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Was, wenn dein größter Fehler nicht nur dein Leben verändert, sondern auch das deiner Familie zerstört? Julie fühlt sich allein. Der Umzug nach Potsdam, weit weg von ihrer alten Schule und ihren Freunden, war nicht ihre Entscheidung. Nur Ava ist für sie da: cool, charismatisch, mutig. Doch was als Freundschaft beginnt, wird gefährlich: Ein Cyberangriff, ein USB-Stick und ein Verrat, der ihren Vater ins Gefängnis bringt. Doch dann entdeckt sie auf dem Dachboden ihres neuen Zuhauses einen alten Brief. Verfasst vor siebzig Jahren, öffnet er ein dunkles Kapitel Potsdamer Geschichte. Julies neues Zuhause war einst Teil der Verbotenen Stadt, der geheimen KGB-Zentrale in der Nauener Vorstadt. Der Brief stammt von Hannes, der genau in diesem Haus verhaftet wurde: für einen Fehler, den er nie wieder gutmachen konnte. Die Vergangenheit beginnt zu sprechen und Julie erkennt, dass sie nur dann frei sein kann, wenn sie endlich die Wahrheit sagt. Auch wenn sie dabei alles verlieren könnte. Zwei Jugendliche. Zwei Zeiten. Eine Geschichte über Schuld, Mut und darüber, was es wirklich heißt, Verantwortung zu übernehmen.
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Seitenzahl: 168
Veröffentlichungsjahr: 2025
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HANNES 1950 – Verbotene Stadt
JULIE – Alte Dame
HANNES 1950 – See
JULIE – Raupe Nimmersatt
JULIE – Wodka, Cola und Chips
HANNES 1950 – Peter
JULIE - Kamin
HANNES 24. Juni 1950 – Brief
BEN – USB-Stick
JULIE – Nicht real
HANNES 1950 - Besucher
JULIE - Autoschlüssel
JULIE - Urlaubsfoto
JULIE – Begegnung I
HANNES – Begegnung I
AVA - Telefonat
HANNES 1950 – Untersuchungshaft
JULIE - Gedenkstätte
HANNES 1950 - Verurteilung
JULIE – Geschäftsessen
HANNES – Begegnung II
JULIE – Begegnung II
AVA - Energydrink
JULIE – Aequalitas
HANNES 1950 – Dunkler Fleck
JULIE - Gesprächsfetzen
HANNES 1950 - Unterwegs
JULIE - Post
HANNES – Begegnung III
HANNES 1950 – Workuta
JULIE – Begegnung IV
HANNES – Begegnung IV
JULIE - Freunde
HANNES - Bruder
AVA & BEN - Betrug
JULIE - Tee
HANNES - Familienfotos
Geschichtlicher Hintergrund
Anmerkungen der Autorin
Begriffe Definition
Schweiß läuft mir über die Stirn und brennt in den Augen. Der Soldat vor mir hebt leicht die Schulter, seine Narbe am Hals tritt hervor und das Maschinengewehr zuckt. Ich blinzele zum Wachturm hinauf, der sich scharf vor dem bleigrauen Himmel abhebt. Dort steht ein zweiter Soldat, reglos. Seine Silhouette wirkt, als hätte sie jemand ausgeschnitten. Das Gewehr in seiner Hand schwebt über der Brüstung.
Die Luft ist schwül und riecht nach heißem Blech und feuchtem Staub.
„Arme und Beine ausstrecken.“ Der mit der Narbe positioniert sich direkt vor mir. Der steife Uniformstoff knistert leise. Ich stelle mich breitbeinig hin, hebe die Arme, starre auf den hohen Holzzaun und das geschlossene Tor. Der Soldat beginnt, meinen Körper abzutasten: meine Arme, die verschwitzten Achseln, den Rumpf. Mein Atem stockt. Ich zwinge mich, gleichmäßig zu atmen, mich nicht falsch zu bewegen, nicht zu denken. Bloß nicht auffallen.
Wenn er den Zettel findet, werde ich nie wieder einen Fuß aus der Verbotenen Stadt setzen, diesem geheimen Ort, den sich die Sowjets vor fünf Jahren unter den Nagel gerissen haben.
Er geht in die Hocke und tastet erst mein linkes, dann mein rechtes Bein ab. Je näher er dem rechten Knöchel kommt, desto lauter hämmert mein Herz. Hört er es? Ich schiele nach unten.
Aber seine Bewegungen bleiben ruhig - wie jeden Tag. Seine Griffe kribbeln auf meiner Haut. Schweißtropfen laufen meinen Rücken hinunter, sammeln sich in der Kuhle über dem Hosenbund.
Mit beiden Händen umschließt er meine Knöchel, seine Finger tasten an meinen Schuhen. Er hält inne.
Hat er den Zettel entdeckt?
Er sieht zu mir auf. Seine Gesichtszüge sind kalt und starr. Kein Ausdruck, keine Regung.
„Was ist?“, ruft der Soldat vom Turm.
Ein Klicken. Metall auf Metall, kaum hörbar, aber eindeutig. Das Maschinengewehr wird entsichert. Mein Körper friert in der Bewegung ein. Dann spaltet ein greller Blitz den Himmel. Alles wird weiß. Für einen Moment gibt es nur Licht. Gleißendes, blendendes Licht.
Dann der Knall. So laut, dass mir das Herz in der Brust stehen bleibt. Mein ganzer Körper zuckt, als hätte mich etwas getroffen. Ich halte die Luft an, warte auf den Schmerz.
Aber er kommt nicht.
„Hat Angst vor dem Gewitter“, sagt der mit der Narbe und richtet sich auf. Er lacht.
Mein Atem bricht stoßweise aus mir heraus. Nur ein verdammt lauter Donner. Aber in meinem Kopf hallt der Knall nach wie ein Echo in einer leeren Halle. Beide Soldaten lachen. Ich wische mir den Schweiß von der Stirn und zwinge mich zu einem Lächeln.
Schlagartig wird der mit der Narbe wieder ernst. Er tritt gegen meine Schuhspitze.
Und sofort ist das Bild wieder da: Ich, gefesselt, auf der selben Straße, die ich gerade gekommen bin, diesmal auf dem Weg ins Gefängnis.
Eine Windböe umhüllt mein Gesicht wie kalter Nebel, mein Blick verengt sich zu einem schmalen Schlitz. Die Welt verblasst. Wenn sie mich jetzt kriegen, bin ich für die da draußen verschwunden. Für meine Familie nur noch eine Erinnerung. Ein leerer Platz am Abendbrottisch.
Hinter uns grollt erneut der Donner, dumpfer als zuvor, als hätte jemand zwei Kissen auf meine Ohren gedrückt. Aber der Soldat riecht schärfer denn je. Nach Schweiß und saurem Atem.
„Er wird blass. Ob er sich in die Hose macht?“ Seine Stimme ist spöttisch. Er schaut zum Turm hoch. Der andere lacht, kratzig und kurz, wie das Bersten von trockenem Holz.
„Es ist nur die Hitze“, stammle ich.
Der mit der Narbe verzieht das Gesicht, kneift die Augen zusammen.
Er glaubt mir nicht.
Wieder stößt er gegen meinen Schuh. „Wie viele haben diese abgelatschten Dinger schon getragen?“
„Ich …“ Es dauert einen Moment, bis ich begreife, dass ich nicht aufgeflogen bin. „… habe vier Brüder.“
Er wirft einen letzten Blick auf meine Schuhe.
„Dreh dich um.“ Er tastet meinen Rücken ab. Wieder zuckt ein Blitz über der Straße vor mir.
Die Einfamilienhäuser rechts und links gleißen in weißem Licht. Hier wohnen die Generäle. Die einfachen Soldaten wie die beiden hinter mir leben in der Kaserne, gleich gegenüber der Villa des Generals Smirnow. Meinem Arbeitsplatz.
Ein weiterer Blitz über Babelsberg. Ich zähle im Kopf: 21, 22, 23 … 28. Dann der Donner. Vielleicht schaffe ich es noch zu Peter, bevor der Regen kommt. Der wird was hören. Wie konnte ich mich bloß von ihm überreden lassen, dem Geheimdienst etwas zu stehlen?
Der Soldat klopft mir auf die Schulter. Ich drehe mich um und er öffnet das große Holztor. Mit jedem Schritt, den ich gehe, wird das Dröhnen in meinem Kopf leiser. Das Tor fällt hinter mir zu. Ein Radfahrer rattert über das Kopfsteinpflaster an mir vorbei. Sein Blick streift mich nur kurz, dann schaut er rasch weg. Ich bin wieder draußen. In dem Potsdam, das jeder kennt. Außerhalb der Sperrzone.
Ich zupfe an einem Faden, der sich an meinem Ärmel gelöst hat. Dann sehe ich die Krähe neben meinem Fuß. Ich scheuche sie weg und sie flattert auf, setzt sich auf einen orangefarbenen Mülleimer. Mit ihrem schwarzen Schnabel zerrt sie eine weiße Plastiktüte aus dem Haufen, lässt sie auf das Kopfsteinpflaster fallen, sucht weiter. Die Tüte ist nur ein weiteres Stück Müll in der vereinsamten Einkaufsstraße.
„Alles okay?“, fragt Ava. Sie rückt auf der Bank ein Stück näher zu mir, legt den Arm um meine Schulter. „Du siehst aus, als würdest du gleich zur Mathearbeit abgeführt.“ Ihre Stimme ist weich, fast zärtlich.
„Ab wie vielen Fehlzeiten werden eigentlich die Eltern informiert?“
Ava sieht mich an, als wäre ich gerade vom Mond gefallen. „Darüber machst du dir Sorgen? Entspann dich, oder hast du auf einmal Sehnsucht nach Schule?“
„Nein. Quatsch.“ Schnell schüttele ich den Kopf.
Ein Radfahrer fährt an uns vorbei. Die Räder schlagen hart auf dem Pflaster auf. Die Geschäfte haben erst vor wenigen Minuten geöffnet. Die Ladenbesitzer rollen Ständer vor ihre Schaufenster, kurbeln die Markisen auf. Ein paar Passanten sind unterwegs. Es ist ruhig. Eigentlich perfekt, und doch fühlt es sich für mich falsch an.
Die Morgensonne streift mein Gesicht, und für einen Moment bin ich zurück auf dem steinigen Wanderweg oberhalb des Tegernsees. Oma geht neben mir, unsere Rucksäcke wippen im Takt unserer Schritte. Wir setzen uns auf eine Holzbank, blicken auf die saftigen Almwiesen unter uns.
„An was denkst du gerade?“
Ich sehe Ava in die Augen.
„An meine Oma“, flüstere ich.
„Du vermisst sie. Meine Oma lebt um die Ecke, aber ich sehe sie trotzdem kaum.“
Ich seufze und lege meinen Kopf an Avas Schulter. „Jetzt liegen fünfhundert Kilometer zwischen uns.“
„Umso mehr Zeit für uns. Was wollen wir heute machen?“ Ava nimmt den Arm wieder weg und schaut in ihr Handy. Sie scrollt durch die Veranstaltungen. „Nichts los. Aber schau mal hier.“ Sie hält mir ihr Handy vors Gesicht und grinst schief. Auf dem Bildschirm ein Schmollmund-Selfie. „Unsere Klassen-Dramaqueen.“ Sie lacht trocken.
Ich kenne das Mädchen auf dem Bild nur vom Sehen. Seit sechs Wochen bin ich an dieser Schule und Ava ist die Einzige, die mich wirklich sieht, während ich mich in der Menge der unbekannten Gesichter verloren fühle. Dank ihr ist dieses neue Leben, das ich mir nie ausgesucht habe, wenigstens ein bisschen auszuhalten.
Ava legt das Handy weg, kramt zwischen losen Schulblättern in ihrer Tasche und zieht zwei Kaugummis hervor. Sie reicht mir einen und steckt den anderen in ihren Mund.
Cola-Duft weht mir entgegen. Ihre Schläfen bewegen sich mit jedem Biss. Ich wickele das Kaugummi aus, schiebe es in den Mund, obwohl ich den Geschmack nicht mag.
Ava starrt in die Fußgängerzone. Ihre Augen weiten sich, ein Funke Aufregung huscht über ihr Gesicht. Eine alte Dame schlurft auf uns zu, jeder Schritt wirkt mühsam. Vor den Treppenstufen der Bankfiliale bleibt sie mit ihrem Trolley stehen, hebt schwerfällig den rechten Fuß auf die erste Stufe. Dann zieht sie ihren Körper hinterher, ruckartig, das Kinn vorgestreckt, als würde sie einen Berg erklimmen. Ihr Trolley folgt ihr wie eine Last, die sich an ihre Fersen klammert.
Ich beuge mich vor, stemme mein rechtes Bein in den Boden, bereit zum Aufstehen.
Avas Hand umklammert meinen Arm. „Du willst der alten Schachtel doch nicht helfen?“ Ihre Stimme bleibt ruhig, aber ihre Finger graben sich in meine Haut.
Langsam rutsche ich zurück auf die Bank, stoße mit dem Rücken gegen das Holz.
Ava starrt die alte Dame an, als sei Mitleid eine Sprache, die sie nie gelernt hat. Und plötzlich ist die Kluft zwischen uns wieder da. Letzte Woche, als Katharina aus unserer Klasse beim Sport auf der Aschenbahn gestürzt war, hatten alle sofort geholfen. Nur Ava war stehen geblieben, hatte mich zu sich gezogen und gelacht und ich hatte mich geschämt.
Wir beobachten die alte Dame, wie sie sich Stufe um Stufe nach oben kämpft, bis ein Mann aus der Bank kommt. Er steckt sein Portemonnaie in die Hosentasche, eilt zu ihr hinunter, greift ihren Trolley mit einer Hand und bietet seinen Arm zum Abstützen an. Gemeinsam steigen sie langsam die Treppe hinauf und verschwinden im Gebäude.
„Wie herzallerliebst“, sagt Ava.
Ich atme die angehaltene Luft aus. Damals bei Katharina hatte ich Ava zugeflüstert, sie solle leiser sein, damit die anderen nichts mitbekommen. Ich hatte Mitleid. Ava hatte nur den Kopf geschüttelt und mich spöttisch angeschaut.
„Gehörst du auch zu denen, denen immer alles leidtut? Geh doch zu den anderen und wisch die Krokodilstränen ab.“
Die anderen hatten uns böse angesehen. Ich war trotzdem bei Ava geblieben. Wie ein dummes Schaf.
„Die alte Schachtel ist schneller als gedacht“, sagt Ava. In der geöffneten Tür der Bank steht die alte Dame und steckt ihr großes Lederportemonnaie in ihre Handtasche.
„Ich hoffe, du hast ordentlich Geld abgehoben“, murmelt Ava. Mit Hilfe des Mannes steigt die alte Dame die Stufen wieder hinunter.
Als die beiden unten ankommen, spuckt Ava ihren Kaugummi auf den Boden. Die Spucke saugt sich in die Erde und hinterlässt einen dunklen Fleck. Dann stößt sie mich mit dem Ellenbogen in die Seite. „Auf geht's. Der Spaß kann beginnen.“
Zögernd folge ich ihr.
Das Gewitter ist ganz nah. Über ganz Potsdam türmen sich die Wolken. Donner rollt über Babelsberg hinweg. Immer wieder blitzt es grell auf. Wie schwarze Tinte, die sich in einem Wasserglas ausbreitet, frisst sich das Gewitter über den Himmel.
Ich laufe im Schatten der Mauer der Verbotenen Stadt. Sie wirkt wie ein Fremdkörper. Unregelmäßige Ziegel, dazwischen blanker Beton und Holz, als hätten die Erbauer es eilig gehabt, Potsdam auszusperren. Nicht, wie sie aussieht, zählt, sondern was dahinter liegt: eine geheime Stadt der Sowjets.
Die Verbotene Stadt hat mehrere Eingänge. An der Südspitze liegt der Haupteingang. Hier habe ich zum ersten Mal die Sperrzone betreten. General Smirnow hat mich empfangen und durch diese eigene Welt mit Kinos und Läden geführt. Vorbei am Gefängnis und bis zu seiner Villa, in der ich als Deutschlehrer für seine Tochter arbeite. Aber die Villa gehört ihm nicht. Nach dem Krieg wurden die alten Besitzer verjagt. Jetzt wohnen hier sowjetische Familien.
Ich gehe in die entgegengesetzte Richtung, zum Eingang des Neuen Gartens. Die Blätter der Bäume rascheln, fliegen kreuz und quer durch die Luft. Es dauert nicht mehr lang, dann kommt der Regen. Ich kann ihn schon riechen. Erdig und feucht hängt er in der Luft, vermischt sich mit dem Duft des Sees.
Ich gehe schneller, vorbei an der Meierei. Der Kies knirscht unter meinen Sohlen. Windböen biegen das Schilf am Ufer nach rechts und links. Ein Reiher schreit, laut und heiser. Rechts taucht das dunkelbraune Fachwerk des Cecilienhofs auf, noch ein paar Schritte, und ich sehe Peter in der kleinen Bucht bei der Hängebuche, unserem Strand. Er sitzt im Sand, die Knie angezogen. Als ich bei ihm bin, hebt er nur kurz den Kopf. „Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.“
Ich antworte nicht gleich, lasse mich neben ihn fallen. „Ich habe gedacht, das war's. Dass ich nirgendwo mehr hingehe.“ Ich ziehe meinen Schuh aus, greife mit Daumen und Zeigefinger nach der warmen, klebrigen Sohle. Ein Schweißtropfen fällt auf das Papier, als ich es herausziehe und auseinanderfalte. Ein Windstoß zerrt daran. Ich halte mit beiden Händen fest.
Peter beugt sich vor. „Was steht da?“
„Ein Protokoll, das ich für den General übersetzt habe. Irgendwelche internen Abläufe. Meinst du, das reicht für den amerikanischen Geheimdienst?“ Ich halte ihm den Zettel hin, als könnte er die kyrillischen Buchstaben lesen. „Als der Soldat auf meinen Schuh gezeigt hat, habe ich mich schon auf der Straße liegen sehen. Noch eine Sekunde länger, und mein Herz hätte von selbst aufgehört zu schlagen. Noch einmal schaff ich das nicht.“
„Musst du auch nicht. Wird schon reichen. Ich geb's meinem Kumpel, und der macht den Deal für uns.“
„Und wenn was schiefläuft? Wenn sie uns verpfeifen?“
„Wir müssen's versuchen. Ich halte das hier nicht mehr aus, Hannes.“ Peters Stimme ist leise, klingt hart. „Hier dreht sich alles im Kreis. Kohle schleppen, Rechnungen schreiben, Hände schmutzig machen. Wie mein Vater. Und der davor. Und der davor.“ Er greift einen Stein, wiegt ihn in der Hand. „Ich übernehme den Laden. Steh im Dunkeln auf, geh im Dunkeln ins Bett. Jeden Tag. Mein ganzes verdammtes Leben lang.“ Er holt aus und schleudert den Stein flach über das Wasser. Er springt einmal, zweimal. Dann versinkt er.
„Und wenn sie das Protokoll finden, sperren sie uns für immer weg“, sage ich.
„Dann ist es eben so. Hier bist du nichts und darfst nichts. Kein Gedanke zu viel, kein Wort zu laut, kein Traum zu groß.“ Sein Blick verengt sich, sein Mund ist nur noch ein Strich.
„Selbst die Häuser da drüben“, sagt er und zeigt mit einem zweiten Stein aufs linke Ufer, „sind für uns unerreichbar.“
„Was sollen wir mit den Schickimicki-Villen da drüben, wir wollen fliegen.“
„Ja. Aber in diesem Land geht das nicht.“ Er lässt den nächsten Stein über das Wasser tanzen. „Ich will, dass die Leute zu mir hochsehen. Wenn ich über ihnen fliege.“
Nach dem Krieg haben sie die Luftwaffe aufgelöst. Zur Pilotenausbildung würden sie uns nie zulassen, dafür stimmt unsere Gesinnung nicht. Als Peter diesen Typen kennengelernt hat, mit Verbindungen zu den Amis, haben wir den Plan gemacht: Wir besorgen geheime Informationen und dafür holen sie uns raus. Rüber nach Amerika. In ein Leben, das sich wie Auftrieb anfühlt.
„Stell dir vor, in ein paar Wochen sind wir drüben. Und dann heben wir ab.“
Ich schaue über den Jungfernsee. Die Wasseroberfläche ist gekräuselt, so dunkel wie die brodelnden Gewitterwolken darüber. Ein paar Schwalben fliegen tief, fangen Insekten aus der Luft. Manche berühren mit ihren Flügelspitzen das Wasser. Es spritzt und vermischt sich mit den ersten Regentropfen.
Einer trifft meine Stirn. Dann noch einer, direkt am Haaransatz.
Und plötzlich bricht der Himmel auf. Regen stürzt wie Nadeln auf uns herab. Es fühlt sich an, als prasselte der Himmel selbst auf meine Haut.
Ich reiße das Protokoll an mich, presse es unter mein Hemd.
Wir flüchten unter die zitternden Äste der Hängebuche, die ein paar Meter vom Strand entfernt steht. Das Wasser läuft mir kalt in den Nacken.
Nachdem sie in der Bank gewesen war, folgen Ava und ich der alten Dame durch die Einkaufsstraße. Die Räder ihres Trolleys klackern über das Kopfsteinpflaster. Wir überholen eine Mutter mit Kinderwagen und einen Hund, der ungeduldig an der Leine zerrt. Ein Mann im orangefarbenen Anzug steigt aus einem Laster, tauscht den vollen Müllsack des Mülleimers gegen einen leeren und wirft ihn auf die Ladefläche. Flaschen klirren, und ein süßlicher Geruch nach fauligem Obst steigt uns in die Nase.
Vor dem Buchladen bleibt die alte Dame stehen. In hölzernen Containern vor dem Schaufenster liegen Kinder- und Kochbücher aus. Ihre Finger gleiten über die Einbände, auf denen grelle Rabattsticker kleben.
Ava huscht hinter einen Ständer mit Geburtstagskarten und stößt mich zwischen den Schulterblättern in Richtung der Bücher.
Ich seufze leise, stelle mich neben die alte Dame. Meine Haut kribbelt.
„Das Buch habe ich früher geliebt.“ Ich zeige auf ein großes Pappbilderbuch mit der Raupe Nimmersatt.
Sie blickt mich überrascht an. Ihre Augen strahlen hell.
„Es ist so schön bunt“, sagt sie. Ihr Lächeln lässt die feinen Falten in ihrem Gesicht tanzen. Für einen Moment sehe ich Oma vor mir. Ganz nah.
„Damals hatten wir kaum Bücher. So eins hätte ich mir als Kind gewünscht.“ Zwei tiefe Grübchen graben sich in ihre Wangen. Sie zeigt auf das Buch. „Wissen Sie, was das für eine Puppe ist?“
„Das ist eine Fingerpuppe.“ Ich hebe das Buch an, schiebe meinen rechten Zeigefinger in den Bauch der grünen Filzraupe. Mit dem Finger lasse ich sie auf der Buchseite tanzen. Von gezeichneten Äpfeln zu Birnen, als würde sie sie wirklich fressen.
„Ach Gott, wie eine richtige Raupe.“ Die alte Dame lacht. Ich lache mit. Wärme breitet sich in mir aus, ich bin für einen Augenblick federleicht.
Dann zischt es. Ava wedelt hinter dem Postkartenständer mit den Armen, wie ein Verkehrspolizist.
Mein Lachen verstummt. Die Wärme verschwindet. Die Raupe krümmt sich auf der Buchseite. Ich zögere, sehe die alte Dame an. Ihre Augen, ihr Lächeln. Wie kann ich ihr das nur antun? Ich sollte sie beschützen. Vor Menschen wie Ava und mir.
Aber ich bleibe. Bleibe, weil ich sonst allein wäre. Weil Ava mich dann wieder mit Schweigen bestrafen würde.
„Möchten Sie auch einmal?“ Ich halte der alten Dame das Buch hin. Sie stellt ihre Handtasche ab, schiebt zögerlich einen Finger in die Puppe.
Sie lacht.
Avas Turnschuhe knirschen leise über das Pflaster. Sie kommt näher.
Ich bleibe reglos stehen. Mein Gesicht brennt. Schweiß sammelt sich auf meiner Oberlippe. Ich öffne den Mund, aber kein Ton kommt heraus. Ich will etwas sagen, etwas tun, aber mein Körper gehorcht mir nicht.
Ava beugt sich vor, greift nach der Handtasche, zieht das Portemonnaie heraus und lässt die Tasche achtlos fallen. Verwirrt schaut die alte Dame zu Ava.
Das Klingeln der Ladentür lässt mich zusammenzucken. Eine Frau mit blondierten Haaren und einem sackartigen Kleid tritt aus dem Buchladen. Sie schaut direkt zu uns, öffnet den Mund. Ava lässt das Portemonnaie fallen, greift nach meinem Arm und zieht mich weg.
„Wieso hast du so lange gebraucht?“, fragt sie.
„Hey, ihr beiden! Bleibt stehen!“ Die Stimme der Frau ist schrill und laut.
„Komm!“ Ava rennt los. Und ich lasse mich mitziehen.
Mein Herz hämmert im Takt unserer Schritte über das Pflaster. In meinen Ohren rauscht es. Die Hitze in meinem Kopf wird drückend, unerträglich. Ich drehe mich um. Die Kundin steht bei der alten Dame. Niemand folgt uns, außer der Blick der alten Dame. Er brennt.
Ava und ich rennen bis an das Ende der Einkaufsstraße. Die alte Dame und die blondierte Frau sind nur noch winzige Punkte, kaum zu erkennen. Zwischen ihnen und uns liegt Stille, als ob nichts gewesen wäre. Keiner ist uns gefolgt. Ein Pärchen mit Bullterrier schaut kurz zu uns, läuft dann weiter. Eine Frau mit fusseligem Haar kommt ihnen entgegen, macht einen Bogen um sie, doch der Hund springt sofort zu ihr, bellt sie an. Sie schreckt zur Seite. Das Pärchen zieht den Hund zurück, und die Frau eilt an uns vorbei. Niemand beachtet uns.
