Schattentage - Der Weg ins Licht - Werner K. Fischer - E-Book

Schattentage - Der Weg ins Licht E-Book

Werner K. Fischer

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Beschreibung

1945, gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, haben führende Nationalsozialisten von Breslau aus einen gepanzerten Zug nach Polen geschickt, der mit rund 300 Tonnen Gold, Raubkunst, Schmuck, Geldwährungen und geheimsten Dokumenten beladen war. In der Nähe von Waldenburg wurde er in einen unterirdischen Stollen geleitet - und verschwand spurlos. Dieser Tunnel gehörte zum Projekt RIESE, einem Bauwerk, das von den Nazis unter höchster Geheimhaltungsstufe im schlesischen Eulengebirge nahe Walim gebaut wurde. Alle Versuche, den Goldzug nach Kriegsende zu finden, waren vergeblich. Bis er 20 Jahre später durch Zufall von dem Großvater von Krysztof Kaczmarek entdeckt wird. Er behält diese Entdeckung lange Jahre für sich und weihte nur seinen Sohn Ante ein. An seinem 17. Geburtstag gibt Vater Ante das Geheimnis an seinen Sohn Krysztof weiter und überlässt ihm dazu brisante Dokumente und Pläne, die Krysztofs Großvater in dem Goldzug gefunden hat. Kurze Zeit später wird Ante von einem rätselhaften Bündnis ehemaliger Nazigrößen und dessen Erben ermordet. Krysztof muss daraufhin bei Nacht und Nebel aus Walim fliehen. Er nutzt den "Prager Frühling", um 1989 in den Westen zu kommen und schließlich in den Slums von Rio de Janeiro unterzutauchen. Aber die Jagd nach den brisanten Papieren, die Krysztof immer noch besitzt, hat gerade erst begonnen. Erst am 20. April 2020, Hitlers Geburtstag, beginnt der große Showdown in David, einem kleinen Ort in Panama.

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Seitenzahl: 1040

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Das Buch.

1945, gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, haben führende Nationalsozialisten von Breslau aus einen gepanzerten Zug nach Polen geschickt, der mit rund 300 Tonnen Gold, Raubkunst, Schmuck, Millionen von Dollars und geheimsten Dokumenten beladen war. In der Nähe von Waldenburg wurde er in einen unterirdischen Stollen geleitet - und verschwand spurlos. Dieser Tunnel gehörte zum Projekt RIESE, einem Bauwerk, das von den Nazis unter höchster Geheimhaltungsstufe im schlesischen Eulengebirge nahe Walim gebaut wurde.

Alle Versuche, den Goldzug nach Kriegsende zu finden, waren vergeblich. Bis er 20 Jahre später durch Zufall vom Großvater von Krysztof Kaczmarek entdeckt wird. Er behält diese Entdeckung lange Jahre für sich und weiht nur seinen Sohn Ante ein. An seinem 17. Geburtstag gibt Vater Ante das Geheimnis an seinen Sohn Krysztof weiter und überlässt ihm dazu brisante Dokumente und Pläne, die Krysztofs Großvater in dem Goldzug gefunden hatte. Kurze Zeit später wird Ante von einem rätselhaften Bündnis ehemaliger Nazigrößen und deren Erben ermordet. Krysztof muss daraufhin bei Nacht und Nebel aus Walim fliehen. Er nutzt den „Prager Frühling“, um 1989 in den Westen zu kommen und schließlich in den Slums von Rio de Janeiro unterzutauchen. Aber die Jagd nach den brisanten Papieren, die Krysztof immer noch besitzt, hat gerade erst begonnen. Erst am 20. April 2021, Hitlers Geburtstag, beginnt der große Showdown in David, einem kleinen Ort in Panama.

Der Autor.

Werner K. Fischer (wernerkfischer.net) lebt als selbständiger Medienkaufmann in Hamburg. „SCHATTENTAGE. Der Weg ins Licht“ ist sein dritter Roman, in dem er wieder viele Erfahrungen seiner großen Leidenschaft, Reisen, verarbeitet hat. 2020 hat er den Roman „HÖLLENTAGE. Die Spur des Geldes“ (www.hoellentage.info) veröffentlicht, 2015 „SEETAGE. Die Lust am Untergang (www.seetage.info) sowie 2014 das Musical „WEST INDIES COMPANY“ (west-indies-compny.de) getextet, komponiert und eingespielt. 2013 hat er, zusammen mit seiner Frau Ulli, das Kinderbuch ZACKY, DER KLEINE ZAUBERDRACHE geschrieben.

Für die wichtigsten Menschen in meinem Leben. Die es immer wieder schaffen, meinen Alltag zu bereichern. Die mit mir die Welt erforschen und erkannt haben, wie unsagbar schön unsere Erde ist. Und dass wir wirklich alles dafür tun müssen, sie zu erhalten. Für unsere Kinder, für unsere Enkel und für uns selbst. Wir haben nur diese eine Welt.

Weitere Titel des Autors:

Seetage. Die Lust am Untergang (ISBN 978-3-000-51060-0)

Höllentage. Die Spur des Geldes

ISBN Paperback: 978-3-347-13677-9

ISBN Hardcover: 978-3-347-13678-6

ISBN e-Book: 978-3-347-13679-3

Werner K. Fischer

Schattentage

Der Weg ins Licht.

Roman

©2021 Werner K. Fischer

Umschlag, Illustration: Werner K. Fischer

Lektorat: Anina Höck, Hamburg

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN Paperback: 978-3-347-35384-8

ISBN Hardcover: 978-3-347-35385-5

ISBN e-book: 978-3-347-353386-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Die gesamte Handlung und alle Figuren des Romans sind der Fantasie des Autors entsprungen. Alle Handlungen in diesem Buch sind frei erfunden und ausschließlich der Fantasie des Autors entsprungen. Eine mögliche Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder Namen ist rein zufällig und nicht gewollt. Trotzdem waren für dieses Buch umfangreiche Recherchen nötig, um die Strukturen des internationalen Rechtsextremismus nachvollziehen zu können und möglichst real in die Handlung des Romans einzubringen (Quellen: Wikipedia, 2021). Darum kann der Autor nicht ausschließen, dass aus der Dramaturgie heraus die eine oder andere Schilderung überzogen oder vielleicht sogar falsch dargestellt wurde.

Quellennachweise:

Seiten 115 ff.: Ergänzende Erläuterungen. Quelle Wikipedia, 2021

Seiten 155 ff.: Ergänzende Erläuterungen zu Pegida. Quelle Wikipedia, 2021

Seiten 162-165: Teile des Textes sind unter Creative Commons veröffentlicht und dürfen unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des Autors, Prof. Dr. Richard Stöss für bpb.de, geteilt werden.

Seite 389 ff.: Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung, 2021 Darüber hinaus waren für den Stoff viele Recherchen erforderlich. Die Quellen dazu habe ich weitgehend Wikipedia, 2021 genutzt.

Handelnde Personen

Johannes Förster, der sich lieber John Forster nennt

Krysztof Kaczmarek, Flüchtling aus Walim/Polen

Ante Kaczmarek, Krysztofs Vater

Michael Daniel, Weltenbummler und Neu-Panamaer

Jerry, Pilot und Freund von John Forster

Elisabeth „Lissy“ Fütterer, IT-Spezialistin

Pjotr, Freund von Krysztofs Vater, Fluchthelfer in Prag

Nelson, Freund von Michael Daniel

Frederic Alexander Dubois, Großindustrieller

Konstantin Bürger, Mathegenie aus Wien

Marcella Nuñez de Balboa, genannt Ella

Bocas del Toro/Kingston, Jamaica

Rob Bannister, Immobilien Mogul der West Indies

Paul M. Bannister, Rob Bannisters Vater

Julian Bannister, Bannisters Sohn

Peter Borowski, Bannisters Sicherheitschef

Hamburg

Peter F. Bornhold, Rechtsanwalt und Notar

Ministerialrat Dr. Freiherr Peter von Doehren, Nachlassgericht

Lena Behringer, Genealogin

Thomas, ihr zukünftiger Ex-Freund

Tortuguero/Costa Rica

Maria, Besitzerin der Bodega Chez Maria

Will Carpenter, Social Media Nerd

Luisa und Thomas Weilland, Inhaber der Rainwood-Lodge

Bocas del Toro/Panama

Neil, Besitzer des Casa Verde

Tailor, Jerrys Freund am Flughafen Bocas del Toro

Rio de Janeiro/Buenaventura/Panama City:

Paolo, Mayor des Favela-Bezirks in Rocinha

João, Paolos Bruder

Vitoria, Freundin Krysztofs in Rocinha

Guilherme, Mitglied der UPP

Ramon Guitierrez, Journalist

Raoul, Hafenkapitän in Buenaventura/Kolumbien

Pedro Rodriguez, Kapitän der Alvorecer

Epilog: 1939-1945

Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges und des Polenfeldzuges 1939 hatte Schlesien keinerlei Schutzvorrichtungen für die militärische Führung und die Regierung des Dritten Reiches. Der Frontverlauf war zu weit entfernt. Erst im September 1943 gab es erste ernsthafte Überlegungen für den Bau von Schutzbunkern in dieser Region. Ins Auge gefasst wurde das Eulengebirge, ein langgezogener, bewaldeter, steil aus der Schlesischen Tiefebene aufragender Gebirgszug und Teil der schlesischen Mittelsudeten im Südwesten Polens. Schon im Oktober 1943 wurden, unter Federführung des Rüstungsministers Albert Speer, umfangreiche Bauarbeiten aufgenommen. Geleitet wurden diese von der Schlesischen Industriegemeinschaft AG. Im April 1944 wechselte die Bauleitung zur Organisation Todt (OT). Dieses 1938 gegründete Gebilde war eine paramilitärische Bautruppe, die den Namen ihres Führers Fritz Todt (1891– 1942) trug und dem Reichsminister für Bewaffnung und Munition (RMfBM) sowie dem Nachfolgeministerium unter Albert Speer unterstand. Sie wurde nach Kriegsbeginn vor allem für Baumaßnahmen in den von Deutschland besetzten Gebieten eingesetzt.

Zur Realisierung dieses wichtigen Bauvorhabens wurden Außenlager des nahen Konzentrationslagers Groß-Rosen gegründet und bis zu 20.000 Häftlinge eingesetzt. Da das Projekt der höchsten Geheimhaltungsstufe unterlag, veränderte es auch in hohem Maße die Lebensumstände der heimischen Bevölkerung, die sich in den sehr bald ausgewiesenen Sperrzonen nur eingeschränkt bewegen durften. Den meisten am Bau des Projektes beteiligten Privatfirmen und den in der Umgebung wohnenden Menschen war der Zweck der Bauvorhaben nicht bekannt, so dass schnell die Gerüchteküche kochte. Vor allem über zwei Versionen wurde immer wieder spekuliert: eine unterirdische Rüstungsproduktion oder ein weiteres Führerhauptquartier.

Das „Projekt Riese“, so wurde dieses Bauvorhaben im Mittelgebirgsmassiv um die Säuferhöhen (Osówka) und Wolfsberg im schlesischen Eulengebirge nahe Wüste-waltersdorf, heute Walim, in Polen bezeichnet, sollte diverse mehrstöckige Stollensysteme und kathedralenartig ausgebaute Höhlen umfassen. Bekannt sind heute mindestens neun Einzelanlagen, die über kilometerlange Tunnel und Versorgungschächte miteinander verbunden waren. Bis August 1945 sollte so eine gigantische, bombensichere, unterirdische Stadt entstehen. Die Kosten waren mit 130 Millionen Reichsmark angesetzt.

Die tatsächliche Größe der Anlage lässt sich nur erahnen. Für das Führerhauptquartier (FHQ), Oberkommando des Heeres (OKH), Oberkommando der Luftwaffe (OKL) sowie den Reichsaußenminister und den Reichsführer SS waren unterirdische Wohn- und Arbeitsquartiere geplant. Weiterhin sollten Unterkünfte für Sicherheits- und Unterstützungskräfte entstehen. Ebenfalls vorgesehen war eine unterirdische Industrieanlage, über deren Aufgaben nur Vermutungen möglich sind. Die Größe der gesamten Anlage des Projekts Riese sollte knapp 195000 m2 umfassen.

Die heute bekannten Stollensysteme befinden sich im Auffahrzustand, Teile des Kammersystems besitzen einen fertigen Innenausbau aus Beton. Die erforschten, zum großen Teil zerstörten Tunnel sind zwischen 2430 und 7530 Meter lang. Inzwischen wird tatsächlich davon ausgegangen, dass die Anlage als Hauptquartier und Ersatz für die bekannte Wolfsschanze sowie als Ausgangsbasis für Operationen im Osten dienen sollte. Hinweise dafür sind in einer Akte des Architekten Siegfried Schmelcher unter dem Namen Geheime Reichssache 91/44 zu finden. Die Anlagen in Säuferwasser/ Säuferhöhen, Wolfsberg und Dorfbach (Rzeczka) sind touristisch erschlossen und im Rahmen von Führungen begehbar. Die Stollen unter Schloss Fürstenstein (ca. 30 km von Wüstewaltersdorf entfernt) werden ebenfalls dem Komplex zugerechnet. Wegen der Verwendung als seismologische Station ist eine Besichtigung im Rahmen von Führungen nur teilweise möglich.

Durch die nach Kriegsende erfolgte Vertreibung der schlesischen Bevölkerung und die Neubesiedlung durch ortsfremde Menschen aus dem Osten Europas gab es kaum Zeitzeugen. Und da die Baupläne für das Projekt Riese verschwunden sind, ist eine genaue Rekonstruktion der Gesamtanlage aus heutiger Sicht kaum mehr möglich. Es ist darum davon auszugehen, dass diverse Tunnel des Komplexes bis heute nicht entdeckt worden sind, zumal viele Eingänge kurz vor Kriegsende eilends gesprengt wurden.

Quelle: diverse, u.a. Wikipedia

Eins.Walim / Polen – August 1988

Als Krysztof das erste Mal von dem Geheimnis hörte, war er gerade siebzehn geworden. Die Höhepunkte seines Geburtstags waren exakt die gewesen, die es, solange er denken konnte, jedes Jahr gewesen waren. Der feuchte Schmatzer seiner Mutter. Immer begleitet von diesem innigen, liebevollen Blick. Der kumpelhafte Fauststupser seines Vaters. Immer gegen die linke Brust, weil dort das Herz schlug. Das bedeutete einfach nur Anerkennung und ließ ihn jedes Mal um mehrere Zentimeter wachsen. Und die innige Umarmung seines Großvaters, den er auf eine ganz besondere Weise geliebt und verehrt hatte. Er hatte ihn immer fest an sich gedrückt, ihm den Rücken getätschelt und ihm dabei jedes Mal heimlich einen Geldschein zugesteckt und gedacht, dass niemand von den anderen es bemerken würde. Aber natürlich bekam das jeder mit. Obwohl Großvater jetzt schon über zehn Jahre tot war, meinte Krysztof immer noch, den leicht muffigen Geruch in der Nase zu haben, den die Kleidung seines Opas verströmt hatte. Mehr hatte es zu seinem Geburtstag nie gegeben. Höchstens noch ein paar abgetragene und speckig glänzende Kleidungsstücke, die seine Mutter irgendwo in der Nachbarschaft abgestaubt hatte.

In der Schule war er nie richtig klargekommen. Alle hatten ihn immer gehänselt und hin und her geschubst, weil seine Familie noch ärmer als die seiner Mitschüler und er mindestens einen Kopf kleiner gewesen war als sie. Er war immer das Opfer gewesen. Looser bei Kraftdemonstrationen, Prügelknabe bei Muskelspielen vor den Mädchen, aber auch häufig das Ziel spontaner Wutausbrüche. Auch für die der Lehrer. Er war eben der Kleinste und Schwächste in der Klasse. Und obwohl ihn diese Demütigungen kränkten und nervten, nahm er sie jedes Mal mit stoischer Geduld hin. Er hatte damals eine andere Welt entdeckt. Eine Welt, in der Träume und Fantasien blühten. Er liebte es, durch die üppigen Wälder und Berge seiner Heimat zu streifen und sich vorzustellen, wie das wohl gewesen war, als Kinder noch keine nervigen Pflichten hatten. Wie Schule und den anderen überflüssigen Kram, zum Beispiel. Als Kinder noch frei waren. Aber waren sie das wirklich je gewesen? Erst im letzten Schuljahr hatten die ständigen Demütigungen aufgehört. Vielleicht, weil sie erkannt hatten, dass ihn die Schmähungen nicht wirklich trafen. Oder, weil sie vernünftiger geworden waren. Vermutlich aber wohl doch eher, weil Krysztof inzwischen zurückschlagen konnte, weil er seine Mitschüler körperlich eingeholt und teilweise sogar überholt hatte.

Und dann war dieser Freitag gekommen. Sein Vater hatte wie jeden Sommerabend gedankenverloren auf der morschen Bank vor ihrem Haus gesessen, eine seiner stinkenden Zigaretten herausgeholt, geschickt den Filter abgebrochen, die Bruchkante mit Spucke befeuchtet, sie sorgfältig zusammengedrückt, die im Mund verbliebenen Tabakkrümel in weitem Bogen ausgespuckt und schließlich, als alle Vorbereitungen abgeschlossen waren, kunstvolle blaue Ringe in die Luft gepafft. Und sein Bier getrunken. Sein Vater liebte Bier, an manchen Tagen sogar ein bisschen zu sehr. Krysztof hatte an dem wackligen Küchentisch gesessen und versucht, seine Hausaufgaben machen. In wenigen Monate stand die Abschlussprüfung an. Aber Mathe und Polnisch waren nie seine Lieblingsfächer gewesen. Das waren Schulstunden, die er völlig überflüssig fand und in denen er darum gern seine Fantasien auf Reisen schickte und träumte. Polnisch reden konnte er schließlich, und in Mathe beherrschte er das Addieren und Subtrahieren. Das musste reichen. Englisch dagegen war von der ersten Schulstunde an sein Favorit gewesen. Seine, wie sein Vater immer sagte, Eintrittskarte in die große, weite Welt. Schließlich waren viele Eroberer und Forscher Engländer gewesen. Englisch hatte er verstanden und verinnerlicht. Und darum hatte er schon von Beginn an eine eins mit Sternchen bekommen.

Statt sich auf die Hausaufgaben zu konzentrieren, hatte er sich also an diesem Abend wieder in seiner Traumwelt verloren und kletterte in Gedanken durch das schroffe und imposante Massiv des Wielka Sowa, der höchsten Erhebung des Eulengebirges, das direkt hinter dem Ort lag. Abrupt gestört von der Aufforderung seines Vaters, ihm noch eine Flasche seines Lieblingsbiers Tyskie zu bringen. Er war sicher gewesen, wieder mal dabei erwischt worden zu sein, dass er, statt sich den Schulaufgaben zu widmen, in seinen Fantastereien schwelgte, und, in Erwartung des üblichen Donnerwetters, gleich schützend den Kopf zwischen die Schultern gezogen. Aber das war ausgeblieben. Kein Schimpfen, keine Vorwürfe, keine Ermahnung. Nicht mal einer dieser unbeherrschten Faustschläge auf den Tisch, der die elterliche Meckerei noch um ein Vielfaches verstärken sollte und in der Strafenskala kurz vor der Ohrfeige stand. Als er seinen Vater mit schief gelegtem Kopf ansah, hatte Krysztof plötzlich das Gefühl einer unerklärlichen Spannung gehabt, die in der Luft waberte und jeden Moment auf Entladung wartete. Wie ein Gewitter, das sich drohend aufbauschte, um Sekunden später Blitze, Donner, Sturmböen und Regengüsse zu schicken. Und Urängste zu wecken.

„Komm, setz dich mal zu mir.“

Krysztof stellte die Bierflache vor ihn hin und merkte, dass ihm das Herz bis zum Hals schlug. Ohne dass er wirklich sagen konnte, warum. So hatte ihn sein Vater noch nie angesehen. Prüfend. Nachdenklich. Ängstlich. Nervös an seiner Zigarette saugend. Als ob er einen inneren Kampf austragen müsste und Angst hatte, ihn zu verlieren.

„Sag mal, mein Junge, hast du schon mal was von Riese gehört?“

Krysztof hatte keine Ahnung gehabt, was sein Vater meinte. Wer oder was Riese war. Ein Nachbar? Ein Märchen? Ein bedeutender Politiker? Ein großer Mensch? Eine Gruselgeschichte? Er schüttelte ratlos mit dem Kopf. Erneut dieses Zögern und wieder diese ungewohnte Unsicherheit bei seinem Vater. Dann begann er zu erzählen. Langsam und bedächtig nach Worten suchend. Und jedes Wort klang wie eine mühsam anfahrende, fauchende und zischende Dampflokomotive.

„Als ich etwa so alt war wie du habe ich mit meinem Vater, deinem Großvater, genau hier gesessen.“ Er klopfte mit der flachen Hand auf die Bank. „Er hat mir genau die gleiche Frage gestellt wie ich dir jetzt. Und ich war genauso ratlos wie du.“

Jetzt sah sein Vater aus, als würde er tief in sich hineinhorchen, als versuchte er, Erinnerungen auszugraben.

„Das muss jetzt…, lass mich überlegen…“, er ließ in Gedanken die Zeit vor sich ablaufen, „das muss jetzt 39 Jahre her sein. Richtig, 1949 war es. Der Krieg war gerade mal vier Jahre vorbei, und rings um uns herum herrschte immer noch Chaos. Die Deutschen hatten den Krieg verloren und plötzlich gehörten wir wieder zu Polen. Menschen, die viele Jahre hier gewohnt hatten, wurden nach Westen vertrieben, und weit aus dem Osten kamen andere. Die Neuankömmlinge waren fremd, sprachen nicht unsere Sprache und bezogen die Häuser, in denen bis vor kurzem noch Freunde und Bekannte gewohnt hatten. Nur wenige der alten Bewohner durften bleiben, weil sie für den vollmundig angekündigten Neuaufbau Polens unentbehrlich waren. So auch dein Großvater, der damals in der Gemeindeverwaltung arbeitete. Und seine Familie natürlich. Also wir.“

Krysztof wagte kaum zu atmen. Sein Vater hatte noch nie etwas aus dieser Zeit erzählt und alle Fragen, die er bisher gestellt hatte, mehr oder weniger abgeblockt. Obwohl sein Vater diese wunderbare Gabe gehabt hatte, spannend wie kein Zweiter erzählen zu können. Jeden Zuhörer regelrecht einzufangen und mit seiner leisen, sanften Stimme zu fesseln. Wie auch an diesem Abend damals. Er hatte seinen Sohn auf eine Reise in die Sudeten mitgenommen, in eine der schönsten, unberührtesten Regionen Schlesiens. Und ihn in das mysteriöse Geheimnis des Eulengebirges eingeweiht. Zu diesem Zeitpunkt konnte keiner ahnen, wie stark diese Geschichte Krysztofs weiteres Leben bestimmen würde.

„Ich war neun oder zehn,“ hatte sein Vater weitererzählt. „Wir hatten seit drei Jahren Krieg. Aber in den ersten zwei Jahren hat man hier bei uns davon nicht sehr viel mitbekommen. Das Leben lief in seinen gewohnten Bahnen, es gab keine besonderen Einschränkungen.“ Er hatte bedächtig den Kopf geschüttelt. „Na ja, bis auf die Veränderung, dass plötzlich Kleider- und Lebensmittelkarten ausgegeben wurden. Die Grundernährung war immer ausreichend, zumal deine Großmutter ja auch einige Früchte, Kartoffeln und Gemüsesorten selbst angebaut hatte. Ein wenig schwieriger wurde es später mit Kleidung und Schuhen, die trotz der Karten manchmal schon sehr schwer zu bekommen waren. Aber die Menschen sind anpassungsfähig, und so haben wir uns alle entsprechend eingerichtet. Man tauschte und half sich gegenseitig. Eigentlich fiel damals eher auf, dass an allen Ecken und Enden die jungen Männer fehlten, weil immer mehr zum Arbeits- oder Militärdienst eingezogen wurden.“

Sein Vater hatte erneut nachdenklich geschwiegen. „Anfang April 1945, also kurz vor Kriegsende, wurden dann sogar noch die Jugendlichen zur Wehrmacht einberufen, um den Endsieg zu sichern. Ich hatte Glück, ich war gerade dreizehn und noch zu jung. Aber das ist für die Geschichte, die ich dir erzählen will, nicht wichtig.“

Er hatte tief durchgeatmet, sich die nächste Zigarette zurechtgerupft und angezündet und einen großen, glucksenden Schluck aus der Bierflasche genommen.

„Eines Tages, es war ein sonniger Sommertag, spielten meine Freunde und ich Räuber und Gendarm. Gleich hinter der Ortsausfahrt, du weißt schon. Damals hieß Walim noch Wüstewaltersdorf. Plötzlich stoppten vorn auf der Straße, direkt vor dem dicht bewaldeten Gebirgsmassiv, einige zivile Limousinen und ein paar Militärfahrzeuge, alle mit wehenden Standarten. Wir versteckten uns hinter einem Busch und sahen neugierig zu, was da passierte. Den Autos entstiegen mehrere Männer, und anhand der Uniformen erkannten wir, dass es hochrangige deutsche Offiziere der Wehrmacht, der Luftwaffe und der SS waren. Weißt du, was die SS ist, mein Junge?“

Krysztof nickte wissend, weil sie das gerade vor ein paar Wochen in der Schule durchgenommen hatten, und betete es auswendig runter. Ohne wirklich zu verstehen, was er da sagte.

„SS heißt Schutzstaffel. Das war eine nationalsozialistische Organisation in der Weimarer Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus. Die SS diente der NSDAP, der Partei Adolf Hitlers und ihm selbst als Herrschafts- und Machtinstrument. Man erkannte sie an der komischen Doppel-Rune an ihrem Kragen.“

Sein Vater hatte zustimmend genickt und weitererzählt.

„Die Soldaten wurden von einigen wichtig dreinschauenden Männern in dunklen Anzügen, Ledermänteln und schwarzen Hüten begleitet. Auf der Kühlerhaube eines der Fahrzeuge hatten sie Landkarten ausgebreitet, zeigten immer wieder auf bestimmte Stellen, suchten diese dann scheinbar oben in dem Bergmassiv, steckten ihre Köpfe zusammen und diskutierten. Wobei sie offensichtlich nicht immer einer Meinung waren. Wir ärgerten uns, dass wir nicht verstehen konnten, um was genau es ging. hatten aber auch wieder nicht den Mut, uns näher heranzuschleichen. So hörten wir nur Wortfetzen wie Gleisverlegung, Bohrer, Tunnel oder Führerhauptquartier. Und Riese. Immer wieder machten die Männer Notizen, fertigten zusätzliche Zeichnungen an, diskutierten darüber und kringelten bestimmte Stellen auf den Karten ein. Das ging stundenlang so. Wir wagten nicht, uns zu rühren und machten uns vor Aufregung beinahe in die Hose. Endlich, kurz vor Einbruch der Dämmerung, packten sie alles zusammen, stiegen in ihre Autos und verließen Walim. Die Straße war wieder leer. So als wäre nie was gewesen.

Als ich abends deinem Großvater von unseren Beobachtungen erzählte, zuckte der nur mit den Schultern und brummelte etwas von „vorsichtig sein“, „aufpassen“ und „Mund halten“. Als ob ihn das nicht besonders interessierte. Vielleicht aber auch, weil es für ihn nichts Neues bedeutete und er das alles schon längst wusste.“ Sein Vater nickte nachdenklich vor sich hin. „Heute weiß ich, dass er alles, was passieren sollte, schon längst gewusst hat.“

Vater zündete sich die nächste abgebrochene Filterzigarette an, ging in die Küche und kam mit einem weiteren Tyskie wieder zurück. Inzwischen war es dunkel geworden und seine Erzählungen schienen noch unheimlicher. Jeder Schatten im Garten wurde zu einem Gespenst, jede streuende Katze zu einem Monster. Wie zufällig schob sich Krysztof näher an seinen Vater heran.

„Zwei Wochen später, wir hatten gerade Schulschluss und waren auf dem Heimweg, tauchten plötzlich andere Männer im Dorf auf. Viele Männer. Deutsche. Sie arbeiteten, wie wir bald erfuhren, für die Schlesische Industriegemeinschaft A.G. aus Breslau. Aus dem, was sie vorhatten, wurde ein großes Geheimnis gemacht. Keiner im Dorf wusste Genaues, und doch gingen schon bald die wildesten Gerüchte herum. Jeder behauptete, eingeweiht zu sein. Und gab diese, natürlich immer hinter vorgehaltener Hand und mit der dringenden Mahnung weiter, dass das, was er dem Zuhörer jetzt verraten würde, nur für seine Ohren bestimmt war und er es auf keinen Fall anderen weitererzählen dürfte. Schließlich würde es um Leben und Tod gehen. Um was es dabei allerdings wirklich ging, wusste zu diesem Zeitpunkt niemand. Na ja, fast niemand. Ein paar wirklich Eingeweihte vielleicht schon.

Für uns Jungen hatte damit ein riesiges Abenteuer begonnen. Natürlich waren wir neugierig und setzten unseren ganzen Erfindungsreichtum ein, um mehr über die geheimnisvollen Arbeiten herauszubekommen. Aber trotz aller Bemühungen konnten wir kaum etwas in Erfahrung bringen. Wenn es uns tatsächlich mal gelang, näher heranzuschleichen, sahen wir nur, dass Straßen gebaut und die alten Waldwege befestigt wurden. Und dass sie Schienen für eine Schmalspurbahn verlegten. Gleichzeitig entstanden weiter oben in den Bergen streng bewachte Baracken. Für die Mitarbeiter der deutschen Bauleitung, wie wir immerhin mitbekamen. Aber auch die waren keine besonders gute Informationsquelle, weil sie sich von den Dorfbewohnern fernhielten. Sie lebten in den Wäldern und wurden durch regelmäßig eintreffende Lastwagen der Wehrmacht versorgt. Das Einzige, was einen Hinweis auf ihre Arbeit gab, war das O.T. auf ihren Armbinden.“

Wieder hatte sein Vater in ein ratloses Gesicht gesehen.

„O.T., mein Junge, O.T. bedeutet Organisation Todt. Ein Mann namens Fritz Todt war damals der Leiter dieser paramilitärischen Gruppe, die direkt von der Regierung befehligt wurde.“ Wieder Ratlosigkeit. „Paramilitärisch bedeutet, dass die Mitglieder Uniformen trugen und wie Soldaten organisiert waren. Also beinahe wie das Militär. Ihre Aufgabe war der Bau von Schutz- und Rüstungsvorhaben in Deutschland. Und in den von Deutschland besetzten Gebieten. Das gab uns immerhin einen ersten Hinweis. Es musste sich bei den Arbeiten also um ein militärisches und kriegswichtiges Projekt handeln, sonst wäre die Organisation Todt nicht dabei gewesen. Damals ahnten wir noch nicht, dass diese Anlage, die hier bei uns gebaut wurde, eines der größten Bauprojekte während des Zweiten Weltkriegs war. Es hieß Riese. Projekt Riese.“

Da war es wieder! Riese. Das Wort, nach dem sein Vater vorhin gefragt und das er zwischendurch auch wieder erwähnt hatte. Erneut ein entspannender und Durst stillender Schluck aus der Bierflasche. Erzählen machte durstig. Sein Vater schwieg lange und irgendwie schien sein Blick jetzt noch mehr nach innen gekehrt zu sein. Krysztof hatte das sichere Gefühl gehabt, dass er die Zeit, über die er erzählte, noch einmal in all ihren Facetten durchlebte. In schönen und in schrecklichen. Vater seufzte.

„Für den eigentlichen Bau setzen sie dann überwiegend Häftlinge ein. Schon Ende 1941, also zwei Jahre nach Kriegsbeginn, waren die ersten russischen Kriegsgefangenen in die Gegend gekommen, ein Jahr später waren es bereits an die tausend Mann. Sie lebten in trostlosen, von Stacheldraht umzäunten und bewachten Lagern in den Bergen und wurden zu Arbeiten in den umliegenden Fabriken früh morgens abgeholt und abends wieder zurückgebracht. Genauso wie die Häftlinge, die dann ab 1943 aus Groß Rosen in Arbeitslager außerhalb von Wüstewaltersdorf verlegt wurden. Später haben wir gehört, dass das Projekt Rose bis zu fünftausend Häftlinge das Leben gekostet hatte.“

In diesem Moment hatte das Gesicht seines Vaters den ganzen Schmerz, die Hilflosigkeit und die Hoffnungslosigkeit der damaligen Zeit widergespiegelt und es sah ganz so aus, als glitzerten Tränen in seinen Augen. Er schnäuzte sich kurz und nahm die Erzählung wieder auf.

„Täglich, immer zur gleichen Zeit, zogen diese Männer, begleitet von den Wachposten der OT, an unserem Haus vorbei. Zwar warm gekleidet, aber völlig unterernährt. Ständig fielen einige um, wurden von den anderen wieder hochgerissen und weitergeschleppt. Wo genau die Gefangenen arbeiteten, haben wir lange nicht erfahren. Sie wurden hinter dem Bahnhof in Richtung Wolfsberg getrieben und verschwanden dann aus unserem Blickfeld. Das Projekt Riese unterlag eben der allerhöchsten Geheimhaltungsstufe, was für Verräter und Deserteure mit der Todesstrafe gleichzusetzen war. Die Lebensumstände unseres Dorfes und der umliegenden Gemeinden veränderte sich beinahe täglich. Immer neue, streng bewachte Sperrzonen schränkten unsere Bewegungsfreiheit ein. Was gestern noch galt, konnte am folgenden Tag schon ganz anders geregelt sein. Im Dorf wurde jetzt gemunkelt, dass sie tief im Berg ein neues Führerhauptquartier bauen würden, wozu unsere Gegend mit den Bergen und den riesigen Wäldern als besonders geeignet bewertet worden war. Aber trotz dieser Aktivitäten war der Krieg für uns immer noch weit weg.

Als unsere Clique dann eines Tages mal wieder auf Entdeckungstour war, sahen wir, wie ein endlos langer Güterzug in den Bahnhof einlief. Unter kompromissloser militärischer Bewachung wurden Männer in gestreiften Anzügen und Kappen entladen und sofort in die Berge, Richtung Wolfsberg, hinaufgetrieben. Unsere Versuche, sie zu verfolgen und so vielleicht doch das große Geheimnis zu lüften, wurden durch die Soldaten verhindert, die uns mit ihren Gewehren unmissverständlich deutlich machten, dass wir dort nichts zu suchen hätten und besser verschwänden. So konnten wir lange Zeit nur rätseln, wer die eigenartig gekleideten Fremden waren und was sie bei uns wollten.

Im Sommer erschienen diese Menschen dann auf einmal mitten im Dorf. Sie begannen, an der Hauptstraße Gräben auszuschachten und Kabel zu verlegen. Jetzt erst erfuhren wir hinter vorgehaltener Hand, dass es sich um Juden handelte. Und es war schnell klar, dass es gefährlich war, ihnen zu helfen, weil inzwischen auch die Geheime Staatspolizei vor Ort war und wir nie wussten, ob wir nicht gerade beobachtet wurden.“

Mitten in der Erzählung hatte es begonnen, zu donnern und zu blitzen und wie aus Eimern zu schütten, sodass Krysztof und sein Vater schon nach kürzester Zeit bis auf die Haut durchgeweicht waren und sie ins Haus fliehen mussten.

Der Vater hatte eine Hand auf seine Schulter gelegt und ihn wieder mit diesem nachdenklichen Blick angeschaut. Weich, liebevoll und stolz.

„Ich bin froh, mein Junge, dass ich dir das endlich alles erzählen kann. Ich glaube, du bist alt genug, damit umzugehen und alles zu verstehen.“ Er sah auf seine alte Armbanduhr, ein Erbstück von seinem Vater. „Aber es ist schon spät und du musst morgen in die Schule. Darum heißt es jetzt, ab ins Bett. Ich fühle mich auch ein wenig erschöpft und muss schlafen.“ Er schwieg eine ganze Zeit lang, ohne die Hand von Krysztofs Schulter zu nehmen. „Weißt du, es ist nicht leicht, über eine Zeit zu sprechen, die zwar lange zurückliegt, die aber viel Unglück über uns alle gebracht hat. Jetzt schlaf erst mal gut, mein Sohn, und träum was Schönes. Morgen nach der Schule erzähle ich dir dann den Rest der Geschichte.“

Danach hatte sein Vater ihn in den Arm genommen und fest an sich gedrückt. So, als ob er ihn nie wieder loslassen wollte. Etwas, dass er seit langer Zeit nicht mehr getan hatte. Krysztof erinnerte sich noch genau, wie verwirrt und ängstlich er nach oben gegangen war, dass er sich mehr automatisch als bewusst bettfertig gemacht hatte und wie, nachdem er unter die leichte Sommerdecke geschlüpft war, die Gedanken an das, was sein Vater erzählt hatte, in seinem Kopf Purzelbäume schlugen. Wie jeden Abend war seine Mutter noch einmal in sein Zimmer gekommen. Aber heute war es anders gewesen als sonst. Nicht dieses routinemäßige Gute Nacht, schlaf gut mein Junge, sondern ein ängstliches, nachdenkliches Schweigen. Als ob sie ganz genau gewusst hatte, dass ab jetzt alles anders werden und nichts mehr so wie früher sein würde. Seinen feuchten Gute-Nacht-Kuss und die liebevolle Umarmung hatte er natürlich trotzdem noch bekommen. Aber beides, so hatte er ganz deutlich gespürt, war heute sehr viel intensiver ausgefallen als sonst. Sie war sehr ernst, als sie sich schließlich noch auf die Bettkante setzte.

„Du bist jetzt ein Mann, Krysztof. Und schon sehr bald wirst du erfahren und verstehen, was das bedeutet. Aber egal, was passiert, mein Junge, vergiss niemals, woher du kommst, wo deine Wurzeln liegen und wie sehr du dort geliebt wirst. Erinnere dich daran, wenn du mal einsam und verzweifelt bist. Du wirst sehen, es macht dich stark.“

Dann hatte sie ihm zärtlich die widerspenstige Haarlocke aus dem Gesicht gestrichen, seine Hände in ihre genommen und festgehalten. Und dabei die Lippen bewegt, als ob sie beten würde. Als sie schließlich das Licht ausgemacht hatte und er allein, tief in seine Kissen eingegraben, in seinem Bett lag, hatte sich dieser ganz besondere Duft, den jede Mutter ausstrahlt und den kein Kind je vergessen wird, wie ein Schutzschild über ihm ausgebreitet. Krysztof hatte noch lange darüber gegrübelt, was die Worte seiner Mutter bedeuten könnten, war aber zu keinem Ergebnis gekommen, weil sich ja eigentlich überhaupt nichts geändert hatte. Gut, sein Vater hatte ihm das erste Mal etwas von sich und Großvater erzählt. Aber so richtig gefährlich hatte das nicht geklungen. Da waren die flackernden Schatten, das Knacken der alten Balken und der heulende Wind im Heuschober hinter dem Haus viel unheimlicher. Es hatte lange gedauert, bis er endlich eingeschlafen war. Obwohl der Schlaf eher ein unruhiger, aufwühlender und quälender Dämmerzustand gewesen war, in dem er die Erlebnisse seines Vaters noch einmal durchlebt hatte. Entsprechend hatte er sich am nächsten Morgen gefühlt. Fröstelnd. Erschöpft. Lustlos. Erst die Erinnerung daran, dass sein Vater am Nachmittag weitererzählen würde, hatte die Lebensgeister geweckt und seinen Energietank gefüllt. So war es ihm in der Schule auch ziemlich egal gewesen, dass einige seiner Mitschüler ihn wieder ärgerten. Er wusste Dinge, von denen diese Blödmänner nicht mal was ahnten und fühlte sich stark. Viel stärker als sonst.

Kaum hatte die Schulglocke geläutet, war er aufgesprungen, förmlich nach Hause geflogen und ungeduldig auf seinen Vater gewartet. Zeit konnte endlos sein, besonders für einen 17jährigen, der auf etwas wartete. Aber schließlich hatte sein Vater doch endlich in der Tür gestanden, ihm einen liebevollen Klaps verpasst und seine Mutter ungewohnt innig umarmt. Er hatte seltsam gehetzt ausgesehen, und die Worte, die er ihr zuflüsterte, hatten für ihn einfach keinen Sinn ergeben, zumal sie ganz sicher nicht für seine Ohren bestimmt gewesen waren. Aber er hatte nun mal ein sehr feines Gehör. „Ich hab’ es jetzt mitgebracht und im Schuppen versteckt. Du weißt schon wo.“

Es war ein heißer Tag gewesen. Ein Samstag. Einer dieser Tage, die einem selbst in der kühleren Abenddämmerung noch einen Schweißfilm auf die Stirn trieben, die aber diese Art von Geborgenheit, Wohligkeit und Ruhe verbreiteten, dass man glauben konnte, sogar das leise Quietschen der sich drehenden Weltkugel vernehmen zu können. Vater hatte seine Abendzigarette zerrupft und angezündet, sein Tyskie vor sich hingestellt und den Faden vom Vortag aufgenommen. Nur gestört durch das regelmäßige Klappern der Stricknadeln seiner Mutter, die heute auch dabeisaß.

„Wo waren wir gestern Abend stehengeblieben. Ach ja, bei den Arbeitern.“

Vater pustete gekonnt einen Rauchring in die Luft und sah ihm nach, bis er sich im Nichts auflöste. „An mindestens fünfzehn Stellen wurde gearbeitet. Und immer häufiger rollten Transporte mit Menschen und Baumaschinen in die Wälder und Berge. Die Sträflinge verlegten immer mehr Gleise für die Schmalspurbahn, sie bauten noch mehr Straßen rund um die Baustellen und versenkten noch mehr Wasser-, Strom- und Telefonleitungen in der Erde. Inzwischen konnten ganze Züge und Lastwagenkolonnen in den Berg hineinfahren und verschwinden. Einfach so. Weg. Spurlos. Als sie dann nachts wieder hinausfuhren, bekam es außer streunenden Katzen kaum jemand mit, weil das Dorf tief schlief. Mittlerweile war es auch kein Geheimnis mehr, dass es stimmte, was man schon lange munkelte. Es entstand ein weiteres Hauptquartier für den Führer und seinen Stab sowie Produktionsstätten für die schon oft angekündigten Wunderwaffen. Aus allen Himmelsrichtungen wurden Gänge in den Berg getrieben und das Eulengebirge ähnelte bereits einem Schweizer Käse. Ein Labyrinth aus Gängen, Hallen und Transportschächten über mehrere Stockwerke. Die von der Bauleitung vorgegebenen Termine drängten, sodass zusätzlich viele heimische Betriebe beschäftigt und damit immer mehr Informationen bekannt wurden. Aber trotz detailliert ausgearbeiteter Baupläne lief ihnen die Zeit davon. Die Führung hatte die Schwierigkeiten unterschätzt, den Zeitplan für ein derart riesiges Bauvorhaben einzuhalten. Sie wechselten die Bauleitung aus, sie holten noch mehr Arbeitskräfte, erhöhten die tägliche Arbeitszeit und ließen die Maschinen rund um die Uhr laufen - alles umsonst. Im Frühjahr 1945 wurde den Verantwortlichen bewusst, dass sie es nicht schaffen würden, die vom „Führer“ vorgegebenen Zeitpläne einzuhalten und stellten kurzerhand die Bauarbeiten ein. Aber irgendjemand, ganz oben in der Hierarchie Nazideutschlands, wusste um die Bedeutung des Riese-Projektes und erteilte den Befehl, die Arbeiten umgehend wieder aufzunehmen. Und so wurden weitere Transporte mit ausgezehrten Häftlingen in den Berg geschickt. Jetzt ging es allerdings nicht mehr um die Fertigstellung, es ging um Tarnung. Und um Zerstörung. Die nahenden russischen Truppen sollten auf keinen Fall erkennen können, was hier geplant und gebaut worden war und dass dieses Bauvorhaben eine wichtige strategische Bedeutung gehabt hatte. Aber selbst diese Vorhaben konnten nicht mehr abgeschlossen werden. Kurz vor Kriegsende, am 6. Mai 1945, traf erneut der Befehl ein, die Arbeiten unverzüglich abzubrechen. Sie brauchten gerade mal einen Tag, um mit allen Maschinen, Akten und Häftlingen abzurücken. Und was nicht mehr auf die Züge passte, wurde versteckt, vernichtet oder einfach zurückgelassen.

Zwei Tage später rückten die russischen Soldaten in Walim und den anderen Ortschaften des Eulengebirges ein. Und natürlich stießen sie sehr schnell auf die in den Berg geschlagenen Stollen. Zumindest auf die, die in der Eile des überhasteten Aufbruchs von den Deutschen nicht mehr getarnt oder zerstört werden konnten. Und natürlich rätselten sie, was das riesige, unterirdische Labyrinth, die überirdischen Betonbaracken, die kilometerlangen Gleisanlagen und die merkwürdigen Baukonstruktionen in den Wäldern bedeuten könnten. Aber alles, zumindest das, was sie vorfanden, schien leergeräumt und verlassen und ließ keinerlei Rückschlüsse auf dessen Bedeutung zu. So verloren die russischen Armeen schnell das Interesse an den seltsamen Gebilden. Auch, weil sie es eilig hatten. Es gab wichtigere Aufgaben, als über irgendwelche Grabungen der Deutschen hier in der absoluten Einöde nachzudenken. Sie wollten weiter nach Westen, wo die Felder grüner, die Frauen schöner, der Spaß größer und die Städte einladender waren. Und so trat innerhalb weniger Stunden wieder Ruhe ein. Der ganze Spuk endete genauso unerwartet und geheimnisvoll, wie er begonnen hatte.“

Krysztof hätte tausend Fragen gehabt, aber keine einzige war ihm über die Lippen gekommen. Sein Mund war wie zugeschweißt, sein Gesicht vor lauter Aufregung krebsrot und seine Knie zitterten. Sein Vater hatte so eindrucksvoll erzählt, dass er das Gefühl gehabt hatte, dabei gewesen zu sein, alles selbst miterlebt zu haben. Seine Fantasie hatte alle bisherigen Grenzen gesprengt und er fühlte sich in diesem Moment als furchtloser Rächer des Eulengebirges. Hoch zu Ross mit einem Riesenschwert und grausam entschlossen. Krysztof war zusammengezuckt, weil das Plopp des Verschlusses der neuen Bierflasche, die sein Vater öffnete, in der Stille des späten Abends wie ein Pistolenschuss geklungen hatte. Als sein Vater ihn dann auch direkt ansprach, erwachte er aus der Starre und krabbelte mühselig in die Realität zurück.

„Krysztof, ist alles in Ordnung?“

Mehr als nicken konnte er nicht. Er hatte sich mehrfach geräuspert, bekam aber trotzdem nicht mehr als ein krächzendes „Ja klar“ heraus. Seine Mutter hatte kein Wort gesagt, sondern die ganze Zeit nur schweigend zugehört, mit den Stricknadeln geklappert und, als einzige Reaktion, ab und zu sinnend mit dem Kopf genickt. Ihr Blick aber war die ganze Zeit ängstlich und alles andere als entspannt gewesen. Regelmäßige, tiefe Seufzer hatten die Anspannung unterstrichen, unter der sie ganz offensichtlich stand. Plötzlich war sie aufgestanden und im Haus verschwunden.

„Soll ich aufhören? Bist du müde? Wollen wir morgen weitermachen?“

Die Besorgnis in der Stimme seines Vaters hatte für Krysztof wie eine Drohung geklungen. Er hatte heftig mit dem Kopf geschüttelt. Aufhören? Jetzt? Auf gar keinen Fall. Er wollte die ganze Geschichte hören. Sein Vater verstand, und als er weitererzählte, lächelte er still in sich hinein. Er wusste, dass es richtig war, seinen Sohn in die RIESE-Geschichte einzuweihen.

„Als Großvater mir das erste Mal von dieser unterirdischen Welt erzählte, war ich genauso sprachlos und unersättlich wie du jetzt. Ich wollte alles wissen, und jede Kleinigkeit erschien mir wie ein Ausflug in eine andere Welt. Ein paar Tage später hat er mich dann das erste Mal mitgenommen. Ich weiß noch genau, wie es vor Aufregung überall kribbelte. Ich hatte Angst, war aber auch seltsam berührt von dem Anblick der riesigen, feuchten und unheimlichen unterirdischen Hallen, von den scheinbar endlosen Gängen und den Unmengen versteinerter Zementsäcke, die dort überall herumstanden.“

Sein Vater holte ihn in die Realität zurück. „Bis heute konnte übrigens nicht eindeutig geklärt werden, wo diese Mengen an Beton verbaut wurden. Man hat inzwischen zwar Vieles entdeckt, aber anderes ist nach wie vor verborgen geblieben. Und das kennst du doch auch aus der Schule: wenn niemand etwas Genaues weiß, gibt es sofort Menschen, die sich wichtigmachen wollen. Dann wird übertrieben, angegeben und gelogen. Und es entstehen immer neue Märchen und Vermutungen. Zum Beispiel über die wirkliche Größe von Riese. Bekannt ist immerhin, dass es ein Schreiben von Albert Speer, das war damals der Rüstungsminister, an Hitler gibt, das vermuten lässt, dass der Bau viel größer war, als heute bekannt ist. Und das würde bedeuten, dass es tatsächlich noch unbekannte Stollen und Räume im Berg gibt. Es kommen auch heute noch viele Abenteurer, die den Bergen ihr Geheimnis entreißen wollen. Bisher sind sie alle gescheitert. Das Problem ist, dass die Originalpläne, die Aufschluss geben könnten, als verschollen gelten oder vielleicht auch vernichtet worden sind. Vielleicht sind sie aber auch noch irgendwo da unten versteckt. Wer weiß das schon? Die meisten Spuren sind verwischt worden und die wenigen Zeugen, die es gab, schweigen, sind tot oder weggezogen.“

Er zog an seiner Zigarette.

„Andere wissen angeblich etwas von einem geheimen Forschungszentrum in der Nähe von Waldenburg. Hier sollen Versuche mit einem neuen Jagdflugzeug gemacht und mit der Produktion der V-1 sowie V-2 begonnen worden sein. Und dann immer wieder das Gerücht, dass hier ein neues Führerhauptquartier gebaut werden sollte. Einige Forscher gehen davon aus, dass die Behauptung absichtlich verbreitet wurde, um vom eigentlichen Zweck des Baues abzulenken. Sehr populär sind die Erzählungen über versteckte Schätze, vor allem die bis heute nicht gefundenen Bank- und Museumsdepots. Das Breslauer Gold zum Beispiel, das Bernsteinzimmer oder Güter und Kunstwerke schlesischer Adelsfamilien, die von Nazis in den besetzten Ländern Europas geraubt wurden. Besonders spannend ist aber die Meldung über einen geheimnisvollen Panzerzug, der in den letzten Kriegswochen auf der Bahnstrecke zwischen Freiburg und Waldenburg verschwunden sein soll. Dazu passt auch das Rätsel um einen Lastwagenkonvoi, der sich unter massiver Bewachung der SS irgendwo im Gebirge in der Nähe von Wüstewaltersdorf einfach so in Luft aufgelöst hat. Eng verbunden damit sind Erzählungen über ungeklärte Mordfälle und das systematische Verschwinden von Personen, die von dem Projekt Riese wussten und die sich den neuen Behörden stellen wollten. Und dann natürlich die rätselhaften nächtlichen Detonationen im Gebirge. Die angeblich der Verwischung von Spuren der unterirdischen Gewölbe im Eulengebirge gedient haben.“

Sein Vater hatte ihn erneut mit diesem prüfenden Blick angesehen, als ob er testen wollte, wie Krysztof diese vielen Informationen verarbeitete. Und ob sein Sohn stark genug wäre, auch das letzte Geheimnis zu erfahren.

„Die Masse der Unklarheiten, Gerüchte und Widersprüche zum Thema Riese hat wahrscheinlich ein deutscher Ingenieur namens Günther Beier gestreut. Diesen Namen, mein Junge, musst du dir unbedingt merken. Günther Beier. Dieser Beier war maßgeblich an den Bauarbeiten beteiligt und verantwortete auch die überhastete Zerstörung und den Rückzug. Er war ein Meister der Täuschung. Nach dem Krieg malte er ein ganz anderes Bild des Dritten Reiches, und das Fatale daran war, dass man ihm glaubte. Und so konnte er ohne Probleme das ehemalige Baugebiet betreten und hatte so Zugang zu allen Informationen darüber, was die Polen damit vorhatten. Er traf sich mit Journalisten, um sie durch die Stollen zu führen und die Historie zu erklären. Es gibt sogar das Gerücht, dass der Ingenieur die Pläne für die Untergrundstadt an die polnische Regierung verkaufen wollte. Für eine Million Dollar. Das muss man sich nur mal vorstellen. Allerdings ist daraus, wie man heute weiß, nie etwas geworden. Warum? Das kann keiner genau sagen. Vielleicht hatte er die Pläne überhaupt nicht, sondern hat lediglich gepokert.“

Inzwischen war es wieder weit nach Mitternacht geworden. Sein Vater hatte sich gestreckt und laut gegähnt, und seine Mutter war eingeschlafen. Aber selbst im Schlaf konnte man in ihrem Gesicht immer noch so etwas wie Angst entdecken. Sie hatte unüberhörbar mit den Zähnen geknirscht. Als ob sie sich gegen etwas wehren würde. Krysztof hatte sich hellwach gefühlt und wäre am liebsten sofort losgezogen, um diese geheimnisvolle Unterwelt zu erforschen. Und den verborgenen Schatz zu finden.

„Vielleicht fragst du dich, mein Junge, warum ich dir das gerade jetzt alles erzähle?“

Krysztof hatte seinen Vater mit fiebrigen Augen angesehen, unfähig, ein einziges Wort rauszubekommen. Er stammelte irgendetwas, wusste aber selbst nicht genau, was er genau sagen wollte.

„Ich denke, es ist Zeit, ins Bett zu gehen. Morgen ist zwar Sonntag und wir können etwas länger schlafen. Aber trotzdem ist es spät. Viel zu spät.“ Er zögerte. „Vielleicht doch noch eins.“ Sein Vater hatte kurz nachgedacht und dann die nächsten Worte sehr sorgfältig gewählt.

„Nachdem dein Großvater mich das erste Mal mit in die Stollen genommen hat, ließ mich die Geschichte nie wieder los. Seitdem ist eine Menge Zeit vergangen. Und viel passiert. Und das, was genau passiert ist, musst du unbedingt erfahren. Es könnte für dein ganzes weiteres Leben sehr wichtig sein. Und für das deiner Mutter. Und wahrscheinlich auch für meins.“

Den letzten Satz hatte er nur noch geflüstert. So als hätte er plötzlich Angst, dass jemand lauschen könnte.

„Dein Großvater und ich waren in den Jahren nach dem Krieg oft in den Stollen. Ganze Tage lang. Manchmal haben wir sogar dort unten übernachtet, weil die Entfernungen einfach zu groß waren. Es war gefährlich. Viele Gänge waren nicht mehr passierbar und öfter, als uns lieb war, mussten wir umkehren, weil es nicht weiterging. Natürlich entdeckten wir auch Stollen und Gänge, die bisher nicht offiziell bekannt und noch nicht in den Karten verzeichnet waren, die die polnischen Behörden führen. Die meisten dieser Gänge waren überhastet verlassen worden, feucht, baufällig und uninteressant. Das Einzige, was wir meist fanden, waren diese Unmengen eingetrockneter Zementsäcke. Und so war der Traum, etwas Spektakuläres, Aufregendes, ja Weltbewegendes zu entdecken, von Tag zu Tag mehr verblasst. Im Grunde gingen wir damals nur noch in die Stollen, weil viele Nachbarn es ebenfalls taten und keiner dem anderen gönnte, vielleicht doch noch den großen Fund zu machen. Eines Tages, wir hatten mal wieder einen ganzen Tag ergebnislos gesucht und waren schon wieder auf dem Weg nach oben, stießen wir auf eine Wand, die wir zwar schon viele Male passiert, bisher aber nie beachtet hatten. Sie entsprach einfach nicht der Vorstellung, die wir von dem hatten, was wir suchten. Obwohl, wenn ich jetzt so darüber nachdenke, wussten wir gar nicht so genau, nach was wir eigentlich genau suchten. Jedenfalls übersah dein Großvater genau in diesem Moment einen Stein, geriet dadurch ins Straucheln und versuchte verzweifelt, das Gleichgewicht zu halten. Dabei stützte er sich an der Mauer ab und prallte mit seiner Werkzeugtasche dagegen. Es klang hohl! Ich weiß noch genau, wie dein Großvater mich anschaute und wie aus dem gerade erloschenen allerletzten Hoffnungsfunken neue Flammen schlugen. Aufgeregt begannen wir, die Wand abzuklopfen. Und plötzlich gab sie nach und gab einen tellergroßen Durchbruch frei. Nachdem wir mit bloßen Händen das Geröll zur Seite geschoben hatten, konnten wir durch die kleine Öffnung in eine Höhle sehen, in der, das konnten wir im Schein unserer schon ziemlich schwachen Taschenlampen erkennen, etwas Großes, Unförmiges stand. Es war gespenstisch. Im ersten Moment dachten wir, dass dort wieder nur Geröllhalden zusammengeschoben worden waren. Wir erweiterten mit dem Hammer deines Großvaters die Öffnung und versuchten, mehr zu erkennen. Und dann sahen wir es. Und wir trauten unseren Augen nicht bei dem, was wir sahen. Du musst dir einfach mal diese Situation vorstellen, Krysztof! Wir hatten schon aufgegeben und waren inzwischen der festen Überzeugung, dass alles nur ein Gerücht war und dass wir einem Phantom hinterherjagten. Und dann tauchten in dem Schummerlicht plötzlich ein völlig verstaubter, gepanzerter Eisenbahnzug und vier, fünf Lastwagen auf. Und Leichen. Viele Leichen. SS-Soldaten. Die Zeichen am Kragen waren noch deutlich zu erkennen. Der Eingang in den Berg war scheinbar genau in dem Moment gesprengt worden, als die Fahrzeuge hineingefahren waren. Es hatte kein Entrinnen gegeben. Kleinere Steinhaufen zeugten davon, dass die Soldaten verzweifelt versucht haben müssen, sich nach draußen zu arbeiten. Aber die Halde war zu groß. Vermutlich hätte selbst ein Bagger mehrere Tage gebraucht, um durch die Geröllmassen zu kommen. Sie waren eingeschlossen und hatten keine Ahnung davon gehabt, dass es hinter der dünnen Seitenwand, in die wir das Loch geschlagen hatten, den rettenden Ausweg gab.“

Sein Vater machte jetzt immer häufiger Pausen, als ob es ihn immer mehr Kraft kosten würde, die Erinnerungen wachzurütteln. Er seufzte tief und man konnte ihm deutlich anmerken, wie schwer die Erlebnisse von damals auf ihm lasteten.

„In den folgenden Wochen sind wir nahezu jeden Tag in die Höhlen geklettert. Wir waren regelrecht im Wahn und konnten an nichts anderes mehr denken. Dein Großvater hatte sich in der Fabrik krankgemeldet und ich schwänzte die Schule. Wir schliefen kaum noch. Sobald der Morgen graute, schlichen wir uns aus dem Haus und kamen erst bei tiefster Dunkelheit völlig erschöpft zurück. Zuerst kümmerten wir uns um die Toten. Jeder von ihnen hatte eine Kette mit einem ovalen Blechschild um den Hals gehabt, in der, getrennt durch eine Perforierung, zwei Mal der Name und eine Nummer eingraviert waren. Wir brachen die Schilder in der Mitte durch, dann begruben wir das, was von den Toten übergeblieben war, mit Steinen. Die halben Blechschilder hat dein Großvater nachts anonym in den Briefkasten des Bürgermeisteramtes geworfen. Vielleicht, so hofften wir, würde damit so manches vergebliche Warten auf Rückkehr beendet werden. Danach begannen wir, den Zug und die Lastwagen zu durchsuchen. Anfangs stießen wir auf Waffen, Kunstgegenstände, Gemälde, Edelsteine, Kisten voller amerikanischer Dollars und Gold. Barrenweise. Eine ganze Wagenladung. Alles ohne Herkunftszeichen und bis unter die Wagendecke gestapelt. Es mussten hunderte von Millionen sein, die sich vor uns ausbreiteten. Mit fiebrigen Augen arbeiteten wir weiter, jeder einzelne Wagen wurde Zentimeter um Zentimeter untersucht, und wir hatten immer häufiger das Gefühl, kurz vorm Kollaps zu stehen. Und als wir dachten, alles gesehen zu haben, stießen wir im letzten Waggon, einem luxuriösen Salonwagen, auf eine verschlossene Kassette. Mein Vater und ich haben uns schweigend angesehen und wussten in diesem Moment, dass wir das gefunden hatten, wonach in dieser Zeit viele Menschen her waren: den verschollenen Nazi-Schatz. Wir schleppten die Kassette mit nach oben und brachen sie zu Hause auf. Immer in der Angst, dass eine Sprengkapsel alles zerstören würde, wenn wir dabei einen Fehler machen würden. Die Kassette war tatsächlich durch Sprengstoff gesichert, aber wir hatten Glück. Es passierte nichts. Vielleicht war der Sprengsatz nicht mehr funktionsfähig. Die Kassette enthielt nicht nur die verschollenen, von Hitler persönlich unterschriebenen Baupläne des Projektes RIESE, die aufdeckten, welche Funktion diese unterirdische Stadt wirklich hatte, sondern auch Listen mit Kontonummern und Notizbücher mit Namen, die allerdings, wie es aussah, verschlüsselt waren. Die aber für die Namensträger nach einer Entschlüsselung ein hohes Risiko darstellten. Und die ganz sicher viele Menschen gern in die Hand bekommen hätten. Sei es, um sie ein für alle Mal verschwinden zu lassen, sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, um mögliches Erpressungspotential zu aktivieren. Oder um Rache zu nehmen.“

Krysztofs Vater war jetzt kaum wiederzuerkennen. Er war grau und schien regelrecht in sich zusammengefallen zu sein. Seine Stimme war immer leiser geworden und Schweiß lief ihm in Strömen über die Stirn.

„Seitdem, mein Sohn, seitdem haben wir Angst. Nachdem dein Großvater 1979 starb, war ich nicht mehr unten im Schacht. Wir haben damals wochenlang Bündel von Dollarscheinen und Goldbarren nach oben geschafft, danach die Wand von innen abgestützt, sorgfältig wieder verschlossen und aufwändig getarnt. Ich glaube deshalb auch nicht, dass jemand anders den Durchbruch entdeckt hat. Das hätte sich auch rasend schnell rumgesprochen, zumal die Leute immer in der völlig falschen Gegend gesucht haben. Wenn wir es schaffen, gehen wir in der nächsten Woche zusammen in den Berg und dann zeige ich dir, was wir entdeckt haben. Aber, mein Junge, das ist ein ganz großes Geheimnis. Außer mir und deiner Mutter, und jetzt auch dir, weiß niemand davon.“ Sein Vater machte eine längere Pause und atmete tief durch. „Zumindest haben wir das bisher geglaubt. Aber seit Kurzem passieren Dinge, die vermuten lassen, dass wir möglicherweise doch nicht mehr die Einzigen sind, die davon wissen. Aber wir haben keine Ahnung, wer das sein könnte. Auf jeden Fall haben wir seitdem keine ruhige Minute mehr. Wir haben Angst und fürchten um unser Leben.“

Sein Vater sah jetzt aus wie ein gehetztes Reh. Schweißfeuchte Haarsträhnen hingen ihm im Gesicht und sein Blick war fiebrig, beinahe wahnsinnig. Er zog einen Umschlag aus der Tasche und wedelte damit vor Krysztofs Nase herum.

„Ich habe hier einen Brief für dich, mein Junge. Den legen wir unter das lockere Dielenbrett in der Küche. Du weißt schon, ganz hinten unter dem Küchenschrank. Da wirst du auch die anderen Papiere finden. Sollte mir oder Mutter irgendetwas passieren, wird das deine Lebensversicherung sein. Dann musst du schnell handeln. Sehr schnell! Und du wirst dann ganz auf dich allein angewiesen sein. Wir können dir dann nicht mehr helfen. Vertraue niemandem, Krysztof, niemandem! Aber ich weiß, du wirst es schaffen. Du bist alt genug, das Richtige zu tun.“ Sein Vater hatte ihn wieder umarmt und mit Tränen in den Augen angesehen. „Schließlich bist du unser Sohn. Und du wirst auf dich aufpassen und das tun, was in dem Brief steht. Versprichst du mir das?“

Krysztof hatte beklommen genickt und überhaupt nicht verstanden, um was es genau ging. Nur eines war ihm in diesem Moment klar gewesen: Mutter hatte recht gehabt. Es war scheinbar wirklich nichts mehr so, wie es mal gewesen war. Sein Vater hatte ihn immer noch festgehalten, und Krysztof hatte sich an ihn geklammert und dieses behütete Gefühl genossen.

„Alle Schritte, die du tun musst, stehen in dem Brief und auf einem Zettel, der ebenfalls in dem Umschlag steckt. Dieser Zettel ist besonders wichtig. Du hast bestimmt mitbekommen, dass ich den letzten Wochen sehr oft in Prag war. Neben Bankgeschäften, die ich zu erledigen hatte, ging es vor allem darum, der nationalsozialistischen Wahnsinnsidee Einhalt zu gebieten, weil sie inzwischen wieder ungesund erstarkt ist. Dafür haben wir ein internationales Netzwerk gegründet. In der Tschechoslowakei, in Bratislava, in Österreich, in den Vereinigten Staaten, in Argentinien, in Brasilien, neuerdings auch in Panama und in vielen weiteren Ländern der Welt. Ich leite das europäische Netzwerk, die USA werden von New York aus geführt, und Rio ist das Hauptquartier für Südamerika. Uns alle vereint eine einzige Frage: Wie schaffen wir es, die nationalsozialistischen Spinner von der Macht fernzuhalten? Und diese Sorge wird zum Glück von immer mehr Menschen geteilt. Das Netzwerk besteht aus Menschen, die nach dem alten Schlachtruf der französischen Revolution Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit leben und dafür kämpfen, dass nie wieder ein einzelner Mensch so viel Macht bekommen kann, ganze Kontinente ins Unglück zu stürzen. Und die bereit sind, dafür zu kämpfen und im äußersten Fall sogar ihr Leben zu opfern. Aber auch, sich gegenseitig zu helfen. Die Namen der regionalen Leiter unseres Netzwerkes stehen ebenfalls auf dieser Liste. Daran kannst du erkennen, wie wertvoll sie ist. Aber auch, wie gefährlich es ist, wenn sie in falsche Hände gerät.“

Er hielt die Liste hoch wie ein wertvolles Bild. Dann schwieg er wieder, und Sekunden wurden zu Minuten. Schließlich fiel seinem Vater dann doch noch etwas Wichtiges ein.

“Nochmal, mein Junge. Sei auf der Hut und traue keinem. Auch, wenn du noch so einsam bist und dich nach menschlicher Nähe sehnst. Sie werden hinter dir her sein, weil du etwas besitzen wirst, das sie unbedingt haben wollen. Weil es ihr Überleben sichert. Sie glauben an ein Viertes Reich und ihr Recht, dessen Führung beanspruchen zu können. Die Gefahr ist, dass wir keine Ahnung haben, wer sie überhaupt sind und wie sie herausbekommen konnten, dass wir die Papiere haben.“ Erst jetzt merkte Krysztof, dass sein Vater noch andere Papiere vor sich liegen hatte. Wie ein Marktschreier hielt er jedes Teil einmal in die Luft. „Die verschollenen Baupläne von RIESE. Wahrscheinlich ein Heiliger Gral für sie, weil sie Hitlers persönliche Unterschrift tragen.“ Er legte den zusammengefalteten Stapel Papiere auf den Brief und die Liste mit den Namen des Netzwerkes. Jetzt hielt er ein kleines Buch in die Luft. „Das Buch mit den Namen, Kontaktdaten und Erben der führenden SS-Leute, die speziell in Mittel- und Südamerika untergetaucht sind, und …“ Er zeigte auf eine weitere Liste, „… – mindestens genauso brisant – eine Liste mit Kontonummern, den dazugehörigen Banken, Kennwörtern und Beständen. Alle Konten sind Nummernkonten, die in Dollars geführt werden. Also kann jeder, der über das Kennwort verfügt, auch über das Bankkonto verfügen. Wie wir, zum Beispiel.“ Jetzt sah sein Vater aus wie ein Gladiator, der seinen Gegner besiegt hat und seinen Fuß auf den Verlierer stellt. Der triumphale Gesichtsausdruck verschwand allerdings schnell wieder. „Es gibt allerdings einen Wermutstropfen. Die Namen in dem Buch sind alle verschlüsselt, und die Kunst von Verschlüsselungen beherrschten die Deutschen schon immer perfekt. Also musst du entweder denjenigen auftreiben, der den Code hat oder du musst jemanden finden, der den Code knacken kann. Beides dürfte nicht ganz einfach sein, aber du wirst es schaffen. Ganz sicher.“

Sein Vater lehnte sich erschöpft zurück. „Daran, dass das alles außer Landes geschafft werden sollte, kannst du erkennen, dass keiner von den Häuptlingen mehr an den Endsieg geglaubt hat und die Durchhalteparolen nur noch Worthülsen waren. Wichtiger war den Herren, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen. Wie gesagt, mein Junge. Obwohl die Namen verschlüsselt sind und den Code nur diejenigen kennen, die die Liste geführt und codiert haben, haben sie eine riesige Angst davor, dass sie in falsche Hände geraten könnte. Solange nur wir wissen, wo sie ist, ist das wie eine Lebensversicherung. Natürlich leben viele dieser Verbrecher nicht mehr. Was aber ganz bestimmt noch lebt, sind die Idee und die Erben, die dieses unsägliche Ideal weitertragen.

Darum, mein lieber Sohn, sei wachsam. Ganz besonders dann, wenn der Name Erich Eberhard Freiherr von Heilsberg fällt. Merk dir diesen Namen: Dieser Mann ist gefährlich, rücksichtslos und von seiner Weltanschauung besessen. Er wird irgendwo in Süd- oder Mittelamerika sein und führt von dort das größte internationale Neo-Nazi-Netzwerk. Es heißt R.I.E.S.E. Du hörst richtig. RIESE. Wie das Projekt in unserem Eulengebirge. Aber RIESE steht nicht mehr für das unterirdische Bauvorhaben in den letzten Tagen des Dritten Reiches. Es steht für Rat der Internationalen Erneuerung der national-sozialistischen Elite. Das Netzwerk, das dich jagen wird, weil sie glauben, dass du irgendwann die Unterlagen haben wirst, die sie unbedingt in ihren Besitz bringen wollen. Aber sei unbesorgt. In diesem Fall ist für deine Sicherheit gesorgt. Du musst nur den Ratschlag befolgen, den wir dir in diesem Brief… “ Sein Vater zog ihn unter den vielen Papieren, die auf dem Tisch lagen, hervor, „…gegeben haben. Dann wird alles gut. Gott segne und beschütze dich, mein Sohn. Jetzt und in alle Ewigkeit.“

Zwei.Prag/Tschechoslowakei – September 1989.

Lieber Krysztof, mein lieber Sohn,

wenn du diesen Brief liest, hat sich Vieles verändert, vermutlich sogar alles. Du bist nicht mehr in Walim und nun ganz allein auf dich gestellt. Mutter und ich können dich nicht mehr beschützen, weil es uns vermutlich nicht mehr gibt. Aber vielleicht brauchst du unseren Schutz jetzt auch gar nicht mehr.

Ich habe ihn oft verflucht, diesen Tag, an dem wir den Goldzug gefunden haben und dein Großvater, deine Mutter und ich haben lange überlegt, wie wir mit unserer Entdeckung umgehen. Anfangs war uns gar nicht bewusst, welche Gefahr von diesem Fund ausgeht, weil wir fest überzeugt waren, dass die alten Seilschaften des Dritten Reiches längst Vergangenheit seien. Tot, geflohen, untergetaucht oder unentdeckt in neuen Funktionen. Aber da haben wir uns wohl geirrt. Es gibt sie immer noch, diese Seilschaften, und sie sind gefährlich wie eh und je. Nicht unbedingt die alten Köpfe, die sind vermutlich wirklich tot. Es sind deren Kinder und Kindeskinder sowie die unzähligen Mitläufer, die von der wirren Idee eines Vierten Reiches besessen sind, erneut die Macht ergreifen wollen, um die braune Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Darum ist die Namensliste, die du im Schuppen gefunden hast, so hochgefährlich für dieses Netzwerk. Für die, die sie zurückhaben wollen, weil sie natürlich nicht wollen, dass sie in falsche Hände gerät, und für dich, der du sie nun besitzt. Man muss sich nur vorstellen, warum es diese Liste überhaupt gibt und warum sie in dem Zug versteckt war. Sie sollte führenden Nazi-Größen den Neuanfang – wo auch immer – erleichtern und den Kontakt zu den Kameraden aufrechterhalten. Diese Liste enthält, so glauben wir zumindest, ohne es allerdings genau zu wissen, detaillierte Informationen zu den alten Hierarchien sowie alle Informationen zu allen nationalen und internationalen Kontakten. Wenn man dieseweiterverfolgen würde, könnte man relativ leicht auf die aktuellen Netzwerke schließen und damit das gesamte System aufdecken oder zumindest in Gefahr bringen. Vorausgesetzt, es gelingt, den Code zu knacken, mit dem die ganzen Daten verschlüsselt sind. Darüber hatten wir ja gesprochen. Genauso wie über die RIESE-Baupläne. Diese Pläne sind, so könnte man es sehen, der Heilige Gral für diese Bewegung, weil sie von Hitler persönlich unterzeichnet sind. Wer die Pläne hat, besitzt das gesamte Wissen des Bauvorhabens Riese und damit den Geist und Philosophie der damaligen Machthaber. Also sozusagen Krone und das Zepter. Darum haben auch die Pläne für sie einen unschätzbaren Wert. Ich glaube aber nicht, dass sie wissen, dass wir diesen Plan auch gefunden haben.

Natürlich könnten wir die Papiere einfach verbrennen und sie damit für alle nutzlos machen. Das Problem ist nur, das SIE ganz sicher davon ausgehen, dass wir sie gelesen und vielleicht sogar den Code geknackt haben. Und somit alle Details kennen.

Fragt sich, wer SIE eigentlich sind, wo sich diese neue Seilschaft eingenistet hat und wer der neue „Führer“ ist. Und wie SIE eigentlich rausbekommen haben, dass wir den Goldzug entdeckt haben. Wir vermuten, dass dein Opa sich abends im Gasthof mal verplappert und dass irgendjemand dieses Wissen, an wen auch immer, weitergegeben hat. Vielleicht hat uns auch jemand beobachtet, als dein Opa und ich die Namensschilder der toten Soldaten in den Briefkasten des Bürgermeisters geworfen haben. Auf jeden Fall scheint der braune Krake ihre Tentakel weit ausgebreitet zu haben. Lange war es still um unseren Fund, und auch, als ich dir neulich alles erzählt habe, gab es keinen konkreten Anlass zur Sorge.

Aber wir ahnten von Anfang an, dass sie kommen würden, um sich das zu holen, was ihnen ihrer Meinung nach zusteht. Und tatsächlich, seit ein paar Monaten machen SIE uns das Leben schwer. Du hast es wahrscheinlich gar nicht mitbekommen. Mal haben sie Mutter und mir aufgelauert, mal sind sie nachts eingebrochen, mal haben sie im Schuppenhinter dem Haus Feuer gelegt oder sogar ein totes blutendes Huhn an die Eingangstür genagelt. Wir vermuten, dass eine neue Generation am Ruder ist. Eine Generation, die über sehr viel Macht verfügt und international agiert, um ihre Interessen durchzusetzen. Wahrscheinlich sind das alles Janusköpfe. Menschen, die tagsüber ein ganz normales Leben führen und einem seriösen Beruf nachgehen, nachts dann aber im Kreis ihrer Gesinnungsgenossen ihr wahres Gesicht zeigen. Geld ist, wie gesagt, mehr als genug da. Geh davon aus, dass die Führungsköpfe, die sich der deutschen Justiz entzogen haben, ihre Flucht nach Südamerika lange vorher geplant und rechtzeitig entsprechende Werte nach Übersee geschafft haben.