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Von klein auf eingesperrt im Kloster vom Stillen Tal, träumt Zinnia von einem anderen Leben. Doch als ihr Vater zum Verräter wird, blickt sie stattdessen dem Tod ins Auge. Von klein auf dazu ausgebildet, dem König des Großreichs von Erivel zu dienen, träumt Asai von Freiheit und von seiner Heimat in Mudan. Er ist des Königs Klinge im Dunkeln und führt jeden Auftrag seines Herrn treu aus. Doch als er Zinnia im Stillen Tal hinrichten soll, nimmt er sie stattdessen mit und verhandelt mit König Tiras um ihr Leben. Denn den kaltblütigen Krieger und das verträumte Mädchen verbindet mehr, als es auf den ersten Blick den Anschein hat.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
1. Das lange Schweigen
2. Weil ich es kann
3. Schattenfall von Mudan
4. Geschichten
5. Die Blumen im Garten
6. Freiheit ist wertvoll
7. Ich kenne dich
8. Die Versuchung des Silbers
9. Blicke in den Spiegel
10. Von Jungfern und Kriegern
11. Blinder Zorn ist nicht Mut
12. Süße Worte
13. Bei Tageslicht
14. Schöngeredet
15. Was immer du geben willst
16. Heute ist der Tag
17. Kammerspiel
18. Keinen Tag weniger, keinen Tag mehr
19. Der Säufer und sein Bettelweib
20. Würfel, Wetten und Wein
21. Du weißt nicht, wie das ist
22. Sieg oder Niederlage?
23. Schneeglöckchen
24. Der Kranich
25. Da hat man einmal Glück
26. Recht ist Recht
27. Der Mensch ist ein wunderliches Wesen
28. Der Wald ist dunkel
29. Dämmerschall und Märchenhall
30. Der vollkommene Moment
Danksagung
Impressum
1. Das lange Schweigen
Es war Herbst, als meine Mutter starb. Ich war zwar noch klein, aber daran erinnere ich mich. Unser letzter gemeinsamer Tag war ein sonniger Herbsttag wie dieser. Wir gingen am Waldrand entlang, sie trug ein schlichtes Wollkleid und ihr silberblonder Zopf fiel ihr über die Schulter. Ich hatte ein Körbchen dabei, in dem ich bunte Blätter sammelte. Sie hatte mir versprochen, dass wir daraus eine Girlande machen würden, als Schmuck für die Festtagstafel meines Vaters, des Burgherrn. Ich weiß noch, wie dieser Gedanke mich mit Stolz erfüllte, und ich suchte die Blätter sorgfältig aus. Nur die schönsten und farbenprächtigsten waren gut genug.
Auf dem Weg zurück zur Burg stolperte ich vor Aufregung, schrammte mir das Knie auf und alle Blätter im Korb verteilten sich auf dem Weg. Bevor die ersten Tränen fielen, war meine Mutter schon bei mir. Sie küsste mein Knie, umarmte mich und ich verbarg mein Gesicht an ihrem Hals, wo es immer ein bisschen nach Rosenöl duftete. Wir waren schon in der Nähe des Tors und einer der Krieger meines Vaters, ein großer Mann mit schwarzen Federn im Haar, sammelte freundlich die Herbstblätter auf, während meine Mutter mich tröstete. Er hätte sie eigentlich liegen lassen können, denn die Girlande haben wir nie gemacht. Und es war unsere letzte Umarmung. Hätte ich das gewusst, dann hätte ich nie losgelassen.
Nach ihrem Tod ließ mein Vater mich in das Kloster vom Stillen Tal bringen. Auch ihn sah ich nicht wieder und fünfzehn Jahre sind seitdem vergangen. Ich bin Zinnia von der Wellenburg, einzige Tochter von Gerart Grimmbart, dem mächtigsten Herrn im Osten des Reichs. Aber was das nach all dieser Zeit noch bedeutet, das weiß ich nicht.
Ich schaue hinauf in die schon kahl werdenden Äste des Eichenbaums, der hier mitten im Klostergarten steht, und lächle, als ich dort das Eichhörnchen entdecke. Dieser alte Baum ist für die Ordensmitglieder ein besonderer Ort. Hier im Kloster wird kaum gesprochen, nur oft vorgelesen aus dem Buch des namenlosen Schweigers. Die Legende besagt, dass er jahrelang unter ebendiesem Eichenbaum gesessen hat und so dermaßen weise schwieg, dass sich immer mehr Anhänger um ihn versammelten, die versuchten, sein Schweigen zu enträtseln. Nach und nach bauten sie das Kloster und dessen hohe Mauer um ihn herum und ein neuer Orden war entstanden. Er sprach nie mehr ein Wort, und was er der Welt doch noch mitteilen wollte, schrieb er als alter Mann in das Buch. Aber ich bin kein Ordensmitglied des Stillen Tals, ich lebe hier nur so neben ihnen her. Und ich suche hier beim Eichenbaum keine Erleuchtung, ich will nur das Eichhörnchen füttern. Früher floh es bei meinem Anblick in die Baumkrone hinauf, aber mittlerweile haben wir uns angefreundet. Als ich mich hinknie und ihm ein Stückchen Möhre hinhalte, kommt es neugierig herbei und nimmt es mir nach kurzem Zögern aus der Hand. Und dann erschrecken wir beide, als wir laute Stimmen aus der Richtung des Klosterhofs hören.
Das Eichhörnchen flieht vor dem ungewohnten Lärm, ich jedoch werde davon angezogen und mache mich sofort auf den Weg. Das Tal ist abgelegen, Gäste sind selten. Und doch kommt es manchmal vor, dass fahrende Händler oder müde Reisende um einen sicheren Schlafplatz und eine Mahlzeit bitten. Ich liebe solche Besucher, sie bringen Worte in das Stille Tal. Sie reden über den vorigen Markt oder von der nächsten Stadt, die sie bereisen wollen. Tauschen Neuigkeiten aus über Kämpfe an der Nordgrenze, über die Heldentaten berühmter Krieger oder über den König in Erivel. Worte, die nicht aus ernsten Büchern kommen, sondern aus der Welt dort draußen. Eines Tages werde ich sie sehen, diese Welt. Das Leben von früher kehrt nicht mehr zurück, es endete in Blut und Schrecken. Aber irgendwann werde ich diesen einsamen Ort verlassen und dann fängt etwas Neues an. Daran zweifle ich nie.
Im sonst so ruhigen Hof ist einiges los, aber zu meiner Enttäuschung sind keine interessanten Gäste gekommen, sondern der Vorsteher der Orden. Ich würde seine lange, hagere Gestalt stets sofort erkennen. Er ist für mehrere Orden verantwortlich, reist deshalb viel herum und in das Stille Tal verschlägt es ihn nicht oft. Das ist gut so, denn er war es, der mich damals aus den Armen meines Kindermädchens zog und auf Befehl meines Vaters hierherbrachte. Er hat mir sonst nie etwas zuleide getan, aber immer, wenn ich ihn sehe, spüre ich etwas von der Angst, die ich damals empfunden habe. Ein Nachklang, mit den Jahren schwächer geworden, aber immer noch da. Seine Diener tragen Gepäck ins Gebäude hinein, die Männer seines Geleitschutzes satteln ihre Pferde ab und ich bleibe kurz stehen, um das Geschehen zu beobachten. Eine Entscheidung, die ich gleich bereue, als der Vorsteher mich bemerkt und zu sich ruft. Es wundert mich und während ich widerwillig auf ihn zugehe, sehe ich ihn mir genau an. Die Ringe an seinen Fingern funkeln in der Sonne, als er sich unruhig über den Bart streicht, und seine tiefbraune Haut wirkt heute fast ein bisschen grau. Er will mir was sagen, aber es scheint ihm schwerzufallen, die richtigen Worte zu finden. Und als er endlich spricht, sieht er mir dabei nicht in die Augen.
„Zinnia, ich habe eine schlechte Nachricht für dich. Dein Vater war an einer Verschwörung gegen den König beteiligt. Das ist Verrat und Verräter müssen sterben. Der König hat ihn und seine Nachkommen zum Tod verurteilt. Das ist sein Recht. Es tut mir sehr leid, das kannst du mir glauben. Aber da ist nichts, was ich für dich tun kann. Dieser Mann ist gekommen, um das Urteil zu vollstrecken. Es ist Zufall, dass wir gleichzeitig im Tal eintrafen.“
Ich höre das Bedauern in seiner Stimme, brauche jedoch einen Augenblick, um seine Worte zu begreifen. Und dann verstehe ich. Vorhin erst fragte ich mich, was es wohl noch bedeutet, meines Vaters Tochter zu sein. Wer hätte gedacht, dass die Antwort so schnell und grausam über mich hereinbrechen würde?
Entsetzt sehe ich an dem Vorsteher vorbei zu dem fremden Mann, den ich bis jetzt noch gar nicht richtig wahrgenommen habe. Und vergesse für einen kurzen Moment, warum er hier ist, denn er ist der schönste Mensch, den ich je sah. Es ist, als käme er geradewegs aus dem Märchen über den Prinzen des hübschen Feenvolks, das ich vor ein paar Monaten von einem Besucher gehört habe. Der Prinz war so schön, dass alle sich seufzend nach ihm umdrehten, wenn er die Hauptstraße des Waldreichs entlangschritt, und wen er anlächelte, der fiel in Ohnmacht. Als er einmal einem roten Drachen gegenüberstand, da besiegte er ihn, indem er sich überraschend den goldenen Helm vom Kopf zog und seine Haare im Wind wehen ließ. Beim Anblick blieb dem Drachen vor Staunen das Feuer im Halse stecken und er verschluckte sich daran. Seit ich diese Geschichte gehört habe, versuche ich mir vorzustellen, wie ein solcher Prinz wohl aussehen mag. Und ich glaube, jetzt weiß ich es.
Der Mann ist bestimmt nicht viel älter als ich, hat klare, ebenmäßige Gesichtszüge und schmale, dunkelbraune Augen, die sich seitlich elegant nach oben schwingen. Seine Haut ist längst nicht so dunkel wie die des Vorstehers, aber dunkler als meine und das schwarze Haar hat er zu einem Knoten hoch am Hinterkopf gebunden. Er sieht auch mich an, aber in seinem Blick ist nichts zu lesen. Er ist schön, doch seine Schönheit ist kalt. Nicht warm und einladend wie die des Feenprinzen. Sein wadenlanges, gegürtetes Obergewand ist grau statt rein und weiß. Und an seinem Gürtel hängt auch keine goldene Harfe, mit der er Tausende bezaubern und ganze Heere bezwingen könnte. Nein, in seinem Gürtel stecken dicht nebeneinander zwei Schwerter, ein langes und ein kürzeres. Und es ist der Anblick dieser Schwerter, der mich mit einem Schaudern endgültig wieder in die Wirklichkeit zurückholt. Denn ich will nicht, dass er meinetwegen ein Schwert in die Hand nimmt. Und wenn ich es mir recht überlege, sieht er doch nicht aus wie der Feenprinz. Er ist beängstigend.
Mit einem Schlag ist sie da, die ganze Furcht, die ich von Anfang an hätte empfinden sollen. Ich will ihn anflehen, mich nicht zu töten. Ihm erklären, dass irgendwo da draußen ein anderes Leben auf mich wartet, dass ich mir da sicher bin und dass er es mir nicht wegnehmen darf. Aber die Worte wollen nicht kommen.
Ausgerechnet jetzt gelingt es mir nicht, das Schweigen zu überwinden. Und könnte ich es, würde es wohl nichts ändern. Welches Wort aus meinem Mund könnte schwerer wiegen als das Wort des Königs?
Wieder schaudert es mich. Nicht vor dem Mann, sondern weil die Zuversicht, die ich all die Jahre in meinem Herzen getragen habe, in diesem Moment zerspringt und mich so seltsam leer zurücklässt. Er kommt auf mich zu und ich weiche zurück, bis ich mit dem Rücken an einen Pferdekarren stoße und stehen bleiben muss. Meine Hände fangen an zu zittern. Ganz dicht vor mir steht er jetzt und ich frage mich, ob denn nicht wenigstens er noch etwas sagen sollte, ehe er mein Leben beendet. Als er die Hand hebt, zucke ich zusammen, doch er nimmt nur eine Strähne meines Haars und reibt sie zwischen Daumen und Zeigefinger. Legt dabei den Kopf ein wenig schief und ich sehe ihm an, dass er überlegt. Mein Haar ist sehr hell, fast weiß, und es hat einen silbernen Schimmer wie das Haar meiner Mutter. Eigentlich ist es schön, aber ich bin schon seit dem Morgengrauen draußen und jetzt ist es zerzaust und kleine Ästchen haben sich darin verfangen.
Und dann beruhigen sich mein flatterndes Herz und meine zitternden Hände. Dieser Mann wird tun, was er will, und ich kann daran nichts ändern. Ich habe weder Waffen noch Worte, um mich zu wehren. Und in dieser Unausweichlichkeit liegt ein unerwarteter Frieden. Ich schließe die Augen und atme tief ein. Spüre die Wärme der Sonne auf meinem Gesicht. Das ist kein schlechter Abschied. Und vielleicht werde ich sie gleich sehen, die Reinen Gefilde, von denen im Buch des namenlosen Schweigers geschrieben steht. Doch der Mann zieht keine Klinge, er spricht. Seine Stimme ist überraschend leise und es liegt eine angenehme Ruhe darin.
„Ich würde dich lieber mitnehmen. Kommst du?“
Wieder brauche ich einen Moment, um diese plötzliche Wendung zu verstehen, doch dann durchflutet mich grenzenlose Erleichterung. Alle Hoffnung und alle Träume sind gleich wieder da, als wären sie nie weg gewesen, und ohne zu zögern, folge ich ihm zu seinen Pferden. Er ist immer noch beängstigend, aber er bietet mir einen Weg aus dem Stillen Tal. Und ich will ihn auf keinen Fall verärgern, ihm keinen Grund geben, es sich doch noch anders zu überlegen. Er hebt mich kurzerhand auf den Rücken seines hellgrauen Packpferdes und gibt mir dessen Führstrick in die Hand. Offensichtlich will er sofort los, doch der Vorsteher ist damit nicht einverstanden.
„Nun warte mal, das geht nicht. Wenn du sie nicht töten willst, umso besser. Sie verdient es nicht. Aber dann lass sie einfach hier. Sie ist hübsch, ist es das? Wird sie dann in ein paar Tagen tot in der Wildnis liegen, wenn du ihrer überdrüssig bist? Du bist wirklich so widerlich wie dein Ruf.“
Diese Worte erschrecken mich. Auf den Gedanken, dass der Mann mich doch noch töten könnte, nur später und woanders, war ich noch gar nicht gekommen. Aber ist später und woanders denn nicht trotzdem besser als jetzt und hier? Ich weiß es nicht. Statt dem Vorsteher zu antworten, wendet sich der fremde Mann an mich.
„Höre nicht auf ihn. So etwas wird nicht geschehen. Ich sage es und ich halte mein Wort.“ Als ich erleichtert aufatme, hebt er verwundert eine dunkle Augenbraue. „Du glaubst mir?“
Ich nicke und bin selbst ebenso überrascht, denn welchen Grund habe ich, ihm zu vertrauen? Vielleicht liegt es an seinem Blick, der jetzt nicht kalt ist, sondern ruhig und klar, und in dem ich keinen Trug erkennen kann.
„Ich verlange eine Erklärung.“ Schneidend erklingt die Stimme des Vorstehers über den Hof. Der Fremde seufzt bedauernd und schließt kurz die Augen, als wäre er müde. Sofort fasst er sich jedoch wieder, geht ein paar Schritte auf den Vorsteher zu und neigt höflich den Kopf.
„Und werdet keine erhalten.“
„Du vergisst dich. Ich bin Feodor von Erdin, Vorsteher aller Orden diesseits vom Fluss der Mitte. Und du bist ein Diener.“
Die Verärgerung des Vorstehers scheint den Fremden nicht sehr zu kümmern.
„Ich bin ein Diener“, sagt er in gemessenem Ton. „Aber ich diene nur einem Herrn und vor ihm werde ich mich verantworten. Vor keinem anderen.“
Mit wachsender Sorge beobachte ich, wie die sechs Männer des Geleitschutzes sich über den Hof verteilen. Zwei von ihnen positionieren sich vor dem Tor, während ihr Anführer dicht neben dem Vorsteher stehen bleibt, als wollte er ihn schützen. Alle anderen Anwesenden ziehen sich in sichere Ecken des Hofs oder gleich in das Gebäude zurück. Sicher fürchten sie, dass es zu Gewalt kommen könnte, und auch die Gedanken des Vorstehers scheinen sich in diese Richtung zu bewegen. Sein Blick bleibt an den Waffen des fremden Mannes hängen.
„Wenn du dieses unheilvolle Schwert ziehst, hier in meinem Hof meine Männer angreifst und den Frieden dieses Ortes brichst, dann wirst du dich auch dafür verantworten müssen. Es würde dem König nicht gefallen.“
Der Fremde breitet in einer friedfertigen Geste die Arme aus. „Das ist wahr. Wenn ich es jedoch nicht ziehe und der Diener des Königs dennoch an diesem friedlichen Ort von Euren Männern angegriffen wird, dann werdet auch Ihr Euch verantworten müssen. Denn das gefiele ihm ebenso wenig.“
„Dann wird also keiner von uns als Erster angreifen.“
„Daher solltet Ihr als Erster nachgeben. Sonst stehen wir hier zum Herbstfest immer noch. Und wer hat für so etwas Zeit?“
„Wer würde dem König denn schon berichten, was hier genau geschah und wer wen zuerst angriff?“, fragt der Anführer des Geleitschutzes verächtlich.
Der Fremde mustert ihn daraufhin abschätzend und wirft einen Blick auf die restlichen Männer.
„Wahrscheinlich ich, glaub mir das ruhig.“
Der Anführer setzt zu einer verärgerten Entgegnung an, doch der Vorsteher bringt ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
„Meine Männer dienen mir treu. Ich werde sie nicht deiner Laune opfern. Ich weiß, wer du bist und dass sie dich wahrscheinlich nicht aufhalten können. Ich gebe nach, wie du es willst. Aber ich werde dem König sofort Bericht erstatten und ihm mitteilen, wie du dich hier verhalten hast. Dann kannst du zusehen, wie du dich verantwortest. Nun nimm das Mädchen mit und bedenke bei allem, was du tust, dass Güte eine der drei großen Tugenden ist.“
Mit langen, zornigen Schritten geht er in das Gebäude hinein.
Niemand verabschiedet mich und ich werde niemanden vermissen. Was ich vielleicht vermissen werde, ist mein zweites Kleid. Aber der Mann hat mich nicht gefragt, ob ich etwas mitnehmen möchte, und ich traue mich nicht, ihn darauf anzusprechen. Er sieht dem Vorsteher noch kurz nach, steigt dann unter den finsteren Blicken der anderen Männer auf sein Pferd und reitet ungehindert durch das Tor. Das Packpferd, auf dem ich sitze, folgt ihm ohne mein Zutun und so verlasse ich das Kloster.
Auf diesen Moment habe ich lange gewartet und ihn mir oft vorgestellt. Als Kind habe ich mir ausgemalt, wie mein Vater käme, um mich um Vergebung zu bitten und wieder mit nach Hause zu nehmen. Als ich älter wurde und vernünftiger überlegen konnte, da hoffte ich, er käme nicht. Da habe ich mir dann andere Möglichkeiten ausgedacht. Aber in keiner meiner Vorstellungen kam solch ein furchteinflößender Mann vor, der mich töten wollte.
Als wir nach einer Weile durch eine schmale Schlucht das Tal verlassen, erstreckt sich vor uns ein weites Land und raubt mir fast den Atem. Immer ist mir bisher der Blick versperrt gewesen von Mauern und Bäumen und den Hängen des Tals. Doch jetzt kann ich sehen, so weit meine Augen nur sehen können. Sanfte grüne Hügel, besprenkelt mit Büschen und einzelnen Bäumen. In der Ferne ein Wald. Die Weite ist befreiend und gleichzeitig ein wenig beängstigend. Als könnte man in ihr nur allzu leicht für immer verloren gehen und nie mehr irgendwo ankommen. Der Mann schlägt ohne zu zögern eine Richtung ein und weiß offenbar genau, wohin er will. Er kennt den Weg und ich brauche ihm nur zu folgen.
Es gibt eine Straße, die er allerdings gleich wieder verlässt. Er will anscheinend tatsächlich durch die Wildnis reisen. Eilig scheint er es nicht zu haben und das ist gut, denn ich bin noch nie zuvor geritten. Der Gang des Packpferds ist ruhig und sicher, doch als es auf einer Ebene antrabt, rutsche ich fast von seinem Rücken und brauche all meine Kraft, um mich an Gepäckgurt und Mähne festzuhalten. Das Pferd bemerkt meine Unsicherheit und immer, wenn es spürt, dass ich das Gleichgewicht verliere, bleibt es kurz stehen, bis ich wieder sicher sitze. Ich wusste nicht, dass Pferde so nett sein können, und ich zeige mich erkenntlich, indem ich gelegentlich seine Schulter kraule und lästige Fliegen von seinem weichen Fell vertreibe.
Stundenlang sprechen wir kein Wort. Der Mann ist jetzt so schweigsam wie ich und das ist mir nur recht. Als die Sonne sinkt, machen wir Halt am Rande eines kleinen Wäldchens. Schnell lasse ich mich vom Pferderücken gleiten, bevor er auf den Gedanken kommt, mir zu helfen. Mit ihm hier draußen so allein zu sein, ist jetzt, da es Abend wird, doch ein bisschen unheimlich. Ich muss daran denken, wie mühelos er mich auf das Pferd gehoben hat. Wenn er mir etwas antun will, dann werde ich ihn nicht daran hindern können. Und etwas an der Art, wie er sich bewegt, sagt mir, dass jeder Fluchtversuch sinnlos wäre. Aber er beachtet mich gar nicht, kümmert sich nur um die Pferde, verschwindet im Wäldchen und kommt zurück mit einem Arm voll Fallholz. Ich beobachte, wie er Zunder, Feuerstein und Stahl aus einer Satteltasche holt und geschickt ein kleines Feuer entfacht. Zu meiner Verwunderung benutzt er Wasser aus einem Trinkschlauch, um sich die Hände abzuspülen, bevor er sich nah an die wärmenden Flammen setzt, seine Schwerter neben sich ins Gras legt und anfängt zu essen. Es ist mittlerweile fast dunkel geworden und ich halte mich abseits im Schatten, bin unschlüssig, was ich tun soll. Eigentlich will ich seine Aufmerksamkeit lieber nicht auf mich lenken. Aber ich habe solchen Hunger. Es ist, als könne er meine Gedanken lesen. Er bricht ein Stück Brot ab und hält es mir mit ausgestrecktem Arm hin.
„Komm, iss mit mir.“
Er sitzt dort völlig gelassen und schaut in das Feuer, als würde er sich kaum für mich interessieren. Ich glaube, er versucht, harmlos zu wirken. So ähnlich würde ich es auch machen, wenn ich ein Eichhörnchen dazu bringen wollte, Futter aus meiner Hand zu nehmen. Ruhe, Geduld, keine schnellen Bewegungen und ein verlockendes Angebot. Sowohl das Essen als auch das Feuer ziehen mich an. Jetzt am Abend wird es schnell kälter und so langsam fange ich an, es zu spüren. Ich seufze, setze mich in seiner Nähe auf den Boden und nehme das Brot. Bei mir hat es wesentlich schneller geklappt als beim Eichhörnchen im Klostergarten und ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich schlauer bin oder dümmer. Es wird sich zeigen.
Alles, was der Mann isst, teilt er gerecht auf. Brot, zwei Äpfel und ein Stück Käse. Auch seinen Trinkschlauch gibt er mir und ich bin so durstig, dass ich ihn leer trinke. Ich versuche ihn nicht anzusehen, spüre aber, wie sein Blick eine ganze Weile nachdenklich auf mir ruht. Er sagt jedoch nichts mehr und ich fühle mich in seiner Gesellschaft wohler als erwartet. Meine Wachsamkeit lässt langsam nach, macht einer lähmenden Müdigkeit Platz. Er bemerkt es und reicht mir eine Decke.
„Schlaf ruhig.“
Und diese zwei Worte geben mir tatsächlich das Gefühl, beruhigt einschlafen zu können. Dafür habe ich keine vernünftige Erklärung, es ist einfach so. Ich bin auch viel zu erschöpft, um mir heute noch weiter Sorgen zu machen. Sie werden bis morgen warten müssen.
Am nächsten Vormittag erreichen wir einen Bach, der uns und die Pferde mit frischem Wasser versorgt und dem wir einige Tage lang folgen. Es ist schön anzusehen, wie er mal friedlich in der Sonne glitzert und mal wild über die Felsen sprudelt. So anstrengend diese Reise auch ist, sie gefällt mir dennoch. Tagsüber rasten wir nur selten und mein Körper schmerzt vom stundenlangen Reiten. Aber ich liebe es, die Landschaft zu beobachten, entdecke in ihr immer wieder neue Schönheit. Nachts liege ich nur in eine Decke gewickelt auf hartem Boden, aber hier draußen kann man einschlafen, während man am Nachthimmel die Sterne zählt. Und geweckt wird man von Vogelstimmen und dem schönsten Morgenrot. Das Einzige, was mir so langsam tatsächlich fehlt, ist mein zweites Kleid. Dieses hier starrt mittlerweile vor Dreck und wirkt auch sonst von Tag zu Tag mitgenommener. Für mein Haar gibt mir der Mann einen Holzkamm und ein dünnes Lederband, mit dem ich es zu einem Zopf binden kann. Und als einmal ein besonders kalter Wind weht, leiht er mir sogar seinen Umhang. Er ist überraschend freundlich und ich fühle mich in seiner Gegenwart sicher. Vor ihm selbst und auch vor allem anderen. Ob der abgemagerte Wolf, der uns eine kurze Strecke auf Abstand folgt, oder unheimliche Geräusche im nächtlichen Unterholz, nichts scheint meinen Begleiter auch nur im Geringsten beunruhigen zu können, und das nimmt auch mir die Angst. Und doch habe ich noch kein Wort zu ihm gesagt.
Jahrelang habe ich mir gewünscht, der Stille zu entkommen, doch jetzt empfinde ich sie zum ersten Mal als Schutz. Sie sorgt für einen Abstand zwischen ihm und mir. Ein Abstand, den zu überbrücken mir schwerfällt. Ein Teil von mir vertraut ihm sehr, ein anderer Teil mahnt zur Vorsicht. Er ist freundlich, aber er ist nicht mein Freund. Er gibt, aber er wird bestimmt auch nehmen, ich weiß nur noch nicht, was. Diese Gedanken sind verunsichernd, das Schweigen dagegen ist vertraut. Dabei hätte ich so viele Fragen. Warum hat er mich verschont und mitgenommen? Wo gehen wir hin? Und was werden wir dann dort tun? Da sind auch noch andere Fragen, die nur ich selbst beantworten kann. Ich habe das Stille Tal verlassen, doch wirklich frei bin ich nicht. Macht es mir etwas aus? Was will ich? Wer bin ich nach diesen fünfzehn Jahren eigentlich noch? Was ist übrig geblieben von Zinnia von der Wellenburg? Diese Fragen wiegen mir zu schwer und ich will mich ihnen nicht stellen. So wie sie aufkommen, schiebe ich sie wieder von mir weg. Bewahre sie auf für später.Es war ein kühler Tag und jetzt am Abend wird es richtig kalt. Beim Essen setze ich mich nah an das Feuer. Die Vorräte gehen zur Neige, heute gibt es nur ein paar Streifen Trockenfleisch, etwas Dörrobst und eine Handvoll Nüsse. Unauffällig beobachte ich den Fremden. Ein Bein hat er angewinkelt und seinen Unterarm darauf abgestützt. Die im sanften Abendwind tänzelnden Flammen bewirken in seinem Gesicht ein Spiel von Licht und Schatten. Es ist ein wirklich schönes Gesicht und die Kälte, die mir im Klosterhof an ihm auffiel, hat er danach nie wieder gezeigt. Vielleicht habe ich sie mir vor Angst nur eingebildet. Unsere Blicke treffen sich und ich glaube, um seinen Mund die Andeutung eines Lächelns zu erkennen. Dann legt er den Kopf etwas schief, nur ein bisschen. Das tut er manchmal, wenn er nachdenkt, das ist mir aufgefallen.
„Diese Reise war sicher beschwerlich für dich, es tut mir leid. Aber bald erreichen wir wieder bewohntes Gebiet. Die nächste Stadt heißt Werth und wir werden dort übernachten.“
Das ist der längste Satz, den er bis jetzt zu mir gesagt hat, und ich sehe ihn überrascht an.
„Du kannst mit mir reden, weißt du? Kannst fragen, was immer du willst.“ Es klingt wie eine Einladung, als wolle er sich tatsächlich gern mit mir unterhalten. „Du kannst doch sprechen?“
Ich nicke. Ja, ich kann sprechen. Und ich entscheide mich, das Stille Tal hinter mir zu lassen und mit ihm zu reden. Denn wenn ich ihm nicht vertraue, wem dann? Da ist sonst niemand.
„Warum?“ Es klingt leiser, als ich es beabsichtigt habe. Kaum hörbar.
„Du erinnerst mich an eine andere Frau. Vor langer Zeit im Wassergarten. Sie war gut zu mir. Sie trug einfache Kleidung und ich wusste nicht, wer sie war. Aber du siehst ihr ähnlich und hast das gleiche Haar. Eine seltene Farbe. Also war es wohl die Herrin Calantha vom Wassergarten selbst. Deine Mutter. Nicht wahr?“
„Ja“, hauche ich.
„Ich dachte es mir.“ Freundlich nickt er mir zu. „Da fiel es mir zu schwer, dich zu töten.“
Still verstecke ich das Gesicht in meinen Armen. Meine Mutter ist meine Rettung, sie ist es immer gewesen. Im Stillen Tal hat nie wieder jemand mein Knie geküsst oder mich in den Arm genommen. Aber dank ihr weiß ich, wie es sich anfühlt, geliebt zu werden. Ich habe es nie vergessen. Im Kloster musste ich zum ersten Mal allein im Dunkeln schlafen und ich hatte solche Angst. Die Augen zu schließen und ganz fest an ihr Gesicht zu denken, war das Einzige, das half. Sie hat mich all diese Jahre über begleitet. Die Erinnerungen an sie waren mein Zufluchtsort. Und jetzt, so lange nach ihrem Tod, rettet mich die Güte meiner Mutter vor den Folgen des Verrats meines Vaters. Ich kann es kaum begreifen. Aber ich fasse mich wieder und sehe den Mann an.
„Und jetzt?“
„Ja, das ist nun die Frage. Der König wird nicht erfreut sein, wenn er hört, dass du lebst. Hätte ich dich im Kloster gelassen, würde er einen Henker schicken und du würdest sterben. Ließe ich dich laufen, würde er dich finden und du würdest sterben. Nehme ich dich mit an den Hof, wird er mir befehlen, dich dort zu töten.“
In Gedanken versunken schweigt er und trinkt in aller Ruhe einen Schluck Wasser, während ich ungeduldig darauf warte, dass er weiterspricht. Es muss doch noch einen anderen Weg geben.
„Trotzdem werde ich dich mitnehmen nach Erivel, es bleibt sonst nichts. Er wird deinen Tod fordern und ich werde ihn umstimmen. Mir fällt was ein, du musst keine Angst haben. Gib mir keinen Grund, dann tue ich dir kein Leid.“
„Was wäre denn ein Grund?“, frage ich zögerlich. Ich möchte es lieber wissen. Ihm versehentlich einen solchen Grund zu geben, ist wirklich das Letzte, was ich will. Er überlegt kurz, und als er spricht, sieht er mich dabei aufmerksam an.
„Du musst etwas verstehen, Zinnia. Nur deinetwegen hätte der König mich nicht so weit nach Osten geschickt. Mein eigentliches Ziel war die Wellenburg. Ich habe mich in der Nacht in deines Vaters Schlafkammer geschlichen, ihn aus seinem Bett gezogen und erstochen. Dann verfolgte ich deinen Bruder und dessen Männer. Ihre Leichen liegen jetzt am Ufer des Grauen Sees. Wenn du nun deine Familie rächen wolltest und ich ab jetzt auf meinen Rücken achten müsste, das wäre vielleicht ein Grund.“
Er erzählt es in diesem ihm eigenen, ruhigen und leisen Ton, aber seine Worte sind wie ein Schlag in mein Gesicht. Es sind entsetzliche Bilder, die er mir da so schonungslos vor Augen malt. Und er ist noch nicht fertig.
„Das ist mein Eid, dazu wurde ich vor Jahren an den Hof gebracht. Ich führe das Recht des Königs aus und töte seine Feinde. Ob Mann oder Frau. Mit Schwert und Dolch, Gift und Strick. Ich bin seine Klinge im Dunkeln. Wenn du also dem König schaden wolltest, das wäre ein sicherer Grund.“
Sein Blick ist noch schärfer geworden, als wolle er meine tiefsten Gedanken ergründen. Als suche er in meinem Kopf nach der Antwort auf die Frage, ob ich mich an dem König rächen will, der meine Familie ausgelöscht und meinen Tod befohlen hat. Und mit einem eisigen Gefühl wird mir klar, dass von dieser Antwort wahrscheinlich mein Leben abhängt. Aber ich habe keine Gedanken, die ich vor ihm verbergen müsste, habe nichts zu verstecken. Ich muss mich nur überwinden, wieder zu sprechen, und es fällt mir gerade nicht leicht.
„Ich will niemanden rächen“, bringe ich hervor. Und füge zur Sicherheit nachdrücklich hinzu: „Ich will einfach nur leben.“
Es ist die Wahrheit. An meinen Halbbruder erinnere ich mich gar nicht und mein Vater wollte mich nicht mehr haben. Ich verspüre keinen Wunsch nach Rache. Ich trauere nicht mal. Vielleicht macht es mich zu einem Feigling, aber ich will einfach nur nicht getötet werden.
„Es freut mich zu hören.“ Sein Blick wird gleich weicher, als wäre die Sache damit für ihn erledigt.
„Ihr glaubt mir?“ Das kommt mir jetzt fast zu einfach vor.
„Ja. Du hast nicht gelogen. Und du hast mir auch geglaubt, im Klosterhof. Weißt du noch? Ich belüge dich nicht und du belügst mich nicht. So wollen wir es halten. Gut?“
Verwundert nicke ich und dann sehe ich ihn zum ersten Mal wirklich lächeln. Ich falle deswegen nicht gleich in Ohnmacht. Er ist ja nicht der Feenprinz. Aber es ist doch ein fesselnder Anblick und ein wenig zaghaft lächle ich zurück. Ich kann nicht anders, es geht wie von selbst, trotz der schrecklichen Dinge, die ich gerade über ihn erfahren habe.
„Ich bin Asai“, stellt er sich vor, „Asai vom Himmelsclan.“
Fast stelle ich mich auch vor, aber das wäre natürlich Unsinn. Er weiß ja genau, wer ich bin.
„Welche Güte hat meine Mutter Euch erwiesen?“
„Du musst mich nicht so förmlich anreden. Es ist schon spät, du solltest schlafen.“
Dass ich fragen kann, was immer ich will, bedeutet anscheinend noch lange nicht, dass er auf diese Fragen auch antworten wird. Er zieht den Umhang fester um sich, legt sich hin und schließt die Augen. Ich dagegen liege noch lange wach. Seine Worte haben mich aufgewühlt und längst verloren geglaubte Erinnerungen wieder hervorgeholt. An meinen Vater, wie er in seiner Halle sitzt, in dem Stuhl mit der hohen, geschnitzten Rückenlehne. Ein großer Mann, schon etwas ergraut. Ein hartes, strenges Gesicht, das mir jedoch wohlwollend zulächelt, als ich zu ihm hinrenne und meine Hand auf sein Knie lege. Ich sehe vor mir, wie seine Augen aufleuchten, als er meine Mutter erblickt, die hinter mir steht. Wie er sie begrüßt und küsst. Hat er sie einmal geliebt? Da sind so viele Fragen, die ich ihm gerne irgendwann noch gestellt hätte. Fragen, auf die nur er die Antworten hatte. Jetzt hat er sie mit ins Grab genommen. Der Vater, der in meiner Erinnerung so unbezwingbar war wie die Wellenburg selbst, wurde getötet von dem Mann, der dort auf der anderen Seite des Feuers liegt. Und den ich eben angelächelt habe. Ich habe endgültig keine Familie mehr, wegen Asai. Asai vom Himmelsclan. Vielleicht sollte ich ihn dafür hassen, aber ich tue es nicht. Sogar wenn ich es wollte, könnte ich es mir nicht leisten, denn was würde ich ohne ihn anfangen? Er ist der einzige Mensch, den ich außerhalb des Klosters kenne. Und er ist das Einzige, was zwischen mir und dem sicheren Tod steht, soviel habe ich heute Abend verstanden. Was kann meine schöne, fröhliche Mutter zu tun gehabt haben mit einem so finsteren Mann? Aber nein, er ist noch jung und wenn er sie im Wassergarten getroffen hat, dann muss das vor ihrer Heirat gewesen sein. Dann war er damals noch ein Kind. Es ist für mich ein Rätsel und ich hoffe, er wird mir die Geschichte eines Tages erzählen.
Den Wassergarten habe ich nie gesehen. Man sagt, es war ein wunderschönes Anwesen, aber es wurde zerstört. Nicht durch Krieg und Gewalt, sondern durch einen Erdrutsch. Damals lebte dort schon fast niemand mehr. Auch dort habe ich keine Familie.
Ich habe noch fast nichts von der Welt gesehen, aber völlig unwissend bin ich auch nicht. Über die Jahre habe ich doch einige Gespräche mitbekommen und alles, was mich interessierte, habe ich mir gut gemerkt. Ich weiß, dass der König Tiras heißt, dass er das Reich geeint und die Kriege beendet hat. Ich habe sogar einmal eine Karte des Großreichs von Erivel gesehen. Ein Gast malte sie mit einem Stöckchen in sandige Erde, um einem Mitreisenden zu erklären, wo sein Geburtsort lag. Er zog einen groben Umriss und machte dann zwei Striche von oben bis unten, die das Reich in drei fast gleich große Teile teilten. Der Westen, das Zentrale Reich und der Osten, meine Heimat. Wenn ich mich darauf konzentriere, sehe ich das Bild noch genau vor mir. Durch das Zentrale Reich schlängelt sich ebenfalls von oben bis unten der Fluss der Mitte und an diesem Fluss liegt Erivel, die schöne Stadt. Der Fluss mündet ins Meer und die dortige Küste ist die Südgrenze des Reichs. Die Herren, die Orden und die Clans des Ostens haben dem König vor etwa vierzig Jahren Treue geschworen. Der Himmelsclan ist einer davon. Ich weiß nicht viel über ihn, nur dass er im östlichsten Gebirge lebt, das die Ostgrenze des Reichs bildet und dessen gewaltige Gipfel von Wolken umgeben hoch in den Himmel ragen. Daher kommt der Name. Ich kann nur versuchen, mir den Anblick vorzustellen, ich habe noch nie ein Gebirge gesehen. Auch keinen richtigen Fluss und keine Stadt. Ich kenne nur Klostermauern und Geschichten.
Langsam kommt mein Herz wieder zur Ruhe. Was geschehen ist, ist geschehen. Was verloren ist, ist verloren. Aber ich, ich lebe noch. Und was ich bisher nur aus Erzählungen kenne, werde ich bald mit eigenen Augen sehen. Erivel, die Stadt des Königs. Ob sie so schön ist, wie man sagt?
2. Weil ich es kann
Wie Asai angekündigt hat, nähern wir uns schon bald einer Stadt. Wir befinden uns jetzt auf einer befestigten Straße, überholen einen schwer beladenen Eselskarren und begegnen einer Frau mit einer großen Kiepe auf dem Rücken. Die Umgebung wird immer belebter und ich beobachte Asai, der gerade neben mir reitet. Er ist anders, seit wir die Wildnis verlassen haben. Behält noch aufmerksamer unser gesamtes Umfeld im Auge. Heute Morgen hat er über seine Kleidung einen kurzärmeligen, schwarzen Gambeson gestreift und er trägt an seinen Unterarmen dunkle Armschienen aus gesottenem Leder.
Mit ihm zu sprechen, fällt mir nicht mehr schwer. Wenn ich etwas sage, dann hört er geduldig zu, auch wenn ich manchmal ein wenig länger brauche, um die richtigen Worte zu finden. Und wenn ich lieber doch nicht reden möchte, dann lässt er mich in Ruhe und schweigt ebenfalls.
Am späten Vormittag erreichen wir Werth. Die Stadt ist umgeben von Holzpalisaden und erscheint mir riesig. Die Wachen am Tor sind nicht sehr wachsam. Sie sitzen beieinander, spielen ein Würfelspiel und achten kaum auf die vielen Leute, die hier ein und aus gehen. Ich sehe, wie Asai ihnen im Vorbeireiten einen missbilligenden Blick zuwirft. In der Stadt, in der Nähe des Tors, gibt er die Pferde bei einem Mietstall ab. Zwei Satteltaschen legt er sich über die Schulter, der Rest des Gepäcks bleibt im Stall zurück und dann machen wir uns auf den Weg durch die Gassen.
Ich hatte mich so sehr darauf gefreut, endlich eine richtige Stadt zu sehen. Aber jetzt, da ich hier bin, bin ich mir nicht mehr so sicher, ob ich das wirklich möchte. Hier sind furchtbar viele Menschen und es klingt, als würde jeder einzelne von ihnen irgendeinen Lärm machen. Bald erreichen wir einen großen Platz, an dem Händler ihre Stände aufgebaut haben und mit lauten Stimmen ihre Waren anpreisen. Mir wird ganz warm, mein Herz klopft schnell und dann setzt es vor Schreck einen Schlag aus, als ein Mann einem Handkarren ausweicht und mich dabei an der Schulter anrempelt. Auf einmal würde ich mich am liebsten auf der Stelle zusammenkauern und mir Augen und Ohren zuhalten. Doch am allerschlimmsten ist das Gefühl, nicht mehr genug Luft zu bekommen. Das alles hier ist mir zu viel. Zu laut, zu voll, zu nah. Asai merkt, dass etwas nicht stimmt, bleibt stehen und sieht nachdenklich auf mich hinab. Er kommt mir gerade wie ein sicherer Hafen inmitten des Irrsinns vor, und ich mache mit zitternden Knien einen Schritt auf ihn zu.
„Keine Sorge, es vergeht wieder.“ Seine Stimme ist beruhigend und ich hoffe, dass er noch etwas Tröstliches sagen wird.
„Wirklich. Ich sehe so was oft. Meistens bin ich der Grund dafür. Ein Eimer kaltes Wasser kann Wunder bewirken, aber ich habe gerade keinen zur Hand.“
Er würde mich gerne mit kaltem Wasser übergießen? Das sind seine tröstenden Worte? Ich hoffe, er erkennt den unausgesprochenen Vorwurf in meinen Augen.
„Siehst du? Nur davon zu reden, hilft schon.“ Er wirkt zufrieden und erstaunlicherweise hat er recht, ich fühle mich tatsächlich etwas besser. Vielleicht weil er mich so abgelenkt hat. Sein Gesichtsausdruck, in dem auch in seinen freundlichsten Momenten immer eine gewisse Härte liegt, ist ungewohnt weich, als er sich jetzt ein wenig zu mir beugt.
„Der Redefluss des Narren rauscht lauter als ein Wasserfall. Und lauter als das Tosen von hundert Meeren klingt die Stadt der Menschenkinder. Der Weise entflieht ihr und findet Vollkommenheit in der Stille.“
„Du hast das Buch des Stillen Tals gelesen?“ Sofort fallen mir die nächsten Sätze ein. Darin geht es um die Gedanken des Weisen, die tiefgründig sind wie ein stiller, ruhiger See.
„Himmel, nein. Ich habe dort als Kind mal mit meinem Meister übernachtet. Diese Worte wurden beim Abendessen vorgelesen und sie erschienen mir gerade so passend. Willst du der tosenden Stadt entfliehen wie der namenlose Schweiger, der das Buch schrieb?“
„Nein, ich bin wohl nicht so weise.“
„War er es denn?“
„Nicht?“
„Es wäre vermessen von mir, es endgültig beurteilen zu wollen. Aber zwei Dinge kann ich dir mit Sicherheit sagen.“
„Welche?“ Jetzt bin ich neugierig.
„Auf der Suche nach Vollkommenheit und den Reinen Gefilden ist die Grenze zwischen Weisheit und Wahnsinn erschreckend schnell überschritten. Und kein Lehrer ist so wahnsinnig, dass es nicht ein paar noch Wahnsinnigere gäbe, die ihn weise nennen und sich zu seinen Füßen setzen.“ Sein Mund formt sich zu einem etwas spöttischen Lächeln. „Das Buch des Stillen Tals weckte in mir jedenfalls nicht den Wunsch, es ganz zu lesen. Geht es dir wieder gut?“
„Ja.“ Ich atme tief durch. Wir stehen immer noch mitten auf dem belebten Marktplatz, aber er kommt mir längst nicht mehr so überwältigend vor. Die Angst ist, während Asai sprach, ganz verflogen.
„Dann komm. Genug der Eimer, Wasserfälle und Meere. Gewiss ist es eher ein heißes Bad, nach dem du dich sehnst.“
Das stimmt allerdings. Wieder klopft mein Herz schneller, aber diesmal wegen der Vorfreude auf ein Bad. Ich war in meinem ganzen Leben noch nicht so dreckig wie jetzt. Als er weitergeht, greife ich kurz entschlossen nach dem seitlich herabhängenden Ende seines Gürtels und halte mich daran fest. Nur um ganz sicherzugehen, dass ich ihn in der Menge nicht verliere. Natürlich bemerkt er es, aber es scheint ihn nicht zu stören. Staunend schaue ich mich um und wünschte mir jetzt, wir würden etwas langsamer gehen, damit ich mir die Marktstände richtig ansehen könnte. Ein Bäcker verkauft Brot, das aussieht, als wäre es geflochten, und die Händlerin daneben streitet gerade lautstark mit einer Kundin darüber, ob genug Fleisch in den verkauften Fleischpasteten ist. Bevor die Frage endgültig geklärt ist, sind wir leider schon wieder außer Hörweite. Ich bin so gebannt von dem ganzen Geschehen um mich herum, dass ich fast gegen Asais Rücken stolpere, als er vor einem Gebäude am Marktplatz plötzlich stehen bleibt. Die Tür öffnet sich, ein offensichtlich betrunkener Mann taumelt an uns vorbei und verschwindet in der Menge. Aus dem Inneren des Gebäudes dringen raues Gelächter, grölender Gesang und der Geruch nach Bier und Schweiß. Bestimmt ein Wirtshaus, aber eins, auf dessen Innenleben ich nicht neugierig bin. Asai schaut auf die Tür und dann zweifelnd auf mich.
„Ich muss drinnen was erledigen. Willst du mit rein oder wartest du lieber draußen?“
„Ich warte“, antworte ich sofort, erleichtert, den überfüllten, stinkenden Raum nicht betreten zu müssen. Ich stelle mich mit dem Rücken an die Außenmauer der Gaststätte und beobachte interessiert die verschiedensten Menschen. Ein Mann in sonderbar bunten Kleidern sucht sich einen geeigneten Platz und ruft Zuschauer herbei. Er holt eine Münze hervor aus dem Nichts und lässt sie geschickt ein paar Mal über seine Finger tanzen, bevor sie sich wieder in Luft auflöst. Er stopft ein blaues Tuch in eine kleine leere Kiste, und als er diese wieder öffnet, ist das Tuch rot und scheinbar endlos lang. Mit offenem Mund schaue ich zu. Wie macht er das nur? Sein Begleiter geht mit einem Körbchen durch die Menge und manche der begeisterten Zuschauer werfen eine Münze hinein. Auch an mir kommt er nah vorbei. Jetzt, da der erste Schreck vorüber ist, fangen die Stadt und ihr buntes Treiben wirklich an, mir zu gefallen, und es tut mir fast leid, als Asai wieder nach draußen kommt und wir weitergehen.
Ein gutes Stück vom Marktplatz entfernt, in einer verschlafen wirkenden Seitenstraße, betreten wir eine Herberge. Im Gastraum sitzen ein paar Menschen und trinken, aber es geht hier weitaus gesitteter zu als im Wirtshaus am Marktplatz. Asai mietet ein Zimmer und wie versprochen bittet er die Wirtin, mir ein Bad bereiten zu lassen. Als ich etwas später allein im Raum in dem Zuber sitze, lasse ich mich so tief wie möglich ins Wasser gleiten. Im Kloster gab es solche Annehmlichkeiten nicht, jedenfalls nicht für mich. Wenn ich mit Baden an der Reihe war, war das Wasser immer schon kalt und nicht mehr allzu sauber. Als ich das letzte Mal so im wohlig warmen Wasser saß, war ich noch klein und wurde von meiner Mutter gebadet. Ich schließe die Augen und bin in Gedanken wieder fünf Jahre alt. Es ist fast, als hörte ich ihr Seidenkleid durch das Zimmer rascheln. Als hörte ich das leise Kichern der Dienerinnen und des Kindermädchens. Als röche ich den Duft von Rosenöl. Die Seife der Wirtin riecht nicht nach Rosen, aber das macht nichts, sie erfüllt ihren Zweck. Auf dem Bett liegt Kleidung, die sie mir zusammen mit der Seife gebracht hat. Nicht neu, aber sauber und unbeschädigt. Auch daran hat Asai gedacht.
Er ist wirklich gut zu mir. Was er für den König macht, wie soll ich darüber urteilen? Hätte nicht ein Verräter wie mein Vater das ganze Reich ins Chaos und damit unzählige Menschen ins Unglück stürzen können? Muss so ein Mann dann nicht aufgehalten werden? Muss man manchmal grausam sein, um Grausameres zu verhindern? Wie wägt man das ab? Ich weiß es nicht. Was verstehe ich schon von solchen Dingen. Ich weiß nur, dass Asai zu mir gut ist und wenn ich kann, dann werde ich ihm irgendwann jede Güte zurückzahlen. Das nehme ich mir fest vor. Frisch gebadet und sauber angezogen lasse ich mich rücklings auf das herrlich weiche Bett fallen.
Ich muss eingeschlafen sein und als ich die Augen wieder öffne, sehe ich, dass es draußen schon dunkler geworden ist und im Kamin ein kleines Feuer brennt. Asai sitzt an die Wand gelehnt auf dem Boden. Auch er ist eingeschlafen und auch er muss sich irgendwo gewaschen haben, denn sein Haar ist noch feucht und hängt ihm offen über eine Schulter. Es ist lang. Fast so lang wie meins, glatt und rabenschwarz. Ich habe heute so viele Menschen gesehen wie nie zuvor. Und niemand war so schön wie er. Eine ganze Weile bin ich zufrieden, ihn nur anzusehen. Ich will ihn nicht stören, er war bestimmt müde. Als ich mich schließlich doch bewege und das Bett ein wenig knarrt, wird er wie vermutet sofort wach. Er hat einen leichten Schlaf. Was ich jedoch nicht erwartet habe, ist der recht kühle Blick, mit dem er mich mustert. Ich setze mich auf den Bettrand und frage mich besorgt, was los ist.
Er zeigt auf meine alten Kleider, die noch in einem unordentlichen Bündel auf dem Boden liegen und fragt argwöhnisch: „Wo hast du den her?“
Ich weiß sofort, was er meint. Halb unter meinem Kleid versteckt liegt ein kleiner, hübsch bestickter Beutel mit Silbermünzen, den ich schon fast wieder vergessen hatte. Ganz kurz überlege ich, ob ich lieber lügen soll. Aber ich habe ihm bei unserem ersten Gespräch in der Wildnis versprochen, das nicht zu tun, also hätte ich ein schlechtes Gewissen. Noch dazu hätte ich Angst, dass er es merkt.
„Nun?“ Es klingt ungeduldig.
„Ich habe ihn gestohlen“, antworte ich leise und er hebt erstaunt die Augenbrauen.
„Warum? Fehlt es dir an etwas? Oder hängst du ganz einfach nicht an deinen Händen?“
Er redet ruhig wie immer. Dennoch merke ich deutlich, dass er verärgert ist. Mein Magen zieht sich zusammen und meine Hände, an denen ich wirklich sehr hänge, umklammern die Holzumrahmung des Bettes. Wie soll ich es nur erklären?
„Nein. Es geschah einfach. Weil ich es kann.“ Schon während ich es sage, ist mir klar, dass das nicht nach einer guten Entschuldigung klingt.
„Weil du es kannst?“, wiederholt er und wirkt zum ersten Mal, seit ich ihn kenne, etwas ratlos.
Ich nicke.
„Hast du denn gar kein schlechtes Gewissen?“ Sein Ton ist jetzt deutlich strenger, was mir durchaus Sorgen macht. Aber seine Frage ärgert mich auch. Hat er mir nicht vor ein paar Tagen erzählt, dass er Menschen tötet? Was ist dagegen ein gestohlener Münzbeutel? Glaubt er denn, dass ausgerechnet er der Richtige ist, mir ins Gewissen zu reden? Ich stehe auf und sehe ihm fest in die Augen.
„Nein, das habe ich nicht! Der Mann hatte den Beutel selbst auch gestohlen, das habe ich genau gesehen.“
„Welcher Mann?“
„Der Begleiter des Zauberers. Als ich vor dem Wirtshaus gewartet habe.“
„Du hast die Gaukler bestohlen und wurdest nicht dabei erwischt? Wieso kannst du das?“ Mittlerweile ist auch er aufgestanden.
„Ich habe es im Kloster geübt. Essen und manchmal auch andere Dinge. Die habe ich aber fast immer wieder zurückgelegt.“
Asai antwortet nicht gleich, aber wenigstens wirkt er nicht mehr verärgert. Ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht so richtig deuten.
„Ich bin keine Diebin“, füge ich schnell hinzu. „Nicht wirklich. Es war im Kloster nur so langweilig.“
„Unfassbar.“
Er lacht kurz auf. Das ist bestimmt ein gutes Zeichen. Ich schenke ihm mein freundlichstes Lächeln und hoffe von Herzen, dass dieses Gespräch jetzt beendet ist.
„Dann behalte die Münzen“, sagt er, während er sich das Haar zu einem Knoten bindet. „Aber mach das ja nicht noch mal. Diebstahl wird streng bestraft und wenn ich mich deinetwegen mit Behörden herumplagen müsste, dann wäre ich wirklich sehr schlecht gelaunt.“
Ich höre klar die Drohung, die in diesen Worten liegt, und beeile mich, ihm zu versichern, dass es nicht wieder vorkommen wird.
Aber er braucht sich keine Sorgen zu machen. Ich werde bestimmt nicht erwischt, denn ich bin, denke ich, recht gut. Man muss schnell sein und genau den richtigen Zeitpunkt erkennen. Wenn nötig, das Opfer ein wenig ablenken. Dann kann man den meisten Menschen Dinge unter der Nase wegstehlen. Es hat mir früher Spaß gemacht, Sachen zu nehmen und an einem anderen Ort wieder auftauchen zu lassen. Ich fand es lustig, die Ordensmitglieder suchen zu sehen. Das war kindisch, aber ich war ja auch ein Kind. Ein Kind ohne Spielgefährten. Auf diese Weise spielten sie mein Spiel mit, ohne es überhaupt zu wissen. Als ich älter wurde, ging es mir dann mehr um die Spannung, und ich wurde immer mutiger und geschickter. Auch von den Händlern und anderen Gästen habe ich gestohlen. Nie etwas Teures, nur billigen Tand. Ein Haarband, ein Glöckchen, solche Dinge. Meistens legte ich sie unauffällig wieder zurück, aber manchmal auch nicht. Ich hatte ja sonst nichts Schönes, dabei mag ich schöne Dinge sehr. Da war ein weißes Haarband, bestickt mit roten Röschen, das ich gestohlen habe, als ich etwa zehn Jahre alt war. Es gefiel mir so gut, dass ich mich nicht mehr davon trennen konnte, und es war lange mein wertvollster Schatz. Ich mochte es, das Band durch meine Finger gleiten zu lassen, den glatten Stoff und die Stickerei zu befühlen. Es erinnerte mich an meine Mutter, sie hatte ein Kleid mit ähnlichen Verzierungen an den Borten. Es war nicht richtig, aber das Kloster war wirklich ein unheimlich öder Ort. Ich hatte auch gar nicht vor, außerhalb von dort jemals so etwas zu tun. Aber als der Mann, den ich zuvor beim Stehlen beobachtet habe, so nah an mir vorbeiging, da passierte es wie von selbst. Einfach weil ich es konnte.
Zum Abendessen gehen wir nach unten in den jetzt vollen und recht lauten Schankraum. In einer Ecke ist noch ein letzter freier Tisch. Dort setze ich mich auf die Bank an der Wand und bin etwas überrascht, als Asai sich neben mich setzt. Der Platz an der gegenüberliegenden Tischseite bleibt frei.
„Ich erwarte jemanden“, erklärt er mir. „Ich habe ihm heute Vormittag in der Schenke am Marktplatz eine Nachricht hinterlassen. Wenn er kann, wird er kommen.“
Zwischen ihm und der Seitenwand habe ich nicht sehr viel Platz, aber das stört mich nicht, denn so versteckt fühle ich mich am sichersten und ich sehe mich neugierig um. Am Nebentisch sitzen drei Männer, die sich lebhaft über ihre heutigen Geschäfte unterhalten, und es macht mir Spaß, ihnen zuzuhören. So wie es mir im Stillen Tal Spaß gemacht hätte. Aber diesmal werde ich ihnen nicht sehnsüchtig nachschauen, wenn sie wieder gehen und ich zurückbleiben muss. Ich befinde mich auf meiner eigenen Reise. Dieser Gedanke stimmt mich richtig zufrieden und als die Wirtin uns gebratenes Hähnchen mit grünen Bohnen und frischem Brot bringt, ist mein Glück vollkommen. Es ist ein wahres Festmahl und ich merke erst jetzt, wie hungrig ich bin. Mit seinem Messer, das er immer am Gürtel trägt und nur zum Essen benutzt, schneidet Asai das Fleisch in Stücke und legt die besten davon auf mein Holzbrettchen. Er hat zusammen mit dem Essen auch einen Krug Wein kommen lassen, aber zu meiner Verwunderung trinkt er ihn nicht. Er schenkt sich und mir nur Wasser aus seinem eigenen Trinkschlauch ein, den er an einer Quelle außerhalb der Stadt heute Morgen noch einmal aufgefüllt hat. Es dauert nicht lange, da kommt ein Mann von draußen herein, sieht sich suchend im Raum um und setzt sich dann zu uns an den Tisch.
„Du bist spät, ich machte mir schon Sorgen“, sagt er zu Asai.
„Ich weiß, Arthem. Ich brauchte für meinen Auftrag länger als erwartet und auf dem Rückweg kam ich nicht so schnell voran.“
Asai schiebt seinem Bekannten die Platte mit dem Hähnchen zu und schenkt ihm Wein ein. Verstohlen betrachte ich diesen Arthem, der ein wenig älter ist als Asai. Seine braunen Haare sind kurz geschnitten, seine Kleidung ist einfach, aber gepflegt und ich sehe, dass auch er mich aus braunen, tiefliegenden Augen abschätzend mustert.
„In solcher Begleitung wäre ich vielleicht auch nicht so schnell vorangekommen.“ Arthem grinst und spießt sich ein Stück Fleisch auf sein Messer. „Wer ist sie?“
In Asais Gesicht ist deutlich zu lesen, dass er das für eine überflüssige Frage hält, und Arthems Augen weiten sich.
„Die Tochter? Nicht dein Ernst! Wie willst du ihm das denn erklären?“
Er wirkt erschrocken, aber Asai schweigt nur.
„Ich verstehe das nicht. Ich weiß doch, dass du kein Mann bist, der sich von einem hübschen Lächeln den Kopf verdrehen lässt und darüber einfach seinen Auftrag vergisst.“
„Genau“, lautet die knappe Antwort. „Nun iss.“
Es ist klar, dass Arthem keine weitere Erklärung erhalten wird. Er sieht wieder zu mir und lächelt.
„Na ja, hübsch ist sie aber wirklich, das muss ich dir lassen.“
Bin ich hübsch? Ich weiß es nicht. Auf einmal würde ich gerne wissen, ob Asai mich auch hübsch findet, und gespannt warte ich auf seine Antwort. Aber er äußert sich nicht dazu und scheint überhaupt keine große Lust zum Reden zu haben.
Arthem versucht noch ein paarmal, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, bekommt aber nur einsilbige Antworten und gibt irgendwann auf. Ein weiterer Mann betritt die Gaststube, setzt sich zu den Männern am Nebentisch und wird dort freundschaftlich begrüßt.
„Habt ihr es schon gehört?“, fragt er aufgeregt. „Es heißt, Gerart von der Wellenburg ist tot. Getötet auf Befehl des Königs. Wegen Verrat, sagt man.“
Sie reden von meinem Vater und ich horche auf. Sehe, wie Asai und Arthem einen schnellen Blick wechseln und dann in Ruhe weiteressen. Bei seinen Freunden sorgt die Nachricht des Mannes für Verwunderung.
„Gerart Grimmbart? Wie kann das sein? Ist das denn sicher?“
„Na, ich denke schon. Ich habe es von Holger, dem Sattler. Dessen Knecht hat es von einem Händler aus dem Osten gehört. Und der Schäfer von Werth ist wohl vor ein paar Tagen draußen auf den Feldern ein paar Männern von der Wellenburg begegnet und hat ihnen ein Lamm verkauft. Sie sagten, ihr Herr sei tot. Und sie müssen es ja am besten wissen. Also ja, das klingt für mich schon sicher.“
„Unglaublich! Was diese Herren so alles treiben. Aber Gerart hat sich doch sicher nicht so leicht töten lassen?“
„Also, ich komme ja gerade aus Erivel“, sagt ein anderer. „Dort hieß es, dass Asai die Königsklinge, die Stadt vor einer Weile durch das Osttor verlassen hat und noch nicht wieder zurückgekehrt ist. Und wenn der König Asai ausschickt, dann bedeutet das nichts Gutes. Ein gewissenloser Mörder ist das. Vielleicht ritt er ja zur Wellenburg … Aber gut, wenn Gerart den König verraten hat, dann hatte es seine Richtigkeit. Verräter müssen sterben. Und der König ist ein weiser Mann.“
„Möge er tausend Jahre leben.“
Und daraufhin heben alle mit ernsten Gesichtern die Becher. Besorgt sehe ich zu Asai, aber die bösen Worte scheinen ihn weder zu überraschen noch zu verletzen.
„Trotzdem, ein Mann allein gegen die Wellenburg?“, zweifelt einer. „Wie soll das denn gehen?“
„Asai die Königsklinge soll so stark sein wie sieben normale Männer, auch wenn man es ihm nicht ansieht“, erklärt der Mann, der neben ihm sitzt. „Hat ein riesiges, silbernes Schwert, mit dem er durch Gegner mäht wie ein Bauer mit der Sense durch sein Kornfeld. Verflucht soll es sein. Ein Schattenschwert aus der Unterwelt, das durch Felsen und Stahl schneidet.“
Es schaudert ihn ein wenig bei den letzten Worten, aber sein Tischnachbar klopft ihm auf die Schulter und tadelt gutmütig seine Leichtgläubigkeit. Arthem lächelt und leert in einem Zug seinen Weinbecher.
„Willst du das noch?“ Er deutet auf mein Brettchen und ich schiebe es in seine Richtung, damit er meine Reste essen kann. Ich bin satt wie nie zuvor und schaffe wirklich nichts mehr.
„Also, ich weiß nicht“, sagt nun ein Mann am Nebentisch, der sich bis jetzt noch nicht zu Wort gemeldet hat. „Ich habe auch ganz andere Geschichten über ihn gehört. Dass er gar nicht so stark ist. Eher ein hinterhältiger Meuchler als ein Krieger. Er soll seltsam sein. Aber unsereins wird ihm wohl nie begegnen und das ist gut so. Solchen Männern bedeutet ein Menschenleben gar nichts.“
Unsere Mahlzeit ist jetzt bis auf den letzten Krümel verputzt, Arthem hat den Wein getrunken und Asai sieht sich in dem immer noch ziemlich vollen Raum um.
„Nach oben“, entscheidet er und steht auf.
In unserem Zimmer angekommen, setzt er sich auf den Boden, so wie vorhin, als er schlief. Arthem lässt sich an der gegenüberliegenden Wand nieder und ich ziehe mich auf das Bett zurück. Ich lege mir die Decke um die Schultern und unterdrücke ein Gähnen. Das gute Essen und jetzt die angenehme Wärme machen mich müde und ich könnte sicher gleich einschlafen. Was mich noch wach hält, ist reine Neugierde, denn offensichtlich will Asai mit Arthem etwas besprechen, was die anderen Gäste nicht hören dürfen.
„Dann erzähl mal“, fordert er ihn auf.
„Also, ich habe Kastor den Krummen, den Herrn vom Adlerfels beobachtet, wie du es mir aufgetragen hast. Aber ich konnte wirklich nichts Interessantes entdecken. Keine verdächtigen Boten. Meines Wissens keine geheimen Treffen. Kastor benimmt sich wie immer, isst, trinkt, schäkert mit seiner Frau, die er wirklich zu mögen scheint. Er wirkt völlig unbesorgt. Trifft sogar schon Vorbereitungen für die Reise zum Herbstfest in Erivel. Wenn er an Gerarts Verrat beteiligt war, dann kann er es erstaunlich gut verbergen. Ich bin wieder gegangen, um mich hier in Werth mit dir zu treffen. Die Nachricht von Gerarts Tod hatte den Adlerfels zu dem Zeitpunkt noch nicht erreicht.“
Meine Müdigkeit ist jetzt völlig verflogen und ich höre aufmerksam zu. Anscheinend ist die ganze Wahrheit über den Verrat meines Vaters noch nicht ans Licht gekommen. Gerart von der Wellenburg, diesen Namen kennt jeder, vor allem wegen seiner Heldentaten in den Schlachten gegen die Stämme aus dem Norden. Er war Gerart Grimmbart, der große Krieger und der Wächter der Nordgrenze. Doch jetzt wird er wohl in die Geschichte eingehen als Gerart, der Verräter. Asai wirkt nachdenklich, einen harten, etwas verärgerten Zug um den Mund.
„Ich kann es nicht verstehen“, sagt er dann. „Gerart war doch kein Narr. Irgendeinen starken Verbündeten hatte er sicher und wenn nicht Kastor, wen dann? Ich habe Gerarts Briefwechsel mit Markus Eschenwald gesehen, aber Markus hat nicht viel Gewicht. Nur mit ihm an seiner Seite hätte Gerart einen solchen Verrat nicht gewagt.“
„Da magst du recht haben. War es denn weise vom König, Gerart so schnell töten zu lassen, bevor alle Fragen geklärt sind? Hätte es keinen besseren Weg gegeben?“
„Nein, den gab es nicht. Gerart wollte den Osten vom Reich abspalten. Hätte der König eine Armee zur Wellenburg geführt, hätte das Gerart vielleicht nur in die Hände gespielt. Es hätte den Herren des Ostens nicht gefallen, und wer weiß, wie viele es als Anlass genommen hätten, sich Gerart anzuschließen. Er war einflussreich. Er musste sofort sterben, bevor allgemein bekannt wird, was er vorhatte.“
„Denn niemand folgt einem Toten.“ Arthem streicht sich nachdenklich über das Kinn. „Also schickte der König keine Armee, sondern dich allein, damit du die Rebellion beendest, ehe sie richtig anfangen konnte. Es ergibt Sinn. Aber was wird Gerarts Eisengarde tun?“
„Ihren Herrn tot in seinem Nachthemd aufzufinden, den Hinrichtungsbefehl in seiner Hand, das hat ihre Herzen sicher erschüttert. Und ihnen klargemacht, wie lang der Arm des Königs ist. Die meisten von ihnen werden dem neuen Herrn der Wellenburg dienen, so, wie es ihre Pflicht ist.“
Es klingt hart. Das ist nicht der freundliche Asai, den ich kennengelernt habe, das ist des Königs Klinge im Dunkeln. Der Mann, der sich nachts in Schlafzimmer schleicht und Menschen ersticht, die sich in ihrem Bett sicher fühlen. Er hat von Anfang an nie vor mir verborgen, wer er ist, hat es mir an jenem Abend in der Wildnis in aller Deutlichkeit gesagt. Und doch erschreckt es mich jetzt von Neuem, ihn so darüber sprechen zu hören.
„Was war überhaupt mit Gerarts Sohn?“, fragt Arthem und es dauert ein wenig, bis Asai antwortet.
„Ich glaube nicht, dass er etwas wusste. Er musste nur sterben wegen seines Vaters. Er war kein Krieger und als er mir am Ende allein gegenüberstand, da zitterte er schlimmer als seine Schwester.“
In seiner Stimme liegt Bedauern, keine Verachtung und das macht seine Worte erträglicher. Es klingt nicht, als wäre das Leben meines Bruders für Asai nichts wert gewesen. Genommen hat er es ihm trotzdem. Jetzt, da er es so erzählt, bedauere ich meinen Bruder auch. Ich habe ihn mir anders vorgestellt. Als entschlossenen Verräter auf der Flucht, der sich mannhaft seinem letzten Kampf stellte. Aber er hatte anscheinend einfach nur Angst und Asais kaltes Gesicht war das Letzte, was er auf dieser Welt sah. Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte dieses Schicksal mit ihm geteilt. Eine Träne läuft mir über die Wange. Für meinen Halbbruder, den ich nie kennengelernt habe und nun nie mehr kennenlernen werde.
„Soll ich wieder zum Adlerfels gehen?“, bietet Arthem an, aber Asai schüttelt den Kopf.