpfsinniger Miene nach, als lägen die beiden im Clinch. Fatalerweise ging Sophie auf, dass sie ihn anstarrte. Just in dem Moment begegneten sich ihre Blicke.

Verdammt!

Ein Schock fuhr ihr in die Glieder, ihr Herz setzte für Sekunden aus, weil sie glaubte, dass der Biker ihr zugezwinkert hatte. Schnell raffte sie die Sonnenbrille vom Haar und verdeckte ihre Augen. Die Körperhaltung des Mannes entspannte sich und ein charmantes Grinsen huschte über sein von einem Bartschatten bedecktes Gesicht. In Sophie stieg Verzweiflung hoch. Sie spürte, wie die Hitze aus ihrem Körper in ihre Wangen schoss und dass es trotz der Entfernung gewaltig zwischen ihnen knisterte.

Was sollte er bloß denken?

Unter Garantie das Falsche. Gespielt gelassen drehte sie sich weg, obwohl der Drang, noch einmal hinzublinzeln, da war. Fünf Minuten später beäugte sie die Stelle erneut. Der tätowierte Typ war verschwunden. Statt seiner neigte sich eine junge Frau über die Bande und strich sich genervt ihre blond gefärbten Haare aus der verschwitzten Stirn.

Na wennschon. Auch gut. Er war eh viel zu gut aussehend. Dennoch ertappte sich Sophie dabei, dass sie enttäuscht die Les Champs absuchte, wie die Straße umgangssprachlich genannt wurde, ohne ihn zu entdecken. Okay, er war sowieso unerreichbar für sie.

Sie straffte die Schultern, presste die Oberschenkel gegen ihr geliebtes Bike und steuerte auf eine offene Stelle im Absperrzaun zu, um endlich die Straße zu überqueren. Auf halbem Weg wurde sie ausgebremst, jemand tippte ihr auf den Rücken. Sophie tat, als hätte sie es nicht bemerkt. Beiläufige Berührungen waren normal im Gedränge. Plötzlich streifte ein warmer Hauch ihren Nacken und die Härchen stellten sich auf.

»Hallo, schöne Bikerin«, säuselte jemand mit leicht französischem Akzent.

Die Stimme, tief und erotisch, jagte einen prickelnden Schauer über Sophies Rücken. Sie drehte sich ruckartig um, verlor dabei das Gleichgewicht und stolperte. Der Biker in Grün stand vor ihr.

»Hoppla, nicht so ungestüm.« Mit flinker Leichtigkeit fing er Sophies Fahrradlenker auf, an dem sie sich krampfhaft festklammerte. Kräftige Finger umschlossen ihren rechten Ellenbogen und ein herber Duft hüllte sie ein, der sie sofort gefangen nahm.

Sophie presste die Lippen zusammen. »Erschrecken Sie immer einsame Frauen?«, platzte sie heraus. Es gelang ihr kaum, das Zittern in ihrer Stimme zu verbergen. Die Kombination seines Geruchs und seiner Körperwärme übte eine verlockende Wirkung aus.

»Oh, sorry.« Kakaobraune Augen funkelten herausfordernd unter breiten Brauen hervor. »Ich bin völlig unschuldig. Meine Füße haben nur dem Drang meines Gehirns nachgegeben und sich ohne mein Zutun verselbstständigt. Ich konnte sie beim besten Willen nicht aufhalten.« Er entblößte feixend eine strahlend weiße Zahnreihe, die mittig von einer süßen, kleinen Lücke unterbrochen war.

Scherzkeks. Sophie knirschte mit den Zähnen, ohne eine Miene zu verziehen. »Ach, und was sagt Ihr Gehirn noch so?«

Das Lächeln verlor sich zwischen seinen Lippen. Sie waren voll und anziehend. Er zuckte die Achseln. »Im Moment meint es, dass Sie aus der Nähe noch umwerfender aussehen als von dahinten, und es fragt, ob wir uns das Ende der Etappe nicht gemeinsam ansehen sollten. Zu zweit macht so ein Spektakel doch weitaus mehr Spaß.«

Sophie warf ihm einen abschätzenden Blick zu. Er sah aus wie einer dieser Frauenhelden, mit denen es der liebe Gott gut gemeint hatte. Durchtrainierter Körper und ein Modelgesicht wie aus einer Aftershave-Werbung. Obwohl sie ihn sexy fand, fiel er in keiner Weise in ihr Beuteschema. »Woher können Sie so dialektfrei Deutsch? Sie sind doch offensichtlich Franzose.«

»Eigentlich bin ich beides. Meine deutschen Wurzeln stammen aus Berlin. Dort hat meine Mutter gelebt, bevor sie wegen meines Vaters nach Frankreich gekommen ist. Das allerdings erst, als sie schon schwer krank gewesen ist. Sie ist ein Jahr später gestorben.«

»Das tut mir sehr leid«, sagte Sophie leise.

»Ach, das muss es nicht.« Er warf ihr einen intensiven Blick zu. »Das ist schon lange her. Mein Vater besitzt ein wunderschönes Anwesen mit einem bewaldeten Grundstück für Naturbeisetzungen. Sie wissen schon, jeder Baum eine Urne oder zwischenzeitlich auch schon mal zwei. Er findet die üblichen Friedhöfe unpassend als ewige Ruhestätte. Mittlerweile kann er sich vor lauter Vorbestellungen kaum noch retten.« Lächelnd ließ er Sophies Bike los. »Sind Sie das erste Mal hier? Ach ja.« Er streckte ihr lässig die Hand hin und strahlte sie an. »Ich heiße Gerome Lasalle.«

Sophie fühlte sich geschmeichelt und begehrenswert. »Angenehm. Sophie Bach«, entgegnete sie. Wie beiläufig ergriff sie seine Hand und schüttelte sie.

»Kommen Sie«, sagte er und zog sie zu einem schattigen Fleck. »Bei den Temperaturen kann man ja kaum einen klaren Gedanken fassen. Ähm … was ich noch fragen wollte: Sind Sie allein hier?«

Statt eines Kommentars schüttelte Sophie den Kopf. Obwohl dieser Gerome sie verwirrte, war sie wild entschlossen, nicht zu viel von sich preiszugeben.

Ein paar tiefe Atemzüge lang musterte er sie. »Ähm, ja …« Wie es aussah, suchte er krampfhaft nach Worten und verfiel wohl deshalb in seine Muttersprache. »Oui, Sophie, désolé.«

Sie parierte mit einem zurückhaltenden Lächeln.

»Ich möchte Ihnen wirklich nicht zu nahe treten. Aber wir könnten doch noch etwas …«, fuhr er fort.

Sophie zog mit Schwung die Augenbrauen hoch. Er flirtete. Mit ihr, die gegenüber ihren attraktiven Freundinnen am wenigsten auffiel? Abgesehen von ihrem großen Busen, den sie so sehr hasste und den sie am liebsten gegen Körbchengröße A eintauschen würde. Sperrig und unhandlich war er ihr ständig im Weg. Niemand konnte es nachempfinden, wie unbequem es sich anfühlte, ihn in BHs zu zwängen, und dann die immerzu reibenden Träger, vor allem wenn sie schwitzte. Sport zu treiben, war absolut unterirdisch. Joggen mit den Dingern tat höllisch weh. Deshalb war sie schon als Heranwachsende zum Radrennsport gekommen. Beim Radeln schwangen die Dinger höchstens und hüpften nicht. Die Selbstzweifel ließen Sophie bis zum heutigen Tag nicht los.

Irgendetwas in ihrem Hinterkopf sagte ihr, dass Gerome anders war. Er redete zumindest nicht mit ihren Brüsten, sondern fesselte sie mit seinem Blick, aus dem Bewunderung sprach, und das steigerte ihr Selbstwertgefühl ungemein.

Gerome zuckte mit einer Schulter zur Straße. Die Luft war vom Schwirren der rotierenden Räder erfüllt, die Vorder- an Hinterrad an ihnen vorbeisausten.

»Haben Sie noch etwas vor?«, erkundigte er sich ungeniert. »Wir könnten ansonsten die Zeit bis zum Finale nutzen und etwas essen. Vielleicht gehen wir hinterher noch was trinken? Natürlich nur, wenn es Ihnen recht ist?«

»Du.« Sophie nickte erfreut. »Sagen wir doch Du zueinander. Und ja, sehr gern. Zeit habe ich mehr als genug.«

Spitzbübisch lächelnd bohrte er nach. »Und Lust? Ähm … etwas zu essen, meine ich. Was magst du am liebsten, Sophie?«

Überrumpelt zuckte sie die Achseln. Es klang charmant, wie er ihren Namen aussprach, beinah verführerisch. »Hm.« Sie zögerte. »Ich weiß nicht recht.«

Schmunzelnd hob er die Hände. »Keine Angst, du bist selbstverständlich eingeladen und ich schwöre, dass ich nicht vorhabe, dich als Geisel zu nehmen, falls du das denkst. Ich werde dich auch nicht umbringen, solltest du dich weigern. Non, non … Spaß beiseite. Siehst du den schwarzen Van dahinten, der mit der knalligen roten Aufschrift auf weißem Untergrund?« Er deutete auf ein seitlich vorbeifahrendes Auto. »Das ist eines unserer Mannschaftsfahrzeuge. Es gehört zur Begleitkarawane. Lass uns doch einfach zur Sammelstelle fahren. Dort können wir unsere Räder abstellen.«

Sophie las Sojasun. »Wow!« Der Schriftzug haute sie regelrecht von den Socken. Gehörte Gerome etwa zu einem der Teams, die hier gestartet waren? Damit hatte sie nicht gerechnet. »Ich dachte, du bist ein normaler Hobbyfahrer.« Ihre Ohren glühten, als er den Kopf schüttelte. »Dann begleitest du die Mannschaft als Mechaniker? Oder nee, warte – Masseur würde ich dir eher zutrauen.«

»Nichts von alledem.«

»Hey, Gerome …«, grölte ein Vorbeifahrender.

Gerome wischte sich übers Gesicht. »Das war Fränki.« Er zögerte. »Eigentlich gehöre ich auch dazu. Na ja … noch.«

»Hä? Du meinst, zu denen da? Zu den Profis? Und wieso noch? Was ist passiert?«

»Noch heißt, nur noch prophylaktisch aktiv zu sein im Leistungssport. Nicht mehr und nicht weniger.« Es klang verbissen, fast wütend.

Sophie putzte umständlich an ihrer Sonnenbrille herum. Sie war unsicher, ob Neugierde angebracht war oder ob sie mit ihrer Fragerei zu weit ging. Gerome könnte es ihr übel nehmen.

»Ähm, ja.« Ein hilfloses Lächeln zog Geromes schmale Nasenflügel auseinander. »Ich spreche nur ungern darüber. Aber gut, jetzt muss ich es dir wohl sagen. Ich hatte vor einigen Wochen einen Unfall. Hat mich meine Rennfahrerkarriere gekostet.« Sein Blick zuckte zur Rennstrecke. »Ich wäre sicherlich ein annehmbarer Edelhelfer für unsere Topfavoriten gewesen. Schon komisch, dass ich nicht mal mehr den Job machen kann.« Mit einer schnellen Bewegung wischte er sich über die Stirn. »Manchmal ändert sich das Leben von einer Sekunde zur anderen«, fuhr er leise fort. »Du glaubst, alles im Griff zu haben, und peng, war’s das. Ich hätte nie im Leben gedacht, dass die Tour mal ohne mich stattfinden würde. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen.«

»Hast du denn Schmerzen?« Mit sanftem Druck legte Sophie die Hand auf seinen rechten Unterarm und prompt stellten sich die dunklen Härchen darauf auf. Wieder benebelte sein betörender Duft ihre Sinne. Musste sie ihm ihr Mitgefühl so offensichtlich zeigen? Was sollte er bloß denken?

Gerome zuckte schlagartig zurück unter ihrer Berührung und wich ihrem Blick aus. »Meine Überlebensrate liegt bei fünfundzwanzig Prozent«, hauchte er hilflos. »Nur eine kostspielige Therapie kann mich noch retten.«

»Was?« Schockiert riss Sophie die Augen auf. Durch ihren Kopf schwirrten die schlimmsten Vermutungen, zumal sie sah, wie Gerome in sich zusammensank. Es war schrecklich, was er da erzählte.

Lachfältchen bildeten sich um seine Funken sprühenden Augen. »Und wenn du nicht sofort mit mir essen gehst …«, prustete er ohne Vorwarnung los, »… verschlechtert sich mein Zustand noch und ich sterbe an Unterzuckerung. Sorry, Sophie.« Er streichelte behutsam ihren Arm. »Ich wollte nur komisch sein. Es war ein Witz. Außer dass die Zellen in meiner rechten Hüfte nach einer Stunde Bewegung rebellieren, ist alles in Ordnung. Das ist der einzige Grund, weswegen ich nicht mehr zum Radsportprofi tauge. Weiter nichts.«

Sophie schluckte. »Damit sollte man nicht scherzen«, schnaufte sie und sah ihn sekundenlang an. »Gibt es Möglichkeiten, die dir langfristig helfen?«

»Massagen schlagen an und gezielte Physio, wenn auch nur kurzzeitig.«

Sophie griff nach ihrem Rucksack, zerrte ihn auf und zauberte einen kleinen Tiegel hervor. »Ich hab eine richtig gute Salbe dabei. Sie lindert so ziemlich alle Schmerzen im Bewegungsapparat. Wenn du magst, kannst du sie gern ausprobieren.«

»Nichts für ungut, Sophie, aber meine Belastbarkeit kann sie mir nicht zurückbringen. Der Zug ist abgefahren.« Energisch drückte sie ihm den Plastikbehälter in die Hand. »Das weißt du doch überhaupt nicht. Bei vielen hat sich nach kurzer Anwendung eine deutliche Verbesserung eingestellt und die Wirkung ist hinterher sogar konstant geblieben. Die Leute aus unserem Fitnessklub sind ganz wild darauf. Die Beinwellpflanze ist die beste Knochenheilerin weit und breit. Eigentlich sagt das der Name schon.«

»Beinwell?«

»Ja, die Wurzeln davon. Ich habe sie in Olivenöl aufgekocht und mit Bienenwachs angedickt.«

»Du?«

»Ja, ich. Kräuter zu verarbeiten, ist meine absolute Spezialität. Ist irre spannend.«

»Hast du auch ein Mittel zur Senkung der Herzfrequenz?«

»Klar. Da kann ich Weißdorn empfehlen. Hast du die Beschwerden schon lange?«

»Nein, erst seit heute. Genau genommen, seit du mir über den Weg gelaufen bist. Meine Werte liegen, glaube ich, gerade noch so im Grenzbereich.«

»Schlaumeier.« Sophie schlug die Lider nieder, ihr Gesicht wurde wieder heiß. »Sag mal, bekommst du keinen Ärger?«, fragte sie schnell, um ihn abzulenken.

»Wieso Ärger?« Geromes beeindruckende Brauen zogen sich unschlüssig nach oben. »Was meinst du?«

Sie klopfte auf ihren Rennsattel. »Na, dein Vorschlag, mein Rad abzustellen. Fremde Räder werden doch bestimmt nicht ohne Weiteres akzeptiert in deiner Crew.«

»Ach was.« Er winkte ab. »Bei so einem unschlagbaren Argument kann ich ja wohl schlecht ablehnen. Für so ein geiles Teil machen wir gern eine Ausnahme. Ähm …« Er zögerte. »Ich meine dein Bike, damit es zu keinem Missverständnis kommt. Lass uns die Räder mal fix zum Teamfahrzeug bringen, sonst verpassen wir noch den Schlusssprint. Wenn alles vorbei ist, kann ich dir unsere Stars vorstellen. Komm, sonst schaffen wir es nicht mehr rechtzeitig. Außerdem habe ich einen mordsmäßigen Hunger.«

Dem Klang seiner Stimme nach zu urteilen, musste sich sein Gemütszustand verbessert haben. Seine Blicke, durchdringend und hartnäckig, gingen ihr tief unter die Haut. Sie ertappte sich, wie sie im Geiste durchspielte, was zwischen ihr und diesem Franzosen noch alles ablaufen könnte. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Hatte sie sich etwa in ihn verguckt? Die Warnung ihrer Freundinnen fiel ihr ein, sich auf keinen Fall auf jemand Fremdes einzulassen. In solch riesigen Menschenmengen trieben sich oftmals die schlimmsten Perversen herum. Was war, wenn sich Gerome das alles nur ausgedacht hatte und nicht so nett war, wie er vorgab? Wenn er sie nur irgendwohin locken wollte, um sich an ihr zu vergehen? Argwöhnisch lenkte sie ihren Blick zu ihm. Seine hochgewachsene, muskulöse Statur war eindeutig zu sexy für eine Frau wie sie. Er bemerkte ihren Blick und lächelte fast ein wenig zu süffisant zu ihr herunter. Plötzlich kam es ihr vor, als würde er in sich hineinlachen. Blödsinn. Warum sollte sie sich so einen Mann entgehen lassen? Sie hatte wahrlich bereits viel zu viel Zeit mit den falschen Kerlen verplempert.

Hastig wandte sie den Blick von ihm ab. Und wenn er es nur auf das eine abgesehen hatte? Erneute Zweifel schossen in ihr auf und ein klein wenig unruhig bastelte sie sich einen Tatbestand zusammen. Körperlich war sie ihm eindeutig unterlegen. Außerdem wurde es immer dunkler und sie kannte sich in der Gegend kein Stück aus. Fast panisch tastete sie nach hinten zu ihrem Rucksack. Sicher war sicher. Sie fühlte das Schlüsselbund. Es befand sich in der vordersten Tasche, greifbar neben dem Handy. Gut. Okay. Innerlich bebend nahm sie die kleine Luftpumpe am Fahrradrahmen in Augenschein. Mit dem richtigen Kraftaufwand würde sie damit wunderbar einen harten Schlag landen können. Verdammt, nun wuchs ihre Besorgnis erst recht. Noch hatte sie die Gelegenheit, Reißaus zu nehmen. Sie könnte einfach sagen, sie hätte es sich anders überlegt. Schaudernd konnte sie nicht umhin, ihn anzusehen. Sein Blick lag auf ihrem Busen. Sie sollte sich auf dem schnellsten Weg den Gefallen tun und sich verabschieden. Doch sie ließ es.

Mit dem Antrieb eines Schuljungen, überdurchschnittliche Noten mit nach Hause zu bringen, marschierte Gerome beschwingten Schrittes voran. Da die Menschenmassen noch nicht allzu dicht waren, schwang er sich auf den Sattel, um im stellenweise langsamen Tempo in Richtung Triumphbogen zu radeln. Mit Sophie im Schlepptau umkurvte er geschickt stehen gebliebene Gaffer. »Prudence«, rief er einigen Leuten zu, die im Weg standen. Sophie sah ihn verwirrt an.

»Das heißt Achtung auf Französisch«, erklärte er.

Als sie ihr Ziel, den Imbissstand in der Nähe des Triumphbogens, erreichten, dämmerte es bereits. Gerome wählte Steak und Pommes frites, Sophie, als Vegetarierin, begnügte sich mit Salat, einem Croissant und Kaffee. Gemeinsam sahen sie in den anbrechenden Nachthimmel, der aufregende Schattenspiele in ihre ungewöhnlich blauen Augen zauberte. Es fiel ihm schwer, sich auf sein Essen zu konzentrieren, so gefangen war er davon. Zum Teufel aber auch, das musste am Typ liegen. Er hatte es immer noch nicht gelernt, sich bei einer gut gebauten schwarzhaarigen Frau mit solchen Augen zusammenzureißen. Wenn er eine entdeckte, konnte er einfach nicht wegsehen. Dass noch nie die Richtige dabei gewesen war, war seinem höchst exquisiten Geschmack geschuldet. Sophie war eine gute Anwärterin. Sie besaß Klasse, ein außergewöhnliches Aussehen und ein angenehmes Wesen. Ihre Präsenz lenkte ihn von seinem Schmerz ab, machte ihn beinah ehrfürchtig und ließ ihn, sobald er den Blick über ihre beachtenswert sexy Kurven schweifen ließ, in einem Rausch sinnlicher Gedanken schwelgen. All das löste etwas in ihm aus, was sich schwer beherrschen ließ. Er schluckte schwer und lenkte das Thema auf die Rennräder, um innerlich zur Ruhe zu kommen. Dabei vertiefte er sich so in das Gespräch mit Sophie, dass er beinah die Zeit übersah. »Wenn wir die Zieleinfahrt miterleben wollen, müssen wir jetzt aufbrechen«, sagte er nach einem Blick auf die Uhr bedauernd.Sophie stand auf. »Dann los!«

Die Menschenmassen hatten sich von einer Minute zur anderen zu einer undurchdringlichen Barriere verdichtet und sie zum Absteigen gezwungen. Um sich hindurchzuzwängen, musste Gerome das Bike beinah blind durch die Lücken jonglieren, die sich in immer geringeren Abständen vor ihm auftaten. Sophie schob ihr Rad dicht hinter ihm und manchmal stieß es an seine Hacken. Vorbei an den Fahrzeugen der verschiedenen Fernsehsender, die sich mit jedem Meter mehr an der Straße drängten, um ihre Liveübertragungen auszustrahlen, kamen sie gut voran. Tanzende Scheinwerfer kompensierten mit ihren bunten Flimmerlichtern die einsetzende Dunkelheit, schöner noch als an Weihnachten. Manchmal, wenn eine Ansage erklang, wurde die Musik unterbrochen. Als der Deutsche Marcel Kittel als Sieger einfuhr, knapp gefolgt von seinem Landsmann André Greipel und dem Briten Mark Cavendish, brüllte der Moderator vor Begeisterung. Die Tour 2016 war für die Deutschen brillant gelaufen.

Es war bereits kurz vor zweiundzwanzig Uhr, als das Trio, begleitet vom stürmischen Beifall der jubelnden Zuschauer, über die Zielgerade flog. Voller Freude rissen sie die Arme hoch. Der Massensprint der Verfolger setzte erst deutlich später ein. Es war das erste Mal, dass die Schlussetappe als Abendetappe ausgetragen wurde, und Gerome fand, dass der Sonnenuntergang die perfekte Kulisse dafür war. Anders als in den Jahren zuvor umrundeten die Fahrer den herrlich angestrahlten Triumphbogen und bezogen auch den Place Charles de Gaulle in ihren Rundkurs mit ein. Die Atmosphäre entlang der Prachtstraße war einmalig.

Gerome wandte sich um. »Achte auf dein Bike, Sophie«, riet er. »Die Kriminalität ist im Gedränge besonders hoch. Am besten, wir gehen nebeneinander und nehmen die Räder zwischen uns. Ich glaube, es wäre sicherer, wenn du mir deinen Rucksack gibst. Ich kann ihn mir vor die Brust hängen. Bei dir … ähm … na ja … geht das ja nicht so gut.«

Stirnrunzelnd verlangsamte Sophie ihre Schritte und warf ihm einen Blick zu, den er nicht deuten konnte. Plötzlich beschleunigte sie ihr Tempo, ohne etwas zu entgegnen, und stapfte unbeirrt an ihm vorbei. Gerome wusste nicht, was er davon halten sollte, und preschte ihr nach. Komisch. Er hatte doch nichts Schlimmes gesagt.

»Was für eine Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«, rief er ihr nach. Er gab sich Mühe, nicht zu schreien. Nach einigen langen Schritten hatte er sie eingeholt und hielt sie am Arm fest. »Du musst mir den Rucksack nicht geben, Sophie. Ich wollte mich, um Gottes willen, nicht aufdrängen, sondern dir nur helfen.« Er stutzte, als er ihren erschrockenen Blick sah. »Ah … jetzt verstehe ich.« Er stieß ein gepresstes Lachen aus. »Du glaubst, ich habe es auf deine Wertsachen abgesehen und will türmen.«

»Und willst du?«, fragte sie im selben Atemzug, nach Luft ringend. Ihre Stimme quoll über vor Sarkasmus.

Sie wurden angerempelt, weil sie unerwartet stehen geblieben waren und den Menschenstrom hinter sich zum Stocken gebracht hatten. Ein Stau entstand und Sophie wurde gewaltsam gegen ihr Rad gedrückt.

»Das denkst du doch jetzt nicht ernsthaft von mir?« Er war wie vor den Kopf gestoßen.

Sophie sah ihn überrascht an. Sie wirkte irgendwie ratlos. »Nein, natürlich nicht«, entfuhr es ihr kratzend. »Na ja … vielleicht …« Sie klang hochgradig nervös.

»Also ja?«

»Ähm, genau genommen hatte ich das Gefühl am Anfang.« Sie schluckte schwer. »Charmante Typen wie du sind halt zwielichtig, äh … ich meine aalglatt. Ich jedenfalls kenne keinen, der …« Ihre Stimme überschlug sich. »… der keine düstere Seite hat.«

»Du meinst, ich bin ein Psychopath?« Er war sprachlos.

»Ich bin nur vorsichtig«, erwiderte sie gehetzt, aber eindringlich und den Tränen nahe.

»Vielleicht denkst du, dass ich dich außer beklauen auch noch vergewaltigen will?«

»Einfach gestrickte Mädchen wie ich müssen aufpassen. Solche Sachen passieren einem schneller, als man denkt.«

Gerome trat einen Schritt zurück. Ihren Arm ließ er dabei unwillkürlich los. »Schätzt du mich so ein? Glaubst du das wirklich von mir? Schade, Sophie. Im Moment habe ich ganz andere Sorgen, als dich rücksichtslos zu bestehlen, zu vergewaltigen oder umbringen zu wollen. Sorry, aber dafür habe ich im Augenblick keinen Nerv.« Sein Rad rutschte im Gedränge weg. Schäumend vor Wut klammerte er sich daran fest. »Wenn du dich so sehr vor mir fürchtest«, knurrte er mit gesenkter Stimme, »dann sollten wir uns hier und jetzt trennen.« Er machte kehrt, doch etwas in ihm sträubte sich, Sophies Gesellschaft aufzugeben. Im Gehen drehte er sich um. »Leb wohl, Sophie. Ich wünsche dir noch eine fantastische Zeit in Paris.« Seine Sonnenbrille, sie war zwischen Trikot und Hals eingeklemmt gewesen, rutschte bei der abrupten Drehung heraus und knallte auf Sophies Lenker, besser gesagt auf einen ihrer nackten Unterarme. Gerome wollte die Brille greifen, doch Sophie hielt flugs seine Hand fest. »Scheiße!«

Verstohlen sah sie zu ihm auf. In ihren Augen glitzerte es. »Denk bitte nicht allzu schlecht von mir.« Sie stockte und schluckte sichtlich erregt die aufsteigenden Tränen hinunter. »Manchmal kommt halt die Polizistin in mir zum Vorschein und da gilt, je früher man aufpasst, desto besser ist es. Es tut mir sehr leid.«

»Ach.« Sein Blick wurde forschend. »Du bist bei der Polizei? Als Sekretärin?«

»Nein.« Verzweifelt blinzelte sie die Tränen aus den Wimpern. »Als Beamtin beim Landeskriminalamt Berlin, genauer gesagt bei der Vermisstenstelle.«

»Echt?« Verblüfft trat er etwas zurück. »So richtig knallhart? Mit allem, was dazugehört? Ist das keine Männerdomäne?« Er machte eine Pause. »Ich dachte, du machst was mit Kräutern. Wegen der Salbe von vorhin? Bei der Polizei? Non. Das hätte ich dir nicht zugetraut.«

»Viele denken, dass Frauen, die auf Verdacht hin eine Straftat untersuchen, höchstens im Fernsehen ermitteln. Wie du siehst, ist die Wirklichkeit eine andere. Was meine Kräuterleidenschaft angeht – die genieße ich in meiner Freizeit. Da koche ich Salben, mische Tees und setze Tinkturen an. Ich stelle sogar mein eigenes Waschmittel her.«

»Wozu macht man das denn?«, platzte Gerome heraus.

»Zum Essen vielleicht?« Schmunzelnd neigte sie den Kopf. »Ne, Quatsch. Das mach ich vor allem für Gabi, meine Nachbarin. Sie ist alleinstehend und hat drei Kinder. Sie hat es nicht so dicke.«

»Du bürdest dir allen Ernstes die Arbeit auf und produzierst Waschmittel für eine Nachbarin? Einfach so? Bestimmt, um es an sie zu verkaufen?«

»Um es zu tauschen«, korrigierte Sophie. »Dafür darf ich manchmal auf ihre Kiddies aufpassen. Ich liebe die Knirpse doch so. Hoffentlich bekomme ich auch mal solche Rabauken, am liebsten fünf.«

»Ist das nicht ein bisschen die falsche Sichtweise? Ich meine, du lässt dich ausnutzen.«

»Wieso denn? Ich gebe ihr etwas und sie mir. Mit meinem anderen Nachbarn mach ich das auch so. Er bekommt ab und zu ein Glas Marmelade, er ist ganz wild darauf, und ich führe dafür seine Schäferhündin aus. Da komme ich wenigstens nach der Arbeit noch etwas raus. Es ist toll, wie viele nette Leute man kennenlernt, wenn man einen Hund dabeihat. Nicht so spießige wie die in der Behörde.«

»Du bist unglaublich, Sophie. Ich besitze nicht einmal eine Katze.«

»So ein Samtpfötchen habe ich auch noch. Na ja, nicht so richtig. Ich habe es von Herrn Schwarz adoptiert. Das ist der mit dem Hund. Es spielt so schön mit meinen Kaninchen.«

»Ach was? Deinen Weihnachtsbraten stellst du also auch selbst her? Gar nicht mal so schlecht. Da weißt du zumindest, was du hast.«

»Bist du verrückt! Die Kaninchen habe ich wegen der Kinder angeschafft. Ihr Vater hat eine Haarallergie und ich finde, Kinder müssen mit Tieren aufwachsen.«

Geromes Zorn verrauchte. »Äh … noch mal zu vorhin. Bin ich wirklich so verhaltensauffällig rübergekommen, dass du so schlecht von mir denkst?«

»Ne, Quatsch, nein.« Sophies Kiefermuskeln zuckten. Die Frage schien ihr unangenehm zu sein. Offenbar hatte sie Gewissensbisse.

»Könnt ihr euer bescheuertes Kaffeekränzchen nicht zu Hause abhalten wie jedes normale Paar?«, fragte ein piekfein angezogener Schlipsträgerschnösel und schnitt ihr damit das Wort ab. Mürrisch dreinschauend schob er sich eine schweißverklebte Haarsträhne aus der Stirn und blickte Beifall heischend um sich. Sein rot-weiß gemustertes Hemd war in den Achselhöhlen dunkel gefärbt. Er roch stark nach Schweiß.

»Ärgerst dich wohl, weil du keine abgekriegt hast?«, antwortete ein dickbäuchiger Vollbartbesitzer in schlechtem Deutsch, worauf verhaltenes Gekicher und Gelächter erklang. Er versetzte Gerome einen überschwänglichen Rempler. »Hey, Kumpel«, wisperte er gutmütig. »Lass dir von dem bloß nicht die Tour versauen. Die Kleine ist heiß, wenn du weißt, was ich meine.«

Sophie wurde rot. Sie hatte die Worte also verstanden, auch wenn sie leise gesprochen waren. Irgendwie wirkte sie durcheinander.

»Bitte, Gerome«, sagte sie matt, »müssen wir das unbedingt hier klären? Ich kriege kaum Luft in dem Gedränge.«

Er musterte sie frostig. »Und ob.« Seine Stimme klang vorwurfsvoll. »Natürlich will ich das jetzt wissen.« Er beschloss, in die Offensive zu gehen, und packte sie kurzerhand bei den Schultern, zog sie etwas über die Räder hinweg zu sich heran. »Also, im Ernst, Sophie. Wie kommst du darauf, dass ich dir etwas antun könnte? Bin ich deiner Meinung nach wirklich so gemeingefährlich?«

»Bitte nicht mehr böse sein«, ächzte sie erstickt und klammerte sich verzweifelt an ihr Rad. »Ich weiß auch nicht, was mich da geritten hat.«

Geritten. Gerome musste sich zwingen, den Blick von ihr zu wenden. Innerlich stöhnte er auf, holte tief Luft und versuchte, die Ruhe zu bewahren. »Okay!« Er machte eine Pause. »Solange du mich zu keiner Verhaltenstherapie schickst«, flüsterte er, »will ich mal nicht so sein.«

Um Sophie vor dem Gedränge zu schützen, reckte er die breiten Schultern. Er hob den Kopf und setzte die Brille auf. Dabei streifte seine Wange ihr Haar. Es duftete wundervoll frisch nach Mandeln gepaart mit Erdbeeren. Geräuschvoll sog er den Geruch ein und augenblicklich hob sich seine Stimmung. »Sophie?« Er sah sie ergriffen an. »Ich bin wirklich der solideste Mensch, den ich kenne, und ich lebe brav in geordneten Verhältnissen, falls du das wissen willst. Aber … und da gebe ich dir im Grunde genommen recht, nicht jeder ist das, was er glaubt, darzustellen.«

Sie kniff die Augen zusammen und bedachte ihn mit einem Lächeln. Es schien Erleichterung auszudrücken. »Klingt vernünftig.« Sie nickte. »Und plausibel.« Die Menschentraube hinter ihnen scherte rechts und links um sie herum aus. Es war, als würde die Masse sich absichtlich in zwei Ströme teilen, um sie nicht zu stören.

Endlich Luft. Sophie genoss den einsetzenden Druckausgleich in der Brust und atmete befreit aus. Inmitten der vielen aufgeheizten Menschenkörper war die brütende Hitze noch mehr zu spüren. Wenn Gerome sie nicht rausgebracht hätte, wäre sie wahrscheinlich wegen Sauerstoffmangels zusammengebrochen. Er musste den Schweiß auf ihrer Stirn und ihre Luftknappheit bemerkt haben. Ohne dass sie ihn bitten musste, sorgte er mit ruhig-kategorischen Anweisungen für eine Schneise. Nach kurzer Zeit waren die Leute unaufgefordert zur Seite gewichen und Gerome hatte sie mitsamt den Rädern durch das Menschenspalier gelotst. Nun hockte sie an ihr Rad gelehnt und wartete auf ihn. Er wollte etwas Kaltes zum Trinken besorgen. Bei Gott, sie hatte diesen tollen Typen beinah vergrault. Der Gedanke, wenn das passiert wäre, schnürte ihr die Kehle zu. Zum Glück war es das nicht.

Seufzend schaute sie auf ihre Armbanduhr. Inzwischen war mehr als eine halbe Stunde vergangen. Langsam machte sie sich Sorgen. Wo blieb er nur so lange? Die warme Plörre in der Flasche aus ihrem Rucksack war ungenießbar. Sie hatten sich die Hände damit gewaschen. Deshalb wollte Gerome auch frisches Wasser beschaffen, während sie sich ausruhen sollte. Sophie hatte zugestimmt. Sie hätte ohnehin keinen Schritt mehr gehen können, war völlig ausgedörrt. Sie griff in den Rucksack, um ihr Deodorant herauszufischen. You’ll be in my heart, yes, you’ll be in my heart, trällerte ihr Handy. Sie zuckte zusammen. Es war Iren.

»Hey, Süße, wo bist du?« Die Freundin klang neugierig und gleichzeitig besorgt.

»Och.« Sophie schlug einen beiläufigen Tonfall an und sprühte das Deo in ihre Achselhöhlen. »Ich bin immer noch hier.«

»Aber die Tour ist doch längst vorbei. Wir haben uns das Finale im Fernsehen angeschaut. Wie nah warst du dran?«

»Sehr nah.« Sophie lachte auf. »Und ich bin es immer noch.«

»Cool! Hast du ein paar Autogramme ergattern können? Die Franzosen sind ja solche Schnuckelchen.«

»Ähm ja … stimmt.«

»Hast du nun welche oder hast du nicht?«

»Nicht ganz.«

»Sophie? Was ist los? Raus mit der Sprache.«

Sophie rang mit sich, ob sie ihr von Gerome erzählen sollte. »Im Moment noch nichts. Aber ich bin dabei.« Sie hörte, wie Iren seufzte, und schloss die Augen. »Na gut. Ich habe jemanden kennengelernt.«

»Einen Mann? Versteh ich das richtig?« Iren schien auf Alarm geschaltet zu haben. Die Panik in ihrer Stimme schwirrte greifbar nah aus dem Hörer. Sophie konnte förmlich ihre aufgerissenen Augen sehen. »Pass bloß auf, Sophie. Es ist stockdunkel da draußen. Am besten, ich komme zu dir.«

»Nein, Iren, bitte bleib bei Sina. Wie geht es ihr?«

»Keine Sorge, sie schläft wie ein Baby. Wo bist du, Sophie? Ich meine das ernst mit dem Kommen.«

»Ich bin tatsächlich nicht allein«, beharrte Sophie und platzte beinah vor Stolz. »Er heißt Gerome und holt gerade etwas zu trinken. Du wirst es nicht glauben, aber er ist Radprofi beim Team Sojasun, nur nicht mit angetreten, wegen einer Verletzung.«

»Wow! Mich trifft der Schlag. Ist das abgefahren. Die verdienen Kohle ohne Ende. Sophie?« Iren räusperte sich. »Du denkst dir das aber nicht bloß aus, um mich zu ärgern? Ich meine, ein Radprofi? Das wäre selbst für mich eine Nummer zu groß.«

Sophie musste schlucken. Irens Gestalt tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Groß, dünn und sonnengebräunt, besaß sie mit dem Gesicht einer Schauspielerin das, was Sophie immer wollte: einen hübschen, kleinen Busen. »Du glaubst wohl, weil ich nicht so aussehe wie du«, erwiderte Sophie leicht gekränkt. »Aber stell dir vor, er hat mich angesprochen und nicht umgekehrt. Und ja, falls du es wissen willst: Er ist ein super Typ. Groß, breitschultrig und George Clooney minus dreißig.

---ENDE DER LESEPROBE---