Schau heimwärts, Engel (Neuausgabe. Neuübersetzung 2009) - Thomas Wolfe - E-Book

Schau heimwärts, Engel (Neuausgabe. Neuübersetzung 2009) E-Book

Thomas Wolfe

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Beschreibung

«Schau heimwärts, Engel» ist eines der legendären Romanepen des 20. Jahrhunderts. Betörend durch die Unmittelbarkeit des Erzählten wie durch eine Sprachkunst, in der schonungsloser Realismus und lyrische Anmut Hand in Hand gehen, gilt es als stilbildend für die moderne amerikanische Erzähltradition bis hin zu Jonathan Franzen. Mit der kommentierten Neuübersetzung kann man Wolfes Meisterwerk nun in seiner ganzen jugendlichen Frische und Kraft wiederentdecken.

«Home, sweet home» … Doch die Verhältnisse, in die der Romanheld Eugene Gant hineingeboren wird, sind alles andere als heimelig. Ein jähzorniger Alkoholiker der Vater, eine berechnende Krämerseele die Mutter, wird sein Elternhaus im Nu zur Keimzelle zwischenmenschlicher Dramen. Bei aller Erbitterung und Zwietracht der Gants erweist sich ihr Clan aber auch als Hort eines unbändigen Lebenswillens. «Schau heimwärts, Engel», erschienen 1929, zeigt vielfältigste Facetten häuslichen Glücks und Unglücks und liest sich über weite Strecken als Abrechnung mit dem Heiligtum des «American way of life»: der Familie. Aufs Exemplarische abzielend, erwächst aus der drei Generationen überspannenden Chronik ein faszinierendes Zeit und Sittenbild der Vereinigten Staaten, eine Erkundung der Mythen und Mentalitäten des Landes und nicht zuletzt ein Hymnus auf dessen nie versiegende Vitalität.

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Inhaltsverzeichnis

Widmung

Erster Teil

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

Zweiter Teil

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

Dritter Teil

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

ANMERKUNGEN

NACHWORT

EDITORISCHE NOTIZ

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Leseprobe: Thomas Wolfe, Eine Deutschlandreise

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Widmung

Vorwort

Hauptteil

Endnoten

Nachwort

Inhaltsverzeichnis

SCHAU HEIMWÄRTS, ENGEL
«Einstmals war die Erde vermutlich ein weißglühender Himmelskörper wie die Sonne.»Tarr and McMurry
Für A. B.
«Dann, so wie alle meine Seelen Bei dir im Paradies sind (und mir fehlen Verstehen, Wachsen, Sehen ohne dich) So wie die Sparren, mein Gebein, Bei dir verharren, werden die Muskeln, Sehnen, Venen, die Ziegel dieses Hauses, wiederkehren.»1
Dies ist ein Erstlingswerk, und der Verfasser berichtet darin von Erfahrungen, die inzwischen in weite Ferne gerückt und verlorengegangen sind, jedoch einst zum Geflecht seines Lebens gehörten. Sollte jemand also das Buch«autobiographisch»nennen, weiß der Verfasser nichts darauf zu entgegnen, denn ihm scheint jedes ernsthafte literarische Werk autobiographisch zu sein – so kann er sich beispielsweise kaum ein autobiographischeres Werk als«Gullivers Reisen»2 denken.
Diese Zeilen richten sich jedoch vor allem an die Menschen, die der Verfasser in der nachfolgend beschriebenen Zeit mehr oder weniger gut gekannt hat. Ihnen gegenüber möchte er das bekräftigen, was sie wohl bereits verstanden haben: dass dieses Buch nämlich in argloser, lauterer Absicht geschrieben wurde und es seinem Verfasser in erster Linie darum ging, den Handlungen und Figuren in seinem Werk Glaubwürdigkeit, Lebendigkeit und Intensität zu verleihen. Er legt vor der Veröffentlichung nun Wert auf die Feststellung, dass es sich um ein fiktives Werk und nicht um das Porträt lebender Personen handelt.
Doch sind wir alle die Summe sämtlicher Augenblicke unseres Lebens – in ihnen liegt alles, was wir sind: dies können wir weder vermeiden noch verbergen. Wenn der Autor den Lehm des Lebens genommen hat, um daraus sein Buch zu formen, hat er damit nur das genommen, was jeder nehmen muss und niemand beiseitelassen kann. Erfundenes ist keine Tatsache, aber Erfundenes wählt und durchdringt Tatsachen, ordnet sie und verleiht ihnen Sinn. Dr. Johnson3 meint, man brauche eine halbe Bibliothek für ein einziges Buch, und ebenso mag ein Romancier die Bevölkerung einer halben Stadt brauchen, um daraus eine einzige Figur in seinem Roman zu schaffen. Dies ist nicht die ganze Kunst, jedoch, wie der Autor glaubt, ein gutes Bild für die ganze Kunst in einem Buch, das aus einiger Distanz und ohne Groll oder böse Absicht geschrieben wurde.

Erster Teil

... ein Stein, ein Blatt, eine nie gefundene Tür; von einem Stein, einem Blatt, einer Tür. Und von all den vergessenen Gesichtern.
Nackt und allein gingen wir ins Exil. In ihrem dunklen Schoß kannten wir das Gesicht unserer Mutter nicht, und aus dem Gefängnis ihres Fleisches hatten wir in das unaussprechliche und unsagbare Gefängnis dieser Erde zu gehen.
Wer von uns kennt seinen Bruder? Wer von uns hat seinem Vater ins Herz geblickt? Wer von uns blieb nicht auf ewig gefangen? Wer von uns bleibt nicht für immer ein Fremder und allein?
Vergeudet und verloren, in heißem Irrlichtern, verloren, unter glänzenden Sternen auf dieser so matten, glanzlosen Asche, verloren! Uns sprachlos erinnernd suchen wir die große, vergessene Sprache, den verlorenen Himmelspfad, einen Stein, ein Blatt, eine nie gefundene Tür. Wo? Wann?

1

Ein Schicksal, das Engländer unter Deutsche4 führt, ist seltsam genug; doch wenn es von Epsom nach Pennsylvania führt und in den Hügelkranz um Altamont, wo der Hahn stolz im Korallenrot kräht und ein Marmorengel milde lächelt, webt eine dunkle Fügung mit, die in der öden Welt neue Wunder wirkt.
Die Summe dessen, was wir sind, hat keiner von uns je ermessen; man versetze uns zurück in Blöße und Nacht und wird vor viertausend Jahren auf Kreta die Liebe keimen sehen, die gestern in Texas ihr Ende fand.
Die Saat unseres Untergangs wird in der Wüste aufgehen, das Gegengift wächst aus dem Gebirgsfelsen, und durch unser Leben spukt eine Schlampe aus Georgia, weil in London ein Taschendieb dem Galgen entging. Jeder Moment ist die Frucht von vierzigtausend Jahren. Die minutengesättigten Tage summen wie Fliegen heimwärts in den Tod, und jeder Moment ist wie ein Ausblick auf alle Zeiten.
So auch dieser: Ein Engländer namens Gilbert Gaunt, der sich später Gant nannte (wohl aus Rücksicht auf die Aussprache durch die Yankees), kam 1837 auf einem Segelschiff von Bristol nach Baltimore und ließ den Ertrag des Wirtshauses, das er erworben hatte, bald seine sorglose Kehle hinunterrinnen. Er zog weiter westwärts nach Pennsylvania, hielt sich leidlich damit über Wasser, dass er Kampfhähne gegen Bauernhofgockel antreten ließ, und musste oft genug seinen Champion tot auf dem Platz zurücklassen und sich nach einer Nacht Arrest ohne klingende Münze in der Hosentasche, dafür zuweilen mit dem Abdruck einer tüchtigen Farmerfaust im dreisten Gesicht, aus dem Staub machen. Aber irgendwie kam er immer davon, und als er schließlich zur Erntezeit bei den Deutschen landete, war er von der Üppigkeit ihres Landes dermaßen angetan, dass er hier vor Anker ging. Binnen eines Jahres heiratete er eine herbe junge Witwe mit einer schmucken Farm, die wie all ihre Landsleute von seinem weltläufigen Auftreten und seiner grandiosen Beredsamkeit beeindruckt war, besonders wenn er nach Art des großen Edmund Kean den Hamlet gab.5 Sie fanden alle, er hätte Schauspieler werden sollen.
Der Engländer zeugte Kinder – eine Tochter und vier Söhne -, lebte sorglos und unbeschwert dahin und ertrug die scharfen, aber aufrichtigen Bemerkungen seiner Frau geduldig. So vergingen die Jahre, der klare, ein wenig stechende Blick trübte sich hinter eingesunkenen Lidern, die Gicht lähmte den Schritt des hochgewachsenen Engländers, und eines Morgens, als seine Frau ihn aus dem Schlaf nörgeln wollte, fand sie ihn tot – von einem Schlaganfall dahingerafft. Er hinterließ fünf Kinder, eine Hypothek und in seinen seltsam dunklen, nun wieder stechend klaren und weit aufgerissenen Augen etwas, was nicht gestorben war: ein unbändiges und unergründliches Fernweh.
Mit diesem Vermächtnis lassen wir den Mann aus England ruhen und wenden uns nun dem Erben zu, dem er es weitergab, seinem zweiten Sohn, einem Jungen namens Oliver. Wie dieser Junge vor der Farm seiner Mutter am Wegrand stand und die mit Staub bedeckten Rebellen auf ihrem Marsch nach Gettysburg6 an sich vorbeiziehen sah; wie seine kalten Augen sich verschatteten, als er den großen Namen«Virginia»hörte; wie er in jenem Jahr, als der Krieg zu Ende war und er gerade einmal fünfzehn, eine Straße in Baltimore entlanglief und in einer kleinen Werkstatt glattpolierte Grabmale aus Granit erblickte, aus Stein gehauene Lämmer und Cherubim und einen Engel auf entkräfteten, kalten Füßen, mit einem Lächeln milder Statueneinfalt – das ist eine längere Geschichte. Immerhin weiß ich, dass die kalten, ausdruckslosen Augen sich wegen jenes unbändigen, unergründlichen Fernwehs verschattet hatten, das in den Augen des Toten noch lebendig war und ihn von Fenchurch Street7 über Philadelphia hinausgeführt hatte. Als der Junge den großen Engel mit dem Lilienstängel aus Stein erblickte, überkam ihn fröstelnd eine namenlose Leidenschaft. Die langen Finger seiner großen Hände krallten sich zusammen. Er spürte, dass es ihn mehr als nach allem anderen in der Welt danach verlangte, mit Bedacht den Meißel zu führen. Er wollte das Dunkle und Unaussprechliche, das er in sich hatte, dem kalten Stein aufprägen. Er wollte einen Engelskopf meißeln.
Oliver betrat die Werkstatt und fragte einen großen, bärtigen Mann mit Holzhammer um Arbeit. Der Steinmetz nahm ihn in die Lehre. Er arbeitete fünf Jahre lang in dem staubigen Hinterhof. Er wurde ein Steinmetz. Als er ausgelernt hatte, war er zum Mann geworden.
Er kam nie dahinter. Er lernte nie, wie man einen Engelskopf meißelt. Die Taube schon, das Lamm, die gefalteten glatten Marmorhände des Todes und Lettern, schön und fein – aber nicht den Engel. Und all die vergeudeten und verlorenen Jahre – die wilden Jahre in Baltimore voller Arbeit und heilloser Trunkenheit, dazu die Bühnendarbietungen von Booth und Salvini,8 die für den Steinmetzen fatale Folgen hatten, da er das ganze noble Wortgeklingel im Gedächtnis behielt und vor sich hin murmelte, wenn er durch die Straßen lief und dazu theatralisch mit riesigen Händen gestikulierte -, all dies ist ein blindes Tasten und Taumeln in unserem Exil, das Bild unseres Sehnens, wenn wir in sprachlosem Rückerinnern die große vergessene Sprache suchen, den verlorenen Himmelspfad, einen Stein, ein Blatt, eine Tür. Wo? Wann?
Er kam nie dahinter, und er taumelte quer über den Kontinent hinab in die Südstaaten der Wiederaufbaujahre – eine sonderbar ungestüme Erscheinung von sechs Komma vier Fuß,9 mit kalten, flackernden Augen, einem gewaltigen Zinken von Nase und mächtigem Wortschwall: lächerliche und groteske Schmähungen, formelhafte, gleichsam klassische Redefiguren, die er mit großer Ernsthaftigkeit, aber einem leicht verlegenen Tremor um den schmalen, wehklagenden Mund vortrug.
Er machte eine Werkstatt in Sydney auf, der kleinen Hauptstadt eines Staates im mittleren Süden, lebte nüchtern-enthaltsam und fleißig unter den argwöhnischen Blicken der Leute, die nach ihrer Niederlage noch ziemlich reizbar und feindselig waren, und als er sich schließlich einen Namen gemacht und Anerkennung gefunden hatte, heiratete er eine schwindsüchtige hagere Jungfer, die zehn Jahre älter war, dafür aber etwas auf der hohen Kante hatte und wild entschlossen war, zu heiraten. Kaum eineinhalb Jahre später war er wieder ein rasender Irrer, sein Geschäft ging den Bach hinunter, während seine Füße an der blitzblanken Stange unter dem Tresen klebten, und Cynthia, seine Frau, auf deren Lebensdauer er garantiert keinen günstigen Einfluss gehabt hatte, wie es unter den Einheimischen hieß, starb eines Nachts plötzlich an einem Blutsturz.
So war nun alles wieder dahin – Cynthia, die Werkstatt, die mühsam erkämpfte Bewunderung für seine Abstinenz, der Engelskopf -, und der Mann zog in der Dunkelheit durch die Straßen, schleuderte den Rebellen von einst und all ihrer Trägheit seine Verwünschungen in fünfhebigen Versen entgegen, hielt gleichwohl, krank vor Angst und Verlorenheit und Reue, den missbilligenden Blicken der Städter nicht stand und meinte schließlich, während ihm das Fleisch noch mehr von den Knochen schwand, dass Cynthias Fluch ihn nun einhole.
Er war erst Anfang dreißig, sah aber weit älter aus. Sein Gesicht war gelb und eingefallen; die wächserne Nase glich einem Schnabel. Die beiden Enden seines langen braunen Schnurrbarts hingen trübselig herab.
Mit seinen gewaltigen Trinkgelagen hatte er seine Gesundheit ruiniert. Er war dürr wie eine Spindel und hustete. Er dachte in der abweisenden, feindseligen Stadt an Cynthia, und da wurde ihm angst und bang. Er glaubte, er sei schwindsüchtig und müsse bald sterben.
Oliver war wieder allein und verloren, hatte weder einen Halt noch seinen Platz in der Welt gefunden, und weil ihm der Boden unter den Füßen weggezogen worden war, ließ er sich erneut quer über den Kontinent treiben. Er wandte sich nach Westen, der mächtigen Festung der Hügel zu, weil er wusste, dass sein schlechter Ruf nicht hinüberdrang, und in der Hoffnung, er könne dort in der Abgeschiedenheit ein neues Leben beginnen und wieder gesund werden.
Die Augen des ausgemergelten Gespensts verschatteten sich wieder, wie einst in seiner Jugend.
Den ganzen Tag über fuhr Oliver unter einem nassgrauen Oktoberhimmel durch diesen riesigen Staat nach Westen. Während er trübsinnig durch das Fenster auf das weite, ursprüngliche Land hinausstarrte, das zwischen den spärlichen und armseligen Farmen kaum aufgepflügt worden war, so dass es schien, als hätte man nur da und dort in der Wildnis unmerkliche Spuren hinterlassen, erfasste eine bleierne Kälte sein Herz. Er dachte an die großen Scheunen von Pennsylvania, an die Schwere der reifen, goldenen Ähren, an den Überfluss, den Ordnungssinn, den haushälterischen Verstand der Leute. Und er dachte daran, wie er aufgebrochen war, sich selbst Rang und Stand zu erwerben, und dann an das ganze Durcheinander seines Lebens, an die schändlichen, im Nu entglittenen Jahre und die hemmungslos vergeudete Jugend.«Gott!», dachte er.«Ich werde alt! Warum hier?»
Die schauerlichen Gespenster der schemenhaften Jahre zogen an seinem inneren Auge vorüber. Plötzlich sah er, dass eine Reihe von Zufällen seinem Leben die Richtung gewiesen hatten: ein verrückter Soldat, der von Armageddon10 sang, ein Horn, das auf der Straße ertönte, die klappernden Hufe der Armeemulis, ein einfältiges weißes Engelsgesicht in einer staubigen Werkstatt, eine Nutte, die im Vorbeigehen kess mit ihrem Hinterschinken wackelte. Aus Wärme und Überfluss kommend, war er in dieses unfruchtbare Land getaumelt: Als er aus dem Fenster starrte und das unbestellte Land sah, das weite, kahle Massiv des Piedmont11, die schlammigen lehmroten Straßen und die verwahrlosten Gestalten, die an den Bahnhöfen glotzten – ein hagerer Farmer, schlaksig über seine Zügel gebeugt, ein herumlungernder Schwarzer, ein zahnlückiger Bauerntölpel, eine aschfahle Frau mit einem vor Schmutz starrenden Baby -, da versetzte ihm die Unerforschlichkeit des Schicksals einen heftigen Stich. Wie war er nur aus der sauberen deutschen Kinderstube in diese rachitische Einöde geraten?
Der Zug ratterte weiter über die dampfende Erde. Unablässig fiel Regen. Mit einem heftigen Windstoß kam der Bremser herein und entleerte am Ende des schäbig-plüschigen Wagens einen Kohlenkasten in den großen Ofen. Auf zwei Klappsitzen krümmten sich ein paar Bauernlümmel in gellendem, geistlosem Gelächter. Der Pfiff der Lokomotive erklang traurig über den ratternden Rädern. An einem Bahnknotenpunkt im Vorgebirge folgte ein endloses, eintöniges Warten. Dann fuhr der Zug wieder weiter durch die unentwegt vorbeiziehende Landschaft.
Es dämmerte. Die mächtigen Rücken der Hügel tauchten kaum noch aus dem Nebel auf. Trübe, schwache Lichter erglühten in den Hütten an den Hängen. Der Zug kroch über schwindelerregend hohe Gerüste, die geisterhafte Fäden über das Wasser spannten. Bergwärts und talwärts klebten Spielzeughäuschen mit ihren Rauchfähnchen an den Böschungen und Halden und Abgründen. Der Zug wand sich mühselig in Schwerstarbeit die schroffen roten Schluchten empor. Als es dunkel geworden war, stieg Oliver in der kleinen Stadt Old Stockade aus, wo die Gleise endeten. Die letzte Bastion des Hügellands lag kahl über ihm. Als er den schäbigen kleinen Bahnhof verließ und in das tranige Licht eines Dorfladens blinzelte, kam es Oliver vor, als verkrieche er sich wie ein großes Tier in dieser gewaltigen Bergfestung, um hier oben zu sterben.
Am nächsten Morgen setzte er seine Reise in einer Kutsche fort. Sein Ziel war das Städtchen Altamont, vierundzwanzig Meilen hinter dem mächtigen äußeren Kranz der Berge. Während die Pferde sich langsam den Gebirgspfad hinaufmühten, rührten sich Olivers Lebensgeister ein wenig. Es war ein Tag zwischen Grau und Gold im späten Oktober, hell und windig. Die Gebirgsluft war rau und flirrte: Die über ihm aufragenden Steilwände schienen ganz nah, übermächtig, unberührt und öde. Die Bäume waren dürr und kahl: sie trugen fast kein Laub. Der Himmel hing voll weißer Wolkenfetzen; dicke Nebelschwaden trieben gemächlich um die mächtige Kuppe eines Berges.
Unter ihm schäumte ein Wildbach sein steiniges Bett hinab, und er konnte als winzig kleine Punkte Männer Schienen verlegen sehen, die sich dereinst über den Berg bis nach Altamont schlängeln würden. Dann kam das schweißnasse Gespann zum Rand der Gebirgsschlucht und begann zwischen den mächtigen, hoch aufragenden Gipfeln, die in lila Dunst verschwammen, den langsamen Abstieg zur Hochebene, auf der man Altamont erbaut hatte.
Inmitten der erhabenen Ewigkeit dieser Berge sah er, wie in einer riesigen Schale, auf hundert Anhöhen und Senken eine Stadt von viertausend Einwohnern liegen.
Das war Neuland. Sein Herz fasste Mut.
 
Die Stadt Altamont war kurz nach dem Unabhängigkeitskrieg gegründet worden. Viehtreiber und Farmer, die es von Tennessee weiter östlich nach South Carolina zog, hatten hier gern Station gemacht. Und bei der mondänen Gesellschaft aus Charleston und den Plantagen des heißen Südens war sie vor dem Bürgerkrieg über Jahrzehnte hinweg als Sommerfrische beliebt gewesen. Zur Zeit von Olivers Ankunft hatte sie sich bereits einen Ruf nicht nur als sommerliches Urlaubsdomizil, sondern auch als Kurort für Lungenkranke erworben. Etliche reiche Männer aus dem Norden hatten in den Bergen Jagdhütten errichtet, und einer von ihnen hatte riesige Flächen Bergland gekauft und plante nun mit Heerscharen von auswärtigen Baumeistern, Zimmerleuten und Steinmetzen den größten Landsitz Amerikas – einen Kalksteinpalast mit schrägen Schieferdächern und einhundertdreiundachtzig Zimmern, nach dem Vorbild des Schlosses von Blois. 12 Auch ein riesiges neues Hotel gab es, eine Luxusherberge ganz aus Holz, die sich auf der Anhöhe eines gebieterischen Hügels breitmachte.
Doch die meisten der hier Ansässigen waren noch Einheimische, Land- und Hügelbewohner aus der Umgegend. Es war Bergvolk schottisch-irischer Abstammung: rau, provinziell, intelligent und fleißig.
Oliver hatte noch etwa zwölftausend Dollar aus den Trümmern von Cynthias Besitz gerettet. Er mietete im Winter einen Schuppen am Rande des Hauptplatzes, erwarb einen kleinen Vorrat an Marmor und machte sein Geschäft auf. Aber außer sich vor dem drohenden Tod zu fürchten, hatte er zunächst nicht viel zu tun. In jenem bitteren, einsamen Winter, als er sich dem Tode nah fühlte, wurde dieser Yankee, hager wie eine Vogelscheuche, der wild vor sich hin schimpfend durch die Straßen streunte, zu einer stadtbekannten Figur, über die man tuschelte. Und die Mitbewohner in seiner Pension wussten zu berichten, dass er nachts mit den großen Schritten eines Gefangenen sein Zimmer durchmaß und dass ihm ständig ein leises Klagen, das aus den Tiefen seines Innern emporzusteigen schien, über die schmalen Lippen drang. Aber er sprach mit niemandem darüber.
Und dann kam der herrliche Bergfrühling, goldgrün, mit seinen lauen Windstößen, duftendem Blütenzauber und balsamisch einströmender Wärme. Olivers große Wunde begann zu heilen. Seine Stimme war wieder zu vernehmen im Land, das alte zotige Redetalent blitzte auf, und ein Funken des alten Feuers.
Eines schönen Tages im April, als er mit neu erwachten Sinnen vor seiner Werkstatt stand und dem regen Treiben auf dem Platz zusah, hörte Oliver eine Stimme hinter sich. Und diese Stimme, dünn, schleppend und selbstgefällig, förderte sofort eine Erinnerung zutage, die zwanzig Jahre in ihm begraben gewesen war.
«’s kommt! Nach dem, was ich ausgerechnet hab, kommt’s am 11. Juno 1886.»
Oliver drehte sich um und sah den stämmigen, eindringlichen Propheten abziehen, den er zuletzt gesehen hatte, als er die staubige Straße nach Gettysburg und Armageddon hinunter entschwand.«Wer ist das?», fragte er einen Passanten.
Der Mann schaute und grinste.«Das ist Bacchus Pentland», sagte er.«Der ist ein echtes Original. Leute von seinem Schlag gibt’s hier viele.»
Oliver leckte an seinem großen Daumen. Dann, mit einem leichten Grinsen, sagte er:«Ist Armageddon denn schon gekommen?»
«Er erwartet es jeden Tag», sagte der Mann.
 
Dann traf Oliver Eliza. Er lag an einem Frühlingsnachmittag auf dem weichen Ledersofa in seinem kleinen Büro und lauschte dem Gezwitscher auf dem Platz. Ein heilsamer Friede breitete sich von Kopf bis Fuß in ihm aus. Er dachte an die lehmschwarze Erde mit dem Aufleuchten taufrischer Blumen, an perlend kühles Bier und an von Bäumen regnende Pflaumenblüten. Da hörte er die klappernden Absätze einer Frau zwischen den Marmorblöcken näher kommen, und im Nu war er auf den Beinen. Als sie eintrat, schlüpfte er eben in seinen sorgsam gebürsteten, tiefschwarzen Mantel.
«Wissen Sie was», sagte Eliza und schürzte vorwurfsvoll-spöttisch die Lippen:«Ich wollte, ich wäre ein Mann und hätte nichts anderes zu tun, als den ganzen Tag auf einem bequemen Sofa herumzuliegen.»
«Guten Tag, Madam», sagte Oliver mit einer schwungvollen Verbeugung.«Tja», sagte er mit einem verschmitzten leichten Grinsen um die Mundwinkel,«ich fürchte, Sie haben mich bei meinem Mittagsschläfchen erwischt. Eigentlich lege ich mich tagsüber selten hin, aber ich bin jetzt schon seit einem Jahr in miserabler Verfassung und kann nicht mehr arbeiten wie früher.»Er schwieg einen Augenblick und blickte drein wie ein geprügelter Hund:«Gott! Ich weiß nicht, was noch aus mir werden soll!»
«Ach was!», sagte Eliza mit lebhafter Verachtung.«Ich wüsste nicht, was mit Ihnen nicht in Ordnung sein sollte. Sie sind ein großer, strammer Kerl in den besten Jahren. Das ist zur Hälfte pure Einbildung. Wenn wir krank sind, kommt uns das meistens bloß so vor. Ich weiß noch, dass ich vor drei Jahren, als ich in Hominy an der Schule unterrichtete, mit einer Lungenentzündung zu kämpfen hatte. Keiner dachte, ich würde das überleben, aber irgendwie hab ich es doch geschafft. Ich weiß noch gut, wie ich eines Tages so dasaß – ‹rekonvaleszent› heißt es wohl; also, was ich sagen will, der alte Doc Fletcher war grad da gewesen, und als er ging, sah ich, dass er meine Cousine Sally anschaute und den Kopf schüttelte. ‹Meine Güte, Eliza›, sagte sie, kaum dass er weg war, ‹du spuckst jedes Mal Blut, wenn du hustest, sagt er, sicher hast du die Schwindsucht.› – ‹Ach was›, habe ich gesagt. Ich weiß noch, ich habe laut losgelacht, fest entschlossen, mir einen Heidenspaß draus zu machen. ‹Ich lass mich nicht unterkriegen›, dachte ich bei mir, ‹die werden sich alle noch wundern.› – ‹Ich glaube kein Wort davon›, habe ich gesagt»- sie nickte ihm keck zu und schürzte die Lippen -«‹ und außerdem, Sally›, hab ich gesagt, ‹sind wir alle irgendwann einmal dran, und wozu soll man sich darum scheren, was kommt. Vielleicht wird es morgen kommen, vielleicht auch später, aber am Ende trifft es uns garantiert alle.›»>
«Ach Gott!», sagte Oliver mit betrübtem Kopfnicken.«Da haben Sie den Nagel aber auf den Kopf getroffen. Nie zuvor wurde ein wahreres Wort gesprochen.»
«Gütiger Himmel!», dachte er und grinste betreten in sich hinein.«Wie lange geht das noch so? Aber sie ist ein tolles Mädchen, so wahr ich hier stehe.»Er musterte beifällig ihre adrette, aufrechte Gestalt, bemerkte die milchweiße Haut, die schwarzbraunen Augen mit dem kecken Kinderblick und das pechschwarze Haar, das von der hohen weißen Stirn streng nach hinten gekämmt war. Sie hatte die seltsame Angewohnheit, nachdenklich die Lippen zu schürzen, ehe sie etwas sagte; sie ließ sich gern Zeit, kam erst nach endlosen Abschweifungen bis in die hintersten Winkel von Erinnerung und spontaner Eingebung zur Sache und schwelgte mit selbstverliebtem Frohsinn in der prachtvollen Parade all dessen, was sie je gesagt, getan, gefühlt, gedacht, gesehen oder geantwortet hatte.
Während er sie noch betrachtete, hielt sie plötzlich inne, stützte das Kinn auf ihre elegant behandschuhte Rechte und starrte mit nachdenklich geschürzten Lippen in die Ferne.«Na», meinte sie nach einer Weile,«wenn Sie sich noch erholen müssen und die meiste Zeit nur herumliegen, sollten Sie wenigstens etwas haben, was Ihren Kopf in Gang hält.»Sie öffnete den Lederkoffer, den sie mitgebracht hatte, und entnahm ihm eine Visitenkarte sowie zwei dicke Bände.«Mein Name», eröffnete sie ihm vielsagend und mit Nachdruck,«ist Eliza Pentland, und ich vertrete die Larkin-Verlagsgesellschaft. »Sie sagte es stolz und mit feierlicher Genugtuung.
«Gütiger Himmel, eine Handelsreisende für Bücher!», dachte Gant.
«Das ist unser Angebot», sagte Eliza und schlug einen vergilbten Wälzer auf, der apart mit Speeren, Flaggen und Lorbeerzweigen verziert war:«Ein Gedichtband mit dem Titel ‹Kostbares in Versen für Lagerfeuer und Herd› und dazu ‹Larkins Heimdoktor- und Hausmittelbrevier›, das Rat zur Behandlung und Verhütung von mehr als fünfhundert Krankheiten weiß.»
«Na», sagte Gant mit einem schwachen Grinsen und leckte an seinem Daumen,«da sollte sich wohl eine finden, die auf mich passt.»
«Aber sicher», sagte Eliza und nickte energisch,«wie es so schön heißt: Man liest die Gedichte und tut seiner Seele was Gutes, und man liest Larkin und tut seinem Körper was Gutes.»
«Ich mag Gedichte», sagte Gant, blätterte in dem Buch und hielt interessiert beim Kapitel«Lieder von Sporen und Säbeln»inne.«In meiner Kindheit konnte ich stundenlang welche hersagen.»
Er kaufte die Bücher. Eliza packte ihre Ansichtsexemplare ein, stand auf und sah sich mit prüfender Neugier in der staubigen kleinen Werkstatt um.«Läuft das Geschäft?», fragte sie.
«Sehr mäßig», antwortete Oliver traurig.«Kaum genug, um mich damit über Wasser zu halten. Ich bin eben ein Fremder in einem fremden Land.»
«Ach was!», widersprach Eliza beherzt.«Sie sollten raus hier und mehr Leute treffen. Sie brauchen etwas, was Sie auf andere Gedanken bringt. Wenn ich Sie wäre, würd ich mich da reinstürzen und mithelfen, die Stadt voranzubringen. Wir haben hier alles, was man braucht, um aus Altamont eine anständige Stadt zu machen – die Landschaft, das Klima, die Naturschätze, und da sollten wir alle an einem Strick ziehen. Wenn ich ein paar tausend Dollar hätte, wüsste ich genau, was ich täte...»- Sie zwinkerte ihm listig zu, und mit einer sonderbar männlichen Geste: Zeigefinger ausgestreckt, die Faust leicht geballt, sprach sie weiter -«Sehen Sie diese Ecke hier – die, auf der Sie sitzen? Die ist in ein paar Jahren das Doppelte wert. Also, da»- sie wies mit ihrer Männergeste geradeaus,«da bauen sie irgendwann eine Straße, da können Sie Gift drauf nehmen. Und dann -», sie verzog vielsagend den Mund,«dann ist dieses Grundstück ordentlich was wert.»
Sie sprach weiter über Grundbesitz, mit einer seltsamen andächtigen Gier. Die Stadt schien eine gewaltige Blaupause für sie zu sein: Ihr Kopf war verblüffend voll mit Ziffern und Schätzzahlen – wer welches Grundstück besaß und wer es verkaufte, zu welchem Preis und was es tatsächlich wert war und bald wert sein würde, wie hoch die erste Hypothek war und wie hoch die zweite, und so fort.
Als sie fertig war, sagte Oliver im Gedenken an Sydney mit tiefem Abscheu:«Ich hoffe, ich habe nie mehr eine Liegenschaft, solange ich lebe – abgesehen von einem Haus zum Wohnen. Das bringt einem bloß Fluch und Fehl ein, und am Ende bekommt der Steuereintreiber ja doch alles.»
Eliza sah ihn fassungslos an, als hätte er sich schwer versündigt.«O nein, das ist doch wohl nicht Ihr Ernst!», protestierte sie.«Sie wollen doch bestimmt auch was auf die Seite legen für schlechte Zeiten.»
«Meine schlechten Zeiten sind jetzt», sagte er düster.«Alles, was ich an Grund und Boden brauche, sind acht Kubikfuß Erde, um darin begraben zu werden.»
Dann, zu fröhlicheren Gesprächen zurückkehrend, geleitete er sie zur Tür und sah ihr nach, wie sie über den Platz trippelte und am Gehsteigrand in damenhafter Anmut die Röcke raffte. Und als er sich wieder seinen Steinblöcken zuwandte, spürte er in sich eine Freude aufsteigen, die er für immer verloren geglaubt hatte.
 
Die Pentlands, zu denen Eliza gehörte, waren einer der merkwürdigsten Clans, die je aus den Hügeln in die Stadt gezogen waren. Eigentlich hatten sie gar kein Anrecht auf den Namen Pentland: Nach dem Unabhängigkeitskrieg war der Großvater des jetzigen Familienoberhaupts, ein schottischer Ingenieur dieses Namens, hierhergekommen, um in den Bergen nach Kupfer zu suchen, hatte dort etliche Jahre gelebt und mit einer der Pionierfrauen etliche Kinder gezeugt. Als er wieder verschwand, nahm die Frau für sich und ihre Kinder den Namen Pentland an.
Der gegenwärtige Clanchef war Elizas Vater, der Bruder des Propheten Bacchus, Major Thomas Pentland. Ein weiterer Bruder war während der Sieben Tage13 getötet worden. Major Pentland hatte seinen Offiziersgrad ehrbar, wenn auch unspektakulär erworben. Während Bacchus, der es nie weiter als bis zum Korporal brachte, sich bei Shiloh14 seine schwieligen Hände verbrannte, kommandierte der Major zwei Kompanien der Freiwilligenverbände und bewachte mit ihnen das Bollwerk der einheimischen Berge. Dieses Bollwerk war im Krieg nie ernsthaft bedroht, erst in den letzten Tagen feuerten die Freiwilligen drei Salven auf Shermans15 Nachhut ab und lösten sich dann sang- und klanglos auf, um schützend ihren eigenen Frauen und Kindern beizustehen.
Die Familie der Pentlands war so alt wie jede andere in der Gemeinde, war aber immer arm gewesen und hatte nie Anspruch auf vornehme Abstammung erhoben. Durch Heirat, auch zwischen Blutsverwandten, konnten sie sich gewisser Verbindungen mit den Großen, einigen Wahnsinns und eines Quäntchens Schwachsinn rühmen. Weil sie aber doch mehr Verstand und Charakterstärke besaßen als die meisten Bergbewohner, standen sie bei diesen seit jeher in hohem Ansehen.
Die Pentlands verfügten über ausgeprägte Clanmerkmale. Wie bei den meisten starken Persönlichkeiten aus besonderen Familien machten die Unterschiede die ausgeprägten Ähnlichkeiten umso markanter. Sie hatten breite, mächtige Nasen mit fleischigen, stark gebogenen Nasenflügeln, einen auf merkwürdige Weise zugleich zart und derb sinnlichen Mund von erstaunlicher Beweglichkeit beim Nachdenken, eine breite, intelligente Stirn und betont flache Wangen mit leichten Grübchen. Die Männer waren üblicherweise rotgesichtig, mittelgroß und von kräftiger, fülliger Statur, auch wenn es vereinzelte Schlakse gab.
Major Thomas Pentland war der Vater zahlreicher Kinder, von denen Eliza als einziges Mädchen überlebt hatte. Eine jüngere Schwester war vor ein paar Jahren an einer Krankheit gestorben, über die die Familie traurig als«Skrofulose16 der armen Jane»sprach. Es gab sechs Jungen: Henry, der älteste, war inzwischen dreißig, Will war sechsundzwanzig, Jim war zweiundzwanzig und Thaddeus, Elmer und Greeley, der Reihe nach aufgeführt, waren achtzehn, fünfzehn und elf. Eliza war vierundzwanzig. Die vier ältesten Kinder, Henry, Will, Eliza und Jim, waren in den Jahren nach dem Krieg groß geworden. Armut und Entbehrungen dieser Jahre waren derart schrecklich gewesen, dass keiner von ihnen je darüber sprach, doch hatte ihnen der scharfe Stahl tief ins Herz geschnitten und Wunden geschlagen, die nicht mehr zu heilen waren.
Bei den ältesten Kindern führten diese Jahre dazu, dass sie einen geradezu krankhaften Geiz und eine unstillbare Besitzgier entwickelten und auch den Wunsch, dem Haus des Majors so rasch wie möglich zu entfliehen.
«Vater», sagte Eliza mit damenhafter Würde, als sie Oliver zum ersten Mal in die gute Stube der Pentlands führte,«ich darf dir Mr Gant vorstellen.»
Der Major erhob sich langsam aus seinem Schaukelstuhl am Kamin, klappte ein großes Messer zusammen und legte den Apfel, den er geschält hatte, auf den Kaminsims. Bacchus sah gutmütig von einem Stöckchen auf, an dem er herumschnippelte, und Will, der von seinen kurzen Nägeln emporblickte, die er wie üblich mit dem Messer bearbeitete, begrüßte den Besucher mit einem vogelartigen Nicken und Zwinkern. Die Männer spielten ständig mit ihren Taschenmessern herum.
Major Pentland ging langsam auf Gant zu. Er war ein untersetzter, korpulenter Mittfünfziger mit gerötetem Gesicht, Patriarchenbart und den fülligen, selbstgefälligen Zügen seines Clans.
«W. O. Gant, wenn ich nicht irre?», fragte er in schleppendem, salbungsvollem Ton.
«Ja», sagte Oliver,«so ist es.»
«Nach dem, was Eliza mir von Ihnen erzählt hat», sagte der Major und blies vor seinen Zuhörern zur Attacke,«wäre ich eigentlich für L. E. Gant gewesen.»17
Das ausgelassene Gelächter der Pentlands erfüllte den Raum.
«Puh», schimpfte Eliza und legte die Hand an ihren breiten Nasenflügel.«Ich muss schon sagen, Vater, du solltest dich was schämen!»
Gant grinste in dem heuchlerischen Bemühen, amüsiert zu wirken.«Der alte Halunke», dachte er.«Den hat er schon seit einer Woche auf Lager.»
«Will bist du ja davor schon mal begegnet», sagte Eliza.
«Davor wie auch dahinter», sagte Will und zwinkerte verschmitzt. Als das Gelächter verstummt war, sagte Eliza:«Und das ist – wie es so schön heißt – Onkel Bacchus.»
«Ja, Sir», sagte Bacchus strahlend,«springlebendig und kreuzfidel.»
«Alle nennen ihn Back-us», sagte da Will mit munterem, beifallheischendem Zwinkern,«aber in der Familie ziehen wir Behind-us vor.»18
«Ich nehme an», sagte Major Pentland mit Bedacht,«dass Sie schon oft als Geschworener geladen waren?»
«Nein», antwortete Oliver, entschlossen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.«Weshalb?»
«Weil», sagte der Major und blickte erneut in die Runde,«Sie ja anscheinend auf Liebe eingeschworen sind.»
Mitten im allgemeinen Gelächter ging die Tür auf, und noch ein paar weitere Pentlands kamen herein – Elizas Mutter, eine unscheinbare, ausgezehrte Schottin, und Jim, ein Bursche mit rotem Ferkelgesicht, ganz der Vater, bloß ohne Bart, dann der rotbackige Thaddeus mit braunen Haaren und Augen, sanftmütig und träge, und zum Schluss Greeley, der Jüngste, ein schwachsinnig grinsendes Kind, das seltsam quiekende Laute von sich gab, die sie belustigten. Er war elf, debil, schwächlich und skrofulös, aber mit seinen weißen, feuchten Händen vermochte er einer Geige Töne zu entlocken, die etwas Überirdisches und Unwillkürliches an sich hatten.
Und während sie in der engen, stickigen Stube mit ihrem warmen Duft nach überreifen Äpfeln saßen, heulte ein heftiger Wind von den Hügeln herab, ein Brüllen fuhr durch die Kiefern, wahnhaft und fremd, und die kahlen Äste ächzten. Und wie die Pentlands so vor sich hinschälten, -schnitten oder -schnitzten, ging ihr Gespräch von derber Heiterkeit zu Tod und Begräbnis über: Eintönig, mit lästerlicher Wollust, breiteten sie ihren Klatsch über das Schicksal und jene Menschen aus, die man kürzlich der Erde übergeben hatte. Und während das Gespräch sich hinzog und Gant den Wind gespenstisch stöhnen hörte, fühlte er sich begraben in Finsternis und Verlorenheit, und seine Seele tauchte hinab in die schwärzeste Nacht, denn er erkannte, dass er dereinst als Fremder würde sterben müssen, dass alle – alle bis auf diese Pentlands, die sich schwelgerisch vom Tode nährten – würden sterben müssen.

2

Oliver heiratete Eliza im Mai. Nach ihrer Hochzeitsreise nach Philadelphia kehrten sie in das Haus zurück, das er ihr an der Woodson Street gebaut hatte. Mit seinen großen Händen hatte er das Fundament gelegt, tiefe, dumpfige Keller ausgehoben und die hohen Wände mit der sanften Glätte von warmem braunem Putz überzogen. Er hatte fast kein Geld, doch sein sonderbares Haus nahm die mannigfaltigen Formen an, die er dafür ersonnen hatte: Als er fertig war, stand da ein Bau, der sich an den Hang des schmalen, ansteigenden Grundstücks schmiegte, nach vorn hin eine erhöhte, großzügige Veranda besaß und anheimelnde Räumlichkeiten, die er gemäß seinen wunderlichen Vorstellungen treppauf, treppab aneinandergefügt hatte. Er errichtete sein Haus nah an der ruhigen Hügelstraße; er legte Blumenbeete in der lehmigen Erde an; er pflasterte das kurze Wegstück hinauf zu den hohen Verandastufen mit großflächigen Platten aus Buntmarmor; er setzte einen Zaun mit Eisenspitzen zwischen sein Haus und die Welt.
Dann pflanzte er auf dem Grund, der sich als kühle, vierhundert Fuß lange Schneise hinter dem Haus erstreckte, Bäume und Reben. Und was immer seine Hände in diesem kostbaren Bollwerk seiner Seele auch berührten, erblühte zu goldenem Leben: Mit den Jahren sprossen die Obstbäume – Pfirsich, Pflaume, Kirsche und Apfel – empor und bogen sich unter der Last ihrer Früchte. Seine Reben schwollen zu kräftigen braunen Strängen und rankten sich um die hohen Drahtzäune seines Anwesens, überwucherten seine Spaliere und schlangen ein doppeltes Band um sein Grundstück. Sie kletterten die Veranda hoch und rahmten die oberen Fenster mit üppigem Blattwerk ein. Und die Blumen in seinem Hof wetteiferten in verschwenderischer Pracht – der samtblättrige Kapuziner mit seinen hundertfach lohfarben geschlitzten Blüten, die Rose, der Schneeball, die rotkelchige Tulpe und die Lilie. Das Geißblatt ließ seine üppige Fülle auf den Zaun herabfließen; wo immer seine großen Hände die Erde berührten, schenkte sie ihm reiche Frucht.
Für ihn war das Haus das Abbild seiner Seele, das Gewand seines Willens. Für Eliza hingegen war es ein Stück Eigentum, dessen Wert sie gewitzt taxierte, eine Grundlage ihres künftigen Reichtums. Wie alle älteren Kinder Major Pentlands hatte sie von ihrem zwanzigsten Lebensjahr an damit begonnen, Land zu erwerben: Von den Ersparnissen ihrer kargen Einkünfte als Lehrerin und fliegende Buchhändlerin hatte sie bereits ein, zwei Grundstücke gekauft. Sie überredete Gant, auf einem davon, einer kleinen Liegenschaft am Rand des Hauptplatzes, eine Werkstatt zu errichten. Dies tat er eigenhändig mit Unterstützung zweier schwarzer Männer: Es wurde ein zweistöckiger Backsteinschuppen mit breiter Holztreppe, die von einer Marmorveranda zum Platz hinunterführte. Auf dieser Veranda postierte er beidseits der Holztüren ein paar Marmorstatuen; beim Eingang stellte er eine plumpe, einfältig lächelnde Engelsfigur auf.
Doch Eliza war nicht glücklich mit seinem Gewerbe: Mit dem Tod war eben kein Geld zu machen. Die Leute starben zu langsam, fand sie. Und sie sah voraus, dass es ihrem Bruder Will, der schon mit fünfzehn auf einem Holzplatz ausgeholfen hatte und inzwischen ein kleines Geschäft besaß, beschieden sein würde, ein reicher Mann zu werden. So überredete sie Gant, sich mit Will Pentland zusammenzutun. Doch nach einem Jahr riss ihm der Geduldsfaden, sein unterdrücktes Geltungsbedürfnis streifte seine Fesseln ab, und er brüllte, Will, der seine Arbeitstage hauptsächlich damit verbrachte, mit einem Bleistiftstummel auf einem fleckigen Umschlag Berechnungen anzustellen, nachdenklich an seinen kurzen Nägeln herumzuschnippeln oder mit vogelartigem Kopfnicken und Augenrollen endlos herumzuwitzeln, werde sie noch alle in den Ruin treiben. Also zahlte Will ohne Aufhebens seinen Partner aus und widmete sich weiter der Anhäufung eines Vermögens, während Oliver in die Einsamkeit und zu seinen schmutzigen Engeln zurückkehrte.
Die seltsame Gestalt des Oliver Gant warf ihren notorischen Schatten überall in der Stadt. Die Leute vernahmen frühmorgens und nachts seine gewaltigen Schimpftiraden, die Eliza galten. Sie sahen ihn nach Hause und in die Werkstatt eilen, sie sahen ihn über seine Statuen gebeugt, sie sahen ihn mit seinen gewaltigen Händen – fluchend und tobend, jedoch in leidenschaftlicher Hingabe – das dichte Gespinst seines Zuhauses weben. Sie lachten über die ungestümen Exzesse seiner Reden, seiner Gefühle und Gesten. Sie verstummten angesichts der wilden Raserei seiner Sauforgien, die nahezu pünktlich alle zwei Monate stattfanden und zwei, drei Tage lang dauerten. Dann lasen sie ihn schmutzig und besinnungslos in der Gosse auf und brachten ihn nach Hause – der Bankier, der Polizist und ein stämmiger, gutmütiger Schweizer namens Jannadeau, ein schmuddeliger Juwelier, der inmitten von Gants Grabsteinen ein kleines, umzäuntes Areal gemietet hatte. Und stets behandelten sie ihn rücksichtsvoll, weil sie auch noch in diesen babylonischen Trümmern der Trunkenheit etwas Fremdes und Stolzes und Großartiges witterten. Er blieb ein Fremder für sie: Niemand – nicht einmal Eliza – nannte ihn je bei seinem Vornamen. Er war und blieb ein für alle Mal«Mister»Gant.
Und niemand hatte eine Vorstellung davon, was Eliza in Angst und Schmerz und Herrlichkeit erduldete. Er überzog sie alle mit seinem glühenden Löwenatem der Begierde und Wut: Wenn er betrunken war, trieben ihn ihr bleiches, verkniffenes Gesicht und ihre tintenfischartig bedächtigen Bewegungen zur Weißglut. Dann wurden seine Angriffe wahrhaft bedrohlich für sie: Sie musste sich vor ihm einschließen. Denn von Anfang an fand, tiefer als Liebe und tiefer als Hass, bis auf die blanken Knochen ein dunkler Kampf auf Leben und Tod zwischen ihnen statt. Eliza weinte oder blieb stumm, wenn er sie verwünschte, begehrte kurz gegen seine Tiraden auf, gab unter seinem Ansturm nach wie ein wehrloses Stoffbündel – und setzte ihren Willen beharrlich und unerbittlich durch. Jahr um Jahr kauften sie unter seinem Protestgeheul und ohne dass er wusste, wie ihm geschah, da und dort etwas Land zusammen, bezahlten die verhassten Steuern und steckten das restliche Geld in weitere Grundstücke. Hinter der Frau, hinter der Mutter trat allmählich die Herrin des Eigentums hervor, ganz einem Mann gleichend.
Binnen elf Jahren gebar sie ihm neun Kinder, von denen sechs überlebten. Das Erstgeborene, ein Mädchen, starb mit zwanzig Monaten an Säuglingscholera; zwei weitere starben bei der Geburt. Die anderen überlebten dieses grausame und wahllose Geworfenwerden. Das älteste von ihnen, ein Junge, wurde 1885 geboren. Er wurde auf den Namen Steve getauft. Das zweite Kind, fünfzehn Monate später geboren, war ein Mädchen – Daisy. Das nächste, wieder ein Mädchen – Helen -, kam drei Jahre später. Dann kamen 1892 Zwillinge – Jungen -, denen Gant, stets mit einer Vorliebe für politische Dinge, die Namen Grover Cleve land19 und Benjamin Harrison20 gab. Und der Letzte, Luke, wurde zwei Jahre später geboren, im Jahr 1894.
Zweimal während jener Zeit, jeweils im Abstand von fünf Jahren, mündeten Gants periodische Sauforgien in eine über Wochen hinweg andauernde Trunkenheit. Er wurde aufgegriffen, als er in den Fluten seines Dursts zu ertrinken drohte. Beide Male schickte Eliza ihn auf eine Entziehungskur nach Richmond. Einmal hatten Eliza und vier ihrer Kinder gleichzeitig Typhusfieber. Doch in einem mühseligen Prozess der Genesung schürzte sie grimmig die Lippen und brachte die Kinder nach Florida.
Eliza ging aus all dem unbeugsam als Siegerin hervor. Während sie durch diese ungeheuerlichen Jahre der Liebe und der Verlorenheit schritt, eingefärbt in den zahllosen Nuancen von Schmerz und Stolz und Tod und vom wilden Flackern seines fremden und leidenschaftlichen Daseins durchzuckt, drohten die Glieder ihr den Dienst zu versagen; doch am Ende fand sie durch Krankheit und Auszehrung hindurch zu siegreicher Stärke. Sie wusste auch um den Glanz dieser Zeit: So gefühllos und grausam er oft gewesen war, dachte sie auch an das überwältigende Farbenspiel seines Daseins und an das Verlorene und Verwundete in ihm, das er nie

3

Im großen Prozessionszug der Jahre, in denen die Geschichte der Gants sich entfaltete, trugen wenige eine schwerere Bürde von Schmerz, Entsetzen und Unglück, und es sollte sich kein Jahr als folgenreicher erweisen als jenes, das den Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts markierte. Für Gant und seine Frau fiel das Jahr 1900, in dem sie sich eines Tages wiederfanden, nachdem sie in einem anderen Jahrhundert groß geworden waren – ein Übergang, an dem sich wohl Tausende phantasiebegabter Menschen auf der ganzen Welt einen kurzen, aber schmerzlichen Augenblick lang einsam fühlten – mit anderen Wendepunkten in ihrem Leben zusammen, und zwar viel zu einschneidenden, als dass sie sie hätten ignorieren können. In diesem Jahr beging Gant nämlich seinen fünfzigsten Geburtstag: Er wusste, dass er nun halb so alt war wie das verblichene Jahrhundert und dass Menschen nur selten ein volles Jahrhundert alt werden. Und im selben Jahr nahm Eliza, dick und rund von dem letzten Kind, das sie zur Welt bringen würde, auch die abschließende Hürde des Schreckens und der Verzweiflung, und im satten Dunkel einer Sommernacht ermattet in ihrem Bett liegend, die verschränkten Hände auf dem geschwollenen Bauch, begann sie, ihr Leben nach der Mutterschaft zu planen.
Über den Abgrund hinweg, der sich nun auftat zwischen den Gestaden, an denen sie beide beheimatet waren, begann sie Ausschau zu halten, mit jener grenzenlosen Gelassenheit und unerschöpflichen Geduld, die ein halbes Menschenleben lang auf ein Ereignis wartet, nicht so sehr mit zweifelsfreier Voraussicht als mit prophetischem, grüblerischem Spürsinn. Diese Fähigkeit, diese fast buddhistische Zuversicht, die so tief in ihrem Wesen verwurzelt war, dass sie sie weder unterdrücken noch verhehlen konnte, war ebenjene Fähigkeit an ihr, die er am wenigsten begriff, die ihn am meisten gegen sie aufbrachte. Er war fünfzig: Er empfand die Tragik der Endlichkeit – er spürte, wie die leidenschaftliche Überfülle seines Lebens dahinschwand, und er schlug um sich wie eine rasende, besinnungslose Bestie. Sie mochte vielleicht auch mehr Grund zur Gelassenheit haben als er, war sie doch nach grausamen Anfangsjahren durch Krankheit, Entkräftung, Armut und ständig drohendes Elend und Tod dort hingelangt: Sie hatte ihr erstes Kind verloren und dann die anderen sicher über alle Nöte hinweggerettet; und nun, mit zweiundvierzig, da sich das letzte Kind in ihrem Schoß regte, kam sie, bestärkt durch ihren schottischen Aberglauben und den blinden Hochmut ihrer Familie, der nur mit fremdem und nie mit eigenem Verhängnis rechnete, zu der Überzeugung, es sei ihr noch eine Aufgabe vorherbestimmt. Während sie so im Bett lag, durchglühte ein großer Stern am westlichen Firmament ihre Vision; ihr war, als gehe er langsam am Himmel auf. Und obwohl sie nicht hätte sagen können, welchen Gipfeln ihr Leben entgegenstrebte, erblickte sie in der Zukunft eine bisher nie gekannte Freiheit, Besitz und Macht und Reichtum, die herbeizuwünschen ihr unauslöschlich im Blut lag. An all dies dachte sie im Dunkeln, schürzte in selbstzufriedener Versunkenheit die Lippen und sah sich im tollen Karnevalstreiben nüchtern am Werk, den Narren leichthin aus der Hand schlagend, was diese sich einfach nicht zu bewahren verstanden.
«Ich schaff es!», dachte sie.«Ich schaff es. Will hat es geschafft! Jim hat es geschafft. Und ich bin schlauer als sie.»Und mit Bedauern, in das sich Schmerz und Bitterkeit mischten, dachte sie auch an Gant:«Pah! Wär ich nicht hinter ihm her gewesen, würde er heute keinen Besenstiel sein Eigen nennen können. Für das bisschen, was wir haben, habe ich kämpfen müssen; wir hätten sonst ja nicht mal ein Dach über dem Kopf; müssten für den Rest unserer Tage zur Miete wohnen»- worin sie den Gipfel der Schmach für faules und leichtsinniges Volk sah. Und sie grübelte weiter:«Für das, was er Jahr für Jahr im Suff verpulvert, hätte man ein schönes Stück Land gekriegt: Wir könnten heute schon gemachte Leute sein, wenn wir’s gleich richtig angepackt hätten. Aber schon die bloße Vorstellung, etwas zu besitzen, war ihm immer zuwider: Unerträglich sei ihm das, hat er mir einmal gestanden, seitdem er bei dem Geschäft in Sydney sein Geld verloren hat. Wär ich dabeigewesen, hätt es gar keinen Verlust gegeben, darauf könnt einer seinen letzten schäbigen Dollar wetten. Und wenn, so bei den anderen», fügte sie grimmig hinzu. Und wie sie so dalag und die frühen Herbstwinde von den Hügeln im Süden herunterfegten, fallendes Laub durch die Nachtluft wirbelten und in wiederkehrenden Böen die mächtigen Bäume von ferne wehmütig ergrollen ließ, dachte sie an den Fremden, der in ihr zum Leben erwachte, und an jenen anderen Fremden und Urheber von so viel Elend, der nun schon fast zwanzig Jahre mit ihr zusammenlebte. Und bei dem Gedanken an Gant fühlte sie wieder ein unfassbares, schmerzliches Erstaunen über den erbitterten Kampf zwischen ihnen und den unterschwelligen Konflikt, der diesem zugrunde lag, nämlich zwischen dem unbedingten Wunsch nach Eigentum und dem Widerwillen dagegen, einen Konflikt, den sie fraglos für sich entscheiden würde, der sie aber doch aus der Fassung brachte, sie verwirrte.«Wahrhaftig!», flüsterte sie.«Wahrhaftig! Ich habe nie einen wie ihn gesehen!»
Gant, mit dem Verlust seiner Sinnenfreuden konfrontiert, sah die Zeit gekommen, da er seine Rabelais’schen21 Exzesse im Essen, Trinken und Lieben zügeln musste, kannte jedoch keine Annehmlichkeit, die ihn für den Verlust der Schwelgerei entschädigen würde; auch fühlte er den Stachel der Reue, in der Einsicht, dass er einst Mittel und Wege besessen und Gelegenheiten vertan hatte, wie etwa die Teilhaberschaft mit Will Pentland, die ihm vielleicht zu Ansehen und Reichtum verholfen hätten. Er wusste, dass mit dem verstrichenen Jahrhundert der beste Teil seines Lebens vorüber war; er empfand, stärker denn je, die Fremdartigkeit und Verlassenheit in unserem kurzen Abenteuer auf Erden: Er dachte an seine Kindheit auf der deutschen Farm, an die Zeit in Baltimore, sein planloses Umherirren auf dem Kontinent und daran, in welch beängstigender Weise sein ganzes Leben durch eine Reihe von Zufällen bestimmt worden war. Die gewaltige Tragödie des Zufalls hing wie eine dunkle Wolke über seinem Leben. Er begriff klarer denn je, dass er ein Fremder war in einem fremden Land, unter Leuten, die ihm stets rätselhaft bleiben würden. Und am allerbefremdlichsten, so wollte ihm scheinen, war diese Verbindung, in der er Kinder gezeugt hatte, auf ihn angewiesenes Leben in die Welt gesetzt mit einer Frau, die doch so meilenweit entfernt war von allem, was er verstehen konnte.
Er wusste nicht, ob das Jahr 1900 für ihn einen Anfang oder ein Ende bezeichnete; doch mit der für Genussmenschen charakteristischen Willensschwäche beschloss er, dass es ein Ende sein sollte, mit dem das ausgebrannte Feuer in ihm mit einem letzten Aufflackern erstarb. In der ersten Hälfte des Monats Januar, noch abstinent dank guter Neujahrsvorsätze, zeugte er ein Kind: Als sich im Frühling erwies, dass Eliza erneut schwanger war, stürzte er sich in eine Sauforgie, an die nicht einmal der notorische viermonatige Exzess von 1896 heranreichte. Tag für Tag betrank er sich wüst, bis er sich in einem Zustand vollkommener Unzurechnungsfähigkeit befand: Im Mai schickte Eliza ihn wieder ins Sanatorium von Piedmont zur«Kur», die einzig darin bestand, ihn dürftig und billig zu verköstigen und ihn sechs Wochen lang vom Alkohol fernzuhalten, eine Methode, die seinen Hunger nicht minder anstachelte als seinen Durst. Ende Juni kam er zurück, nach außen hin geläutert, doch inwendig ein brodelnder Kessel. Am Tag vor seiner Rückkehr suchte eine unverkennbar schwangere Eliza mit bleicher, aber entschlossener Miene und festen Schrittes jeden einzelnen der vierzehn Saloons der Stadt auf, sprach den Besitzer oder Barkeeper hinter dem Tresen an und erklärte laut und deutlich in Gegenwart der angetrunkenen Stammkundschaft:«Hört zu: Ich bin bloß reingekommen, um euch zu sagen, dass Mr Gant morgen wiederkommt, und sollte ich erfahren – ich möchte, dass jeder von euch das weiß -, dass irgendeiner von euch ihm was zu trinken verkauft hat, bring ich ihn hinter Gitter.»
Das war, sie wussten es, eine leere Drohung, doch ihre bleiche Richtermiene, ihr vielsagendes Schürzen der Lippen und die rechte Hand, die sie leicht geballt hielt wie die eines Mannes, den Zeigefinger ausgestreckt, bekräftigte das Gesagte mit sanftem und doch irgendwie machtvollem Gestus und jagte ihnen einen größeren Schrecken ein, als es die heftigste Abreibung vermocht hätte. Sie lauschten ihrer Verlautbarung mit bierseliger Benommenheit und nuschelten höchstens noch ihr verdutztes Einverständnis hervor, als sie hinausging.
«Weiß Gott», sagte einer aus dem Gebirge und traf mit seinem braunen Auswurf den Spucknapf nur halb,«die würd es tun, ha! Diese Frau meint es ernst.»
«Teufel noch mal!», meinte Tim O’Donnel und verzog sein Affengesicht über der Theke zu einer drolligen Grimasse.«Ich würd W. O. gar nichts mehr geben, und wenn ich fünfzehn Cent für den Becher bekäme und wir beide allein auf dem Klo wären. Ist sie schon weg?»
Er erntete schallendes Whiskygelächter.
«Wer ist die Frau?», fragte einer.
«Will Pentlands Schwester.»
«Weiß Gott, dann macht sie Ernst», riefen gleich ein paar; und wiederum bog sich der ganze Saal vor Lachen.
Will Pentland saß im«Loughran’s», als sie hereinkam. Sie nahm keine Notiz von ihm. Als sie wieder gegangen war, wandte er sich an einen Mann neben ihm und schickte seiner Bemerkung sein vogelartiges Nicken und Augenzwinkern voraus:«Ich wette, dass Sie so was nicht fertigbringen würden.»
Als Gant nach seiner Rückkehr vor aller Augen in einer Bar abgewiesen wurde, war er außer sich vor Zorn über die Demütigung. Whisky konnte er sich zwar leicht beschaffen, indem er einen der auf seinen Treppenstufen herumlungernden Fuhrmänner oder irgendeinen der Neger danach ausschickte; doch trotz der Vorhersehbarkeit seines Tuns, das inzwischen, er wusste es wohl, unter den Kindern des Städtchens sprichwörtlich geworden war, zuckte er vor jedem neuerlichen Bekanntwerden seiner Taten zusammen; er litt von Jahr zu Jahr nicht etwa weniger, sondern mehr und mehr darunter, und seine Scham und die peinigende Schmach am Morgen danach, die Folge von verletztem Stolz und angegriffenen Nerven, waren erbarmungswürdig. Er empfand mit Bitterkeit, dass Eliza ihn in böser Absicht vor den Augen aller bloßgestellt hatte: Er bezichtigte sie lauthals der Verleumdung und des Missbrauchs auf seinem Nachhauseweg.
Den ganzen Sommer über ging Eliza bleich und auf alles gefasst durch das Grauen – sie erwartete es inzwischen regelrecht und sah mit gespenstischer Abgeklärtheit den Schrecknissen der Nacht entgegen. Verstimmt über ihre Schwangerschaft als Folge seines Beischlafs mit ihr, lief Gant fast täglich zu Elizabeth am Eagle Crescent, wo die Dirnen ihn dann des Nachts erschöpft und ängstlich in die Obhut seines Sohnes Steve entließen, seines ältesten Kindes, mit dem nahezu alle Damen des Viertels auf Du und Du standen, in plumper Vertraulichkeit mit ihm herumschäkerten, herzhaft über seine flotten Anzüglichkeiten lachten, sich von ihm sogar deftig auf den Hintern klapsen ließen und ihm mit scherzhaftem Drohen nachliefen, während er sich flugs davonmachte.
«Junge», sagte Elizabeth, während sie Gants wackelnden Kopf energisch hin und her schüttelte:«Führ dich bloß nicht so auf wie der alte Gockel da, wenn du mal erwachsen bist. Obwohl er ein netter Kerl sein kann, wenn er will», fügte sie hinzu, drückte jenem einen Kuss auf die beginnende Glatze und steckte dem Jungen geschickt die Brieftasche zu, die Gant ihr in verschwenderischer Geberlaune überlassen hatte. Sie war gewissenhaft ehrlich.
Der Junge wurde auf diesen Gängen in der Regel von Jannadeau und Tom Flack, einem schwarzen Kutscher, begleitet, die in geduldiger Nachsicht vor der Fachwerktür des Bordells warteten, bis sich aus dem anschwellenden Lärm drinnen folgern ließ, dass man Gant nun zum Gehen hatte bewegen können. Und dann ging er also, wobei er sich entweder linkisch wehrte und seine Entführer, die ihm gut zuredeten, mit wüsten Beschimpfungen überhäufte oder sich bereitwillig fügte und ein frivoles Lied aus seiner Jugend durch die Fachwerkgasse und die leeren Straßen der Stadt plärrte, wo man eben beim Abendessen saß:
«In diesem Séparée, Leute, In diesem Séparée, Umgeben von Wanzen und Flöh’n, Da beklag ich dein End’, o weh.»22
Einmal zu Hause, lockte man ihn die hohen Verandastufen hinauf und ins Bett; aber manchmal widersetzte er sich auch allen Versuchen und nahm seine Frau ins Visier, die sich meist in ihrem Zimmer eingeschlossen hatte, schleuderte ihr höhnische Worte entgegen und bezichtigte sie der Untreue, weil ein peinigendes Misstrauen an ihm nagte – die Frucht seines Alters, seiner nachlassenden Kräfte. Die ängstliche Daisy floh meist bleich vor Schreck in die nachbarlichen Arme von Sudie Isaacs oder zu den Tarkintons; nur Helen, schon mit zehn sein Ein und Alles, ließ sich nicht unterkriegen, flößte ihm löffelweise siedend heiße Suppe ein und verpasste ihm mit ihrer kleinen Hand einen gehörigen Klaps, wenn er störrisch wurde.«Jetzt trinkst du das! Wehe, wenn nicht!»
Er war hocherfreut: Sie beide waren aus dem gleichen Holz geschnitzt.
Manchmal war er jedoch einfach nicht zur Vernunft zu bringen. Völlig aus dem Häuschen, entfachte er tosende Feuersbrünste in seinem Wohnzimmerkamin, goss aus einem Kanister noch Öl ins Feuer, spie triumphierend in das so hervorgerufene Getöse und schlug, bis er restlos erschöpft war, einen gotteslästerlichen Singsang zu einer beständig wiederkehrenden Tonfolge an, der sich, über eine knappe Dreiviertelstunde hinweg, in etwa so anhörte:
«O-ho -’dammich ’dammich,’dammich O-ho -’dammich ’dammich,’dammich»
- mehr oder weniger in dem Takt, in dem das Läutwerk einer Uhr die volle Stunde schlägt.
Und draußen hingen, wie Affen zwischen den weitmaschigen Drähten des Zauns, Sandy und Fergus Duncan, Seth Tarkinton, manchmal auch Ben und Grover, die ins spöttische Frohlocken ihrer Freunde einstimmten und mit einem eigenen Singsang antworteten:
«Gant ist stockbesoffen Nach Hause gekrochen! Gant ist stockbesoffen Nach Hause gekrochen!»
Daisy, bei den Nachbarn in Sicherheit, weinte vor Scham und Angst. Aber Helen, die zierliche kleine Furie, blieb unerbittlich: Augenblicklich ließ er sich in einen Stuhl sinken und empfing mit einem Grinsen heiße Suppe und scharfe Klapse. Im oberen Stock lag Eliza im Bett, bleich und mit gespitzten Ohren.
So verstrich der Sommer. Die letzten Trauben hingen vertrocknet und faulig an den Reben; in der Ferne brauste der Wind; der September ging zu Ende.
Eines Nachts sagte Cardiac, der nüchterne Doktor:«Ich denke, bis morgen abend werden wir’s wohl hinter uns haben.»Und weg war er und ließ eine Bauersfrau mittleren Alters zurück. Sie war eine Geburtshelferin mit praktischem Sinn und rauen Händen.
Um acht kehrte Gant allein zurück. Sohn Steve war zu Hause geblieben, für den Fall, dass Eliza ihn brauchen sollte; nun galt die Aufmerksamkeit nicht wie sonst dem Herrn des Hauses. Sein mächtiger Bass drunten, Obszönitäten schmetternd, drang bis in die Nachbarschaft hinüber: Als Eliza hörte, wie mit einem Mal im Kamin die Flammen jählings aufheulten und bei ihrem Verpuffen das Haus erbeben ließen, rief sie tiefbesorgt Steve zu sich:«Er steckt uns noch alle in Brand, mein Sohn!», flüsterte sie.
Unten hörten sie einen Stuhl dumpf zu Boden fallen, dann sein Fluchen; sie hörten seinen schweren, taumelnden Schritt quer durchs Esszimmer und in der Diele; sie hörten das Ächzen des nachgebenden Treppengeländers, wenn sein Körper dagegenstieß.
«Er kommt!», flüsterte sie.«Er kommt! Sperr die Tür zu, Sohn!»
Der Junge sperrte die Tür zu.
«Bist du da?», brüllte Gant und hämmerte mit seiner mächtigen Faust gegen die dünne Tür.«Miss Eliza: Bist du da?», schleuderte er ihr die spöttische Anrede entgegen, mit der er sie in solchen Momenten stets bedachte. Und er ließ eine Moralpredigt voller Ruchlosigkeiten und eingeflochtener Schmähungen durchs Haus gellen:«Nicht ahnen konnte ich», begann er gleich in seiner üblichen verdrehten Rhetorik, halb zornig und halb komisch,«nicht ahnen konnte ich an dem Tag, da ich sie vor achtzehn bitteren Jahren zum ersten Mal sah und sie sich ums Eck windend bei mir einschlich wie eine auf dem Bauch kriechende Schlange»(eine abgedroschene Formulierung, die dank oftmaliger Wiederholung nunmehr Balsam für sein Herz war),«nicht ahnen konnte ich, dass … dass … es einmal so weit kommen würde», schloss er kümmerlich. Er wartete schweigend, in drückender Stille, auf eine Antwort, überzeugt, dass sie in ihrer bleichen Gefasstheit da hinter der Tür lag, und er fühlte den alten Ingrimm in sich aufsteigen, weil er wusste, dass sie nicht antworten würde.
«Bist du da? Ich frage, Frau, bist du da?», brüllte er, seine großen Knöchel in einem rabiaten Trommelfeuer abschürfend.
Da war nichts als die fahle, wesenhafte Stille.
«Weh mir! Weh mir!», seufzte er in unbändigem Selbstmitleid und brach dann in das gequälte Schluchzen aus, mit dem er seine Brandreden immer schon orchestriert hatte.«Barmherziger Gott!», greinte er,«es is so schrecklich, es is so furchtbar, es is so grau-ausam. Was habe ich denn bloß getan, dass Gott mich auf meine alten Tage so strafen muss?»
Es gab keine Antwort.
«Cynthia! Cynthia!», flennte er plötzlich im Gedenken an seine erste Frau, die hagere, tuberkulöse alte Jungfer, auf deren Lebensdauer sein Betragen alles andere als einen günstigen Einfluss gehabt hatte, wie es hieß, die er nun aber doch gern beschwor, weil er sah, dass er Eliza damit kränken und in Rage versetzen konnte.«Ach Cynthia, Cynthia! Sieh auf mich herab in meiner Stunde der Not! Steh mir bei! Hilf mir! Behüt mich vor diesem Dämon geradewegs aus der Hölle!»Und in burlesker Übertreibung schluchzend, fuhr er fort:«Hu-hu-hu! Steig herab und errette mich, ich bitte dich, ich flehe dich an, ich beschwöre dich, oder ich geh zugrunde.»
Schweigen war die Antwort.
«Ach Undank, stärker als das blöde Vieh»23, fuhr Gant auf neuer Fährte, gerüstet mit verdrehten und verballhornten Zitaten, fort.«Du mögest deine Strafe finden, so wahr es einen gerechten Gott im Himmel gibt. Ihr alle möget eure Strafe finden. Tretet den alten Mann nur, schlagt ihn, werft ihn auf die Straße hinaus: Er taugt ja zu nichts mehr. Er ist nicht mehr imstande, für die Familie zu sorgen – schickt ihn weg über alle Berge, ins Armenhaus. Da gehört er doch hin. Schindet sein Gebein über Stock und Stein. ‹Du sollst deinen Vater ehren, auf dass du lange lebest.›24 O Herr!
‹Hier, schauet! Fuhr des Cassius Dolch herein; Seht, welchen Riss der tück’sche Casca machte! Hier stieß der vielgeliebte Brutus durch; Und als er den verfluchten Stahl hinwegriss, Schaut her, wie ihm das Blut des Caesar folgte …›25»
«Jeemy», sagte in diesem Moment Mrs Duncan zu ihrem Mann,«gehst da besser mal rüber. Er tobt wieder, un’ sie hat’n Kleins.»
Der Schotte schob seinen Stuhl zurück und riss sich mit einem Ruck los von seinem wohlgeordneten Leben und dem warmen Duft frischen Brotes. Am Tor vor dem Haus der Gants traf er auf den geduldigen Jannadeau, den Ben hergeholt hatte. Sie wechselten ein paar zweckdienliche Worte und eilten die Stufen hinauf, als sie droben ein Poltern und eine Frau schreien hörten.
Eliza öffnete ihnen im Nachthemd die Tür:«Kommen Sie schnell!», flüsterte sie.«Kommen Sie schnell!»
«Weiß Gott, ich bring sie um», schrie Gant und kam die Treppe heruntergestürzt, eine größere Gefahr für sein eigenes als für fremdes Leben.«Ich bring sie jetzt um und mache meinem Elend ein Ende.»Er hielt einen schweren Schürhaken in der Hand.
Die beiden Männer packten ihn; der stämmige Juwelier entwand ihm den Haken mit energischer Besonnenheit.
«Er hat sich am Bettpfosten den Kopf gestoßen, Mama», sagte Steve auf dem Weg nach unten. Tatsächlich: Gant blutete.
«Hol deinen Onkel Will, Junge. Schnell!»
Steve stob davon wie ein Jagdhund.
«Diesmal war es ihm wohl Ernst», flüsterte sie.
Duncan schloss die Tür wegen der draußen vor dem Gartentor gaffenden Nachbarn.«Sie werden sich noch erkälten, Mrs Gant.»
«Halten Sie ihn mir vom Leib! Halten Sie ihn fern!», rief sie aus.
«Aye, das tu ich!», antwortete er in bedächtigem Schottisch.
Sie wandte sich wieder zur Treppe, sank jedoch schon auf der zweiten Stufe schwerfällig in die Knie. Die Geburtshelferin, die eben aus dem Badezimmer zurückkehrte, wo sie sich eingeschlossen hatte, eilte ihr zu Hilfe. So stieg sie zwischen der Frau und Grover langsam nach oben. Draußen sprang Ben behände von der niedrigen Dachrinne ins Lilienbeet: Seth Tarkinton, an den Drahtzaun geklammert, rief ihm Grüße zu.
Gant trat folgsam, ein wenig benommen, zwischen seinen beiden Wächtern ab: Als seine langen Gliedmaßen ergeben im Schaukelstuhl schlenkerten, zogen sie ihn aus. Helen hatte sich schon eine Weile in der Küche zu schaffen gemacht: Sie kam jetzt mit siedend heißer Suppe.
Gants leere Augen glommen im Schein des Wiedererkennens auf, als er sie sah.«O Baby», brüllte er und breitete in rührseligem Überschwang die Arme aus,«wie geht’s dir?»Sie stellte die Suppe ab; er zog ihren zarten Leib ungestüm an sich, kitzelte ihre Wangen und ihren Nacken mit seinem stachligen Schnurrbart und hauchte sie mit seinem widerlich nach Roggenwhisky stinkenden Atem an.
«Oh, er hat sich verletzt!»Das kleine Mädchen war kurz davor, loszuweinen.