Schattenwald - Katrin Faludi - E-Book

Schattenwald E-Book

Katrin Faludi

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Beschreibung

Sara und ihre Mutter Eva führen ein zurückgezogenes Leben am Stadtrand von Lübeck. Doch eine Karte aus Schweden zu Saras Geburtstag ändert alles. Denn diese ist mit "Dein Papa" unterschrieben. Sara ist verwirrt, hat ihre Mutter ihr doch erzählt, dass ihr Vater vor vielen Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen sei. Als weitere mysteriöse Dinge geschehen, wird Sara klar, dass in ihrer Kindheit etwas Schreckliches passiert sein muss ... Ein packender Thriller über die Schatten der Vergeltung und die Kraft der Vergebung.

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Über die Autorin

Katrin Faludi (*1982) liebt Sprache(n) und alles, was damit zu tun hat. Wenn sie nicht gerade fürs Radio textet und spricht, schreibt sie Bücher, Kurzgeschichten und Artikel. Außerdem probiert sie gerne auch mal die ein oder andere Fremdsprache aus – am liebsten die aus dem Norden. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Bad Vilbel. Mehr auf www.katrinfaludi.de

Prolog

Ihre Zehen brannten. Während der Riese sie an den Armen durchs Unterholz zerrte, gingen erst ihre Schuhe verloren, dann ihre Söckchen. Ihre nackten Füße schleiften über Tannennadeln und Zweige, stießen gegen Steine, blieben an Wurzeln hängen, rissen auf, bluteten. Sie versuchte, sich auf den Beinen zu halten, doch taubgefroren, wie sie waren, knickten sie immer wieder unter ihr weg.

Abrupt blieb der Mann stehen. Riss sie zu sich heran, packte sie und warf ihren schmächtigen Körper mit einem wütenden Grunzen über seine Schulter, als wäre er nichts als ein Sack voll Unrat. Dann begann er zu rennen. Schwerfällig stampfend, unsicher, schwankend. Mehrfach glitt er auf nassem Laub aus und wäre fast gestürzt. Sie baumelte kopfüber an seinem breiten Rücken herab. In der Finsternis um sie herum rauschten die tiefschwarzen Schemen abgeknickter Baumstämme an ihr vorbei. Eiskalter Regen prasselte auf sie herab. Alles in ihr war Übelkeit. Ein wolkiger Schmerz pulsierte in ihrem Schädel. Sie spürte, wie ihr die Sinne wieder schwanden. Langsam drifteten sie fort. Bis ein plötzlicher Ruck sie unbarmherzig zurückriss.

Der Riese war stehen geblieben. Schwer atmend zerrte er ihren Körper von seiner Schulter herunter und ließ ihn rücklings in einen Graben plumpsen. Sie klatschte ins Wasser, doch sie hätte unmöglich noch nasser werden können. Schon im Wald hatten ihr T-Shirt und ihre dünne Hose nur noch in triefenden Fetzen an ihr herabgehangen. Die Kälte brannte in ihren Gliedern. Sie presste die Lider zu und schnappte nach Luft.

Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie gerade noch, wie der Umriss des Riesen über ihr aus ihrem Blickfeld verschwand – in dieselbe Richtung, aus der sie gerade gekommen waren. Zurück in den Wald. Sein heiser keuchender Atem, das Knacken der Äste unter seinen schweren Stiefeln verloren sich im Prasseln des Regens.

Dann war er fort.

Sie war allein.

Die Erkenntnis traf sie wie eine Welle ins Gesicht und breitete sich über ihr aus, floss in sie hinein. Sie hätte nicht geglaubt, dass ihr noch kälter werden könnte.

Allein. Irgendwo. Nirgendwo. Weit, weit weg von zu Hause.

Einen Moment lang lag sie wie erstarrt im Graben. Das kalte Wasser schien ihren Brustkorb zusammenpressen zu wollen. Mit jedem Atemzug rollte ein Zitterschauer an ihrem Körper herab. Weil sie auf dem Rücken liegend keine Luft mehr bekam, wälzte sie sich schwerfällig auf den Bauch. Ihre steifen Finger tasteten durch das hohe Gras nach dem Grabenrand. Mit letzter Kraft krallte sie sich in die nasse Erde und zog sich hoch, rutschte ab, versuchte es erneut. Als sie sich über die Kante wälzte und mit der Hand vorantastete, kratzen ihre Fingernägel über Asphalt. Erschöpft ließ sie ihren Oberkörper auf die Straße sinken, während ihre Füße noch im Graben hingen. Der raue Belag stach ihr in die Wange. Sie hatte keine Kraft mehr, den Kopf zu heben.

War es vorbei?

Sie lauschte angestrengt, doch sie hörte nichts als Regenrauschen. Keine Schreie mehr, die sie verfolgten. Kein Stampfen, kein Rascheln, kein Keuchen. Nur noch trommelnde Stille, die sie umfing.

Sie hätte erleichtert darüber sein müssen, entkommen zu sein. Doch sie spürte nicht einmal mehr Angst. Irgendwo auf dem Weg hierher war die Angst verloren gegangen. Von ihr abgefallen wie ihre Schuhe und die Socken. An ihrer Stelle hatte sich Gleichgültigkeit in ihr breitgemacht. Eine tiefe, eisige Gleichgültigkeit, die das Herz in ihrer Brust immer langsamer schlagen ließ.

Ihre Lider flatterten, als in der Ferne plötzlich zwei Lichtpunkte auftauchten und sich langsam näherten. Lichtkegel ergossen sich auf die schwarze Straße, flossen zusammen, schwappten über sie hinweg.

Wie von selbst hob sich ihre Hand.

Teil 1 Lübeck

#1

Dieser Duft. Dieses unvergleichliche Potpourri aus abgewetzten Gummisohlen, altem Kunststoffbelag und schweißgetränktem Trikotstoff, gewürzt mit einer Prise Sportsocke und verfeinert mit reichlich Elan und Ehrgeiz, der in der Luft lag wie ein Versprechen. Sara blieb im Eingang zur Halle stehen, schloss die Augen und sog den Geruch genüsslich ein. Mehr als sechs Wochen war es her, seitdem sie die Sporthalle vor den Sommerferien das letzte Mal betreten hatte. Eine Ewigkeit ohne Basketball, ohne Training, ohne einen wirklichen Sinn. Vor lauter überschüssiger Energie wäre sie fast geplatzt. Ein paar ernst zu nehmende Trainingspartner, die hatten ihr gefehlt!

Die Poser von dem kleinen Sportplatz in ihrer Nachbarschaft waren ihr schnell langweilig geworden. Sie hatten irgendwann mal einige spektakuläre Dunkings auf YouTube gesehen und hielten das seither für die Essenz des Basketballs. Offenbar hatten sie ernsthaft geglaubt, Sara mit ihrem albernen Gehüpfe beeindrucken zu können. Ihre Sprünge zum Korb erinnerten sie an Popcorn, das laut, aber ziellos gegen den Pfannendeckel knallte. Von Technik oder Taktik hatten die Jungs jedenfalls keine Ahnung. Nach zwei Treffen auf dem Platz hatte Sara die Sache beendet und sich stattdessen Trainingstutorials im Internet angesehen, um wenigstens halbwegs am Ball zu bleiben.

Doch damit war nun Schluss. Heute begann die neue Saison – und damit auch gleich ein neues Kapitel. Zwar hatte Sara es bedauert, dass ihre langjährige Trainerin Fabienne nach dem Ende ihres Studiums aus Lübeck weggezogen war, aber dafür freute sie sich umso mehr darüber, dass Anja Kampmann ihr Team übernehmen würde. Anja hatte einige Jahre in der Nationalmannschaft gespielt und danach die Damen-Auswahl ihres Vereins trainiert. Sie war gefürchtet für ihr scharfes Urteil, aber auch bekannt für ihre Fähigkeit, talentierten Spielerinnen den entscheidenden Schliff zu verpassen. Zwei ihrer Schützlinge hatten den Sprung in die Nationalmannschaft geschafft, was Anjas bisherigem Team den Ruf als Talentschmiede eingebracht hatte. Dass sie nun Saras Jugendmannschaft übernehmen würde, war mehr als ein Glücksfall.

„Ist ja nicht zu fassen!“ Caro, die neben Sara im Halleneingang stehen geblieben war, schüttelte den Kopf. „So schlimm?“

„Wie bitte, was?“ Sara schlug die Augen wieder auf und sah ihre Freundin zerstreut an.

In Gedanken war sie beim vergangenen Saisonabschluss gewesen. Hauchdünn hatten sie in der Landesmeisterschaft gegen ihre Erzrivalinnen verloren. Vier lausige Punkte und sie hätten Rendsburg von der Tabellenspitze geschubst. Diese Saison würde alles anders werden. Dank Anjas Führung.

„Oje.“ Caro grinste, dass ihre Sommersprossen tanzten. Sie wusste genau, woran Sara gerade dachte. „Hätte ich geahnt, dass du solche Entzugserscheinungen zeigen würdest, hätte ich dich in den Ferien ersatzweise ab und zu an meinen alten Socken schnuppern lassen.“

Sara bedachte Caro mit einem nachsichtigen Blick. „Hör mal, dieser Geruch ist das pure Adrenalin. Der Beweis dafür, dass hier gelebt, gelitten und gekämpft wird. Das hier ist … das ist …“

Sie suchte nach einer Umschreibung, die ihr Gefühl in die passenden Worte kleidete, und rang dabei mit den Händen. Poesie flog ihr eben nicht so leicht zu wie ein sauber gespielter Pass.

„Turnhallenmief“, vervollständigte Caro nüchtern.

„Du kannst so gefühllos sein!“

„Irgendjemand muss dich ja auf den Teppich zurückholen.“

„Schwingboden“, korrigierte Sara. „Es handelt sich hier um einen Schwingboden.“

„Habt ihr’s bald?“, moserte da jemand hinter ihnen.

Sara fuhr zusammen. Die Stimme war wie ein Nadelstich in ihr Trommelfell gefahren. Es war nur ein winziger Moment gewesen, aber der reichte aus, um irgendwo in den Tiefen ihrer Erinnerung ein alarmiertes Brummen in Gang zu setzen. Konnte das wirklich sein? Nach so langer Zeit?

Doch als sie sich umdrehte, atmete sie erleichtert auf. Sie hatte sich geirrt. Diese junge Frau, die ungeduldig hinter ihr auf den Fußballen wippte, weil sie nicht durchkam, hatte sie noch nie gesehen.

Hastig trat Sara zur Seite und folgte mit verwundertem Blick der Gestalt, die sich an ihr vorbeischob und in die Halle marschierte. Sie war stabil gebaut, überragte Sara, die selbst nicht gerade klein geraten war, um Haupteslänge und trug das platinblond gefärbte Haar so radikal gestutzt, dass es aussah wie eine frostglitzernde Wiese. Ihre Bewegungen waren kraftvoll und effizient wie bei einem Menschen, der seine Muskeln auf den Punkt trainierte. Und Muskeln hatte dieses Mädchen! Ihr Bizeps spannte unter der Haut und ihre Beine waren straff und fest wie Brückenpfeiler. Allein ihre Präsenz strahlte Kraft und Entschlossenheit aus. Der perfekte Center, der den Gegnern mit seiner Physis Respekt einflößte und ihre Angriffe mit voller Wucht an sich abprallen ließ.

„Neuzugang?“, murmelte Caro fragend, die dem Mädchen kaum weniger beeindruckt hinterher sah.

„Sieht so aus.“

Sara beobachtete, wie die Neue sich etwas abseits auf eine Bank am Spielfeldrand setzte und einen Gegenstand aus den Taschen ihrer Shorts fischte. Mit einer schnellen Bewegung zog sie sich ihn über den Kopf. Erst auf den zweiten Blick erkannte Sara, dass es sich um eine Art Schutzbrille aus Kunststoff handelte. Sie ähnelte den Brillen, die sie bei Experimenten im Chemieunterricht aufsetzen mussten, nur dass diese statt mit Bügeln mit einem Gummiband um den Kopf fixiert wurde. Sara wunderte sich. So etwas hatte sie bisher bei keiner Basketballerin gesehen. Diejenigen, die eine Brille benötigten, trugen auf dem Feld fast alle Kontaktlinsen.

„Die Gute scheint was an den Augen zu haben“, mutmaßte Caro.

„Ja, und ihr zwei habt eindeutig was an den Ohren!“, tönte es da vorwurfsvoll hinter ihnen. „Wir rufen und rufen, aber ihr habt nur Augen für dieses Monsterweib!“

Zwei weitere Mädchen zwängten sich an ihnen vorbei in die Halle. Johanna, mit schwarzen Klamotten, schwarzem Lidstrich und schwarzem Humor, und Naima, die in ihrem blütenweißen Outfit wie frisch aus der Plastikfolie gewickelt aussah. Gegensätzlicher könnten sie kaum auftreten.

„Selber Monsterweib!“ Sara musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um Johanna zu umarmen, die sie seit Ferienbeginn nicht mehr gesehen hatte.

Johanna spielte ebenfalls Center, eine Position, die oft die größte Spielerin des Teams übernahm. Und damit auch wirklich niemand sie übersah, hatte sie ihre Haare magentarot gefärbt und zu zwei dünnen Pippi-Langstrumpf-Zöpfen geflochten.

„Na, ihr Süßen? Alles fit?“ Naima begrüßte Sara und Caro mit gehauchten Luftküsschen, wobei ihre schwarzen Locken Saras Wangen kitzelten.

„Von mir aus kann’s losgehen!“ Sara klatschte unternehmungslustig in die Hände. „Fehlt nur noch Anja.“

„Oh.“ Naima warf Johanna einen bedeutungsschweren Blick zu.

Johanna erwiderte den Blick, verlieh ihm gekonnt ein dramatisches Funkeln und hob ihre gepiercte Braue. „Sie weiß es nicht.“

„So sieht’s mal aus.“

„Was weiß ich nicht?“, fragte Sara lauernd.

„Na ja, wie soll ich sagen …“ Diesmal war es Naima, die die sorgfältig nachgezogenen Brauen lüpfte.

Caro stöhnte. Sie hasste Kunstpausen, die nicht von ihr selbst kamen.

„Na schön.“ Naima seufzte gönnerhaft und fuhr mit sachlicher Stimme fort: „Anja ist schwanger und fällt ab sofort aus. Wir kriegen irgendeine Vertretung.“

Saras Herz stolperte vor Schreck und fiel in den Dreck. Entsetzt sah sie Naima an. Da hatte sie monatelang dem unfassbaren Glück entgegengefiebert, von der besten Trainerin im ganzen Norden gecoacht zu werden – und dann das.

„Vertretung!“, schnaubte sie und schüttelte aufgebracht den Kopf. „Und wo kriegen wir die so schnell hergezaubert?“

„Puff, da bin ich!“, näselte es da hinter ihr. Eine Stimme, so warm und cremig wie geschmolzene Schokolade, floss ihren Nacken hinab.

Im ersten Moment glaubte Sara, sich verhört zu haben. Als sie sich dann umdrehte, hatte sie das Gefühl, dass ihr auch die Augen einen Streich spielten. Dieser Hutzelzwerg, der sich hinter ihr aufgebaut hatte, konnte unmöglich ihr neuer Basketballtrainer sein.

Der Typ war so klein, dass er für jeden Korbleger erst einmal eine Trittleiter hätte anschleppen müssen. Er trug schlabberige Trainingshosen und eine Sweatjacke, die ihn wie einen Menschen mit schwerwiegenden Entscheidungsproblemen wirken ließ: Sie war hellblau, der linke Ärmel braun, der rechte Ärmel schwarz-grün geringelt. Seine schulterlangen, mausbraunen Haare standen wirr nach allen Seiten ab und sahen aus, als hätte er sich in eine Autowaschanlage mit Heißwachsprogramm verlaufen.

„Ich heiße Lars“, stellte er sich mit seiner schokoladenwarmen Stimme vor. „Mein Spezialgebiet ist eigentlich Squash. Aber weil der Vereinsvorstand so verzweifelt war, spring ich ein. Man hilft ja, wo man kann.“

Sara fielen fast die Augen aus dem Kopf.

„Squash?“, ächzte sie. Diese Disziplin rangierte in ihrer Hierarchie der coolsten Sportarten irgendwo zwischen Tischtennis und Rückenschwimmen.

„Ja.“ Durch seine dicken Brillengläser strahlte Lars sie an. „Macht Spaß!“

Sara musste an sich halten, nicht gequält aufzustöhnen. Sie hatte kaum Gelegenheit gehabt, den Schock über Anja Kampmanns Ausfall zu verdauen, da stand schon der nächste Totalausfall vor ihr und lächelte sie liebenswürdig an. Das war’s. Die Saison war gelaufen, bevor sie überhaupt angefangen hatte. Mit dieser Erkenntnis verwandelten sich all ihre Träume in ein hässliches, qualmendes Häuflein Enttäuschung.

+++

„Sara, ich bin enttäuscht von dir“, zwitscherte Victorias Schmollmund, während ihre Augen sie triumphierend anblitzten. „Hast du in den Ferien denn gar nichts gemacht?“

Sara musste sehr an sich halten, um ihr nicht gegen das sonnengebräunte Schienbein zu treten. In einer Trinkpause hatte sie mit halbem Ohr anhören müssen, wie Victoria den anderen vom Basketballcamp an der Algarve vorgeschwärmt hatte. Vor den Ferien hatte ein greller Flyer am Schwarzen Brett im Sportzentrum davon gekündigt, doch Sara hatte kaum einen Blick dafür übriggehabt, weil eine solche Reise für sie finanziell ohnehin nicht drin gewesen wäre.

„Ach komm, so wie du aussiehst, hast du dich in Portugal doch nur am Strand getoastet“, spottete Caro von hinten. Sara ärgerte sich, dass ihr ein solcher Konter nicht selbst eingefallen war. Sie war so erschöpft, dass sie kaum geradeaus denken konnte.

„Im Gegensatz zu euch beiden habe ich mich auf dem Platz heute bewegt“, erwiderte Victoria schnippisch. „Ihr habt ja nur herumgestanden und unseren Neuzugang begafft!“

„Hat sich wenigstens gelohnt“, gab Caro ungerührt zurück. „Das war eine ziemlich spektakuläre Vorstellung!“

Zu spektakulär für Saras Geschmack. Zu Beginn des Trainingsmatches, für das Lars die Spielerinnen in zwei Mannschaften aufgeteilt hatte, war sie noch voller Elan auf den Platz marschiert, wild entschlossen, die aufgestaute Energie der vergangenen Wochen in einen haushohen Sieg für ihr Team zu verwandeln. Doch sie hatte nicht mit Leonie gerechnet, die von Lars ins andere Team sortiert worden war.

Hatte Johanna sie nicht kurz zuvor nichtsahnend mit „Monsterweib“ tituliert? Wie recht sie damit gehabt hatte. Leonie hatte ihren Korb bewacht wie der Drache Smaug den Zwergenschatz. Mit ihrer mächtigen Statur und viel Kampfgeist hatte sie fast im Alleingang sämtliche Angriffe abgeblockt und Victoria im Gegenzug ermöglicht, den Korb von Saras Team fleißig mit Bällen zu füllen.

Anfangs hatte Sara noch nach irgendeiner verwundbaren Stelle bei ihrer neuen Gegnerin gesucht. Sie hatte geglaubt, Leonie sei einfach nur groß und klotzig. Dann aber hatte sie feststellen müssen, dass die Frau auch noch eine begnadete Technikerin war, die den Ball wahlweise anzog wie ein Magnet oder wegfeuerte wie ein Präzisionsgewehr.

Am Ende hatte Sara frustriert und schweißgebadet kapituliert. Noch nie hatte sie sich gegen eine einzelne Spielerin so machtlos gefühlt wie gegen diese Leonie.

Sara griff nach ihrer Trinkflasche, die am Spielfeldrand stand, und trottete mit hängenden Schultern Richtung Umkleide. So hatte sie sich das erste Training nach der langen Pause nicht vorgestellt. Sie war völlig bedient.

„Na?“, quatschte sie da der Hutzelzwerg namens Lars von der Seite an.

Als Sara bemerkte, dass er sich um Gleichschritt mit ihr bemühte, blieb sie empört stehen. Lars hielt ebenfalls an, vergrub die Hände in den Taschen seiner Schlabberhosen und wippte vergnügt auf den Fußballen herum.

„Bisschen steif geworden über die Ferien, was?“, plauderte er im freundlichsten Tonfall weiter.

Fing der jetzt auch noch damit an.

Entnervt knurrte Sara: „Sag bloß, du warst mit in Portugal!“

„Portugal?“ Lars machte ein verständnisloses Gesicht.

„Ach, egal.“

„Stimmt.“ Er nickte besänftigend. „Jedenfalls habe ich mir nur sagen lassen, dass du und … äh … Dings … Violetta …? Nee …“

„Victoria“, soufflierte Sara ungeduldig, wobei sie sich bemühte, so viel Verachtung in den royalen Namen ihrer Konkurrentin zu legen, wie sie nur konnte.

„Victoria, natürlich! Also, ich habe mir sagen lassen, dass ihr beiden, Queen Victoria und Fürstin Sara, hier so was wie die … Platzhirschkühe der Mannschaft wärt.“

Ein unterdrücktes Prusten verriet, dass Caro sich hinter ihnen postiert hatte und ungeniert lange Ohren machte. Die fand diesen verhinderten Aushilfstrainer offenbar auch noch witzig. Allmählich beschlich Sara allerdings das Gefühl, dass der Kerl sich mit seinem affektierten Gehabe über sie lustig machte. Deshalb beschränkte sie sich auf einen finsteren Blick, den Lars aufreizend heiter erwiderte.

„Tja, meine Liebe, ich würde sagen, du hast in dieser Saison ein bisschen was zu tun, wenn du dich gegen Leonie behaupten willst und deiner Busenfreundin Victoletta bei der Gelegenheit auch noch das vorwitzige Erdbeermündchen stopfen möchtest.“

„Und du siehst dich tatsächlich in der Lage, das zu beurteilen, ja?“

„Na ja, wenn ich es mir recht überlege …“ Lars legte die Stirn in Falten und schien ernsthaft nachzudenken. Nach einer Weile sog er die Backen ein, gab ein schmatzendes Geräusch von sich und zuckte mit den Schultern. „Du hast hier im Verein den Ruf einer erstklassigen Spielerin. Aber ich fand deine Performance jetzt nicht so umwerfend, um ehrlich zu sein.“

Seelenruhig zählte er sämtliche Defizite auf, die er in der vergangenen halben Stunde an ihrer Spielweise beobachtet hatte. Eine zwar reichlich genäselte, aber nichtsdestoweniger messerscharfe und allzu wahre Analyse ihres derzeitigen Trainingsstandes, wie Sara überrascht und äußerst widerwillig feststellen musste.

„Du wirkst blockiert. Ein bisschen mehr Lockerheit würde dir guttun“, schloss Lars mit einem Lächeln, das so sirupartig ausfiel, dass Sara einen Anflug von Übelkeit verspürte.

„Ich dachte, du kennst dich nur mit Squash aus?“, ätzte sie kraftlos.

Lars lachte. „Squash?“ Dann brach er urplötzlich ab. Über den Rand seiner Brille hinweg sah er Sara spöttisch an und sagte mit völlig normaler Stimme: „Du glaubst aber auch alles, was man dir erzählt, was?“

+++

„Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie schlimm war’s?“

Kaum waren sie nach dem Training geduscht und umgezogen aus der Umkleide ins Foyer getreten, nestelte Caro einen Schokoriegel aus ihrer Sporttasche, ignorierte beim Auswickeln Saras tadelnden Blick und biss genussvoll hinein. Demonstrativ kauend sah sie ihre Freundin an und wartete auf eine Antwort.

„Tja.“ Sara äugte durch die Glasfront.

Im Licht der Straßenlaterne vor dem Eingang tanzten die Äste eines Baums vom Wind getrieben hin und her. Sie hatte sich gar nicht erst die Mühe gemacht, ihr langes, dunkelbraunes Haar in einer langwierigen Prozedur trocken zu föhnen. Stattdessen zog sie die Häkelmütze, die Caro ihr zum letzten Weihnachtsfest angefertigt hatte, aus der Jackentasche und stülpte sie über das feuchte Haar. Den Rest würde gleich der Wind erledigen.

„Ich glaube, der Typ wird dir guttun“, nuschelte Caro mit vollem Mund und setzte sich ihre eigene Häkelmütze auf den rotblonden Bob.

Sara schnaubte empört. „Wie kommst du denn darauf?“

„Na ja, immerhin hat er dir keinen Zucker in den Arsch geblasen, wie Fabienne das immer gemacht hat.“ Caro knüllte ihr Schokoladenpapier zusammen, zielte auf den Mülleimer neben dem Übungsleiterbüro, traf aber nicht. Schulterzuckend lief sie hin und sammelte das Papier wieder auf. „Vielleicht hat dich ihre ständige Lobhudelei ein bisschen selbstgefällig gemacht.“

„Bist du langsam fertig?“, fragte Sara genervt und nahm einen langen Zug aus ihrer Wasserflasche.

Den Rest kippte sie in einem spontanen Anflug von Mitleid in das schon pelzig-graue Granulat der Alibi-Topfpflanze, die neben dem Windfang mit hängenden Blättern auf ihr Ableben wartete. Wäre sie selbst belaubt, würde sie in diesem Moment wohl einen ähnlich traurigen Anblick abgeben. Sie musste an das denken, was Lars über ihre Spielweise gesagt hatte. Ihre frühere Trainerin Fabienne hätte sie niemals so runtergezogen. Und vor allem hätte sie sich nicht so affig verhalten wie dieser laufende Meter, der sich neuerdings ihr Trainer schimpfte.

„Blockiert!“, knurrte sie und schob die Tür zum Windfang auf. „Ich glaub, bei dem ist auch was blockiert. Der wird schon sehen, was ich draufhabe!“

„Ich bin sehr gespannt“, säuselte es da aus der Tür des Übungsleiterbüros und Sara ließ vor Schreck den Türgriff los. Als hätte es vorhin nicht gereicht, dass er sie mit seiner Squash-Story komplett veräppelt hatte – musste er sie gleich wieder in Verlegenheit bringen?

Lars lehnte im Türrahmen und grinste. „Übrigens, heute Abend: die Mavericks ab 23:30 Uhr im Livestream. Guckste?“, fragte er nun mit seiner normalen Stimme.

Sara wunderte sich, woher er wusste, dass sie Fan der Dallas Mavericks war. Dann erinnerte sie sich, dass sie im Training ein altes, verwaschenes Trikotoberteil ihres Lieblingsvereins getragen hatte. Selbstverständlich mit der Nummer 41 und dem Schriftzug „Nowitzki“ drauf, ihrem großen Idol, das zu Hause als Poster über ihrem Bett hing. Auch, seitdem er nicht mehr spielte, war sie seinem Team treu geblieben.

„Gegen die Warriors?“ Sie nickte. „Hatte ich vor.“

„Das wird ein hartes Stück Arbeit für die Mavericks“, erwiderte Lars. „Letzte Saison lief’s für die ja gar nicht. Die Warriors dagegen als Tabellenzweite …“

„Das kriegen die schon gebacken.“

Lars wiegte zweifelnd den Kopf. „Fünf Euro auf ihre Niederlage.“ Damit drehte er sich um und verschwand im Büro.

Sara stieß erneut die Tür zum Windfang auf und hielt sie für Caro offen, als Lars noch einmal im Türrahmen erschien und mit einem apfelgrünen Briefumschlag wedelte.

„Ach ja, das hätte ich beinahe vergessen: Hier ist Post für dich gekommen! Hab ich vorhin zufällig auf dem Stapel entdeckt.“ Er kam auf sie zu und streckte ihr den Umschlag entgegen.

„Für mich?“

„Es steht Sara Henriksson drauf. Das bist doch du, oder?“

„Wieso kriege ich Post?“

Erstaunt drehte sie den Brief hin und her. Der Umschlag war aus hochwertigem Papier gefertigt und ihr zu Händen an den Sportverein adressiert. Handschriftlich, ohne Absender. Mit schwedischen Briefmarken und Luftpostaufkleber – eigenartig. Es kam ja so schon äußerst selten vor, dass für sie mal ein Brief im Kasten lag, und wenn doch, dann stammte er höchstens von ihrer Krankenkasse oder irgendeiner Behörde. Apfelgrüne Briefumschläge mit schwedischen Marken gehörten definitiv nicht zu den Dingen, die sie sonst erhielt.

„Also, wir sehen uns am Dienstag.“ Lars nickte ihr zu, drehte sich um und marschierte wieder zurück. „Und immer schön locker bleiben!“ Mit einem provokanten Hinternwackeln ließ er die Bürotür hinter sich ins Schloss fallen.

„Was immer der Kerl nimmt, ich werde die Finger davon lassen!“, murmelte Sara und stopfte den Umschlag in das Seitenfach ihrer Sporttasche, in dem sie ihre durchgeschwitzten Socken aufbewahrte.

+++

Gemeinsam verließen sie das Foyer durch die Glastür und liefen über den Vorplatz zu den Fahrradständern. Dort schwang sich gerade Leonie auf ein Mountainbike und hielt direkt auf sie zu. Caro hob grüßend die Hand, aber Leonie ignorierte sie. Ohne die seltsame Schutzbrille sah sie ganz anders aus, fand Sara. Erst kurz bevor Leonie an ihr vorbeiradelte, erkannte sie, warum. Der Lichtkegel der Straßenlaterne vor der Halle streifte eine lange Narbe, die sich von ihrem rechten Ohr bis zum Auge zog und sich um das Oberlid herum wie bei einem Spinnennetz verästelte. Die Brille hatte sie fast komplett verdeckt.

Eigentlich wollte Sara sie nicht anstarren, aber irgendetwas zwang sie hinzusehen. Da fing Leonie ihren Blick auf. Sie fuhr haarscharf an Sara vorbei, so dicht, dass diese zurückspringen musste, um nicht umgefahren zu werden. In ihren bernsteinfarbenen Augen spiegelte sich das kalte Licht der Neonröhren. Doch zugleich loderte in Leonies Blick etwas auf, das Sara weiter zurückweichen ließ.

Hass.

Sie begriff es erst, als Leonie schon vorübergefahren war und, ohne sich noch einmal umzuwenden, auf die Straße abbog. Leonie hasste sie. Sie spürte es instinktiv. Einen Augenblick lang krampfte sich ihr Magen zusammen wie eine geballte Faust.

„Was war denn das?“, fragte Caro verblüfft und sah Leonie nach. „Hat die was gegen dich?“

„Ich weiß nicht.“ Ratlos schüttelte Sara den Kopf und atmete aus. „Ich kenne sie doch gar nicht.“

#2

Zu Hause feuerte Sara als Erstes die Sporttasche in die Ecke hinter ihrer Zimmertür, um sie dort so lange stehen zu lassen, bis sie die Lust zum Ausräumen packte. Das konnte dauern. Dann mummelte sie sich ein. Mit Kapuzensweater und Wollsocken vertrieb sie die Kälte, mit der sich ihr der Fahrtwind entgegengestemmt hatte. Die Spätsommertage waren zwar sonnig und warm, abends wurde es aber schon empfindlich kühl. Und speziell an diesem Abend war es zu allem Überfluss windig und feucht draußen und ein moderiger Hauch lag in der Luft, der verkündete, dass den Bäumen allmählich die Kraft ausging. Ein erster Vorbote des nahenden Herbstes, auf den Sara gerne verzichtet hätte. Wenn es nach ihr ginge, könnte immer Sommer sein.

Sie hatte es sich gerade mit ihrem Smartphone unter der Bettdecke gemütlich gemacht, um einen Blick in den Gruppenchat ihrer Mannschaft zu werfen, als es an der Tür klopfte. Blitzschnell ließ Sara das Handy unter der Decke verschwinden und drehte sich nach ihrer Mutter um, die mit einem rätselhaften Lächeln in der Zimmertür stand.

„Zieh dir was an!“ Auffordernd klimperte Eva Henriksson mit dem Wohnungsschlüssel.

Sofort packte Sara das schlechte Gewissen. Irgendetwas hatte sie wieder vergessen. War es das Altpapier oder die Runde zum Glascontainer? Was auch immer, sie beschloss, dass keine zehn Pferde sie an diesem Abend noch einmal vor die Tür bekämen und ihre Mutter schon gar nicht.

„Ich bin angezogen“, brummte sie und widerstand dem Impuls, sich die Bettdecke über den Kopf zu ziehen.

„Jacke, Schuhe und etwas auf den Kopf, damit du dich nicht erkältest“, präzisierte Eva.

Sara wunderte sich. Der Tonfall ihrer Mutter klang so gar nicht nach versäumten Haushaltspflichten. Eva wirkte unternehmungslustig, ja regelrecht aufgedreht. Ihre Wangen schimmerten rötlich und ihre runden, hellblauen Augen glänzten.

„Wir treffen uns in fünf Minuten unten vor dem Haus“, sagte sie und verschwand wieder im Flur.

Wenige Sekunden darauf fiel die Wohnungstür ins Schloss. Sara setzte sich auf und steckte das Handy in ihre Hosentasche. Dieses Verhalten passte so gar nicht zu ihrer Mutter. Normalerweise verließ Eva das Haus abends nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Wenn sie zum Yoga ging oder wieder einmal einen Volkshochschulkurs in Spanisch, Arabisch oder Altniederschwäbisch belegt hatte.

Sara erinnerte sich lebhaft an einen Abend im Frühjahr, an dem sie ihre Mutter am Küchentisch sitzend vorgefunden hatte, wo sie mit konzentriert gerunzelter Stirn arabische Schriftzeichen aus Lakritzschnecken formte. Über solche Merkwürdigkeiten wunderte Sara sich schon längst nicht mehr. Auch nicht darüber, wie schnell die sprachlichen Vorlieben ihrer Mutter sich änderten.

Aktuell übte Eva Sätze ohne erkennbare Vokale, dafür aber mit reichlich zischenden Knatterlauten, und kochte sonntags Serviettenknödel. Arabisch war schon längst wieder out und leckere Falafel gab es auch nicht mehr, denn jetzt paukte Eva Tschechisch. Einfach so, weil es ihr Spaß machte. Ein entspannter Abend war für sie ein Abend auf dem Sofa mit einer Tasse Kaffee und einem Lehrbuch auf dem Schoß. Unternehmungen waren überhaupt nicht ihr Ding. Und das war es, was Sara in diesem Augenblick so stutzig machte. Die Neugier darauf, was ihre Mutter vorhatte, trieb sie schließlich aus dem Bett. Innerhalb der geforderten fünf Minuten stand sie in Sportjacke und Sneakern vor der Haustür, wo Eva sie mit einem strahlenden Lächeln empfing.

„Und jetzt?“, fragte Sara schulterzuckend.

„Jetzt habe ich gleich eine klitzekleine Überraschung für dich“, schmunzelte Eva.

„Aha?“ Sara maß ihre Mutter mit einem verwunderten Blick. Das wurde ja immer seltsamer. Überraschungen gehörten definitiv nicht zu den Dingen, die Eva schätzte. Sie liebte es hübsch geordnet und vorhersehbar, dann fühlte sie sich sicher.

„Du musst nur einmal um die Ecke gehen.“ Eva nickte in Richtung Straßenecke, wo eine Laterne eine Lichtpfütze auf den feuchten, aufgeplatzten Asphalt warf.

Hinter den meisten Fenstern der Doppelhaushälften in ihrem Wohngebiet brannte Licht. Gegenüber werkelte Frau Kroligk in ihrer Küche herum. Sie gehörte zu der nicht geringen Anzahl der Siedlungsbewohner, die sich Scharen an Deko-Gänsen ins Fenster hängten und in den Vorgarten stellten. Irgendjemand hatte damit angefangen und nach und nach hatte die Gänse-Epidemie die gesamte Siedlung befallen. Rund um Ostern herum wurden die Viecher sogar mit bunten Eiern behängt.

„Ist da um die Ecke überraschend der Winter ausgebrochen?“, fragte Sara und zog fröstelnd den Reißverschluss ihrer Sportjacke höher, damit ihr der Nieseldunst nicht weiter unter die Kleidung kriechen konnte.

„Geh nachsehen.“ Lächelnd gab ihre Mutter ihr einen kleinen Schubs.

Sara kam sich albern vor, während sie die wenigen Meter von ihrem Wohnhaus zur Straßenecke pirschte, dicht gefolgt von Eva und deren klirrendem Schlüsselbund. An der Ecke blieb sie stehen und äugte einmal die Siedlungsstraße hinauf und wieder hinunter, was kein atemberaubender Anblick war.

Einfamilienhäuser und Doppelhaushälften älteren Datums, mitten im Krieg hastig hochgezogen, um schnellen, billigen Wohnraum für die Ausgebombten und die zahlreichen Flüchtlinge aus den Ostgebieten zu schaffen. Die Siedlung lag am äußersten und völlig unspektakulären Rand der altehrwürdigen Hansestadt Lübeck, direkt an der ehemaligen innerdeutschen Grenze, und wirkte, als hätten die Stadtoberhäupter in ihrem noblen Rathaus vergessen, dass es diesen Flecken überhaupt gab. Nicht ein Auto rumpelte über die rissige Fahrbahn. Die Wagen standen alle brav aufgereiht am Bordstein, während ihre Besitzer ebenso brav zu Hause vor ihren Fernsehern aufgereiht saßen.

Sara drehte sich zu Eva um und hob ratlos die Schultern. „Und was genau soll hier sein?“

„Na, die Überraschung.“ Eva lächelte schelmisch.

Dabei fiel Sara auf, dass sie ihre Mutter zwar schon oft liebevoll, nachsichtig, traurig oder erfreut hatte lächeln sehen, nie aber auf eine solch spitzbübische Art. Irgendetwas an ihr war anders als sonst. Komplett anders.

Sie nahm die Straßenecke genauer in Augenschein, fand immer noch nichts Besonderes und sah Eva fragend an. „Ich sehe keine.“

„Du stehst direkt davor.“

Sara schüttelte den Kopf. „Ich sehe hier nur Autos.“

„Richtig!“, strahlte Eva. „Und um das, vor dem du gerade stehst, geht es.“

Saras Blick fiel auf den weißen Mini mit den schwarzen Rennstreifen auf der Motorhaube und dem schwarz lackierten Dach, der vorne in der Reihe parkte. Ein schicker kleiner Flitzer.

„Von wem hast du den denn ausgeliehen?“, fragte sie erstaunt.

„Ausgeliehen?“ Eva schnalzte beleidigt mit der Zunge. „Gekauft habe ich ihn!“

„Du hast ein Auto gekauft? Wozu denn das, bitte?“

Eva seufzte, als wäre ihre Tochter besonders begriffsstutzig. „Was macht man üblicherweise mit einem Auto, Sara?“

„Wir haben nie eins gebraucht!“

Was für eine unsinnige Anschaffung! Sara starrte den Mini fassungslos an. Ein Auto und dann nicht nur ein popeliger Kleinwagen, sondern so ein stylisches! Was war bloß auf einmal in ihre Mutter gefahren? Sonst war sie doch so vernünftig, dass es staubte!

In Evas Miene fand ein Kampf statt. Sara erkannte Enttäuschung darüber, dass sie nicht so begeistert reagiert hatte, wie ihre Mutter sich das erhofft hatte. Und gleichzeitig Stolz, weil es ihr gelungen war, sie sprachlos zu machen. Am Ende gewann der Stolz.

Eva zückte die Fernbedienung, entriegelte den Wagen, öffnete die Beifahrertür und forderte Sara auf einzusteigen. Skeptisch ließ diese sich in den Sitz sinken. Sie saß äußerst selten einmal in einem Auto, und wenn, dann verkrampfte sie, sobald sich die Türen schlossen. Der Mini bereitete da keine Ausnahme. Unangenehm eng war es hier drin und der Geruch nach Cockpit-Spray trieb ihr die Tränen in die Augen. Sara rümpfte die Nase und rutschte auf ihrem Sitz herum. Am liebsten wäre sie sofort wieder ausgestiegen.

„Sieht aus wie neu, was? Ist aber ein Gebrauchtwagen, keine Sorge“, versicherte Eva, nachdem sie auf dem Fahrersitz Platz genommen hatte. „Und ehe du fragst, woher wir auf einmal das Geld dafür haben: Wir finanzieren das gute Stück zu bequemen Raten. Dann können wir es uns auch leisten.“

Sara nickte, doch eine andere Sache interessierte sie noch viel mehr: „Sag mal, Mama, hast du überhaupt einen Führerschein?“

Eva lachte nur. „Komm, wir machen eine Spritztour!“, rief sie aufgekratzt und ließ den Motor an.

#3

Sara erwachte von einem Klappern aus der Küche. Sie boxte ihr Kissen zurecht, vergrub die Nase darin und lächelte. Ein paar Augenblicke blieben ihr noch, ehe ihre Mutter mit dem Frühstückstablett hereinkommen würde. Es würde Croissants geben, dunklen Honig, Johannisbeergelee und einen winzigen Napfkuchen mit Zuckerguss und bunten Streuseln. An diesem Morgen würden siebzehn Kerzen auf dem Kuchen flackern. Eva würde ein schwedisches Geburtstagslied anstimmen. Eine der seltenen Gelegenheiten, zu denen sie überhaupt noch ihre gemeinsame Muttersprache benutzte. Nach dem Singen würde sie sofort wieder zu Deutsch übergehen, als hätte sie nie etwas anderes gesprochen, und Sara würde einen winzigen Moment lang gegen ihre Traurigkeit darüber ankämpfen, ehe sie die Kerzen auspusten durfte.

Während Eva noch in der Küche herumwerkelte, tastete Sara unter der Bettdecke nach ihrem Handy. Die Spritztour mit dem Mini hatte länger gedauert als erhofft, sodass sie zu ihrem Leidwesen das Mavericks-Spiel verpasst hatte. Eva war mit dem Auto kreuz und quer durch die Stadt und über die Landstraßen ringsum gerauscht, was für Sara kein Vergnügen gewesen war.

Ihre Frage nach dem Führerschein vor Beginn der Fahrt hatte sie eigentlich nur im Scherz gestellt. Als sie wie durch ein Wunder unbeschadet, aber mit puddingweichen Knien vor ihrem Haus wieder aus dem Auto gestiegen war, wollte sie lieber nicht wissen, warum ihre Mutter ihr die Antwort darauf schuldig geblieben war. Nun hoffte sie auf ein weiteres Wunder. Gespannt scrollte sie in ihrer Sport-App durch die Basketballergebnisse und ihr Herz machte vor Freude einen Hüpfer. Die Mavericks hatten die Warriors geschlagen! Zwar nur haarscharf, aber egal. Sie drehte den Kopf und nickte Dirk Nowitzki zufrieden zu, der auf dem signierten Poster über ihrem Bett mit hochfokussierter Miene zum Sprung auf den Korb ansetzte.

Schritte im Flur ließen sie aufhorchen. Schnell schob sie das Handy unter ihr Kopfkissen. Keine Sekunde zu früh, denn gleich darauf quietschte die Klinke und Eva schob sich, das Geburtstagsfrühstückstablett mit den brennenden Kerzen balancierend, durch die Tür. Dabei sang sie mit heller Stimme das schwedische Geburtstagslied. Lächelnd lauschte Sara den vertrauten Tönen. Jedes Jahr freute sie sich von neuem auf diesen Moment, der ein klein wenig nach der Heimat klang, an die sie sich längst nicht mehr erinnern konnte.

„Alles Gute im neuen Lebensjahr!“, gratulierte Eva am Ende des Lieds. Sie stellte das Tablett aufs Bett, umarmte Sara und küsste sie auf beide Wangen.

Dann huschte sie kurz aus dem Zimmer. Sie kehrte mit einem in blaues Papier gewickelten Schuhkarton zurück, den sie auf den Nachttisch stellte. Obwohl Sara sich bemühte, sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen, weil sie keine sechs Jahre mehr alt war, so konnte sie es doch kaum abwarten, endlich ihr Geschenk in den Händen zu halten. Immerhin benötigte sie es dringend. Eva tunkte aufreizend langsam ihr Croissant in den Milchkaffee und sog jedes Mal genießerisch den Duft ein, bevor sie abbiss. Erst nachdem sie den letzten Krümel verspeist hatte und gnädig nickte, griff Sara nach dem Paket und löste die Schleife. Endlich!

„Ich hoffe, die Schuhe sind okay“, sagte Eva.

Ihr Tonfall ließ Sara aufhorchen. Was sollte daran nicht in Ordnung sein? Sie hatte das Paar schließlich vorige Woche sorgfältig mit Caro ausgesucht und zurücklegen lassen. Dunkelblau waren sie mit silberfarbenen Applikationen. Damit passten sie perfekt zu ihren ebenfalls dunkelblauen Mannschaftstrikots.

Sara riss das Papier ab, knüllte es zu einem Ball zusammen, hob den Deckel des Schuhkartons ab – und erstarrte. Schneeweiße Schuhe leuchteten ihr entgegen. Dazu stieg eine Chemiewolke aus dem Karton hoch, die ihr fast die Nase verätzte. Mit spitzen Fingern fischte sie einen Schuh aus dem Karton, drehte ihn in der Hand und starrte ihn ungläubig an. Was war denn da schiefgelaufen?

„Ich weiß, du hattest dir andere gewünscht.“ Eva zog schuldbewusst den Kopf ein und beobachtete sie aus den Augenwinkeln. „Aber vielleicht sind die ja auch in Ordnung?“

Sara erinnerte sich an diese Schuhe. Sie hatten sich wie Betonklötze an ihren Füßen angefühlt und ähnelten vom Aussehen her eher Astronautenstiefeln als Sportschuhen. Weiß und klobig. Victorias Spott wäre ihr damit sicher und der Hallenwart würde einen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn er sah, wie Sara mit diesen Tretern seinen heiligen Schwingboden kaputttrampelte. Sie schüttelte den Kopf und legte den Schuh wieder in die Schachtel. In ihrem Inneren sprudelte die Enttäuschung wie nach einem Wasserrohrbruch empor.

Eva, die bemerkt hatte, wie ihr Geschenk ankam, streichelte Sara tröstend über die Schulter. „Weißt du, das andere Paar war ganz schön teuer. So viel war leider nicht mehr drin.“

„Aber für ein Auto haben wir plötzlich Geld“, murmelte Sara bitter.

„Ich hatte die Anzahlung schon gemacht, bevor ich die Schuhe besorgen wollte, und ansonsten …“

„Wozu brauchen wir die Karre überhaupt? All die Jahre sind wir wunderbar ohne zurechtgekommen!“

„Ich kann verstehen, dass du enttäuscht bist, aber ist es wirklich so schlimm, dass du nicht dieses eine Paar Schuhe bekommst?“

Eva sah sie so flehend an, dass Saras Ärger langsam dahinschmolz. Doch eine kleine, schrille Stimme tief in ihr drin, die sich solchen Frust nicht bieten lassen wollte, holte Luft, um kräftig aufzubegehren. Für ein Auto, das kein Mensch brauchte, war Geld da. Für ein Paar vernünftige Sportschuhe nicht. Das war nicht fair!

„Wir könnten mit dem Auto in den Urlaub fahren“, schlug Eva um einen versöhnlichen Tonfall bemüht vor. „Bald sind doch Herbstferien. Ich hätte da eine Idee …“

Sara knallte den Deckel des Kartons zu.

„Urlaub!“, zischte sie. „Wir sind noch nie in den Urlaub gefahren!“

„Dann lass es uns doch einfach mal tun.“

Wieder beschlich Sara das seltsame Gefühl, dass ihre Mutter anders war als sonst. „Mama, bist du krank?“, fragte sie besorgt.

Eva lachte erleichtert. „Nein, Schätzchen, mir geht es ganz wunderbar! Und nun mach dir nichts draus. Von einem Paar Schuhe wirst du dir doch wohl den Tag nicht verderben lassen, oder? Komm, lass uns aufstehen! Ich mache dir die Haare und verpasse dir ein Make-Up, dass deine Freundinnen nachher vor Neid Spliss kriegen!“

Diese Aussicht hob Saras Stimmung nicht im Geringsten. Was nützten ihr Evas Beautytricks, wenn ihr beim nächsten Auswärtsspiel die Schuhe von den Füßen blätterten? Mit Mascara und Lippenstift fiel es sich auch nicht eleganter auf die Nase.

+++

„Wow!“

Naima, die schon mit dem perfekten Lidstrich auf die Welt gekommen sein musste, riss begeistert die Augen auf. Sie umrundete Sara und musterte sie von Kopf bis Fuß, als wäre sie eine Litfaßsäule.

„Sehr hübsch, Sara, sehr hübsch. Das solltest du öfter so tragen.“

Johanna lächelte mit nachsichtigem Spott. „Oh, da werden sich die Verkäufer aber gleich freuen, weil du dich so fein gemacht hast.“

„Bist du wohl still“, fuhr Naima sie an. „Lass uns den Anblick lieber genießen. Wann sehen wir Sara denn mal nicht mit rotem Gesicht und Schweißrändern auf dem Shirt?“

„Na, vielen Dank“, erwiderte Sara und tat beleidigt.

Caro hakte sich bei ihr unter. „Komm, du Augenweide, vielleicht reißen wir gleich einen hübschen Schweden für dich im Småland auf!“

Kichernd liefen die vier Freundinnen durch den Haupteingang von IKEA und stürzten sich ins Samstagnachmittagsgetümmel. Mitten in dem Gedränge um die Wühltische mit Krimskrams fragte Sara sich, wie sie nur auf die dämliche Idee gekommen war, ihren Geburtstag ausgerechnet hier zu feiern. Jeder wusste doch, dass es bei IKEA samstags so idyllisch zuging wie im Vorhof der Hölle. Erst, als das Unmögliche eintraf, und sie in einer halbwegs ruhigen Restaurantecke einen Fenstertisch ergatterten, entspannte sie sich ein wenig.

Der Lärm, der ihr Hirn in einen Brummkreisel verwandelt hatte, verebbte. Zwar war der Blick auf Regenschleier und endlose Parkplatzwüsten nicht ganz instagramtauglich, aber sie waren ja nicht wegen der Aussicht gekommen, sondern um zu feiern.

Sara lud ihre Freundinnen zu Kaffee, Mandeltorte und Zimtschnecken ein. Für mehr reichte das Geld, das sie Eva für die Feier abgeschwatzt hatte, nicht. Die angesagten Cafés in der Altstadt entsprachen leider nicht ihrer Preisklasse. Doch sie wusste, dass Caro, Naima und Johanna darüber kein Wort verlieren würden – auch nicht hinter ihrem Rücken.

„Zeit für die Geschenke!“, trompete Johanna, die Kuchen und Zimtschnecken in Rekordtempo heruntergeschlungen hatte.

„Okay, ich fange an.“ Naima nahm in aller Ruhe einen gesitteten Bissen mit ihrer Gabel, ehe sie unter den Tisch tauchte, wo sie ihre Einkäufe und die Handtasche verstaut hatte.

Sie förderte zwei aufwändig eingewickelte Päckchen zutage. Geschenkpapier und Schleife waren mit einer Perfektion arrangiert, als hätte Naima alles zuvor kompliziert berechnet. Sie überlegte kurz und reichte Sara das kleinere der beiden Geschenke über den Tisch.

„Zuerst das.“

Der Gegenstand unter dem Papier knisterte leise. Sara bewunderte zunächst gebührend Naimas Einpackkünste, ehe sie sich ans Auswickeln machte. Als sie den Inhalt dann in den Händen hielt, musste sie ihre Mundwinkel allerdings zu einem Lächeln überreden, das ein wenig gequält ausfiel.

„Oh! Früchtetee.“

„Magenmilder Mittsommertraum“, erklärte Naima strahlend. „Mit Heidelbeeren und Roter Bete.“

„Äh … danke.“

Sara legte die Teepackung beiseite und griff nach dem zweiten Geschenk, das verdächtig nach Buch aussah, als aus Caros Handtasche ein haarsträubender Schmachtfetzen dudelte. Caro holte ihr Handy hervor, warf einen Blick aufs Display, zog eine Grimasse, und nahm den Anruf an.

„Hallo, Eva!“, flötete sie. „Hier ist alles in bester Ordnung. Sara packt gerade Geschenke aus … Nein, natürlich störst du nicht … bis nachher!“

Johanna warf einen Blick auf ihre Uhr. „Fast eine Stunde bis zum ersten Kontrollanruf“, stellte sie anerkennend fest. „Die ist ja richtig geduldig geworden.“

Doch kaum hatte Caro ihr Handy zurück in die Tasche gesteckt, jodelte es erneut los. Mit einem genervten Grunzen packte sie es wieder aus.

„Ja, was ist denn noch? … Aber sicher sind wir rechtzeitig zurück. Kannst dich auf uns verlassen, weißt du doch. Tschaui!“

Nachdem sie Eva derart abgewürgt hatte, drückte sie energisch auf den Ausschaltknopf und ließ das Handy herunterfahren. „So, aus die Maus!“

„Sorry“, murmelte Sara schuldbewusst und zog den Kopf ein.

„Kannst du ja nichts für, dass deine Alte ein bisschen spinnt“, versuchte Johanna, sie zu trösten.

Naima nickte ihr auffordernd zu. „Pack lieber mal das andere Geschenk aus!“

Sara erwartete nicht allzu viel, als sie das Papier löste, denn eine ausgemachte Leseratte war sie nie gewesen. Das Buchcover, das darunter zum Vorschein kam, zauberte ihr dann aber ein Strahlen aufs Gesicht.

„Ein Schweden-Reiseführer! Danke, Naima!“

Das war ganz nach ihrem Geschmack. Wenn sie schon nicht selbst in ihre Heimat kam, konnte sie wenigstens zu Hause ein wenig in Bildern und Beschreibungen schwelgen. Sara sammelte alles, was sie über Schweden in die Finger bekam, vom Urlaubsprospekt bis hin zur Fahne, die sie neben Dirk über ihr Bett gehängt hatte. Ihre Sammlung füllte mittlerweile eine komplette Schreibtischschublade. Sie sprang auf, lief um den Tisch herum und umarmte ihre Freundin. Johanna nutzte den Moment, um sich das Taschenbuch zu schnappen und angeregt darin zu blättern.

„Allein schon wegen der Metal-Festivals würde sich eine Reise nach Schweden lohnen“, meinte sie und knallte das Buch wieder auf den Tisch. „Aber natürlich schreiben die in solchen Schmökern kein Wort über so was. Alles Kulturbanausen!“

„Ich bin mir nicht sicher, ob Metal für Sara ein Grund wäre, nach Schweden zu fahren.“

Caro lächelte geheimnisvoll, hob erneut ihre Handtasche auf den Schoß und kramte darin herum. Als sie fündig geworden war, zog sie einen länglichen Umschlag heraus und überreichte ihn Sara mit feierlicher Miene.

„Und das hier ist mein Geschenk an dich.“

Saras Fingerspitzen begannen zu kribbeln. In einem solchen Kuvert würde sich kein liebloser Gutschein von der Supermarktkasse verbergen, das war nicht Caros Stil. Sie kannte ihre Freundin fast so gut wie sich selbst und wusste, dass Caro sich etwas Besonderes ausgedacht hatte. Doch kaum hatte sie den Umschlag halb aufgeratscht, ertönte aus Johannas Hosentasche ein schrilles Kreischen.

Während Naima nicht einmal mit der Wimper zuckte, fuhren Sara und Caro erschrocken zusammen. Mit einem breiten Grinsen zog Johanna ihr Smartphone aus der Tasche und drehte es, damit alle sehen konnten, dass sie Eva als „Saras Stalkerin“ in ihrer Kontaktliste eingespeichert hatte. Beschämt senkte Sara den Blick und wünschte sich, Eva nicht die Handynummern ihrer Freundinnen verraten zu haben. Hätte sie wenigstens ein paar Zahlendreher mitdiktiert!

Johanna machte kurzen Prozess. Mit einem „Der gewünschte Teilnehmer ist zurzeit leider nicht erreichbar!“ schaltete sie ihr Handy ab. Naima folgte ihrem Beispiel.

„Diese Ruhe …“, seufzte sie.

Johanna warf einen erneuten Blick auf die Uhr. „Mal sehen, wie lange es dauert, bis sie den Laden hier aufmischt und Sara ausrufen lässt.“

„Beschrei es bitte nicht“, flehte Sara, die Eva genau das zutraute.

Manchmal kam sie sich vor wie einer dieser Hunde, die ihr auf dem Gehweg entgegengeprescht kamen, nur um von ihren Frauchen mit einem energischen Ruck an der Leine wieder zurückgerissen zu werden. Wenn Eva sie laufen ließ, konnte es vorkommen, dass sie ihren Drang nach vorn jäh abbremste.

„Ehrlich, dass du dir das mit siebzehn noch gefallen lässt!“ Mit einem missbilligenden Kopfschütteln setzte Naima ihre Teetasse ab. „So streng sind nicht mal meine Eltern, und das als fromme Moscheegänger!“

„So ist meine Mutter eben“, erklärte Sara lahm und hoffte, das leidige Thema damit zu beenden.

Sie nahm sich wieder Caros Umschlag vor, zog ein sorgfältig gefaltetes Blatt Papier heraus und klappte es voller Erwartung auf. Erlebnis-Gutschein hatte Caro mit geschwungenen Buchstaben darauf gemalt. Sara musste schlucken, ehe sie weiterlas. Doch der Text übertraf alles, was sie sich hätte vorstellen können:

Liebste Sara,

ich schenke dir zwei Fährtickets nach Malmö. Eins für dich, eins für mich. Wir hauen ein Wochenende lang zusammen ab und verraten niemandem ein Wort. Einzig Johanna und Naima wissen Bescheid. Ich freu mich schon!

Deine Caro.

„Oh mein Gott!“ Sara schossen Tränen in die Augen und sie presste das Papier an ihre Brust. „Du bist verrückt!“

„Vielleicht.“ Caro grinste nicht nur, ihr Gesicht leuchtete vor Freude über die gelungene Überraschung wie die gesamte Lampenabteilung von IKEA.

Sara fehlten die Worte. „Das kannst du doch nicht machen …“, stammelte sie. „So viel Geld …“

„Ach, so wild ist es nicht“, wiegelte Caro, um Bescheidenheit bemüht, ab. „Wenn man lauter Verwandte hat, die es als sportliche Disziplin betrachten, einem zu jeder Gelegenheit Geldscheine zuzustecken, dann kann man auch etwas davon abgeben.“

„Aber trotzdem …“

„Geld ist nur Mittel zum Zweck. An die Scheine werde ich mich nie erinnern. An den Spaß, den wir zusammen in Schweden haben werden, schon!“

Völlig geplättet ließ Sara sich gegen die Stuhllehne fallen. Das war zu schön, um wahr zu sein! Denn eine ganz entscheidende Frage war da noch offen.

„Wie kriegen wir es hin, dass unsere Eltern keinen Verdacht schöpfen? Meine Mutter würde austicken und Himmel und Hölle in Bewegung setzen, wenn ich einfach abhaue.“

„Hier kommt nun mein Geschenk ins Spiel“, verkündete Johanna und hob aufreizend ihre leeren Hände. „Ich schenke dir nämlich das perfekte Alibi.“

„Ach ja?“

„Ja. Ihr verbringt das Wochenende bei mir zu Hause und helft mir mein Zimmer zu renovieren. Meine Eltern haben es mir ziemlich übel genommen, dass ich die Wände und die Decke Dark Purple gestrichen habe, als sie ein paar Tage weg waren.“

„Dark Purple?“, wiederholte Sara stirnrunzelnd.

„Na ja, so auberginenfarben.“

„Also schwarz.“

„Jedenfalls muss das alles wieder weiß werden.“ Sie seufzte abgrundtief. „Und wie gesagt, ihr helft mir dabei. So verklickern wir das deiner Mom. Das merkt keine Sau!“

Caro nickte zufrieden in die Runde. „Damit wäre das auch geklärt. Mach dir keine Sorgen, Sara. Du kommst noch diesen Herbst nach Schweden. Mein Ehrenwort!“

Doch Sara war sich da nicht so sicher. Falls Eva sie überhaupt ein ganzes Wochenende lang weggehen ließ, würde sie sich das Stalken nicht nehmen lassen. Und dann würde alles auffliegen. Garantiert.

+++

„Kurz vor elf“, stellte Caro vergnügt fest, als sie aus dem Bus stiegen und den Weg in ihre Siedlung einschlugen. „Wir sind keine zwei Stunden über der Zeit. Hab ich’s dir nicht gesagt?“

„Du findest es also witzig, dass ihr mir allesamt gerade einen Haufen Ärger eingefahren habt, ja?“

Im Geiste sah Sara ihre Mutter, das Handy umklammert haltend, im Wohnzimmer umherwandern, drauf und dran, die Polizei zu alarmieren. Johanna hatte sie alle überredet, nach IKEA noch mit ins Kino zu kommen. Sara hatte sich ausklinken wollen, doch ihre Freundinnen hatten ihren Protest nicht gelten lassen, sie mit sich gezogen und sogar ihre Eintrittskarte bezahlt. Caro hatte Eva kurz vor Filmstart eine SMS geschrieben. Trotzdem hatte Sara die Actionkomödie nicht genießen können und im Dunkeln immer wieder verstohlen auf ihre Handyuhr geschielt.

„Naima hat recht“, sagte Caro. „Du solltest dir diese Gängelei nicht mehr gefallen lassen. Was willst du denn machen, wenn du nach dem Abi irgendwo studieren willst? Soll deine Mama dir dann über hunderte Kilometer weg das Okay geben, wenn dein Prof die Vorlesung überzieht?“

„Ach, studieren …“ Sara wischte den Gedanken aus der Luft. „Wahrscheinlich mache ich doch eine Ausbildung zur Physiotherapeutin. Dafür müsste ich nicht aus Lübeck wegziehen.“

„Super Idee!“, stöhnte Caro. „Herzlichen Glückwunsch zu so viel Eigenständigkeit!“

Sie hatten ihr Wohnhaus erreicht. Sara öffnete das Törchen und sie liefen über den Plattenweg zur Eingangstür. Das Haus gehörte Caros Eltern, die Saras und Evas Vermieter waren. Caros Mutter unterrichtete an der Volkshochschule Deutsch als Zweitsprache und hatte in einem ihrer Kurse vor elf Jahren Eva kennengelernt.

Durch Zufall hatte Gaby Moormann erfahren, dass die junge Mutter aus Schweden und ihre kleine Tochter sehr beengt in einer dunklen Einzimmerwohnung hausten. Spontan hatte sie Eva die Mansarde, die frei stand, zu einer unverschämt günstigen Miete angeboten. Eva hatte das dankbar angenommen.

Gabys Hintergedanke, dass Evas Tochter eine ideale Spielgefährtin für ihr gleichaltriges Kind abgeben würde, war in den folgenden Jahren voll aufgegangen. Sara und Caro hingen seither schier untrennbar zusammen wie ein Klettverschluss und Sara ging bei Familie Moormann ein und aus. Caros Eltern hatten sie längst als Zweittochter adoptiert.

Vor der Haustür warf Caro einen prüfenden Blick in den Himmel, wo die dicke Wolkendecke zu überlegen schien, ob sie hier oder doch erst über der Ostsee abregnen sollte. Ab und zu ließ sie ein Probetröpfchen zu Boden plinkern, wie um die Wirkung zu testen.

„Morgen Freibad?“, fragte Caro wagemutig. „Es soll noch mal warm werden.“

„Warmer Regen vielleicht!“ Lachend streifte Sara ihre Schuhe am Fußabtreter ab und trat ins Haus. „Lass uns das morgen entscheiden. Gute Nacht!“

„Nachti!“

Sara lief die Treppe hoch ins Obergeschoss, zog die Schuhe vor der Tür aus, ließ sie ins Schuhregal neben Evas graue Lieblingspumps plumpsen und betrat die Wohnung.

Ihre Mutter musste sie auf der Treppe gehört haben, denn kaum klappte die Tür, kam sie wie ein Schmetterball angeschossen. Sara war darüber nicht wirklich überrascht.

„Hör mal, so geht das nicht!“, legte Eva sofort los. Eine tiefe Falte verunzierte ihre sonst so makellos glatte Stirn. „Erst schalten alle ihre Handys aus, dann Caros lapidare SMS, dass ihr noch ins Kino wollt … Weißt du eigentlich, was für Sorgen ich mir gemacht habe?“

„Entschuldige“, murmelte Sara zerknirscht und senkte den Kopf, weil sie diese Mischung aus Zorn und Furcht im Blick ihrer Mutter nur schwer ertrug. Davon bekam sie automatisch ein schlechtes Gewissen. Sie wollte nicht schuld daran sein, wenn Eva wieder einmal von Angst übermannt wurde. Trotzdem war es passiert. Sie hörte es an ihrer Stimme, die sich zum Falsett steigerte.

„Ich hätte euch doch vom Kino abholen und nach Hause fahren können!“, meinte Eva.

„Mama, ich bin siebzehn“, erinnerte Sara sie und dachte daran, was Caro auf dem Heimweg zu ihr gesagt hatte. Insgeheim gab sie ihrer Freundin recht. Wollte sie sich das in einem Jahr noch gefallen lassen?

„Manchen Gefahren ist dein Alter egal.“ Eva verschränkte stur die Arme. Diese Haltung und die trotzig aufgeworfenen Lippen gaben ihr ein kindliches Aussehen. „Und solange ich dich davor bewahren kann, werde ich es tun.“

Sara verkniff sich eine patzige Antwort. Mit der Schulter stieß sie ihre Zimmertür auf und zog sich in ihr kleines Reich zurück, in der Hoffnung, noch einmal davongekommen zu sein. Sie wollte die Tür hinter sich ins Schloss ziehen, doch Eva war schneller und hielt sie auf.

„Was ist denn noch?“, fragte Sara unwirsch und drehte sich um.

„Die Wäsche!“ Eva nickte in Richtung Badezimmer. „Wenn du noch Sachen für die 60-Grad-Wäsche hast, dann her damit! Ich will die Maschine vorprogrammieren.“

„Ach so“, brummte Sara erleichtert. Ihr fielen die verschwitzten Socken ein, die im Seitenfach ihrer Sporttasche vor sich hin gammelten. „Moment!“

Sie zerrte die Tasche aus der Ecke hinter ihrer Zimmertür, öffnete den Reißverschluss an der Seite, fuhr mit der Hand hinein und stutzte. Statt der Socken berührten ihrer Finger etwas aus festem Papier. Erst wunderte sie sich, doch als sie den apfelgrünen Umschlag hervorzog, erinnerte sie sich, wie Lars ihr diesen Brief ausgehändigt hatte. Sie warf ihn auf ihr Bett, um ihn später zu öffnen, kramte die Stinkesocken hervor und stopfte sie im Bad in die Waschmaschine.

„Na, war’s denn schön bei IKEA?“

Sara, die genau wusste, wie sehr ihre Mutter diesen Laden verabscheute, streckte ihr lachend die Zunge heraus. „Wunderschön.“

„Hat Caro wieder säckeweise Unsinn eingekauft?“

„Nur ungefähr sechsundzwanzig Bilderrahmen für die neuesten Familienfotos. Und einen Plüsch-Broccoli.“

„Na dann.“ Eva stellte das Waschprogramm ein, gähnte und wandte sich dem Badezimmerspiegel zu, um sich abzuschminken. Sara tat dasselbe, putzte sich die Zähne, wünschte ihrer Mutter eine gute Nacht und verzog sich in ihr Zimmer.

Der grüne Briefumschlag lag auf ihrer Bettdecke, die sie am Morgen nachlässig zusammengelegt hatte. Sie hob ihn auf, wendete ihn erneut, aber in der Zwischenzeit war kein Absender von Zauberhand auf dem Umschlag aufgetaucht. Sie lauschte, hörte, wie Eva den Wasserhahn rauschen ließ, kurz darauf aus dem Bad kam, durch den Flur schlich und ihr Schlafzimmer nebenan betrat.

Nachdem die Tür leise zugezogen worden war, riss Sara den Umschlag auf. Sie wusste nicht genau, warum sie erst sichergehen wollte, dass sie nicht gestört wurde. Es war so ein Gefühl. Irgendetwas an diesem Brief kam ihr merkwürdig vor. Vielleicht waren es die schwedischen Marken. Sie kannte niemanden in Schweden, der ihr Post schicken würde.

Mit wachsender Neugier zog Sara eine Karte aus dem Umschlag. Auf dem Deckblatt war ein appetitlich aussehender Cupcake in Pastelltönen abgebildet, in dem eine einzelne brennende Kerze steckte. Darüber stand in geschwungener Schrift: Grattis på födelsedagen! Unverkennbar eine Geburtstagskarte. Verwundert betrachtete Sara das Bild. Nicht nur, dass sie niemanden in Schweden kannte. Ihr fiel erst recht niemand ein, der wissen konnte, dass sie heute Geburtstag hatte! Vorsichtig klappte sie die Karte auf und las, was der unbekannte Absender in sauberer Handschrift auf Schwedisch hineingeschrieben hatte.

Liebe Sara,

wir haben uns lange nicht mehr gesehen. Ich möchte dir trotzdem zu deinem 17. Geburtstag gratulieren und wünsche dir von Herzen alles Gute und ein erfolgreiches neues Lebensjahr. Ich würde mich freuen von dir zu hören.

Papa

Entsetzt klappte Sara die Karte wieder zu und warf sie aufs Bett zurück, als hätte sie in ihren Händen plötzlich Feuer gefangen.

Das war nicht möglich. Das konnte nicht sein.

Sie schloss die Augen, atmete kurz durch, schlug die Augen wieder auf und starrte die Karte an. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen, hob sie erneut auf und las den Inhalt noch einmal. Und noch einmal. Fassungslos schüttelte sie den Kopf. Papa. Das war völlig undenkbar. Ihr Vater war seit zwölf Jahren tot. Er war bei einem Frontalcrash mit einem Holzlaster ums Leben gekommen, auf einer Landstraße irgendwo in Schweden. Der schrieb ganz sicher keine Geburtstagskarten mehr.

Ratlos drehte Sara die Karte hin und her, doch außer einer kryptischen E-Mail-Adresse fand sie keinen Hinweis auf den Absender. Da hatte sich wohl jemand einen besonders geschmacklosen Scherz erlaubt. Aber wer auch immer glaubte, ihr damit einen Schrecken einzujagen, hatte sich getäuscht. Sie würde einen Teufel tun und auf diesen Unsinn antworten. Das hatte der Absender nicht verdient. Einer solchen Frechheit begegnete man am besten mit Ignoranz.

Sara klappte die Karte wieder zu und überlegte. Gleich ins Altpapier damit? Besser nicht. Wenn Eva sie in der Papierkiste in der Küche fand und las, würde sie nur unbequeme Fragen stellen. Darauf hatte Sara keine Lust – auf einen Ausflug zur Papiertonne, die unten in der Garage stand, allerdings auch nicht. Kurzerhand steckte sie die Karte in den Spalt zwischen Matratze und Bettrahmen. Dort war sie fürs Erste sicher aufgehoben. Sie knipste das Licht aus und beschloss, die Sache auf sich beruhen zu lassen.

#4

„Hab ich’s nicht gesagt?“ Caro setzte ihre Sonnenbrille auf und reckte die Nase gen Himmel. „Perfektes Freibadwetter. Vielleicht zum letzten Mal in diesem Jahr!“

Über Nacht hatte sich der Regen in Richtung Ostsee verzogen und Platz bereitet für einen strahlend blauen Spätsommerhimmel. Und weil das Thermometer im Laufe des Vormittags so fleißig nach oben geklettert war und es sich knapp über dem 25-Grad-Strich gemütlich gemacht hatte, spazierten Sara und Caro am frühen Nachmittag zum nahe gelegenen Freibad. Auf dem Weg durch ihre Siedlung erzählte Sara von der Geburtstagskarte, die sie am Abend davor so durcheinandergebracht hatte.

„Mensch, solche Post möchte ich auch mal bekommen!“, rief Caro neidisch.

„Ich wüsste nicht, was daran toll sein soll“, erwiderte Sara spitz. Wenn Caro sich unbedingt von irgendeinem Fremden veralbern lassen wollte …

„Immerhin kriegst du mal einen spannenden Brief!“ Caro musste gegen das Dröhnen eines Rasenmähers anschreien, der hinter einer dichten Lorbeerhecke seine Bahnen zog. Im Nachbargarten schimpfte jemand lautstark.

Sara lief schneller, um der nachbarschaftlichen Kabbelei zu entkommen.

„Ist doch dein Problem, wenn du so langweilige Brieffreunde hast.“

„Sterbenslangweilig!“, jammerte Caro.

Sie war Mitglied in einem internationalen Briefclub, in dem es zum Ehrenkodex gehörte, ausschließlich von Hand zu schreiben. Wie man so etwas freiwillig tun konnte, wollte Sara, die schon nach einer handgeschriebenen Seite Krämpfe in den Fingern bekam, nicht in den Kopf.

„Die Tante aus Irland geht auf ein katholisches Mädcheninternat“, fing Caro an aufzuzählen. „Der Franzose ist zwar ganz schnuckelig, aber seine Briefe stinken nach Weichspüler. Und das Mädel aus Taiwan gewinnt ständig irgendwelche Preise in Mathematikwettbewerben. Also, bitte!“

Ihre ehrliche Empörung brachte Sara zum Lachen. „Wenn du einen schwedischen Brieffreund mit zweifelhaftem Humor suchst, könnte ich dir einen anbieten. Ich habe allerdings nur seine E-Mail-Adresse.“

„Danke, aber den darfst du gerne behalten.“

Sie hatten das Ende der Siedlung erreicht und schlugen einen Feldweg ein, der parallel zur Bahnlinie verlief. In einiger Entfernung tutete ein Zug. Einer der wenigen, die sonntags dort entlangfuhren. Die Schienen sirrten. Ein hoher, singender Ton, der in Saras Ohren zu schnell zu einem unangenehmen Kreischen anschwoll.

„Und was, wenn …“, begann Caro, wurde aber von der Regionalbahn übertönt, die in diesem Moment an ihnen vorbeirauschte. Der Luftzug zerrte an Saras Badetasche.

„Was hast du gesagt?“, schrie sie gegen den Lärm an.

Caro wartete, bis der Zug vorüber war. Fast augenblicklich herrschte wieder Stille. „Ich meinte: Warum glaubst du eigentlich, dass die Karte ein Scherz sein soll?“

Sara schnaubte. „Was sollte das denn sonst sein?“

„Na ja …“ Caro schnitt eine nachdenkliche Grimasse. „Was, wenn sie ganz ehrlich gemeint war? Wenn es doch dein Vater war, der sie geschrieben hat?“

Mit langen Schritten überquerte Sara die Bahngleise, um auf den Weg zu gelangen, der nach wenigen Metern vor den Toren des Freibads endete.

„Ausgeschlossen. Mein Vater ist tot, du erinnerst dich?“

Caro legte einen Zahn zu, um nicht den Anschluss zu verlieren. „Ja, natürlich. Das ist das, was dir deine Mutter erzählt hat. Aber warum sollte sich ein Fremder für deinen Vater ausgeben und dir Glückwünsche schicken, frage ich dich?“

Sara blieb abrupt stehen. „Willst du etwa behaupten, meine Mutter lügt?“

Caro ließ sich von dem zornigen Funkeln in Saras Blick nicht beeindrucken. „Ich behaupte gar nichts. Ich spiele nur die Möglichkeiten durch.“

„Möglichkeiten!“ Sara spuckte ihr das Wort vor die Füße, drehte sich um und lief weiter, die Badetasche eng unter ihren Arm geklemmt. „Dass mein Vater lebt, ist keine Möglichkeit. Und jetzt ist Schluss damit!“

Verwundert über diesen Ausbruch stolperte Caro hinter ihr her. Sie hatte Sara nur äußerst selten so aufgebracht erlebt.

Sie traten durchs Tor, überquerten die Liegewiese und suchten sich ein schattiges Plätzchen, was gar nicht so einfach war. Außer ihnen waren noch jede Menge anderer Leute aus der Gegend auf die Idee gekommen, den vielleicht letzten warmen Tag des Sommers im Freibad zu verbringen. Es lag am Kleinen See, einer Ausbuchtung des Flüsschens Wakenitz, das vom Ratzeburger See aus bis nach Lübeck floss. Im Sommer verbrachten Sara und Caro große Teile ihrer Freizeit in dem Naturbad.

Nach einigem Suchen fanden sie eine freie Stelle unweit des Schilfs. Sara ließ ihre Badetasche ins Gras plumpsen und Caro breitete ihre Picknickdecke aus.

„Warum bist du jetzt eigentlich sauer?“, fragte Caro vorsichtig, als sie nebeneinander auf der Decke saßen.

Sara streifte ihr Top ab, unter dem sie ihren Sportbikini trug, und warf es neben sich ins Gras. „Weil meine Mutter nicht lügt. Das lasse ich nicht auf ihr sitzen.“

Caro überlegte einen Augenblick, ehe sie einen provokanten Vorstoß wagte. „Und falls doch?“

Da drehte Sara ihr den Rücken zu, umklammerte ihre Knie und starrte mit eisigem Schweigen auf den Kleinen See hinaus. Caro begriff und seufzte. Bis hierher und nicht weiter.

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Mit kräftigen Zügen glitt Sara durch das herrlich kühle Wasser. Anfangs kostete es sie jedes Mal Überwindung, in den See zu waten und sich endlich nach langem Zaudern hineinfallen zu lassen. Wenn sie den kleinen Schock, der daraufhin ihre Lungen wie eine kalte Hand packte, überwunden hatte, stellte sich aber schnell ein unvergleichlich frisches, lebendiges Gefühl ein, von dem sie nicht genug bekommen konnte. Dann schwamm sie weiter raus und immer weiter.