18,99 €
Als Mutter hat Åsa eigentlich alles richtig gemacht. Und als Schwiegermutter? Weil ihr Sohn und seine Partnerin unverhofft eine Bleibe brauchen, bietet Åsa dem Paar an, bei ihr einzuziehen. Doch sie ahnt nicht, wie sehr das neue Zusammenleben das Verhältnis zu ihrem Sohn infrage stellen wird. Aus wechselnden Perspektiven schildert Moa Herngren eine Mutter-SohnBeziehung, die vollkommen auf den Kopf gestellt wird. Åsa und ihr Sohn Andreas hatten immer schon ein enges Verhältnis. Andreas ist Einzelkind, Åsa hat ihn allein großgezogen – sie sind ein eingespieltes Team. Deshalb ist es für Åsa keine Frage, dass sie ihm und seiner Freundin Josefin anbietet, bei ihr unterzukommen, als die beiden kurzfristig ohne Wohnung dastehen. Doch das Zusammenleben stellt Åsa vor ungeahnte Herausforderungen. Ihre Versuche, eine Verbindung zu Josefin aufzubauen, schlagen fehl. Plötzlich sieht sie sich mit nie da gewesenen Vorwürfen zu Andreas’ Kindheit und Jugend konfrontiert, und sie erkennt ihren eigenen Sohn kaum wieder. Schmerzlich wird sich Åsa bewusst, dass sie nicht mehr die wichtigste Person in Andreas’ Leben ist.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 367
Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhalt
» Über die Autorin
» Über das Buch
» Buch lesen
» Impressum
» Weitere eBooks von Kein & Aber
www.keinundaber.ch
Über die Autorin
Moa Herngren, geboren 1969, ist die schwedische Autorin der Beziehungsdramen Scheidung, Schwiegermutter und Geschwister. Sie ist Journalistin, ehemalige Chefredakteurin der Zeitschrift Elle sowie Co-Autorin der Netflix-Hitserie Bonus Family. Bei Kein & Aber erscheinen die schwedischen Bestseller erstmals in deutscher Übersetzung.
Über das Buch
Åsa und ihr Sohn Andreas hatten immer schon ein enges Verhältnis. Andreas ist Einzelkind, Åsa hat ihn allein großgezogen – sie sind ein eingespieltes Team. Deshalb ist es für Åsa keine Frage, dass sie ihm und seiner Freundin Josefin anbietet, bei ihr unterzukommen, als die beiden kurzfristig ohne Wohnung dastehen. Doch das Zusammenleben gestaltet sich schwieriger als gedacht. Åsas Versuche, eine Verbindung zu Josefin aufzubauen, schlagen fehl. Mit einem Mal sieht sie sich mit nie da gewesenen Vorwürfen zu Andreas’ Kindheit und Jugend konfrontiert, und sie erkennt ihren eigenen Sohn kaum wieder. Wie kann es sein, dass ihre einst so enge Bindung plötzlich nichts mehr wert scheint?
Ebenfalls von Moa Herngren:
Scheidung
VORWORT
Meine Mutter ist gerade gestorben, aber ich trauere mehr um meinen Sohn. Der ist nicht tot, sondern gesund und munter. Wir leben in derselben Stadt. Fast im selben Viertel. Wenn man wie ich gerne spazieren geht, kann man Midsommarkransen von Gröndal aus gut zu Fuß erreichen. An einem schnellen Tag in einer glatten halben Stunde. Auch wenn ich in letzter Zeit oft das Auto nehme. Ich habe nicht mehr so viel Energie. Zumal ich pünktlich sein will. Mit etwas Glück bringt Andreas Sam gerade in die Krippe und ich sehe sie kurz, wenn sie durch das weiße Tor treten. Dabei sagt man ja gar nicht mehr Krippe, wie früher, als Andreas klein war. Das heißt jetzt Kita, daran hat er mich schon so oft erinnert. Also bevor er aufgehört hat, mit mir zu reden. Bevor alles zu Ende war.
Danach fahre ich normalerweise in den Vattenledningsväg im selben Viertel gleich um die Ecke und warte, bis sie den Laden aufsperren. Heute fahre ich direkt dorthin.
Mein Atem bildet eine Wolke, ich wackle mit den eingefrorenen Zehen. Ich will nicht riskieren, von Andreas entdeckt zu werden, das würde alles nur noch schlimmer machen. Wie damals, als ich am Blumenladen vorbeigekommen bin und er wütend wurde, wo ich doch nur Hallo sagen wollte.
»Wir haben eine Abmachung«, sagte er und meinte damit mein Versprechen, ihn in Ruhe zu lassen. Dabei basiert eine Abmachung ja darauf, dass man sich einig ist. Nun war es aber Andreas, der bestimmt hatte, dass ich ihn und Sam nicht mehr sehen durfte, und es fiel mir schwer, mich damit abzufinden.
Ich warte geduldig im Auto auf meine Dosis, versteckt, ein paar Türen weiter. Wie eine Hungernde, die versucht, sich mit Krümeln am Leben zu erhalten, die sie nie satt machen. Ich greife nach dem Thermobecher auf dem Beifahrersitz, um mich in der Zwischenzeit etwas aufzuwärmen, aber der Kaffee ist nur noch lauwarm. Ich nehme mir vor, einen besseren Becher zu kaufen.
Plötzlich kommt Andreas auf den Gehsteig und kurbelt die Markise auf. Er hat ein bisschen Sonnenbrand. Vielleicht waren sie im Urlaub. Ich habe sie über Ostern nicht gesehen. Ihre Wohnung war dunkel, im Laden stand eine Vertretung. Wo sie genau waren, weiß ich natürlich nicht. Auf Instagram bin ich schon lange blockiert. Früher konnte ich mir die Bilder über das Konto meiner Mutter runterladen und schicken. Aber seit sie tot ist, ist diese Quelle versiegt.
Andreas fegt mit einem roten Straßenbesen Müll vom Gehsteig und stellt eine Holzkiste mit rotem Heidekraut und Efeu vor den Laden. Und dann noch ein paar Kisten. Er arbeitet schnell und zielstrebig, ich beobachte seine Bewegungen. Sie sind geschmeidig, wie im Tanz. Dann kommt auch Josefin aus dem Laden, Sam auf dem Arm. Warum ist das Knöpfchen denn nicht in der Krippe? Er hat rote Wangen und wirkt quengelig. Warum ist nicht einer von beiden zu Hause geblieben, um sich um ihn zu kümmern, statt ihn in den Laden mitzuschleppen? Der Junge gehört ins Bett. Vielleicht haben sie zu viel zu tun.
Ich wünschte, ich könnte die Autotür aufmachen, aussteigen und rufen, ich kann ihn nehmen. Lasst ihn ruhig bei mir! Kein Problem. Ich habe ja alle Zeit der Welt. Er kann auch übernachten. Ganz gemütlich. Macht euch keine Sorgen, so habt ihr auch mal Zeit für euch und könnt euch umeinander kümmern.
Ich würde gerne sagen, was Omas eben so sagen. Aber das geht nicht. Ich darf nicht. Also schweige ich. Bleibe hinter dem Lenkrad sitzen, mit einem unsichtbaren Maulkorb, und beobachte sie. Josefin geht mit Sam wieder rein. Andreas bleibt stehen, wirft einen letzten prüfenden Blick auf die Pflanzen, um sicherzugehen, dass er auch nichts vergessen hat. Sorgfältig, wie er ist, rückt er ein paar Blumenkisten gerade und verschwindet dann im Laden. Für heute ist die Vorstellung vorbei. Ich merke, dass ich nasse Wangen habe, jetzt weine ich schon wieder. Weswegen genau, weiß ich nicht. Mama, Andreas, Sam?
Als vorne jemand ausparkt, hält ein Auto neben mir. Die Frau am Steuer mustert mich kurz, wendet verlegen den Blick ab und fährt weiter. Sieht man mir meine Schande an? Bin ich so armselig? Leute wie ich rufen beim Radiopsychologen an, um sich Rat und Trost zu holen. Hilfe, mein Sohn hat den Kontakt abgebrochen, ich darf meinen Enkel nicht sehen.
Am liebsten würde ich aufs Gaspedal treten. Die Frau im Auto einholen und ihr erzählen, was passiert ist. Ihr erklären, wie es so weit kommen konnte. Es war nicht nur meine Schuld! Oder? Was, wenn es doch allein meine Schuld war? Mein Magen krampft sich zusammen. Ich werde auch heute nicht arbeiten können.
TEIL I
ÅSA
Es war komisch, auf die Beerdigung der eigenen Mutter hinzufiebern. Hätten Andreas und Josefin mich das sagen hören, wären sie natürlich nur noch überzeugter gewesen, dass ich ein schrecklicher Mensch bin. Dabei wollte ich meine Mutter nicht beerdigen. Ich wollte nicht, dass sie tot ist. Was mich inmitten meiner Trauer so vorfreudig stimmte, war die Aussicht darauf, Andreas und Sam zu sehen. Durch Mama wieder in einem Raum vereint. Bis zuletzt hatte sie versucht, mir Hoffnung zu geben, auch wenn sie nicht begriff, wie extrem verfahren die Lage war. Trotzdem wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass sie mit ihren Klischees Recht behielt, von wegen »am Ende wird alles gut, und wenn es nicht gut ist, ist es nicht das Ende«. Dabei war es für sie ja jetzt zu Ende, und gar nichts war gut.
Schwerer Blumenduft erfüllte die Kirche. Mama hatte sich die Kirche von Seglora gewünscht, aber die war natürlich ausgebucht, und so war die kleine Djurgårds-Kirche die nächstbeste Wahl gewesen. Sicher hätte ihr die auch gefallen, auch wenn sie in ihren Augen nicht ganz mithalten konnte. Unter dem Sarg war auf Mamas Wunsch ein Stoff von Josef Frank drapiert, drumherum lagen Kränze von Freunden und Verwandten.
Ruhe in Frieden
Ein letzter Gruß
Für unsere liebe Maggie
Meiner geliebten Oma
Wir werden dich nie vergessen
Unmöglich zu begreifen, dass es wirklich meine tote Mutter war, die da lag, dass die Sprüche auf den Kranzschleifen von ihr handelten. Genauso unmöglich wie meine Gefühle für den Menschen, der mich geboren und durchs Leben getragen hatte, in ein paar Worten auf einem Seidenband zusammenzufassen. Es war nicht immer einfach gewesen zwischen uns, sie hatte, solange ich denken konnte, eine gewisse Distanz zu mir gewahrt – »keine Gefühlsduseleien, es wird schon alles«. Mein Leben lang hatten wir uns vor allem über Belanglosigkeiten unterhalten, und ich war immer meinem Vater näher gewesen. Genau wie Mama Andreas näher gewesen war. Als ob diese Mutter-Kind-Liebe eine Generation übersprungen hätte. Aber ich hatte sie geliebt.
Andreas stand vor dem Altar und befestigte kleine Sträuße aus weißen Rosen an den äußersten der Kiefernholzstühle, die in Reihen aufgestellt waren. Er hörte mich kommen und blickte auf, doch als er sah, dass ich es war, verfinsterte sich sein Blick. Mit entschlossen zusammengebissenem Kiefer band er weiter die Sträußchen fest. Ich kämpfte gegen die Angst an und zwang mich vorwärts, obwohl ich wusste, dass es wehtun würde.
»Wie schön du das gemacht hast«, sagte ich, bemüht, ein Gespräch anzufangen.
Andreas trennte mit einem kleinen Messer energisch die Blätter von den Stängeln.
»Das war vor allem Jossan.«
»Sehr hübsch. Oma wäre begeistert.«
Andreas nickte und arbeitete weiter.
»Andreas … ich …«, setzte ich an, schwieg dann aber.
Er hielt in der Bewegung inne und bedachte mich mit seinem bohrenden Blick. Ich wollte gerade um Verzeihung bitten, als in der Tür eine Kinderstimme ertönte.
»Papa!«
Sam kam angelaufen, und ich ging in die Hocke, um ihn zu begrüßen. Im nächsten Moment lief er, ohne mich anzusehen, an mir vorbei und sprang seinem Papa in die Arme.
»Na, kleiner Mann? Gehen wir mal zu Mama?«, fragte Andreas, und seine Stimme klang plötzlich warm und liebevoll.
Er nahm Sam an der Hand und ging Josefin entgegen, die kurz hinter Sam hereingekommen war. Ich zwang mir ein Lächeln ins Gesicht. Gleich würde es losgehen. Dann musste ich weinen.
Stina und Björn waren auch da. Sie nahmen mich in den Arm und sagten, sie dächten an mich, ich solle mich melden, wenn sie irgendwie helfen könnten.
Erst tröstete mich ihr Mitgefühl. Dass sie sich um mich sorgten. Doch dann war da etwas in Stinas Blick. Björns angespannter Kiefer. Ich merkte, dass es ihnen unangenehm war, mit mir reden zu müssen. Sie waren nicht meinetwegen hier. Nichts war mehr meinetwegen. Natürlich nicht. Wie naiv von mir, darauf auch nur zu hoffen.
Im Glockenturm der kleinen weißen Holzkirche läutete es, und Maggie Bergs letzter Akt konnte beginnen. Mama hatte sich eine Priesterin ausgesucht, die, wie sie es ausdrückte, »jemand« war und die alle ihre toten Freundinnen auch gehabt hatten. Zu meiner Überraschung war diese Priesterin trotzdem ungewöhnlich entspannt und gut. Ich war davon ausgegangen, der Freundeskreis meiner Mutter hätte jemand Prätentiöseren bevorzugt, aber die Frau strahlte eine tröstliche Ruhe und Wärme aus. Dann übergab sie das Wort an Andreas. Er sollte die Rede halten, zu der ich nicht in der Lage war.
Josefin drückte seine Hand, bevor er aufstand und auf den Sarg zuging. Man sah ihm an, dass er versuchte, die Tränen zurückzuhalten, ein Nerv unter seinem Auge zuckte. Gespannte Stille breitete sich in den Reihen aus, als Andreas sich räusperte und einen kleinen Zettel auseinanderfaltete.
Seine Stimme war monoton und mechanisch wie die eines Roboters. Er musste seine Gefühle unterdrücken, um das durchzuziehen.
»Du hast mir beigebracht, dass man alles, was wächst, hegen und pflegen muss. Blumen und Menschen. Groß und Klein. Meine ganze Kindheit über hast du mir diese Nahrung gegeben. Bei dir habe ich mich immer geborgen gefühlt. Danke, Oma. Ich liebe dich, und ich verspreche dir, dass ich mich gut um deine Pflanzen kümmere, sie hege und pflege.«
Seine Stimme überschlug sich, leises Schniefen und Schluchzen wurden laut. Das Rascheln von Taschentüchern. Ich versuchte, Andreas’ Blick einzufangen, aber er starrte auf den grünen Altarteppich und ging zurück zu seinem Platz. Die Orgel setzte ein – »Herrlich ist die Erde« – und versetzte mich zurück an den Tag, an dem Papa beerdigt wurde.
Zeitalter kommen,
Zeitalter gehen,
Geschlecht folgt auf Geschlecht.
Andreas war damals gerade erst fünfzehn gewesen, und wir saßen zusammen in der Gustav-Adolf-Kirche und hielten einander an der Hand. Ich hatte die Taschentücher vergessen, also weinten wir abwechselnd in meinen Schal. Dann neigten wir die Köpfe und sangen gemeinsam.
Der letzte Abschied. Dieses Mal musste ich allein zum Sarg gehen. Auf der anderen Seite stand Andreas mit Josefin und hielt Sam auf dem Arm. Es war Josefins Hand, nicht meine, die ihn tröstete. Ein seltsamer Anblick, auch wenn es nur natürlich war. Eine unausweichliche Machtverschiebung, die schon vor langer Zeit begonnen hatte und doch unbarmherzig schmerzte. Langsam, aber sicher werde ich immer weiter hinter die Kulissen gedrängt.
Mama war auf dem Galärvarvsfriedhof beerdigt. Eigentlich war es unmöglich, dort einen Platz zu ergattern. Die Leute standen dort seit Jahrhunderten erfolglos Schlange. Aber sie hatte sich irgendwie an der Schlange vorbeigemogelt. Mama konnte gut reden und wickelte jeden um den Finger. Ich hatte eine Bestattung im Urnenhain vorgeschlagen, aber davon wollte sie nichts wissen. Das sei ihr zu dicht gedrängt, »man braucht sein eigenes Abteil«, sagte sie, die sich doch sonst so gerne unter die Leute mischte. Natürlich ging es ihr ums Prestige. Deshalb hatte sie jetzt eins der begehrten Gräber auf dem Galärvarvsfriedhof, inmitten von Marinekapitänen und feinem Volk aus Östermalm und Djurgården. Unter einem Naturstein, den ich ausgesucht hatte. Seltsamerweise hatte sie diese Entscheidung mir überlassen. Vielleicht war ihr Bedürfnis, die Dinge zu kontrollieren, durch die Wahl des Sargs und der Beerdigungsmusik bereits befriedigt.
Ich ging durch das Tor aus rotem Backstein. Jenseits der Mauer stand das gelbe Gebäude, in dem sich in den Sechzigerjahren mein Kindergarten befunden hatte, wo jetzt aber irgendetwas anderes untergebracht war. Ich hatte mich in der großen Gruppe nie wohlgefühlt und immer nach zu Hause und Mama gesehnt. Vielleicht weil mir als Einzelkind die Sozialkompetenz gefehlt hatte. Wahrscheinlich hatte ich mich deshalb, als ich dann selbst Mutter wurde, ganz allein mit Andreas so geborgen gefühlt. Nach Jannes Verschwinden waren wir zu zweit gewesen. Immer nur wir beide, und später noch Heidi.
Bis Josefin aufgetaucht und Sam auf die Welt gekommen war. Danach hatte sich alles verändert.
Ein Stück weiter auf dem Friedhof lag Mamas Grab.
Margareta »Maggie« Berg
Geliebt und vermisst
Die Rosen unter dem Schriftzug hatte Andreas gezeichnet. Manchmal dachte ich, er hätte anstatt Florist genauso gut Illustrator oder Architekt werden können. Mit seinem Talent hätte er es zu so viel mehr bringen können als zu diesem Blumenladen. Aber das sagten wohl alle über ihre Kinder. Dass sie Genies seien und mehr hätten erreichen können, wenn sie nur gewollt hätten. Ich hatte einen kleinen Rosenstock in einem Tontopf dabei und hoffte, dass er sich länger halten würde als der Lavendel, den ich das letzte Mal besorgt hatte.
Eigentlich hätte ich am liebsten etwas bei Andreas gekauft, aber das ging natürlich nicht. Also legte ich stattdessen einen Halt bei Blumen Bruun im Karlaväg ein. Das ging zwar ins Geld, aber ich wusste, dass Mama es zu schätzen gewusst hätte, wenn die Freundinnen, die das Grab besuchten, dort Blumen von guter Qualität vorfanden. Solche Dinge zählten für sie. Ob tot oder lebendig.
Fast war es eine Erleichterung, auf dem Friedhof zu verweilen. Es ist ein naheliegender Ort zum Weinen. Zum Trauern. So gesehen kam Mamas Tod gelegen. Nach dem Bruch mit Andreas und Josefin. Nicht, dass so etwas jemals »gelegen« kommen kann. In gewisser Weise war das Gegenteil der Fall, ich hätte sie jetzt mehr denn je gebraucht. Aber wenigstens musste ich so meinen Kunden nicht erklären, warum ich so unendlich traurig war. Das war nur natürlich und nachvollziehbar. Niemand hinterfragte meine vielen Krankheitstage oder wunderte sich, warum ich Vorträge absagte. Man schenkte mir Mitgefühl und Zuneigung. Was sie wohl von mir denken würden, wenn sie den wahren Grund wüssten? Würden sie mich verurteilen? Mich für einen schlechten Menschen halten? Würden sie denken, ich trauerte nicht angemessen um meine Mutter?
Ich trauerte in letzter Zeit aus so seltsamen Gründen. Etwa weil Mama hier lag und nicht auf dem Waldfriedhof neben Papa. Der richtige Friedhof war ihr wichtiger gewesen, als die Ewigkeit an der Seite ihres Mannes zu verbringen. Würde Andreas neben mir begraben werden wollen? Wahrscheinlich nicht. Nicht, dass ich an ein Leben nach dem Tod glaubte, aber schrecklich fühlte sich die Erkenntnis trotzdem an.
Warum dachte ich solche Sachen? Das Gehirn irrte auf der Suche nach Lösungen für das eigentliche Problem herum und stolperte dabei über alles Mögliche. Wäre Mama noch am Leben gewesen, hätte sie mir vielleicht helfen können. Andererseits hatte sie ja immer diese naive Vorstellung gehabt, dass alles schon gut werden würde, allerdings ohne einen konkreten Plan parat zu haben. Vermutlich hätte sie gedacht, ich sei selbst schuld. Sie ergriff meistens Partei für Andreas und verschwor sich mit ihm gegen mich. Ich spürte eine brennende Bitterkeit. So dankbar ich war, dass sie mein Kind so mit Liebe überschüttet hatte, war ich doch immer noch ihre Tochter. Es war nicht schwer, sich beliebt zu machen, ohne Grenzen setzen zu müssen.
Ich hatte versucht, es Andreas zu erklären. Dass es etwas ganz anderes gewesen war, sie als Mutter zu haben. Es war nicht viel dabei, die liebe, süße Oma zu sein, wenn man keine Verantwortung zu übernehmen brauchte.
Ich ging vor Mamas Grab in die Hocke und tätschelte etwas unbeholfen den Stein. Mein Mamchen. Man tat sein Bestes hier auf Erden, und manches ging eben auch schief. Aber ich hatte sie nie in die Wüste geschickt. Hatte sie nicht aufgefordert, aus meinem Leben zu verschwinden. Was sie auch getan hatte. Wie wütend ich auch auf sie gewesen war. Sie hatte in meinem und Andreas’ Leben bleiben dürfen, und wir waren in ihrem geblieben. Auch wenn unsere Beziehung holprig gewesen war, wir hatten sie nie infrage gestellt.
Ein Stückchen entfernt scharrte eine Krähe auf der Suche nach Futter im Gras und blickte starr zu mir auf. Sie humpelte auf einem Bein und sah aus, als wüsste sie, dass sie selbst bald als Beute eines Raubvogels enden würde. Ein echter Unglücksvogel, der bezeugte, was passiert war, und dass alles noch schlimmer kommen würde.
In hunderteinundsechzig Stufen wand sich die Steintreppe vom höchsten Punkt von Utkiksbacken über die Klippen ans Wasser. Jeden Morgen stieg ich sie hinunter, um mein Morgenbad zu nehmen. Sogar im Winter, auch wenn es da bei einer kurzen Trockenbürstenmassage auf dem Steg und einem noch kürzeren Eintauchen direkt an der Badeleiter blieb. Wenn es wärmer war, schwamm ich raus bis zu den roten Bojen, hinter denen der Bootsverkehr begann. Dort trieb ich dann auf dem Rücken wie ein menschliches Floß und lauschte dem Plätschern des Mälarsees unter dem Rauschen der Stadtautobahn Essingeleden. Wie zwei Musikinstrumente aus unterschiedlichen Epochen, die trotzdem harmonierten. Im Sommer zog ich meine Bahnen entlang der Promenade Richtung Ekensberg.
Ich redete mir ein, dass das Schwimmen meinen Körper in Form hielt, obwohl mir hier wohl hauptsächlich meine Gene in die Karten spielten. Mama hatte mit über siebzig noch wie sechzig ausgesehen, was sie auch bei jeder Gelegenheit betont hatte. Aber irgendwann holte das Alter einen trotzdem ein und nahm seinen Lauf, Gene und Training hin oder her. Bei mir war es kurz nach meinem fünfzigsten Geburtstag so weit gewesen, als ich in die Wechseljahre kam. Plötzlich saßen die Hosen etwas knapp. Die Kräuseln unterm Kinn, die man vorher nur erahnen konnte, entwickelten sich zu ausgeprägten Altersrunzeln. Die schlaffe Haut ließ sich nicht mehr so leicht kaschieren. Hautpflegeprodukte wurden immer teurer und zeigten zusehends weniger Wirkung.
Schon in meiner Kindheit hatte Mama davon geredet. Sie konnte den Gedanken, alt zu werden, nicht ertragen und kündigte an, sie werde sich vor ihrem fünfzigsten Geburtstag das Leben nehmen. Papa protestierte dann und sagte, es sei unangemessen, so etwas vor dem eigenen Kind zu sagen, aber sie hörte nicht auf ihn und winkte ab, das sei ja noch ewig hin. Trotzdem hatte ich natürlich panische Angst, sie eines Tages tot aufzufinden, bis ich älter wurde und begriff, dass sie mit ihrem Selbstmordgerede nur kokettierte und keine echte Gefahr bestand. Mit den Jahren verschob sich die Grenze, ab wann es sich nicht mehr zu leben lohnte, immer weiter nach hinten. Bis sie schließlich wirklich alt wurde und der Krebs ihr die Entscheidung abnahm. Ein bösartiger Tumor, der langsam und unbemerkt in ihr gewachsen war, sich dann jedoch mit rasender Geschwindigkeit ausbreitete und alles vergiftete.
Es war eine unheimliche und erschreckende Erkenntnis, dass du, ohne es zu wissen, mit einer tickenden Zeitbombe im Körper herumlaufen konntest, schlafende Zellen, die plötzlich den Befehl zum Angriff erhielten und ihre zerstörerische Kraft entfalteten. So verhielt es sich nicht nur beim Krebs. Auch Ereignisse und eigene Entscheidungen, die sich im Moment klein und unbedeutend anfühlten, konnten Weichen stellen und später große Auswirkungen haben.
Wie als Stina, Janne oder später Josefin in mein Leben getreten waren. Natürlich wusste ich damals noch nicht, wohin das Aufeinandertreffen mit diesen Menschen führen würde. Selbst im Nachhinein war schwer zu sagen, was der Anfang und was das Ende war, es gab keinen konkreten Auslöser, der die Bombe letztlich hochgehen ließ. Das Ganze war eher wie ein verworrenes Garnknäuel mit tausend losen Enden.
Um Trost zu bekommen, versuchte ich anfangs noch, mit anderen Menschen darüber zu sprechen, was zwischen mir und Andreas passiert war. Aber schon bald wurde mir klar, dass ich mich dabei nur in Lügen verstrickte, weil ich die ganze Wahrheit nicht erzählen konnte. Ich hatte Angst davor, was die Leute denken könnten und dass sie mich verurteilten. Wie im ersten Sommer nach Mamas Tod, als Ingela, die mir über die Jahre viele Aufträge vermittelt hatte und so etwas wie eine Freundin geworden war, mich fragte, ob ich Mittsommer wie immer mit meiner Familie draußen auf Väster Skägga feiern würde. Ich log und behauptete, Andreas und Josefin würden verreisen, und ich wisse noch nicht genau, was ich stattdessen machen würde. Also lud mich Ingela in ihr Landhaus außerhalb von Norrtälje ein. Ich sagte zu, ohne daran zu denken, wie schwierig es werden würde, die Fassade ein ganzes Wochenende lang aufrechtzuerhalten. Ingela ist einer von jenen Menschen, die ihr Zuhause für alle öffnen. Am Weihnachtsabend saß immer jemand frisch Geschiedenes an ihrer Tafel, obwohl sie selbst vier Kinder und eine demente Mutter hatte. Vermutlich war es nur eine Frage der Zeit, bis sie unter ihrer Freundlichkeit zusammenbrach. Wenn ich irgendwem von meiner Lage erzählen konnte, dann Ingela.
Wir gingen im warmen Mittsommerregen spazieren und pflückten Blumen. Ich lief in geliehenen Gummistiefeln auf dem Kiesweg neben ihr her, und wir sprachen darüber, dass wir beide keine Eltern mehr hatten. In gewisser Weise war Ingelas Situation ganz ähnlich, auch wenn ihre Mutter rein körperlich noch anwesend war. Während wir so spazierten, rang ich innerlich mit mir. Ich wollte ihr von meinem eigentlichen Kummer erzählen. Aber dann würde sie sich fragen, was Andreas für ein Sohn war und was für eine Schwiegertochter Josefin und was für Freunde Stina und Björn, dass sie mich einfach mitten im meiner Trauer allein ließen, obwohl sie ja gar nicht im Ausland waren, sondern nur vierzig Kilometer außerhalb von Stockholm. Sie würde sie für herzlos halten, aber es würden auch schwer zu beantwortende Folgefragen aufkommen. Vor allem, weil ich die ganze Geschichte ja selbst noch nicht verstand. Vielleicht würde Ingela mein Verhalten infrage stellen, und diese Art von Kritik oder sogar Ablehnung konnte ich jetzt nicht ertragen. Ich wollte nichts als Verständnis und Trost. Also erzählte ich ihr nur von der Trauer um Mama.
Trotzdem kamen wir auf das Thema Enkel zu sprechen.
»Aber du bist ja nicht allein, Åsa«, sagte Ingela. »Du hast Andreas und deinen kleinen Enkel. So ein Glück. Die Nachspeise des Lebens!«
Ich stimmte ihr natürlich zu. Ein Enkelkind zu bekommen, sei das größte Glück gleich nach eigenen Kindern. Wir gingen am Wegesrand entlang, pflückten Glockenblumen und Wiesenkerbel, während ich weiter mein wunderbares Leben als Großmutter schilderte. Ich hatte einen festen Tag in der Woche, an dem ich Sam abholte, den ich Knöpfchen nannte, genau wie Andreas, als er klein gewesen war. Sams Erzieherinnen waren sehr lieb und wussten alle, wer ich war. Er freute sich immer so, wenn ich kam, lief auf mich zu und wollte auf den Arm genommen werden. Dann gingen wir nach Hause und machten Waffeln mit Marmelade und schauten zusammen Alfons Åberg. Es war so schön, die alten Kinderfilme, die ich schon mit Andreas gesehen hatte, neu zu entdecken. Ingela hatte wirklich etwas, worauf sie sich freuen konnte, das versicherte ich ihr.
»Was für ein Glück, dass sie dich haben«, sagte sie lächelnd. »Und was für ein Glück, dass du sie hast. Stell dir nur mal vor, wie einsam es sonst wäre.«
Ich nickte und schluckte. Ja, ein Riesenglück. Sonst wäre es wirklich fürchterlich einsam. Ingela hob den Blick zum Himmel und lächelte. Sah ganz so aus, als würde es aufklaren. Gerade rechtzeitig zum Mittsommertanz.
Das Komische oder vielleicht Tragikomische an der ganzen Geschichte war, dass ich Josefin schon seit ihrer Geburt kannte, auch wenn ich sie, als sie und Andreas zusammenkamen, schon lange nicht mehr gesehen hatte. Sie hatte nach ihrem Auszug von zu Hause ein paar Jahre in London gelebt und dort als Au-pair gearbeitet, aber Stina, ihre Mutter, hatte mich über sie auf dem Laufenden gehalten. Deshalb hatte ich wohl das Gefühl, Josefin viel besser zu kennen, als es wirklich der Fall war. Stina war ich dafür um so näher, wir waren seit der Oberstufe beste Freundinnen gewesen und hatten einander durch alle Höhen und Tiefen des Lebens begleitet. Stina hatte mir damals auch Janne vorgestellt, Andreas’ Vater. Dafür entschuldigte sie sich zwar reumütig, als er mich zwei Jahre nach Andreas’ Geburt für Helle verließ, aber dafür konnte sie ja nichts. Wobei ich vielleicht insgeheim, tief in meinem Innern, eine kleine Bitterkeit darüber empfand, dass sie uns zusammengebracht hatte. Doch in erster Linie war ich wütend auf Janne und mich selbst. Schließlich war ich es gewesen, die sich entschieden hatte, mit ihm eine Beziehung einzugehen und ein Kind von ihm zu bekommen, obwohl wir einander noch gar nicht besonders gut kannten und alles so schnell gegangen war.
Nach der Trennung versuchte Stina ihr Zutun wiedergutzumachen, indem sie für Andreas und mich Ersatzfamilie spielte und uns zu allen Feiertagen und in allen Ferien nach Väster Skägga einlud.
Nie hätte ich mir vorstellen können, wir sehr sich alles verändern würde. Nicht einmal in meinen wildesten Träumen. Und dass es zwischen Stina und mir so werden würde, wie es jetzt war. Undenkbar. Fast wie eine Schwester war sie für mich gewesen.
Auch viele Jahre später noch kam es manchmal vor, dass ich aufwachte und mich für einen Moment wieder in meinem alten Leben wähnte. Das Leben, in dem ich immer noch mit Stina und Björn raus aufs Land fuhr. Dann merkte ich, dass der Traum nicht der Realität entsprach. Die Realität war vielmehr ein unerträglicher Albtraum, dem ich machtlos ausgeliefert war. Ich konnte immer noch nicht begreifen, wie das ausgerechnet mir hatte passieren können. Wo ich es doch nur gut gemeint hatte. Wo mir doch niemand mehr am Herzen lag als Andreas und Sam. Und das Schlimmste an allem war, dass ich es gewissermaßen selbst herbeigeführt hatte. Wie eine Selbstmordattentäterin, die ihre eigene Attrappe manipuliert.
Hätte ich doch nur nicht. Hätte ich stattdessen. Wäre ich doch nur. Ich konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken, was geschehen wäre, wenn ich mich anders verhalten hätte.
Als Andreas mir eröffnet hatte, er sei jetzt mit Josefin zusammen, freute ich mich. Seit der Trennung von seiner Exfreundin Heidi war er einsam und traurig gewesen, und ich hatte das Gefühl, dass das jetzt genau das Richtige war. Auch wenn ich mich etwas wunderte, dass er sich ausgerechnet Josefin ausgesucht hatte. Die beiden waren so verschieden. Andreas war schon als Kind zugänglich und offen gewesen, Josefin hatte ich immer als verschlossen und still erlebt. Sie hatten auch nie miteinander gespielt, Andreas war fast fünf Jahre älter als Josefin und sie in seinen Augen also immer nur ein kleines Mädchen gewesen. Ich hatte damit gerechnet, dass er sich eine Partnerin suchen würde, die eher wie Heidi oder er selbst war. Lebhaft und fröhlich. Warm und umsichtig. Heidi war ganz einfach mehr wie wir. Sie hatte in den Jahren, die sie zusammen waren, so viel Zeit bei uns zu Hause verbracht, dass sie eher wie eine jüngere Freundin oder eine Ersatztochter für mich gewesen war. Manchmal war Andreas fast ein bisschen wütend geworden, weil er das Gefühl hatte, wir würde uns gegen ihn verbünden. Aber im Wesentlichen lebten wir in einer gemütlichen Dreisamkeit, und weil Heidi sich bei uns so wohl fühlte, war Andreas auch mehr zu Hause und ging weniger feiern. Als sie sich trennten, war ich wirklich traurig. Nicht nur, weil Andreas so todunglücklich war, sondern auch, weil ich nicht mehr so viel Zeit mit Heidi verbringen konnte. Zwar hatte ich geahnt, dass es nicht ewig halten würde, schließlich hatten sich die beiden auf dem Gymnasium kennengelernt, und doch hatte ich es wohl insgeheim gehofft.
Als Josefin mich das erste Mal als ihre »Schwiegermutter« vorstellte, zuckte ich erschrocken zusammen. Es klang hart und irgendwie alt, und ich war es nicht gewohnt, mich so zu sehen. Irgendwie schien es so förmlich. Und überhaupt waren die beiden ja noch nicht verheiratet. Für Heidi war ich eher eine Freundin gewesen. Andererseits, dachte ich, war ja nichts dabei, Schwiegermutter genannt zu werden, immerhin war ich Teil von Josefins Kindheit gewesen, zumindest in den ersten Jahren. Jetzt würde ich sie einfach ein bisschen besser kennenlernen, ihr näherkommen.
Heute ist mir klar, dass es schon von Anfang an kompliziert war. Eigentlich war es keine große Überraschung, sie war ja immer etwas distanziert gewesen. Ihr Blick war oft leer, irgendwie schwer deutbar. Es heißt ja, die Augen seien der Spiegel der Seele, aber auf Josefin traf das nicht zu. Ihre Augen waren wie eine Wand. Vielleicht lag das einfach an ihrer zurückgezogenen Art. Anfangs nahm ich es auch nicht persönlich, ich dachte, es sei eben an mir, die Initiative zu ergreifen und Fragen zu stellen. Gleichzeitig wollte ich als »Schwiegermutter« auch nicht zu penetrant auftreten. Ein Balanceakt. Ich versuchte, so offen und gastfreundlich wie möglich zu sein, ohne mich aufzudrängen. Hier eine Essenseinladung, da eine SMS oder ein Anruf. Ab und zu kamen sie zum Abendessen oder zum Kaffee vorbei, aber ich hatte immer das Gefühl, dass vor allem Andreas und ich uns unterhielten, während Josefin ein bisschen in ihrer eigenen Welt verharrte. Ich bemühte mich die ganze Zeit, sie einzubeziehen, neugierig und interessiert zu wirken. Und das war ich ja auch, schließlich war sie trotz allem sowohl für meinen Sohn als auch für meine beste Freundin ein wichtiger Mensch, also war sie auch mir wichtig. Erst deutete ich ihre einsilbige Art als Schüchternheit. Sie brauchte wohl einfach Zeit. Hauptsache, Andreas war glücklich. Und auch wenn Josefin nicht sonderlich redselig war, war sie doch im Grunde ein anständiges Mädchen, immerhin war sie die Tochter von Stina und Björn. Wir waren wohl einfach etwas verschieden.
Andreas machte sich in seiner Verliebtheit rar, wir sahen uns nicht mehr so oft, aber das war ja mehr als verständlich. Sie richteten sich in ihrer Zweisamkeit ein und zogen schließlich zur Untermiete in eine gemeinsame Wohnung. Ich fuhr sie zu IKEA, montierte Lampen und Regale. Ich ging zu Willys und kaufte ihnen ein Einweihungsgeschenk. Stand ihnen mit gutem Rat und wo nötig auch finanziell zur Seite. Wie man das eben macht, wenn man sein Kind liebt. Andreas war gelernter Gärtner und Florist und arbeitete seit ein paar Jahren im botanischen Garten Rosendal. Josefin hatte sich seit ihrer Rückkehr nach Schweden treiben lassen, mal hier mal da hineingeschnuppert, ohne etwas fertig zu machen, jetzt aber beschlossen, es auch mit Floristik zu versuchen. Die zwei träumten davon, einen eigenen Blumenladen zu eröffnen, und ich bestärkte sie darin. Ich wollte ihre gemeinsamen Interessen fördern und dachte, das könnte auch ein Weg sein, Vertrauen aufzubauen und Josefin und mich einander ein Stück näherzubringen.
Josefin schien dankbar für meine Unterstützung, zumal Stina und Björn ihren Karriereplänen eher skeptisch gegenüberstanden. Dabei war es so wichtig, mit Leidenschaft und Enthusiasmus dabei zu sein, davon war ich schon immer überzeugt gewesen, es war Teil meiner Berufsphilosophie als Kommunikationsberaterin. Stina war mehr der strategische Typ und hielt es für komplett hirnrissig, in einen Beruf zu investieren, der finanziell nie groß etwas abwerfen würde. Für mich war es ganz selbstverständlich, dass Andreas sich für eine Tätigkeit entschied, die ihm Freude bereitete, für die er schon als Kind gebrannt hatte. Da kam er wohl ganz nach meiner Mutter, die auch einen grünen Daumen gehabt hatte, und manchmal fühlte ich mich fast ein bisschen ausgeschlossen, weil alles, was ich je zu pflanzen versucht hatte, jämmerlich zu Grunde gegangen war. Gleichzeitig fand ich es auch schön, dass er etwas von seiner Großmutter geerbt hatte, und mir gefiel der Dschungel, den Andreas und Josefin in ihrer Wohnung geschaffen hatten. Sie wohnten auf der Insel Lilla Essingen, nicht weit von mir entfernt, sodass wir uns nach ihrem Umzug öfter sahen und ich an ihren Zukunftsplänen teilhaben konnte. Josefin war zwar immer noch verschlossen, aber ich fand, dass sie schon ein klein bisschen aufgetaut war und man ihre harte Schale manchmal durchdringen konnte. Sie hatte einen leisen, trockenen Humor, der immer dann zum Vorschein kam, wenn man am wenigsten damit rechnete, und ich lernte ihn immer mehr zu schätzen.
Viel später würde ich versuchen zu rekonstruieren, ab welchem Zeitpunkt eigentlich alles seinen Lauf genommen hatte. Wie bei einem Puzzle. Welches Teil war an welchem Platz gelandet, und wann? Wann war der erste Samen der Katastrophe gesät worden?
Manchmal fragte ich mich, was passiert wäre, wenn Andreas und Josefin eine andere Lösung gefunden hätten, als sie plötzlich ohne ein Dach über dem Kopf dastanden. Wenn nicht die Wasserleitungen in ihrer Wohnung hätten ausgetauscht werden müssen, oder wenn die zuständige Baufirma nicht Konkurs gegangen wäre und sich nicht alles so in die Länge gezogen hätte. Oder wenn Stina und Björn nicht in Brasilien gewesen wären und ihre Wohnung nicht bereits an einen Freund vermietet hätten, der sich gerade scheiden ließ. Nur ist es so eben nicht gekommen.
Das Angebot, Andreas und Josefin könnten doch die sechs Wochen, in denen ihre Wohnung eine Baustelle war, zu mir ziehen, kam von mir. Ich dachte, etwas Gesellschaft wäre doch nett, und noch dazu wäre es eine gute Gelegenheit, Josefin noch besser kennenzulernen. Auch wenn mir klar war, dass es nicht so werden würde wie zu Andreas’ Schulzeiten, als Heidi bei uns war. Die beiden waren Teenager gewesen, und Heidi ein einfacher, unkomplizierter Mensch. Es war mühelos gewesen, sie im Haus zu haben, und vielleicht hatte ich mir auch genau das wieder erhofft. Etwas von der Gemeinschaft, die wir damals gehabt hatten. Zusammen zu essen, bei Tee und einem Kartenspiel am Kachelofen zu sitzen, mal einen Film zu schauen oder einfach eine Flasche Wein zu trinken. Licht im Küchenfenster zu sehen, wenn ich abends nach einer langen Zugfahrt nach Hause kam, statt einen stillen, leeren Flur zu betreten.
Andreas und Josefin zogen also in Andreas’ altes Zimmer in dem rosa Holzhaus ganz oben auf dem Hügel, in dem wir wohnten, seit Andreas zehn war. Damals hatten wir beide nach einem komplizierten Dreieckstausch die 61 Quadratmeter in der Atlasmuren 16 am Sankt Eriksplan für 85 Quadratmeter auf zwei Etagen in Gröndal verlassen.
Die Wohnung hatte vier Zimmer und ausreichend Platz für uns alle, und der Garten und die Terrasse boten genug Schlupfwinkel, um sich zurückziehen, wenn es einem zwischendurch mal zu eng wurde. Aber wenn ich ehrlich bin, war ich auch ein bisschen nervös. Irgendetwas an Josefin machte mich lächerlicherweise unsicher. Es kam mir albern vor, mir das einzugestehen, aber so war es nun mal. Nachdem Josefin vor einiger Zeit langsam etwas zugänglicher geworden war, ging sie jetzt eher wieder auf Distanz. Ich kam irgendwie nicht recht an sie heran. Der Small Talk, ist wichtiger, als man meint, er macht das Kennenlernen geschmeidiger. Wer es für aufgesetzt und oberflächlich hält, über das Wetter oder etwas ähnlich Unwichtiges zu reden, begreift nicht, dass es vielmehr ohne diese Nebensächlichkeiten unnatürlich wird.
In Josefins Fall war ich unschlüssig, ob es sich um ein bewusstes Statement handelte oder nicht, jedenfalls schluckte sie die sozialen Köder einfach nicht. Wenn ich zu einem Gespräch ansetzte, sie fragte, wie es ihr gehe oder was sie heute so gemacht habe, antwortete sie meist knapp und stellte keine Gegenfragen. Als spielte man Tennis, und das Gegenüber ließ den Ball immer wieder vom Platz hüpfen. Durch meinen Job hatte ich gelernt, dass Kommunikation nicht immer einfach ist, und so nahm ich es als Herausforderung. Manche Menschen sind schwerer aus der Reserve zu locken als andere, aber wenn man es erst einmal geschafft hat, ist die Belohnung umso größer. Ich hatte also nicht vor, mich so schnell geschlagen zu geben.
Sie zogen an einem Samstagabend ein, und am Morgen darauf tischte ich ein üppiges Sonntagsfrühstück auf, für Andreas und mich seit seiner Kindheit eine Art Tradition. Sonntags gönnten wir uns etwas Besonderes, nahmen uns Zeit und ließen es uns an einem hübsch gedeckten Tisch gutgehen. Weil Josefin vegan lebte, hatte ich mir Mühe gegeben und Pfannkuchen ohne Ei und Smoothies mit Sojajoghurt gemacht. Außerdem gab es frisch gepressten Saft und Andreas’ Leibspeisen, Rührei und selbst gebackene Scones, natürlich auch in einer veganen Variante.
Gerade als der Kaffee fertig war, kam Andreas schnuppernd die Treppe herunter. Er brach sich ein Stückchen lauwarmen Scone ab und tauchte es in die Schüssel mit Clotted Creme.
»Meine Güte, du hast ja ganz schön aufgefahren, Mama. Fast noch schlimmer als sonst«, scherzte er und fragte dann, ob es okay sei, wenn er das Frühstück mit in sein Zimmer nehme. Er und Josefin seien gerädert vom Umzug und noch nicht richtig wach, sie würden gern noch ein bisschen gemütlich im Bett bleiben. Natürlich nur, wenn ich das nicht blöd fände. Sonst könnten sie auch hier unten essen. Ich schüttelte den Kopf. Selbstverständlich sollten sie es so machen, wie es ihnen am liebsten war. Schließlich waren sie jetzt genauso hier zu Hause wie ich, und es gab keine Bedingungen oder Vorschriften. Sicher, insgeheim hatte ich auf ein gemeinsames Frühstück am ersten Tag gehofft und spürte eine gewisse Enttäuschung. Aber dazu hatten wir ja noch genug Gelegenheit.
Andreas umarmte mich.
»Wirklich toll, dass wir hier wohnen dürfen, Mama.«
Nur dass das Frühstück auf dem Zimmer kein Einzelfall blieb, sondern nach und nach eher zur Regel wurde. Auch das Abendessen nahmen sie gerne mit auf ihr Zimmer. Die meiste Zeit zogen sich die beiden zurück. Obwohl ich ihr Bedürfnis nach Ruhe verstehen konnte, nagte es an mir. Es sah Andreas nicht ähnlich, sich so abzuschotten. Früher hatte er die opulenten Wochenendfrühstücke geliebt und immer Freunde zu Besuch gehabt, je mehr, desto besser, und sie hingen gerne in unserer Küche herum. Diese introvertierte, verschlossene Version von ihm war mir fremd. Natürlich konnte es daran liegen, dass sie verliebt waren und nur Augen füreinander hatten. Das verstand ich ja auch. Aber Andreas war mindestens genauso verliebt in Heidi gewesen und trotzdem er selbst geblieben, hatte sich seine übliche gesellige Art bewahrt, und sich nicht in eine Liebesblase zurückgezogen.
Ich strengte mich wirklich an, es locker zu nehmen und nicht in negative Gedanken zu verfallen. Schließlich waren die beiden erwachsen und lebten nur vorübergehend bei mir. Aber es ist nun mal das eine, sich Mühe zu geben, und das andere, es auch zu schaffen. Wenn wir einmal am Essenstisch versammelt waren, kam es mir vor, als würden nur Andreas und ich reden, Josefin hielt sich bedeckt und hörte zu. Konnte sie sich nicht auch ein bisschen anstrengen? Sie schien überhaupt kein Interesse daran zu haben, eine Beziehung zu mir oder irgendjemandem außer Andreas aufzubauen. Es störte mich, dass nur ich mir Mühe gab.
Als ich Andreas ganz vorsichtig darauf ansprach, nahm er Josefin natürlich in Schutz. Es sei nicht so leicht, bei der Mutter seines Freundes einzuziehen, und Josefin habe eben ein starkes Bedürfnis nach Grenzen und Rückzug. Ich könne nicht verlangen, dass alle Menschen so sind wie ich und sich damit wohlfühlen, im Schlafanzug mit anderen Leuten zu frühstücken oder sich sofort unterhalten zu wollen, sobald man die Nase aus dem Schlafzimmer gesteckt hat. Das stimmte natürlich, und es sollte sich auch niemand zur Geselligkeit verpflichtet fühlen, aber vielleicht musste man manchmal ein bisschen über seinen Schatten springen, damit es nicht so steif wurde. Ich war ja immerhin ihre »Schwiegermutter« und gehörte zur Familie. Nicht nur über Andreas sondern auch über Stina und Björn. Das hatte ja schon fast etwas Demonstratives. Es fühlte sich unnatürlich und seltsam an, dass sie mir offensichtlich aus dem Weg ging, während wir unter einem Dach lebten.
Andreas und ich gehörten einfach zusammen. Auch wenn wir mal aneinandergerieten und genervt waren. Nicht, dass wir uns je besonders viel gestritten hätten, aber das bisschen Reibung, das es gab, fühlte sich natürlich an. Auch mit Heidi war es deutlich einfacher gewesen, wenn sie bei uns übernachtete. Wenn mir etwas nicht passte, konnte ich das sagen, ohne dass sie es in den falschen Hals bekam, und wir pflegten einen Umgangston, der es uns erlaubte, über Missverständnisse zu scherzen und über unsere Fehler und Defizite zu lachen. Mit Josefin war alles irgendwie fragiler. Mit ihr hatte man einen Gast, der lieber für sich selbst bleiben wollte. Wenn man ihr zufällig an der Badezimmertür begegnete, wirkte sie verlegen und murmelte nur ein Hallo. Ich wunderte mich auch, dass Stinas und Björns Tochter ihnen so gar nicht ähnlich war. Schließlich waren es Stinas Wärme und Offenheit, die uns damals zu besten Freundinnen gemacht hatten.
Ich dachte viel über mein eigenes Verhältnis zu meiner Schwiegermutter nach. Jannes Mutter Elsie. Früher hatten wir Kontakt gehabt, der aber im Sande verlaufen war, als ihr Sohn aus meinem und Andreas’ Leben verschwunden war. Ich hatte mich immer gefragt, wie man so überhaupt kein Interesse an seinem eigenen Enkel haben kann. Für Sam empfand ich eine bedingungslose Liebe, seit ich ihn das erste Mal gesehen hatte. Vermutlich lag es daran, dass Elsie ihre Hunde wichtiger gewesen waren als Kind und Enkel. Sie war besessen von Hundeausstellungen und ihren Scotch Terriern, deren Namen alle mit M anfingen. Moses, Mary und Malte. Elsie und ich waren wohl eher höflich miteinander umgegangen, auch wenn ich mich erinnerte, dass ich mir durchaus Mühe gegeben hatte, sie kennenzulernen. Zur Mutter meines ersten Freunds, Brita, hatte ich eine Beziehung gehabt, die eher an die zwischen mir und Heidi erinnerte. Ich suchte ihre Gesellschaft und hatte das Gefühl, dass sie mich mochte. Sie war ein Vorbild für mich gewesen, sowohl menschlich als auch als »Schwiegermutter«.
Ich wollte von Josefin gemocht werden, aber mochte ich Josefin? Wenn ich so genau darüber nachdachte, tat ich das wohl nicht. Die Wochen vergingen, und ich schaffte es einfach nicht, eine Verbindung zu ihr herzustellen. Aber ich gab nicht auf. Zumindest damals noch nicht. Das kam viel später. Vielleicht hatte ich so getan, als würde ich sie mehr mögen, als es wirklich der Fall war. Keine Ahnung, ob Josefin das vielleicht merkte. Oder ob es sie überhaupt interessierte.
Als ich in einer Boutique in der Götgata eine blaue Mohairstrickjacke entdeckte, fand ich sofort, dass da mit großen Buchstaben Josefins Name draufstand. Die Farbe passte zu ihren rötlichen Haaren, und sie hatte zu Andreas gesagt, die Wohnung sei ihr zu kalt. Außerdem tat sie sich in der Ausbildung zur Floristin gerade etwas schwer und machte sich wohl Sorgen, eine Prüfung nicht zu bestehen. Ich wollte sie ein bisschen aufmuntern, und die Jacke war hübsch und praktisch.
Am selben Abend kam Josefin nach Hause und klagte über schmerzende Hände und Kälte. Sie hatte den ganzen Tag im Gewächshaus gestanden und gelernt, verschiedene Arten von Kränzen zu binden. Ich überreichte ihr die Strickjacke, eingeschlagen in Seidenpapier.
»Nur eine Kleinigkeit«, sagte ich, obwohl sie so klein gar nicht war, und auch nicht ganz billig.
Josefin nahm sie ohne große Begeisterung entgegen und sagte, sie werde sie anprobieren, wenn sie geduscht habe. Ich versuchte, ihrer Reaktion nicht zu viel Bedeutung beizumessen. Bestimmt war sie nach dem langen Tag einfach erschöpft, und nur weil sie nicht gleich aus dem Häuschen geriet, hieß das ja nicht, dass sie sich nicht freute.
Als ich sie am nächsten Tag fragte, ob sie sich in der Strickjacke wohlfühle, bekam ich nur ein knappes »Ja« zur Antwort. Etwas später schaute ich in ihr Schlafzimmer und sah, dass die Jacke immer noch in ihrem Seidenpapier auf einem Stuhl lag. Nicht einmal ausgepackt hatte sie sie. Natürlich konnte sie sie zurückgeben oder umtauschen, wenn sie wollte, das hatte ich ihr auch gesagt. Der Bon lag in einem Kuvert bei. Mich störte nur, dass sie nicht einmal neugierig war, was ich ihr ausgesucht hatte.