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Bea und Niklas sind seit über dreißig Jahren ein Paar. Mit zwei Töchtern im Teenageralter und einer komfortablen Wohnung mitten in Stockholm führen sie eine glückliche Ehe. Als Niklas eines Abends nach einem belanglosen Streit ohne Erklärung die Wohnung verlässt, ist Bea fassungslos. Sie erwartet, dass er reumütig nach Hause kommt, sobald er sich beruhigt hat. Aber die Stunden vergehen ohne Nachricht von Niklas. Stattdessen verhärten sich die Fronten, und die Lage spitzt sich zu: Bea muss nicht nur erfahren, dass Niklas eine andere Frau kennengelernt hat, er hat zudem keinerlei Interesse, über die plötzliche Krise zu sprechen, und fordert die Scheidung. Doch kommt die Scheidung wirklich aus heiterem Himmel? Ist der Verlassende immer der Bösewicht? Was kommt zum Vorschein, wenn man beginnt, an der Oberfläche zu kratzen?
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Seitenzahl: 415
Veröffentlichungsjahr: 2024
INHALT
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Über die Autorin
Moa Herngren, geboren 1969, ist die schwedische Autorin der Beziehungsdramen Scheidung, Schwiegermutter und Geschwister. Sie ist Journalistin, ehemalige Chefredakteurin der Zeitschrift Elle sowie Co-Autorin der Netflix-Hitserie Bonus Family. Bei Kein & Aber erscheint der schwedische Bestseller erstmals in deutscher Übersetzung.
Über das Buch
Bea und Niklas sind seit über dreißig Jahren ein Paar. Mit zwei Töchtern im Teenageralter und einer komfortablen Wohnung mitten in Stockholm führen sie eine glückliche Ehe. Als Niklas eines Abends nach einem belanglosen Streit ohne Erklärung ihr Zuhause verlässt, ist Bea fassungslos. Sie erwartet, dass er reumütig zurückkehrt, sobald er sich beruhigt hat. Aber die Stunden vergehen ohne Nachricht von Niklas. Stattdessen verhärten sich die Fronten, und die Lage spitzt sich zu: Bea muss nicht nur erfahren, dass Niklas eine andere Frau kennengelernt hat, er hat zudem keinerlei Interesse, über die plötzliche Krise zu sprechen, und fordert die Scheidung. Doch kommt all das wirklich aus heiterem Himmel? Ist der Verlassende für die Trennung verantwortlich? Was kommt zum Vorschein, wenn man beginnt, an der Oberfläche zu kratzen?
TEIL I
BEA
BANÉRGATAN, STOCKHOLM
Juni 2016
Sie wälzt sich im Bett herum, den verdrehten Bettbezug zwischen den Beinen. Die Daunendecke ist schon seit Mai weggeräumt, sie liegt ganz oben im Schrank auf Niklas’ Bettseite. Das grelle Licht der Sommernacht dringt wie spitze Nadeln durch die Vorhänge. Daran, dass es nie richtig dunkel wird, kann sie sich nicht recht gewöhnen. Während der warmen, hellen Nächte fällt sie meist nur in ein unruhiges Dämmern. Hat sie überhaupt schon geschlafen? Schwer zu sagen.
Bea streckt sich nach ihrem Handy. 00:41. Keine Nachrichten. Wahrscheinlich ist er auf dem Heimweg. Oder bricht zumindest gerade auf. Hat das Daphne’s überhaupt so lange offen? Sie klickt auf die Messenger-App und macht sich daran, eine versöhnliche Nachricht zu formulieren. Vielleicht ist sie vorhin zu hart mit ihm gewesen?
Mitten in der Nachricht hält sie inne. Denkt sich ein paar Stunden zurück. Entschuldigen, warum eigentlich? Er ist derjenige, der um Verzeihung bitten sollte, und sie sollte wütend sein. Sie ist wütend. Schließlich hat ja nicht sie vergessen, die Rechnung von Destination Gotland zu bezahlen und dafür gesorgt, dass sie noch eine ganze Woche in der Stadt festsitzen, weil die Fähre bis zum nächsten Samstag komplett ausgebucht ist. Erst dann gibt es wieder einen freien Autoplatz – auf der Nachtfähre. Abfahrt 01:10, Ankunft 04:25.
Eine Woche eingepfercht in einer stickigen Wohnung, statt gemütlich in Hogreps im Garten zu liegen und mit dem Fahrrad in die Dünen bei Grynge zu fahren, wenn es zu heiß wird. In der Nase den mit der Brandung heranrollenden Duft nach Seegras und Salz, das kühlende Nass nur ein paar Schritte entfernt. Aber nein, daraus wird nichts. Jetzt liegt sie hier, schwitzend, schlaflos, gefangen in einem Vakuum.
Bea spürt ihren Puls wieder steigen. Wie zum Teufel konnte er das nur vergessen? Wo sie ihn doch noch mehrmals erinnert hat.
Warum hast du die Rechnung nicht einfach selbst bezahlt? Wäre das nicht einfacher gewesen, als mich damit zu nerven?
Weil sie sich schon um alles andere gekümmert hat. Weil es wie üblich Bea gewesen ist, die den Sommerurlaub geplant, die Tickets gekauft, mit den Nachbarn das Blumengießen organisiert, ihnen den Ersatzschlüssel übergeben und alles Nötige für die Reise eingekauft hat.
Nur für eine einzige Sache sollte er die Verantwortung übernehmen. Und da besitzt er die Dreistigkeit, sauer zu werden? Auf sie? Ihr Körper spannt sich vor Wut an, und sie wirft sich ein weiteres Mal halb herum. Verfluchter Volltrottel. Der Schweiß fließt, obwohl alle Fenster der Wohnung sperrangelweit offen stehen. Wenn sie nicht so müde wäre, könnte sie aufstehen und in die Küche gehen, ein paar Kühlakkus in ein Handtuch wickeln und sie sich auf den Bauch legen. Zu müde zum Aufstehen, zu heiß zum Liegenbleiben. Zu sauer zum Einschlafen. Ein Klicken im Flur, sie zuckt zusammen.
Ein Schlüssel im Schloss. Da kommt er. Wahrscheinlich beschwipst nach ein paar Bier zu viel. Vielleicht immer noch eingeschnappt. Oder der Rausch ist schon in Reue übergegangen und bringt ihn dazu, sich von hinten an sie zu schmiegen und eine atemlose Entschuldigung zu flüstern. Als könnte er damit wiedergutmachen, dass er die ganze Woche verdorben hat. Nein, sie ist noch nicht bereit, ihm zu verzeihen. Schritte im Flur. Die Klotür geht auf. Bea horcht aufmerksam. Aber die Schritte sind zu leicht. Nackte Fußsohlen, die über das knarrende Parkett tapsen. Ganz anders als Niklas’ rücksichtsloses Gepolter und Geklapper, wenn er frühmorgens nach Hause kommt und sich noch ein Brot schmiert und mit dem Wasserhahn hantiert.
»Oh, entschuldige, hab ich dich geweckt?«, fragt er dann.
Zweiunddreißig gemeinsame Jahre, und er hat immer noch nicht kapiert, dass sie einen leichten Schlaf hat.
»Liebst du mich noch?«, fragt er dann mit schiefgelegtem Kopf und Verzeih-mir-Blick, und Bea antwortet, ja natürlich, obwohl sie genervt ist.
Mitunter fragt sie sich, wie sehr diese Genervtheit wohl an ihrer Liebe zehrt. Doch in diesem Moment hofft sie trotzdem, dass es Niklas ist. Dass er einmal ihretwegen vorsichtig auf Zehenspitzen läuft und ihm klar ist, was er getan hat. Oder was er vielmehr nicht getan hat. Aber die Schritte entfernen sich wieder und verstummen dann ganz.
Die Neugierde zwingt ihre Beine über die Bettkante, ihre Zehen berühren das Eichenparkett. Der fensterlose Durchgang zur Küche ist dunkel und voller Schatten. Es ist ganz still, bis auf ein Murmeln, das aus Alexias Zimmer zu kommen scheint. Vorsichtig öffnet Bea die Tür einen Spaltbreit. Die Vorhänge sind zugezogen, der Schein, der den halb nackten Körper ihrer Tochter teilweise beleuchtet, kommt vom iPad auf dem Schreibtisch, eine amerikanische YouTuberin hält einen schrillen Monolog. Alexia schnappt sich den bodenlangen Wickelrock aus hellblauer Baumwolle, den sie von Bea geerbt hat, und verdeckt hastig ihre Brust.
»Scheiße, kannst du vielleicht klopfen?«
»Entschuldige.«
»Meine Güte …«
Bea wird sich plötzlich ihrer eigenen Nacktheit bewusst. Fühlt sich unter dem peinlich berührten Blick ihrer Tochter abstoßend und hässlich. So, wie sie sich ohnehin zusehends wahrnimmt. Die Strapazen der Wechseljahre treffen sie mit ebenso unerbittlicher Wucht wie einst die monatlichen Krämpfe und das Bluten. Ausscheidungen und Trockenheit an den falschen Stellen. Klatschnass unter den Achseln und staubtrocken zwischen den Beinen. Herzlichen Dank auch.
»Bist du eben erst heimgekommen?«, fragt sie und versucht gleichzeitig, sich so zu positionieren, dass die Tür zumindest ihren Unterkörper verdeckt.
»Ja …? Du hast doch ein Uhr gesagt«, brummt Alexia.
»Stimmt. Und Alma? Wolltet ihr nicht auf dieselbe Party?«
»Hä? Nein.« Ihre Tochter schüttelt den Kopf und wendet mit angewiderter Miene den Blick ab. »Könntest du jetzt vielleicht …«
Stimmungsmäßig liegen Mutter und Tochter fast gleichauf. Beide gleich reizbar, wenn auch an verschiedenen Enden der weiblichen Fertilität. Merkwürdigerweise scheint Alma vom Wüten der Hormone bisher weitgehend unberührt, sie ist noch weich. Alexia und Alma. Yin und Yang. Zwillinge, die sich nie ähnlich waren. Schon im Bauch hat sich das so angefühlt. Natürlich schläft Alma schon. Bea war zu beschäftigt mit ihren eigenen Gedanken, um zu registrieren, wann ihre Tochter ins Bett gegangen ist, erinnert sich nun aber vage, dass sie Gute Nacht gesagt hat.
Sie schiebt sich rückwärts aus dem Zimmer und schließt die Tür. Macht einen kurzen Abstecher in den Flur, und auch wenn sie weiß, dass Niklas’ Leinenjacke nicht dort hängt, kontrolliert sie trotzdem seinen leeren Haken. Im Schuhregal unter der Garderobe stehen Almas Reitstiefel und Ballerinas ordentlich aufgereiht neben Alexias schmutzigen Sneakern, Beas Birkenstocksandalen und Niklas’ Loafers und Joggingschuhen. Ein Meer aus Jacken und Schuhen. Die ganze Familie auf einem Haufen und doch verstreut.
Bea geht zurück ins Schlafzimmer, das sich jetzt noch wärmer anfühlt. Die Luft ist stickig, obwohl die Balkontür zum Hof offen ist. Gleich neben der Tür steht auch der hässliche, sündhaft teure Ventilator, den Niklas gekauft hat. Sie hätte vor dem Hinlegen die Fernbedienung suchen sollen, war aber zu müde.
Jetzt setzt sie sich auf seine Bettseite und zieht die Nachttischschublade auf. Ein E-Reader und Antiallergika, schlicht und einfach. Ganz anders als Beas überladene Schublade, vollgestopft mit Handcremetuben, Büchern und Krimskrams. Schließlich findet sie die Fernbedienung auf dem Fenstersims, dreht den Ventilator voll auf, und zu seinem monotonen Brummen gerät die Luft im Schlafzimmer endlich in Bewegung.
03:31. Sie muss geschlafen haben, denn sie fährt mit einem Ruck hoch. Noch immer liegt sie auf Niklas’ Bettseite, nun fröstelt sie fast ein wenig. Sie zieht den Bettbezug über sich und tastet nach dem Handy auf der anderen Seite des Doppelbetts. Keine Nachrichten. Keine verpassten Anrufe. Die Wut macht sie hellwach.
Wo zum Teufel bist du?
??
Hallo!?
Antworte!
Jetzt wird sie richtig sauer. Warum reagiert er nicht? Kein Wort der Entschuldigung, kein »verzeih mir«. Stattdessen bleibt er die ganze Nacht weg, ohne sich zu melden, wie ein Teenager. Das ist nicht okay. Überhaupt nicht okay. Bea bleibt im Bett liegen und kocht vor Wut. Das Daphne’s hat jetzt definitiv zu. Sie schaut auf ihr Handy. Greift danach, legt es wieder hin. Schiebt es beiseite. Greift wieder danach. Wartet. Aber kein Piep. Obwohl es im Zimmer kühl ist, glühen ihre Wangen.
04:48 und das Bett ist von Beas rastlosem Wälzen völlig zerwühlt. Warum meldet er sich nicht? Ja, er ist manchmal zerstreut und nervig, aber er würde sie doch nie mit Absicht beunruhigen. Selbst wenn er beruflich unterwegs ist, geht er immer ran. Mit einer Ausnahme vorigen Herbst, als Alexia während ihres Filmdrehs Probleme und er auf einer Ärztekonferenz in Kenia sein Handy ausgeschaltet hatte.
Dank einer ganzen Menge hilfsbereiter Menschen bekam sie ihn schließlich ans Telefon, draußen auf dem Indischen Ozean, obwohl er offenbar lieber schnorchelte, als sich um seine Tochter und seine Familie zu kümmern. Später, als ihm sein Verhalten leidtat, rief er mehrmals an, um sich zu entschuldigen. Aber jetzt scheint er in einem Funkloch verschwunden zu sein.
Was, wenn etwas passiert ist? Die Wut verwandelt sich in Angst, bohrend in der Magengrube. Ist er in Schwierigkeiten? Ist er zur Djurgårdsbron hinuntergeirrt und ins Wasser gefallen? In letzter Zeit war er einige Male etwas zu betrunken. Als würde er im Alter weniger vertragen. Ein bisschen wie ein Jugendlicher, der nicht richtig mit Alkohol umgehen kann, nur dass er schon jenseits der Fünfzig ist.
Sie dachte an das Krebsessen bei Calle und Charlotte Mörner letztes Jahr, als er seinen Schuh verlor und sie ihn in ein Taxi hieven musste. Und an letztes Weihnachten, als er noch im Krankenhaus in Sollentuna gearbeitet hat und sie von einem Geräusch geweckt worden war, das sie seit der Oberstufe nicht mehr gehört hatte. Eine gutturale Eruption in Form eines Brüllens, während jemandem Magensaft, gebeizter Lachs und zerkaute Würstchen aus der Kehle schießen. Als sie die Badezimmertür öffnete, kauerte Niklas auf den Knien, umklammerte krampfhaft die Kloschüssel und weinte vor Scham. Peinlich.
Dass ein Kinderarzt mittleren Alters derart die Kontrolle verliert, ist einfach nicht okay. Sie schämte sich für ihn und war gleichzeitig wütend. Zum Glück waren die Mädchen schon im Bett gewesen, sodass sie das Elend nicht hatten mitansehen müssen, aber wäre er nur eine Stunde früher nach Hause gekommen, hätten sie noch im Wohnzimmer vor dem Fernseher zusammengesessen.
Wenn sie so darüber nachdenkt, ist sie in letzter Zeit recht häufig wütend auf ihn gewesen, und sie kann dieses Gefühl nicht ausstehen. Sie will nicht wütend auf Niklas sein. Sie liebt ihn. Auch wenn die anfängliche Leidenschaft sich gelegt hat, ist die Liebe noch tiefer. Sie haben gemeinsam ein ganzes Leben aufgebaut, eine tolle Familie mit zwei reizenden Töchtern gegründet. Gut, Alexia ist momentan vielleicht nicht gerade reizend, aber die Pubertät geht ja vorbei. Wenn der Frontallappen ausgewachsen ist oder so was in der Art.
Ihre Wohnung ist mit der neuen Küche noch schöner und gemütlicher geworden, und das Haus von Niklas’ Familie auf Gotland ist auch für sie zu einem zweiten Zuhause geworden. Natürlich haben sie als Paar verschiedene Phasen und schwierige Zeiten durchgemacht, wie alle anderen auch, aber jeder Rückschlag hat sie nur noch enger zusammengeschweißt. Viele Paare, die uns in all den Jahren begegnet sind, haben sich wieder entzweit, als die Flitterwochen vorbei waren und die Liebe auf die Probe gestellt wurde.
Vielleicht ist es bei Bea und Niklas anders, weil ihre Geschichte mit etwas so Schrecklichem wie Jacobs Tod ihren Anfang genommen hat. Seltsamerweise haben sie einander genau damals gefunden. Vielleicht weiß sie deshalb, dass sie alles durchstehen können. Weil sie sich inmitten des Schrecklichsten verliebt haben. Ohne Niklas hätte sie nicht überlebt, und bei einem solchen Plus auf dem Dankbarkeitskonto hat er noch ein paar Vollräusche gut. Wenn er sich nur melden würde!
Sie wälzt sich eine weitere Runde im Bett, schwankt zwischen Wut und Angst, während sich die Fantasiebilder abwechseln: Niklas in irgendeiner Bar oder auf einen Absacker bei Freddie, dann wieder in der Strömung treibend oder an Bord eines Rettungswagens auf dem Weg ins Karolinska-Krankenhaus. Sie kann unmöglich wieder einschlafen, also steht sie auf und kocht Tee. In der Küche ist es immer noch stickig. Sie geht auf den Balkon, wo die rosa Mårbacka-Pelargonien in ihren geflochtenen Körben über das schwarze Geländer hängen, voller Knospen, die nur darauf warten, aufzuspringen. Welch Ironie, dass sie am Besten gedeihen, wenn sie hier draußen von ihrem grünen Daumen verschont bleiben.
Sie atmet den Duft der pistazienfarbenen Blätter ein und lässt sich in den knarzenden Rattansessel fallen. Die Balkonmöbel sind alt und verwittert. Sie hat schon neue von Paola Navone bestellt, aber die Lieferung aus Italien verzögert sich wegen der Hitzewelle in Südeuropa.
Es ist eigenartig ruhig und still in den Innenhöfen, die sich wie eine lange Schlange durch das Viertel winden und die Häuser zwischen Karlavägen, Banérgatan, Wittstocksgatan und Tysta gatan miteinander verbinden. Jeder Hof ist vom angrenzenden abgetrennt, manche mit Steinmauern, andere mit hohen schwarzen Eisenzäunen. Hinter dem Haus gegenüber steigt gerade die Morgendämmerung auf, als Bea Ein wenig Leben aufschlägt. Sie hat es von Lillis bekommen, die ihr in höchsten Tönen von Hanya Yanagiharas Bestseller vorgeschwärmt hat. Bea will diesen Roman, von dem alle gerade reden, wirklich gerne mögen, aber es fällt ihr schwer, sich darauf einzulassen.
Nachdem sie denselben Absatz viermal gelesen hat, ohne auch nur das Geringste aufzunehmen, legt sie das Buch wieder beiseite und scrollt stattdessen auf dem Handy herum. Es ist, als könnte sich ihr Gehirn gerade auf nichts anderes konzentrieren als auf Niklas. Sie denkt darüber nach, bei Freddie oder Calle anzurufen und zu fragen, ob die etwas wissen. Doch stattdessen bleibt sie im Rattansessel sitzen, hohläugig und wie gelähmt, während über den Dächern langsam die Sonne aufgeht.
Als er endlich anruft, ist seine Stimme ganz ruhig. Als käme er eben aus der Arbeit und wollte nachfragen, ob er auf dem Heimweg noch etwas einkaufen sollte. Klopapier oder Milch? Gar nicht wie jemand, der gerade zehn Stunden lang seine eigene Frau geghostet hat.
»Ich bins«, sagt er sachlich.
»Jetzt rufst du an?«
»Hast du geschlafen?«
»Was?«
»Hab ich dich geweckt?«
»Ich hab die ganze Nacht keine Sekunde geschlafen.« Das entspricht nicht ganz der Wahrheit, fühlt sich aber so an.
»Okay.«
»Nein, das ist nicht okay. Wo bist du?«
»Bei Freddie.«
»Du hättest ja mal anrufen und Bescheid sagen können.«
»Mach ich ja jetzt.«
»Ich habe mich stundenlang zu Tode gesorgt!«
Sein unberührter Tonfall ist wie Treibstoff für Beas Wut. Er klingt kein bisschen reumütig, eher als wäre das alles völlig normal. Ist er eben eine Weile abgetaucht, nichts Besonderes.
»Wir haben ein paar Bier getrunken und sind dann noch zu ihm gefahren und haben ein bisschen geredet.«
»Aber warum hast du nicht auf meine Nachrichten geantwortet?« Sie wird immer ungehaltener. Hebt die Stimme, als würde die Lautstärke es leichter machen, zu ihm durchzudringen. »Hallo? Hörst du mich?«
»Ich höre dich, du brauchst nicht so zu schreien.«
»Kannst du erklären, warum du nicht zurückgeschrieben hast?«
»Weil ich vielleicht keine große Lust dazu hatte.«
In Beas Gehirn brennt eine Sicherung durch. Was zum Teufel sagt er da?
»Keine große Lust? Was denkst du dir bitte dabei?«
Niklas schweigt. Als wartete er, dass sie etwas sagte.
»Dir muss doch klar sein, dass ich mir Sorgen mache? Ich dachte, es ist was passiert!« Jetzt sollte er sich entschuldigen, hätte es schon längst tun sollen. Aber nichts. »Bist du noch betrunken?«
»Nein.«
»Dann antworte doch!«
»Was erwartest du denn?«
»Ich erwarte eine Erklärung! Und eine Entschuldigung! Erst verpatzt du das mit der Fähre, und dann bleibst du einfach die ganze …«
Plötzlich wird es mucksmäuschenstill in der Leitung.
Ernsthaft? Legt er mitten im Gespräch einfach auf? Was zum Teufel? Er sollte verdammt noch mal auf die Knie fallen und um Entschuldigung bitten. Besserung geloben. Wie er das sonst tut, wenn er es verbockt hat. Klar, sie haben beide ihre Fehler und Schwächen, aber darum geht es doch beim Zusammenleben: sich trotz der weniger angenehmen Seiten zu lieben. Das Wichtigste ist, dass man sich entschuldigt, wenn man etwas Dummes gemacht hat, und darin sind sie doch beide immer ganz gut gewesen. Aber jetzt – keine Reue, keine Entschuldigung. Genau wie gestern Abend, als sie sich wegen der Fähre in die Haare gekriegt haben – statt seinen Fehler zu erkennen und dafür geradezustehen, gab er ihr die Schuld. So was von schäbig.
Bea ruft sofort noch einmal an, aber es geht direkt die Mobilbox mit Niklas’ weicher Stimme dran.
Das ist der Anschluss von Niklas Stjerne. Schicken Sie mir eine Nachricht oder sprechen Sie aufs Band.
Sie ist fassungslos. Hat er sein Handy ausgeschaltet? Absichtlich? Nein, das kann nicht sein. Wahrscheinlich ist der Akku leer. Und sein Ladegerät hat der alte Schussel vermutlich auch wieder nicht dabei. Ausgeschlossen, dass er einfach aufgelegt hat.
Sie öffnet ihre Kontakte und scrollt zu Freddie Scherrer. Das Freizeichen ertönt, aber Freddie hebt nicht ab. Verwirrt und frustriert schreibt sie schnell eine neue Nachricht an Niklas.
Ruf mich an! Was ist los? Ich verstehe gar nichts mehr. Was soll das denn? Antworte!
Und dann noch eine an Freddie.
Kannst du Niklas sagen, er soll mich anrufen? Sofort. Danke.
Sie sieht die Antwortpünktchen hüpfen, Freddie schreibt etwas, will oder kann aber wohl gerade nicht sprechen. Bea wartet ungeduldig, aber schließlich verschwinden die Punkte wieder, und es kommt keine Antwort.
Das Rezept weiß sie auswendig. Mehl, Salz und Backpulver. Die Butter würfeln und in das Weizenmehl einarbeiten. Dann die Milch dazugießen.
Bea knetet energisch den Teig, der an den Händen klebt und lange Würste zwischen den Fingern bildet. Normalerweise löst er sich irgendwann zu einer geschmeidigen Masse, lässt sich rollen und auf ein Backblech legen. Aber jetzt klebt das Ganze wie Kleister, obwohl sie arbeitet wie eine Irre. Sie nimmt den Kochlöffel aus dem Topf in der Spüle und versucht, sich die klebrige Masse von den Fingern zu kratzen, aber davon werden ihre Hände nur noch teigiger und der Löffel ebenso.
»Fuck!«, entfährt es ihr, und ausgerechnet jetzt hört sie Alma in ihren Pantoffeln Richtung Küche schlurfen. Als sie sich umdreht, trifft sie der prüfende Teenagerblick. Bea schämt sich nicht nur für das »Fuck«, sondern dafür, dass sie sich so wenig unter Kontrolle hat. Das sieht ihr gar nicht ähnlich. Normalerweise flucht sie nicht, sie muss sich bei Inger von der Arbeit angesteckt haben, die immer sofort damit anfängt, wenn der Computer wieder einmal streikt.
»Entschuldige. Ich will Scones machen, aber ich weiß auch nicht … Das pappt irgendwie so.«
»Gut …«, murmelt Alma und holt sich Saft aus dem Kühlschrank. »Sag Bescheid, wenn sie fertig sind.« Dann schlurft sie mit dem Saft in der Hand zurück in ihr Zimmer.
Bea steht immer noch mit den bleichen Teigkugeln vor dem Backblech und versucht, die klebrige Weizenpampe loszuwerden. Sie ist den Tränen nahe, ohne richtig zu wissen, warum. Ja, Niklas hat sie enttäuscht, und sie ist wütend auf ihn, aber da sollte sie doch eher ein Loch in die Wand schlagen wollen statt zu heulen! Es liegt wohl an den hormonellen Veränderungen, die wie ein dichter, verwirrender Nebel in ihr aufziehen.
In letzter Zeit fühlt sie sich launisch und niedergeschlagen. Als hätte ihr Leben die Tonart gewechselt und verliefe plötzlich in Moll. Sie hat kaum mehr genug Energie für ihre Arbeit beim Roten Kreuz, obwohl sie weiß, dass sie dort wirklich etwas bewirken kann. Ihr Selbstvertrauen schwindet dahin. Nach der Sache mit Jacob hatte sie das Bedürfnis nach einer Arbeit, die etwas bedeutet. Die sich echt anfühlt. Niklas sagte damals, sie könne weiterstudieren, wenn sie wolle, aber er unterstützte sie auch, als sie sich bei der Hilfsorganisation bewarb, und stimmte ihr darin zu, dass das gut und wichtig war. Trotzdem hat sie ihre Stundenzahl reduziert, und obwohl sie weiß, dass sie als Webredakteurin mit dazu beigetragen hat, die Besucherzahlen auf der Website zu erhöhen, fühlt sie sich merkwürdig unsichtbar und austauschbar. Deprimiert. Ob sie das mit Gotland deshalb so hart getroffen hat? Sie hat sich wirklich auf die Ferien gefreut. Darauf, endlich nach Hogreps zu kommen, Lillis und Tore und den Rest der Familie zu sehen und eine entspannte Zeit mit allen zu verbringen. Sich ein bisschen umsorgen zu lassen, denn das können Niklas’ Eltern gut.
Vielleicht war das der einzige Ort auf der Welt, an dem sie sich richtig entspannen konnte, das alte Kalksteinhaus, in Gesellschaft ihrer Schwiegereltern. Dort hat sie sich all die Jahre sicher gefühlt. Abends trinken sie Wein in der Ruine und spielen bis spätnachts Karten, sie kochen zusammen und machen ausgedehnte Spaziergänge. Schon so lange ist sie jetzt ein Teil der Familie Stjerne, seit dem ersten Sommer ohne Jacob, als sie das erste Mal mit nach Hogreps gekommen war, schlaflos vor Kummer.
Damals hatte Lillis in der Morgendämmerung eine Thermoskanne Kaffee eingepackt und Bea – freundlich, aber bestimmt – auf Oma Bettys altes Monark gesetzt. Sie waren über den prasselnden Kiesweg nach Grynge geradelt und hatten im Meer gebadet, und die Eiseskälte im Wasser linderte den Schmerz der Trauer. Danach hatten sie sich mit dem Kaffee aufgewärmt und schweigend den Sonnenaufgang angeschaut. Einfach so neben Lillis zu sitzen, ohne etwas sagen zu müssen, hatte etwas Heilsames gehabt. Lillis war schon damals, vor dreißig Jahren, ergraut und trug Dutt und einen kurzen Mantel wie Klein My. Ihre Oberschenkel voller Dellen, aber braungebrannt. Diese Morgen im ersten Jahr nach Jacob waren besser als jede Therapie gewesen.
Ihre Schwiegermutter legte eine Wärme und ein Interesse für sie an den Tag, die sie bei ihrer eigenen Mutter leider vergeblich suchte. Im Laufe der Jahre hat Bea begriffen, dass darin keine Bosheit, sondern einfach die Unfähigkeit liegt, den Schmerz von irgendjemand anderem als sich selbst wahrzunehmen. Lillis war an die Stelle ihrer Mutter getreten.
Das morgendliche Bad im Meer mit Kaffee wurde nach und nach zur Gewohnheit, neben vielen anderen Ritualen. Jeden Sommer nehmen sie sich gemeinsam neue Projekte vor und füllen so die Tage mit einem Gefühl von Sinnhaftigkeit. Sie bauen auf Hogreps etwas Schönes und Beständiges auf, von dem auch die kommende Generation noch etwas haben wird. Dieses Jahr hat sie Lillis versprochen, mit ihr das Atelier herzurichten. Es fühlt sich nicht wie eine lästige Aufgabe an, im Gegenteil, es ist einfach beruhigend und befriedigend, genau wie letztes Jahr, als sie Tore beim Streichen der Veranda geholfen hat.
Niklas versteht nicht, warum man den ganzen Sommer »schuften« sollte, aber Bea fühlt sich durch diese Aufgaben zugehörig. Manchmal ärgert es sie, für wie selbstverständlich er das alles hält. Familie. Henke und Sus sind schon auf Hogreps, zurück von einem weiteren Jahr in Brasilien, und ihre Kinder Olle und Hedda warten schon ungeduldig auf Alma und Alexia, wie immer, wenn sie sich ein ganzes Jahr nicht gesehen haben. Manchmal wirken die vier trotz der langen Trennung fast wie Geschwister.
Beas Sehnsucht nach Hogreps ist fast körperlich. Wie die Sehnsucht nach einem Menschen. Und es ist nicht nur das Kalksteinhaus, nach dem sie sich so sehnt, sondern ganz Gammelgarn. Sie sehnt sich danach, am Strand bei Grynge entlangzugehen, durch das Naturreservat und das Fischerdorf Sjauster. Wenn es zu warm wird, bleibt man stehen, schlüpft auf den schroffen Klippen aus den Klamotten, watet ein Stück hinaus und lässt sich ins Meer sinken. Lässt sich von den Wellen hin und her wiegen. Spürt, wie die Abkühlung und die Glücksgefühle den ganzen Körper erfassen. Der Gedanke an den Sommer und alles, was sie erwartet, ist den ganzen Frühling über ihr Rettungsanker gewesen. Wenn sie sich bei der Arbeit überfordert fühlte, hatte sie immer Hogreps vor der Nase baumeln wie eine Karotte. Das Wissen darum, dass sie diesem Backofen von einer Wohnung und der Hitze, die wie ein Deckel über der ganzen Stadt lag, bald entrinnen würde. Woche um Woche hat sie heruntergezählt, bis es sich beinahe unmöglich anfühlte, auch nur noch ein bisschen auszuharren. Aber das muss sie – weil Niklas es verbockt hat.
Bea streckt sich nach der Packung Mehl auf der Kücheninsel. Schweißtropfen bilden Rinnsale zwischen den Sorgenfalten auf ihrer Stirn, fallen auf den Steinboden und zeichnen dort ein Muster aus dunklen Tupfen. Statt der Tränen, die sie sich weigert herauszulassen. Die Wärme des Backofens schraubt die Temperatur in der Küche zusätzlich in die Höhe. Am liebsten würde sie sich selbst anschreien. Was für eine bescheuerte Idee, bei dieser Hitze auch noch zu backen! Energisch schiebt sie die Scones ins Rohr und knallt die Ofentür zu.
Das Handy auf der Arbeitsplatte aus Marmor piept, sie greift mit teigigen Fingern danach. Eine Nachricht von Niklas. Hat er seinen Akku aufgeladen? Oder eingesehen, wie absurd es ist, sein Telefon auszuschalten, während seine Frau versucht, ihn zu erreichen?
Sie erwartet ein massives »mea culpa«, aber wenn sie bedenkt, wie respektlos sein Verhalten war, wird es noch eine Weile dauern, bis sich ihre Wut gelegt hat. Erschöpft vor Zorn und mit zitternden Händen öffnet sie seine Nachricht.
Ich komme nicht heim.
Es sind nur wenige, einfache Worte. Trotzdem begreift sie sie nicht. Begreift ihren Zusammenhang nicht. Nicht heim? Er meint wohl, dass er nicht gleich heimkommt? Sondern erst später? Am Abend? Dass er noch etwas erledigen muss, was länger dauert als geplant. Wenn sie nicht so überrascht wäre, würde sie jetzt vielleicht wütend werden, oder besser gesagt noch wütender. Aber im Moment fühlt sie sich von dieser kryptischen Botschaft vor allem betäubt. Sie muss mit ihm sprechen, jetzt. Über das, was gestern passiert ist, und über heute Morgen. Darüber, dass er, nachdem er sie eine ganze Nacht hatte warten lassen, einfach aufgelegt und sein Handy ausschaltet. Und über Gotland.
Sollten sie vielleicht versuchen, noch Tickets für die Fähre von Oskarshamn zu bekommen? Klar, die Fahrt dorthin dauerte ewig, aber immer noch besser, als die ganze Woche in dieser Asphalthölle festzustecken.
Bea schreibt schnell zurück.
Was soll das heißen? Wann kommst du denn?
Sie wartet. Sieht den Punkten beim Hüpfen zu. Als nichts kommt, schreibt sie selbst noch einmal.
Ich verstehe nicht. Ruf mich an!
Das tut er natürlich nicht. Also ruft sie an. Es klingelt, aber niemand hebt ab. Stattdessen kommt eine weitere Nachricht.
Ich muss nachdenken.
Aus dem Ofen riecht es verbrannt.
Ein leichtes Unwohlsein in der Bauchgegend, Schwindel. Ist das die Hitze? Der Östrogenmangel? Der entlaufene Ehemann? Sie hat seit gestern Abend kaum etwas getrunken und keinen Bissen gegessen. Nicht einmal einen Krümel Scone kriegt sie hinunter. Dabei liebt sie Scones mit Butter und Käse, die mit dem frischen Gebäck verschmelzen. Besonders Lillis’ Scones, die auf Hogreps besonders gut schmecken. Hat sie deshalb gebacken? Versucht sie, Lillis und Tore in Gebäckform heraufzubeschwören, als eine Art Trost?
Es ist fast Mittag, könnte aber genauso gut Mitternacht sein. Die Zeit verstreicht so langsam, und doch rinnt sie ihr durch die Finger. Noch weiß sie nicht, dass gerade eine neue Ära angebrochen ist. Dass dieser Tag ihr Leben umkrempeln wird.
Bea greift wieder zum Handy. Starrt das Display an, als würde davon eine weitere Nachricht von Niklas erscheinen. Eine Erklärung für sein seltsames Verhalten. Eine nachvollziehbare Antwort. Aber bis auf Beas Versuche zur Kontaktaufnahme bleibt der Chat leer. Eine lange Reihe von Frage- und Ausrufezeichen. GROSSBUCHSTABEN. Wut-Emojis. Zornige rote Gesichter mit grimmigen Augenbrauen und kochende Vulkanschädel. Sprich mit mir!
Sie sieht, dass Niklas sie bekommen hat. Dass er sie gelesen hat und um welche Uhrzeit. Sein Profil ist gerade aktiv, wie meistens, wenn sie den Messenger öffnet, um ihm zu schreiben. Aber es ist, als hätte er nur vor ihr ein Rollo heruntergezogen, ein trotziger Teenager, der sich weigert zu kommunizieren, wie Alexia. Das provoziert Bea bis aufs Blut.
Freddie macht es genauso. Geht nicht ans Telefon und antwortet nicht auf ihre Nachricht. Calle Mörner ruft immerhin zurück, hat aber keinen Schimmer von irgendwas. War nicht mit im Daphne’s und weiß auch nicht, was passiert sein könnte.
Soll sie zu Freddie fahren und an die Tür klopfen? Niklas an Ort und Stelle zur Rede stellen? Nein, das ist keine gute Strategie. Und noch dazu erniedrigend. Sie wird keine Szene machen. Wenn er seine Ruhe braucht, soll er sie eben haben. Sie werden später alles klären, auch wenn sein Verhalten absolut inakzeptabel ist.
Sie geht ins Badezimmer und dreht den Hahn auf, das kalte Wasser strömt in die Wanne, donnert gegen das Metall. Sie zieht sich aus und steigt hinein. Beobachtet, wie der Wasserpegel steigt, während ihre innere Temperatur sinkt. Sie versucht, sich aus diesem verdammten Badezimmer wegzudenken, ans Meer bei Grynge. Aber hinter ihren geschlossenen Lidern brennen Enttäuschung und Verwirrung. Warum muss er ausgerechnet jetzt einen großen Streit vom Zaun brechen, wo doch ein herrlicher Sommer vor ihnen liegt? Wie unfassbar unnötig.
»Hallo? Mama?«
Alexias Stimme auf der anderen Seite der Tür ist über das Donnern des Wasserhahns gerade so zu hören. Bea dreht den Strahl kleiner.
»Ich bin in der Wanne, brauchst du was?«
»Wo ist denn Papa?«
Bea zögert, weiß nicht recht, was sie antworten soll. Soll sie ausweichen oder lieber sagen, wie es ist?
»Bei Freddie.«
Das ist zumindest nicht gelogen.
»Aber er wollte doch mit mir fahren üben?«
Bea ringt um Worte.
»Ja, also … Wenn ihr das so ausgemacht habt, kommt er sicher bald. Du kannst ja mal bei Papa anrufen und nachfragen. Oder bei Freddie.«
Draußen ein Murmeln, dann Schritte.
»Alexia?«
Bea horcht nach ihrer Tochter, aber sie ist schon gegangen. Ihre Enttäuschung ist geblieben, Bea kann sie durch die Tür spüren. So wenig sich Alma für die Übungsfahrten interessiert, so eifrig ist Alexia bei der Sache. Als könnte sie gar nicht schnell genug selbstständig werden.
Bea hatte eigentlich erwartet, dass es umgekehrt sein würde, so oft, wie Alma zum Reitstall gefahren werden musste, aber seit den Dreharbeiten im letzten Herbst scheint Alexia mit ihren sechzehn Jahren auf den Geschmack des Erwachsenenlebens gekommen zu sein.
Bea stemmt sich aus der Wanne und streckt sich nach ihrem Handy. Es ist ja wohl eine Sache, Bea die kalte Schulter zu zeigen, aber die Kinder links liegen zu lassen, ist nicht okay. Der Bildschirm wird feucht und regiert nicht richtig beim Tippen.
Wo bist du??? Du wlltst mit Alexia fahren üben! Die ist megatrrurig. Ruf mch SOFORT zurück!!!
Natürlich antwortet er auch darauf nicht, denkt sie noch, als plötzlich eine Nachricht aufpoppt.
Habe mit Alexia geredet. Alles in Ordnung.
Hat er wirklich schon mit ihr gesprochen? Bea schreibt zurück.
Gar nichts ist in Ordnung! Sie ist total tarariig! Wann kommst du?!
Wieder keine Antwort. Bea wickelt sich in ein Handtuch. Auf dem Weg in Alexias Zimmer hinterlassen ihre Füße nasse Abdrücke auf dem hellen Eichenparkett. Sie klopft vorsichtig und öffnet die Tür einen Spaltbreit, zu ungeduldig, um eine Antwort abzuwarten. Alexia liegt im Bett, ihr Handy in der Hand.
»Hat Papa gerade angerufen?«
»Mhm.«
»Und was sagt er?«
»Dass wir’s verschieben.«
»Hat er gesagt, warum?«
»Nö. Nur, dass wir’s verschieben.«
»Und wann kommt er?«
»Weißnich …«
Alexias Stimme klingt müde und zäh. Schleppend, als wäre jedes einzelne Wort anstrengend.
»Ist er denn noch bei Freddie?«
»Ich glaub nicht.«
»Und wieso glaubst du das nicht?«
»Weißnich …«
»Herrgott, irgendwas muss er doch gesagt haben. Überleg doch mal! Und sprich so, dass ich dich verstehe. Es heißt: ›Ich weiß es nicht.‹« Bea hört, wie scharf und verbissen sie klingt. Dieses gewollt Lockere, das Alexia an den Tag legt, ist zwar nervig, aber jetzt ist wohl der denkbar schlechteste Moment, um darauf herumzureiten. »Tut mir leid, Schätzchen, entschuldige, ich wollte nur wissen, ob …«
Aber zu spät. Ihre Tochter ist bereits aus dem Zimmer gestürmt, und Bea hört die Haustür wieder ins Schloss fallen. In weniger als vierundzwanzig Stunden ist es ihr gelungen, gleich zwei Familienmitglieder zu vergraulen.
Sie hackt Paprika, Zwiebeln und Knoblauch in grobe Stücke, wirft alles in den Mixer und drückt auf den Knopf. Gazpacho ist perfekt, wenn es eigentlich zu heiß zum Essen ist. Oder wenn einem so flau im Magen ist, dass man nur etwas Flüssiges herunterbekommt.
Sie hat in der Familien-WhatsApp-Gruppe »Stars of Banér« angekündigt, dass es am Sonntag um sieben Abendessen gibt. Aber niemand hat reagiert, und niemand ist zu sehen, obwohl es schon fast Viertel vor ist. Alexia ist wohl immer noch sauer und sicher bei einem ihren neuen Filmfreunde, und Alma ist im Stall und betüddelt die Pferde, was sich endlos ziehen kann. Im schlimmsten Fall isst Bea eben alleine. Sie versucht, sich klarzumachen, dass sich mit jeder Stunde, die vergeht, Niklas’ Heimkommen nähert. Dann können sie endlich darüber reden, was passiert ist, und es hinter sich lassen.
Denn langsam müssten sie doch vorbei sein, die Stunden des Alleinseins, nach denen er sich so verzweifelt zu sehnen scheint? Nicht, dass sie ihm die Zeit nicht gönnt. Die braucht sie ja selbst hin und wieder, und normalerweise sind sie gut darin, sich gegenseitig Raum zu geben. Aber dass er einfach abhaut, das macht sie sauer.
Aber jetzt kann sie nicht mehr sauer sein. Sie ist erschöpft und will einfach, dass es vorbeigeht, dass alles wieder beim Alten ist. Eines Tages werden sie wahrscheinlich darüber lachen wie über einen alten Familienwitz, bei einem Grillfest in der Ruine. Über den Sommer, in dem Niklas vergessen hat, die Fährtickets zu bezahlen und sich vor lauter Scham nicht nach Hause getraut hat. Sie sieht schon vor sich, wie sie die Anekdote gestikulierend zum Besten gibt, wie Niklas die Geschichte an den richtigen Stellen ergänzt und sie sich liebevoll gegenseitig necken. Henke hört vom Grill aus zu, wendet Lammburger und schüttelt den Kopf über seinen kopflosen kleinen Bruder. Lillis, Tore, Hampus und Sus sitzen um den Steintisch herum, jeder mit einem Glas vor sich, und lachen über diese köstliche Episode, die jedes Mal wieder unterhaltsam ist. Jetzt ist es schwer, darüber zu lachen. Aber später. Vielleicht schon heute Abend, wenn alles verziehen ist.
Bea widmet nun all ihre Aufmerksamkeit der Zubereitung des Essens. Das Gemüse wird von den aggressiven Mixerklingen geschlachtet, sie dreht die Geschwindigkeit voll auf. Zerfetzte Tomaten und gehäckselte rote Zwiebeln wirbeln in rasendem Tempo in der Maschine im Kreis, und das elektrische Messer übertönt alles um Bea herum. Plötzlich glaubt sie, ein lautes Geräusch im Flur zu hören. Stellt den Mixer ab. War das die Wohnungstür?
Das Klappern eines Schlüsselbunds in der silbernen Schale auf dem Regal im Gang. Kurz darauf steht Alma in der Tür, in Reithose, ihren Stoffbeutel über der Schulter, und Beas aufkeimende Hoffnung schlägt in Enttäuschung um. Oder vielmehr in ein quälendes Unbehagen darüber, weiterhin nicht zu wissen, wann Niklas kommen wird. Sie ringt sich ein Lächeln ab.
»Perfektes Timing, die Gazpacho ist fertig. Setz dich ruhig schon mal hin.«
Alma lässt den Beutel fallen und sinkt auf einen Stuhl. Sie blickt dankbar auf die Anrichte, wo Bea die kalte Suppe in Lillis’ tiefe Teller füllt.
»Wo ist Papa?«
Bea glaubt, einen Unterton zu hören, vielleicht bildet sie sich das aber auch ein.
»Er sollte jeden Moment hier sein.«
Ihre Tochter greift sich ein Stück Zwiebelbrot und knabbert verhalten daran.
»War es schön im Stall?«, fragt Bea.
»Issa ist mit Nico ausgeritten, also blieb mir nur Ausmisten.«
»Aber Sonntag und Mittwoch sind doch deine Tage?«
»Ja, aber es ist nun mal ihr Pferd.«
»Trotzdem bezahlen wir ja für bestimmte Tage. Da könnte sie ja wenigstens Bescheid sagen, wenn sie tauschen will.«
»Emmy war auch da, also war es nicht so schlimm.«
Alma kramt ein Buch aus ihrem Beutel, um zu signalisieren, dass sie nicht weiter über das Thema reden möchte. Bea versteht den Wink.
»Was liest du denn?«
Alma dreht den Umschlag ein wenig. Bodil Malmsten.
»Erwachsen!«, kommentiert Bea.
»Stand im Regal, das Cover hat mir gefallen.«
Der Umschlag zeigt einen breitbeinig dastehenden Mann vor rotem Hintergrund. Alma steckt einen Finger zwischen die Seiten und schlägt das Vorsatzblatt auf. Niklas’ Handschrift. Bea blickt Alma über die Schulter und liest.
Weihnachten 1995
Für Begel – die Tollste von allen
»Begel?«, sagt Alma in fragendem Ton.
»Das war Jacobs Kosename für mich, als wir klein waren. Niklas hat das dann übernommen, als wir zusammengekommen sind.«
»Aber was soll das heißen?«
»Das kommt von Egel. Blutegel. Weil ich immer so anhänglich war …«
»Wie fies …«
»Nein, das war liebevoll gemeint, ich wollte immer überallhin mit. Und das durfte ich auch, er war ein sehr lieber großer Bruder.«
Bea spürt ein Zucken unter dem Auge. Alma wirft ihr einen besorgten Blick zu.
»Bist du traurig?«
»Nein, nein, das ist eine schöne Erinnerung. Ich hab nur Hunger.« Eine Halbwahrheit, denn eigentlich hat sie das Gefühl, als müsste sie sich gleich übergeben. »Und dann diese Hitze.«
Bea will ehrlich zu ihren Kindern sein, sie findet es nicht gut, unangenehme Dinge von ihnen fernzuhalten, hält es für wichtig, ihnen zu zeigen, dass auch Erwachsene es manchmal schwer haben. Dass auch sie wütend und traurig werden. Trotzdem kann sie jetzt nicht darüber sprechen. Wahrscheinlich, weil sie selbst noch gar nicht versteht, was eigentlich los ist.
Wieder die Tür. Wieder ein Funken Hoffnung, der sofort verglüht, als sie im Flur Alexia am Handy reden hört. Bea setzt wieder ein Lächeln auf, als ihre zweite Tochter in die Küche kommt und sich umsieht.
»Was gibts zu essen?«
»Gazpacho.«
»Wer soll denn davon satt werden?«
»Es gibt auch Zwiebelbrot.«
Bea reicht ihr den Korb, Alexia nimmt sich wortlos eine Scheibe. Ihre haselnussfarbenen Haare hängen ihr in feuchten, dicken Strähnen in die Stirn.
»Warst du schwimmen?«, fragt Bea und unterdrückt den Impuls, mit dem Zeigefinger den Pony ihrer Tochter zu lupfen, um Blickkontakt herzustellen.
Alexia nickt.
»Mit wem denn?«
»Tim und so.«
»Schön. Im Freibad?«
»Mhm. Da ist einer gestorben.«
»Was?«
Alma erstarrt, den Löffel halb im Mund, und Bea fährt zusammen.
»Grundgütiger, was ist denn passiert?«
»Der lag einfach im Wasser, und ein paar Leute haben angefangen zu schreien. Dann hat ihn irgendwer rausgezogen und hat so Herzmassage und Mund zu Mund gemacht.«
»Bist du sicher, dass er gestorben ist?«
»Nein, aber besonders lebendig sah er nicht aus, wo sie ihn abgeholt haben.«
»Als sie ihn abgeholt haben.«
Alexia starrt sie an. »Korrigierst du jetzt wirklich meine Grammatik? Dein Ernst?«
»Entschuldige, Schatz. Blöde Angewohnheit.«
Bea versucht, die seltsame Stimmung abzufedern und serviert die kalte Suppe.
»Und was habt ihr dann gemacht?«
»Nicht viel. Wir sind noch ein bisschen geblieben und dann gegangen.«
»Aber wie gehts dir?«
»Okay.«
»Du hast einen Toten gesehen!«, ruft Alma und sieht ihre Zwillingsschwester fragend an, während sie ein bisschen an ihrem Zwiebelbrot knabbert.
»Ja, und was soll ich jetzt machen? Flennen?«
Alma steht auf, verletzt von Alexias harschem Ton.
»Ich geh duschen.«
»Aber du hast ja kaum was gegessen, Schatz«, sagt Bea.
»Bin satt, die Hitze … Aber echt megalecker.« Dann geht sie zur Spülmaschine und stellt ihren Teller hinein.
Alexia bleibt sitzen und rührt mechanisch in ihrer Suppe. Sie ist ganz bleich. Bea geht zu ihr und legt den Arm um sie. Spürt, wie ihre Tochter sich unter ihrer Umarmung verspannt. So ist das jetzt schon eine ganze Weile, seit sie ihre Periode bekommen hat. Nähe fällt ihr schwer. Im Gegensatz zu Alma, die sich ab und zu noch in Beas Schoß kuschelt.
So hat Bea sich das nicht vorgestellt. Als ihre Tochter kleiner war, hat sie so viel von sich selbst in ihr gesehen, sie waren sich so ähnlich, nicht nur äußerlich, mit ihrer braunen Mähne, sondern auch im Verhalten. Almas blonde Blässe war ganz Niklas. Alexia war eher burschikos, wie sie früher.
Sie erinnert sich an die wilden Spiele mit Jacob und wie sie als Kind lieber seine Klamotten auftragen als neue haben wollte. Sie dachte immer, dass es mit Alexia leicht werden würde, weil sie sich so ähnlich waren, aber im Gegenteil. Sie reiben sich aneinander. Sie hat sich zurückgenommen, hat versucht, ihrer Tochter Zeit zu geben, sich nicht aufzudrängen. Aber jetzt muss sie sie einfach umarmen. Richtig. Damit sie weiß, wie sehr sie geliebt wird.
Bea hält sie weiter und weiter fest, bis Alexia sich entspannt. Der unproportionale Teenagerkörper ergibt sich und lehnt sich an sie. Bea beugt sich vor und atmet Alexias Duft ein. Eine Art Urduft, den sie wohl unter Millionen anderen wiedererkennen würde. Ihre Tochter schluchzt und umgreift Beas Taille. Gleichzeitig groß und klein in ihrem sechzehnjährigen Körper. Sie vergräbt sich im weichen Bauch ihrer Mutter.
Bea zieht sie noch fester an sich, wie um sie nachträglich vor dem zu schützen, was sie bereits erlebt hat. Zu spät. Vielleicht versucht sie auch, sich selbst zu schützen, vor einer unbestimmten Gefahr, etwas noch Unbekanntem, das sich am Rand ihres Bewusstseins regt.
Dann lösen sie beide die Umarmung, fast peinlich berührt von der Intimität. Alexia steht jäh auf, nimmt ihren Teller mit in ihr Zimmer. Bea bleibt stehen und sieht ihr nach. Wie es ihr wohl wirklich geht? Was macht das mit einem Menschen, jemanden ertrinken zu sehen? Sie muss mit Niklas reden. Sie müssen jetzt für ihr Kind da sein, einen guten Umgang mit der Situation finden. Obwohl die Emotionen in ihr hochkochen, schreibt sie, so gefasst sie kann.
Alexia hat heute gesehen, wie ein Mann ertrunken ist. Notarzteinsatz usw. Sie ist schockiert und traurig. Wir brauchen dich hier. Komm schnell heim.
Eigentlich hat sie vorgehabt zu lesen, bis Niklas da ist, aber dann muss sie mit dem dicken Schinken von Hanya Yanagihara auf der Brust eingeschlafen sein. Immer noch auf derselben Seite wie heute Morgen. Es ist zwei Uhr nachts, und sie sieht sich verwirrt um. Die andere Seite des Bettes ist leer. Ihre Verwirrung weicht einem dumpfen Unbehagen.
Ich komme nicht heim.
Ich muss nachdenken.
Was soll das denn heißen? Will er etwa heute Nacht auch nicht nach Hause kommen? Und nachdenken worüber?
Auf ihre Nachricht zu Alexia und dem Unfall im Schwimmbad hat er nicht geantwortet. Nicht einmal eine Bestätigung, dass die Nachricht angekommen ist.
Wieder greift sie nach dem Telefon. Tippt auf dem Display herum. Es war sinnlos, noch einmal zu schreiben oder anzurufen.
Vor noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden war es völlig unvorstellbar, dass Niklas sich so verhalten könnte, nicht drangehen oder zurückrufen. Einfach vom Erdboden verschwinden. Sie zögert. Soll sie Lillis anrufen? Fragen, ob er sich gemeldet hat? Aber ihre Schwiegereltern schlafen natürlich. Die stört sie lieber nicht. Oder sie ruft Charlotte an? Vielleicht weiß Calle ja doch etwas, was er seiner Frau erzählt hat, Bea aber nicht sagen wollte? Aber sie hat Hemmungen. Wenn sie es Charlotte erzählt, wird das Ganze, was es auch sein mag, gleich viel realer.
Sie überlegt, wie viele andere Paare wie sie und Niklas es wohl gibt. Paare, die die Geheimnisse des anderen Jahr um Jahr für sich behalten, sie nicht einmal mit den engsten Freunden teilen. Um einander zu schützen, und das Bild der Beziehung. Weniger, um eine Fassade aufrechtzuerhalten, sondern als Liebesdienst. Man behält Geheimnisse für sich und schweigt zu den schlimmsten Eigenschaften des Partners, in der stummen Übereinkunft, einander zu akzeptieren, selbst in den hässlichsten Momenten. Man schützt und erträgt sich gegenseitig aus Liebe.
Bea ist immer irritiert, wenn Freundinnen und Kollegen über ihre Partner herziehen. Für sie ist es ein Betrug, intime Details zu den weniger schmeichelhaften Seiten seines Lebensgefährten auszuplaudern. So etwas hat sie Niklas nie angetan. Natürlich kann sie zugeben, dass auch sie, wie alle anderen, einmal schwierige Phasen haben, alles andere wäre ja auch nicht normal, und natürlich hat sie auch schon mit Charlotte darüber gesprochen. Allerdings ist sie dabei nie ins Detail gegangen, und es war auch fast immer erst hinterher, wenn sie es schon überwunden hatten. Eine geschönte Nachkonstruktion, in der die Probleme trotz aller Schwierigkeiten schon im Lösen begriffen waren. Nicht, dass Bea vorsätzlich lügt, aber wie alle Härten im Leben erscheinen Konflikte, sobald etwas Zeit verstrichen ist, weniger schmerzhaft. Manchmal sogar komisch – dann lässt sich das Schwere zu einer amüsanten Anekdote formen, sodass man nicht Gefahr läuft, sich zu sehr zu entblößen. In der Freundschaft mit Charlotte hört eigentlich meistens Bea zu, denn die Ehe ihrer Freundin befindet sich in einer Art chronischen, aber stabilen Krise.
Jetzt schleicht sich Angst ein, die Kehle schnürt sich ihr zu. Sie muss raus. Bea steht aus dem Bett auf und greift nach der Jogginghose auf dem Stuhl. Schleicht schnell durchs Wohnzimmer und vorbei an den Zimmern der Mädchen.
Der Himmel ist sternenklar und schimmert rosa, als sie die Karlavägen entlangradelt. Bea hat die Straße fast für sich allein. Nur ein paar vereinzelte Nachtgestalten torkeln auf ihrem Heimweg von der Kneipe durch die Allee. Gleich ist sie an der Birger Jarlsgatan, Ecke Odengatan, wo Freddie wohnt.
Freddie Scherrer, einer von Niklas’ ältesten Freunden, Teil des Quartetts, zu dem auch Jacob und Calle Mörner gehörten. Sie waren immer zusammen, von der Schule in Östermalm über die Gärdesskolan bis später auf der Östra Real. Meistens hingen sie bei Niklas herum, weil Lillis und Tore im Gegensatz zu den Eltern der anderen nichts dagegen hatten, wenn er Freunde mitbrachte.
Witzigerweise war es damals Freddie und nicht Niklas, in den Bea als Zwölfjährige ein bisschen verknallt war. Oder eigentlich mehr als nur ein bisschen, aber natürlich hat sie sich nie getraut, etwas zu sagen, nicht einmal als Erwachsene hat sie Niklas davon erzählt. Freddie hatte so einen besonderen Blick, den Bea auch heute noch mag. Er war immer der Wilde in der Bande gewesen, hatte sich nicht an Konventionen gehalten. Während Niklas und Calle in Uppsala Medizin und Jura studierten, ließ Freddie sich treiben, ging nach New York und besuchte dort die Filmschule.
Niemand hätte damals gedacht, dass daraus mehr werden würde als aus seinen vielen anderen Ideen und Zeitvertreiben. Aber er blieb dran und ist jetzt ein angesehener Filmproduzent mit Projekten im In- und Ausland. Im letzten Jahr hatte Bea unerwartet viel Kontakt mit Freddie, nachdem Alexia eine kleine Rolle in seinem aktuellen Langfilm bekommen hatte, was sich leider negativ auf ihre Noten auswirkte. Und auf ihre Persönlichkeit.
Aber heute ist Bea mit einem anderen Anliegen hier. Sie muss ihren Mann ausfindig machen. Es ist ihr unangenehm und peinlich, aber sie ist verzweifelt.
Freddie öffnet die Tür, schlaftrunken und in Boxershorts und T-Shirt. Er weiß natürlich, warum sie hier ist, sieht aber nicht sonderlich schuldbewusst aus, obwohl er ihre Anrufe ignoriert hat. Stattdessen wittert sie in dem Blick hinter seinem Tom-Ford-Gestell eine Art Mitleid. Mit der Brille sieht er aus wie eine jüngere Version seiner selbst. Vielleicht hat er auch ein bisschen abgenommen.
»Tut mir leid, aber ich muss mit Niklas sprechen, und er geht nicht ans Telefon.«
»Verstehe. Er ist nicht hier.«
Bea sieht ihn fragend an.
»Ich habe diese Woche Tilda«, erklärt Freddie. »Also hab ich ihm den Schlüssel zum Studio gegeben.«
Freddie kümmert sich jede zweite Woche um seine zehnjährige Tochter, aber Bea versteht nicht, was das mit einem Schlüssel zu tun hat.
»Aber ihr habt gestern Bier getrunken? Im Daphne’s?«
Freddie macht eine resignierte Geste, als wolle er nicht lügen, aber auch nicht seinen besten Freund an dessen wütende Frau ausliefern.
»Also wart ihr nicht aus?«
»Nicht direkt.«
»Was soll das heißen?«
Freddie kratzt sich am Hinterkopf, offensichtlich auf der Suche nach den richtigen Worten.
»Aber du hast mit ihm geredet?«, fragt Bea zusehends ungeduldig.
»Ja, doch, das kann man wohl so sagen. Er war hier, um sich den Schlüssel zu holen.«
Sie denkt an Niklas’ letzte Nachricht.
Ich komme nicht heim.
»Ich kapier gar nichts, Freddie.«
Er sieht aus, als wollte er etwas sagen, scheint es sich dann aber doch anders zu überlegen.
»Vielleicht redest du lieber selbst mit ihm.«
Tilda ruft aus der Wohnung. »Papa …!«
»Ich komme!«
Freddie wendet sich wieder Bea zu.
»Sorry, ich muss …«
»Klar. Entschuldige, dass ich euch geweckt habe, ich weiß nur nicht, was ich machen soll, er verhält sich so extrem seltsam.«
»Ich würde dir raten, bis morgen zu warten. Da ist er sicher etwas zugänglicher.«
Bea geht langsam das dunkle, kühle Treppenhaus hinunter. Schritt für Schritt versucht sie zu verarbeiten, was sie gerade erfahren hat. Niklas hat gar nicht wie behauptet mit Freddie Bier getrunken und auch nicht bei ihm übernachtet. Sondern im Studio. Freddies »Büro« im Frihamnen ist ein charmeloser Kellerraum, in dem er seine Filme schneidet. Voller technischem Schnickschnack, aber auch ein bisschen mancave, samt Videospielen und Minibar.
Während der Trennung von Tildas Mutter hat Freddie offenbar eine Weile dort gewohnt, und bestimmt hat er in den letzten Jahren die ein oder andere Frau mit dorthin genommen. Bea war erst einmal dort, als Niklas und sie aus dem Auktionshaus nebenan einen Couchtisch abholen wollten. Sie hat den Raum chaotisch in Erinnerung, aber so sehen solche Studios wohl aus. Völlig unbegreiflich, dass Niklas lieber dort übernachtet als zu Hause, zwei Nächte hintereinander. Sie ist wütend, traurig, verwirrt und tief enttäuscht.
Als sie auf die Straße kommt, ist ihr einziger Gedanke, dass sie zu diesem Studio gehen und mit ihm sprechen muss, aber Freddies Rat, lieber abzuwarten, lässt sie nicht los. Bea war sich bisher immer sicher darüber, wie Niklas denkt und reagieren wird, aber jetzt kann sie es nicht mehr einschätzen. Was, wenn er überarbeiteter ist, als ihr klar war? Äußert sich so der Anfang einer Erschöpfungsdepression? Der Dienst als Oberarzt auf der neuen Entbindungsstation im Sophia-Krankenhaus ist anstrengend, und Niklas schläft schon ziemlich lange schlecht.
Eigentlich bestand der Plan darin, dass der Job ihm neue Energie geben sollte, nach dem Vorfall