Schein und Schuld - Anna Katharine Green - E-Book

Schein und Schuld E-Book

Anna Katharine Green

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  • Herausgeber: neobooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

mehrbuch-Weltliteratur! eBooks, die nie in Vergessenheit geraten sollten. Der Anwalt Everett Raymond ist schockiert, als der Privatsekretär Horatio Leavenworths, ein langjähriger Klient seiner Kanzlei, eines Tages bei ihm erscheint, um ihm mitzuteilen, dass Mr. Leavenworth ermordet worden ist. Zwar wurde die Tatwaffe nicht gefunden, doch alle Umstände deuten darauf hin, dass der Täter unter den Bewohnern des Hauses zu finden sein muss, zu denen neben Leavenworths beiden Nichten auch der Sekretär Harwell selbst gehört. Doch die von Detective Gryce geführten Ermittlungen gestalten sich alles andere als einfach, denn zwischen den beiden Nichten des Ermordeten schein ein Konflikt zu schwelen, den beide sorgsam zu verhehlen suchen, und bei genauerem Hinsehen ergibt sich, dass sich beiden jungen Damen ein Motiv für das Verbrechen nachweisen lässt.

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Seitenzahl: 441

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Anna Katherine Green

Schein und Schuld
Inhaltsverzeichnis
Erstes Kapitel. Ein schwieriger Fall.
Zweites Kapitel. Die Untersuchung nimmt ihren Anfang.
Drittes Kapitel. Das Verhör.
Viertes Kapitel. Ein Schwur.
Fünftes Kapitel. Die Aussage des Sachverständigen.
Sechstes Kapitel. Streiflichter.
Siebentes Kapitel. Mary Leavenworth.
Achtes Kapitel. Der Indizien-Beweis.
Neuntes Kapitel. Eine Entdeckung.
Zehntes Kapitel. Gryce empfängt eine neue Anregung.
Elftes Kapitel. Die Aufforderung.
Zwölftes Kapitel. Eleonore.
Dreizehntes Kapitel. Das Problem.
Vierzehntes Kapitel. Gryce in seiner Wohnung.
Fünfzehntes Kapitel. Henry Clavering.
Sechzehntes Kapitel. Das Vermächtnis eines Millionärs.
Siebenzehntes Kapitel. Große Ueberraschungen.
Achtzehntes Kapitel. Auf der Treppe.
Neunzehntes Kapitel. In meinem Bureau.
Zwanzigstes Kapitel. »Trueman! Trueman! Trueman!«
Einundzwanzigstes Kapitel. Ein Vorurteil.
Zweiundzwanzigstes Kapitel. Flickwerk.
Dreiundzwanzigstes Kapitel. Die Geschichte einer schönen Frau.
Vierundzwanzigstes Kapitel. Verhaltungsregeln.
Fünfundzwanzigstes Kapitel. Timothy Cook.
Sechsundzwanzigstes Kapitel. Gryce erklärt sich.
Siebenundzwanzigstes Kapitel. Amy Belden.
Achtundzwanzigstes Kapitel. Ein seltsames Begebnis.
Neunundzwanzigstes Kapitel. Die verschwundene Zeugin.
Dreißigstes Kapitel. Verbrannte Papiere.
Einunddreißigstes Kapitel. Frau Beldens Bedrängnis.
Zweiunddreißigstes Kapitel. Frau Beldens Erzählung.
Dreiunddreißigstes Kapitel. Ein unerwartetes Bekenntnis.
Vierunddreißigstes Kapitel. Gryce übernimmt wieder die Führung.
Fünfunddreißigstes Kapitel. Feine Arbeit.
Sechsunddreißigstes Kapitel. Die Fäden ziehen sich zusammen.
Siebenunddreißigstes Kapitel. Die Entscheidung.
Achtunddreißigstes Kapitel. Ein volles Bekenntnis.
Neununddreißigstes Kapitel. Die Folgen eines großen Verbrechens.
Impressum

Erstes Kapitel. Ein schwieriger Fall.

Seit etwa einem Jahre war ich Teilhaber in der Anwaltsfirma Veeley, Carr und Raymond, als eines Morgens in Abwesenheit der Herren Veeley und Carr ein junger Mann in unser Bureau trat, dessen ganzes Aeußere eine solche Hast und Aufregung verriet, daß ich mich unwillkürlich erhob und ihm einige Schritte entgegenging.

»Was bringen Sie mir?« fragte ich, »hoffentlich nichts Schlimmes.«

»Ich möchte zu Herrn Veeley; kann ich ihn sprechen?«

»Nein,« antwortete ich, »er ist heute vormittag ganz unerwartet nach Washington gerufen worden und kann vor morgen nicht zurück sein. Wenn Sie mir aber Ihr Anliegen Mitteilen wollen –«

»Ihnen?« entgegnete er und maß mich mit kaltem, festem Blick; dann fuhr er, wie von seiner Musterung befriedigt, fort: »Ich sehe keinen Grund, warum ich es nicht thun sollte; ist doch der Zweck meines Hierseins kein Geheimnis. Ich komme, Sie zu benachrichtigen, daß Herr Leavenworth tot ist.«

»Herr Leavenworth?!« rief ich aus und trat einen Schritt zurück.

Herr Leavenworth war ein alter Klient unserer Firma und außerdem ein vertrauter Freund Veeleys.

»Jawohl, und zwar ermordet; von einer unbekannten Person, durch den Kopf geschossen, während er am Schreibtisch saß.«

»Ermordet? – Erschossen?« wiederholte ich und vermochte das Ungeheure kaum zu fassen.

Der joviale, herzensgute, alte Herr, der noch vor acht Tagen hier im Bureau gewesen war, mich gehänselt hatte, daß ich noch Junggeselle sei und hinzugefügt, er könne mir etwas Schönes zeigen, ich solle ihn doch besuchen – er ermordet!

Halb ungläubig starrte ich den Mann vor mir an. »Wie – wann?« brachte ich endlich hervor.

»In der verflossenen Nacht, so nehmen wir wenigstens an; erst heute morgen wurde die Leiche gefunden. Ich bin Herrn Leavenworths Privat-Sekretär und lebe mit der Familie zusammen. Es war ein furchtbarer Schlag,« fügte er hinzu, »besonders für die jungen Damen.«

»Furchtbar, in der That! Herr Veeley wird vollständig überwältigt davon werden.«

»Sie sind ganz allein,« fuhr er in leisem, geschäftsmäßigem Tone fort, der, wie ich später fand, eine Eigentümlichkeit des Mannes war, ohne die man sich ihn gar nicht denken konnte; »die Damen Leavenworth meine ich, die Nichten des Ermordeten. Da nun heute eine amtliche Untersuchung abgehalten werden wird, so ist es sehr wünschenswert, daß die beiden Fräulein nicht ohne Rechtsbeistand sind, und weil Herr Veeley der beste Freund ihres Onkels war, so schickten sie mich selbstverständlich ab, ihn zu holen. Leider muß er gerade verreist sein, und ich weiß wirklich nicht, was ich anfangen soll.«

»Ich bin den Damen zwar fremd,« erwiderte ich, »wenn ich ihnen aber von irgend welchem Nutzen sein kann, so gebietet mir die Achtung vor ihrem Oheim – –«

Der Ausdruck im Auge des Sekretärs machte mich verstummen. Sein Blick wich nicht von meinem Antlitz, aber sein Augapfel schien sich plötzlich zu erweitern, so daß es mir vorkam, als umfasse er meine Gestalt ganz. »Ich weiß nicht,« bemerkte er endlich, und ein leichtes Stirnrunzeln bewies, daß er nicht so ganz zufrieden mit der Wendung war, welche die Angelegenheit nahm, »indessen, – vielleicht ist es das beste, die Damen dürfen sich nicht selbst überlassen bleiben, und –«

»Es ist gut!« unterbrach ich ihn, »ich komme.« Ich setzte mich nieder, schrieb sofort eine Depesche an Herrn Veeley, traf rasch noch einige Vorbereitungen und ging mit dem Sekretär auf die Straße. »Jetzt,« forderte ich ihn auf, »erzählen Sie mir alles, was Sie von dem entsetzlichen Ereignis wissen.«

»Alles, was ich weiß? Das ist mit wenigen Worten abgethan. Als ich gestern abend meinen Chef verließ, saß er wie gewöhnlich an seinem Schreibtisch und heute morgen fand ich ihn an dem nämlichen Platze und fast in derselben Stellung, doch mit einem Loch im Kopfe, das so groß war wie die Spitze meines kleinen Fingers und von einer Pistolenkugel herrührte.«

»Tot?«

»Ganz tot.«

»Schrecklich!« rief ich aus; dann fragte ich nach kurzer Pause: »Kann es nicht Selbstmord gewesen sein?«

»Nein: das Pistol, mit welchem die That begangen wurde, ist nicht aufgefunden worden.«

»Wenn aber ein Mord vorliegt, so muß auch ein Beweggrund zu demselben nachgewiesen werden können. Deuten die Umstände vielleicht auf einen Raubmord hin?«

»Keinesfalls, es wird nicht das Mindeste vermißt; die Sache ist ein vollständiges Rätsel.«

»Ein Rätsel?«

»Bis jetzt ein undurchdringliches.«

Ich blickte dem Unglücksboten forschend ins Gesicht. Der Mitbewohner eines Hauses, in welchem ein geheimnisvoller Mord begangen worden, war für mich ein interessanter Gegenstand der Beobachtung. Aber das harmlose, wenig ausdrucksvolle Gesicht des Mannes rechtfertigte meine Neugier durchaus nicht, und indem ich meine rasche Musterung sofort wieder abbrach, fragte ich: »Die Damen sind wohl sehr aufgeregt?«

»Es würde ja ganz widernatürlich erscheinen, wenn es nicht der Fall wäre,« antwortete er; und war es nun der auffallende Wechsel seiner Mienen oder die Art und Weise meiner Fragestellung, – genug, ich fühlte, daß ich diesem unbedeutenden und doch selbstbewußten Sekretär gegenüber die Damen nicht erwähnen durfte, ohne – wie soll ich sagen? – ein heikles Thema zu berühren. Da ich schon früher gehört hatte, daß Herrn Leavenworths Nichten hochgebildet seien und sich in den ersten Kreisen der Gesellschaft bewegten, so berührte mich diese Entdeckung einigermaßen peinlich. Es überkam mich daher ein Gefühl der Erleichterung, als ich einen Omnibus herannahen sah.

»Wir wollen jetzt unsere Unterredung abbrechen,« sagte ich, »hier ist der Omnibus.«

Sobald wir erst einmal in demselben saßen, war jede Unterhaltung über einen derartigen Gegenstand unmöglich. Ich benutzte deshalb die Zeit, darüber nachzudenken, was ich von Herrn Leavenworth wußte, und fand meine ganze Kenntnis der Verhältnisse auf die Thatsache beschränkt, daß er ein Kaufmann war, der sich von den Geschäften zurückgezogen hatte, außergewöhnlichen Reichtum und eine hohe gesellschaftliche Stellung besaß, daß er ferner in Ermangelung eigener Kinder zwei Nichten in sein Haus aufgenommen hatte, von denen die eine bereits seine erklärte Erbin war. Veeley hatte zuweilen von Leavenworths Ueberspanntheit gesprochen und als Beispiel den Umstand erwähnt, daß er ein Testament zu Gunsten der einen Nichte mit gänzlichem Ausschluß der anderen aufgesetzt habe. Von seinen sonstigen Lebensgewohnheiten und seinen Verbindungen mit der Welt im allgemeinen wußte ich wenig oder nichts.

Als wir vor dem Hause ankamen, fanden wir es von einer großen Menschenmenge umdrängt. Ich hatte kaum Zeit zu bemerken, daß es ein Eckhaus von ungewöhnlicher Breite und Tiefe war, als mich das Gewühl auch schon erfaßte und mich bis an die unterste Stufe der breiten steinernen Freitreppe trug. Nachdem ich mich mit einiger Schwierigkeit aus dem Gedränge befreit hatte, da ein Stiefelputzer und ein Fleischerjunge sich an meine Arme klammerten in dem Glauben, sie würden auf diese Weise sich mit Leichtigkeit auf die Stätte des Trauerspiels schmuggeln können, sprang ich die Steinstufen hinauf, sah, daß mein gutes Glück den Sekretär an meiner Seite festgehalten hatte, und zog rasch die Glocke.

Gleich darauf öffnete sich die Thüre, und in derselben erschien ein Gesicht, welches ich als einem unserer städtischen Geheimpolizisten angehörig erkannte.

»Herr Gryce?« rief ich.

»Derselbe,« antwortete er; »treten Sie ein, Herr Raymond.« Ohne sich weiter um die draußen harrende Menge zu kümmern, über die er nur ein spöttisches Lächeln gleiten ließ, welches eine allgemeine Enttäuschung hervorrief, zog er uns in das Haus hinein und schloß die Thür hinter sich zu. »Ich denke, Sie werden sich über meine Anwesenheit hier nicht wundern,« sagte er mit einem Seitenblick auf meinen Begleiter, indem er mir die Hand reichte.

»Durchaus nicht,« entgegnete ich; dann fiel mir ein, daß ich ihm den jungen Mann, mit dem ich gekommen war, doch vorstellen müsse. »Erlauben Sie mir, daß ich Sie mit Herrn – Herrn – entschuldigen Sie, aber ich weiß Ihren Namen nicht,« sagte ich, zu meinem Begleiter gewendet; »der Herr ist der Privat-Sekretär des verstorbenen Leavenworth.«

»O, der Sekretär! der Coroner hat schon nach ihm gefragt.«

»Der Coroner ist bereits hier?«

»Jawohl, die Jury hat sich soeben hinaufbegeben, um den Leichnam in Augenschein zu nehmen; möchten Sie sich nicht den Geschworenen anschließen?«

»Nein,« erwiderte ich, »das ist nicht nötig; ich habe mich nur in der Hoffnung hier eingefunden, den jungen Damen vielleicht von einigem Nutzen sein zu können. Herr Veeley ist verreist.«

»Und da ist Ihnen die Gelegenheit, eine interessante Bekanntschaft zu machen, nicht unwillkommen, wie mir scheint,« bemerkte der Detektiv. »Nun Sie aber einmal hier sind, und der Fall sehr merkwürdig zu werden verspricht, sollte ich meinen, daß Sie als junger Advokat den Wunsch hegen müßten, sich mit demselben in allen seinen Einzelheiten bekannt zu machen. Doch folgen Sie nur Ihrem eigenen Urteile.«

Ich bemühte mich, meinen Widerwillen gegen eine persönliche Beteiligung an diesem Fall zu überwinden. »Ich werde mit Ihnen gehen,« versetzte ich.

Aber gerade als ich den Fuß auf die Treppe setzte, hörte ich die Jury herabkommen. Ich zog mich deshalb mit Herrn Gryce in eine Nische zwischen dem Empfangssalon und dem Wohnzimmer zurück, wo wir unser Gespräch fortsetzten.

»Der junge Mann behauptet, es könne unmöglich das Werk eines Einbrechers gewesen sein,« bemerkte ich.

»So –?« erwiderte er, das Auge auf die Thürklinke heftend.

»Man habe heute morgen nichts, gar nichts vermißt und –«

»Die Schlösser am Hause seien in der Frühe samt und sonders in Ordnung gewesen, nicht wahr?«

»Das hat er mir nicht mitgeteilt; wenn dem aber so ist, so muß sich ja der Mörder die ganze Nacht über im Hause aufgehalten haben.«

Gryce schielte wieder finster nach der Thürklinke hin.

»Das ist ja eine ganz fürchterliche Geschichte!« rief ich.

Gryce faßte die Klinke noch schärfer ins Auge. Und hier, geneigter Leser, gestatte mir zu erwähnen, daß Gryce kein langes hageres Individuum ist, dessen stechender Blick sich bis in das Mark Deines Wesens zu bohren und jedes dort verborgene Geheimnis zu lesen scheint, wie Du wahrscheinlich erwartet hast. Im Gegenteil! Gryce ist eine stattliche, wohlgenährte Persönlichkeit mit einem Auge, welches Dich niemals durchbohrt, das überhaupt niemals auf Dir ruht. Es verweilt überhaupt nur auf irgend einem gleichgültigen Gegenstand in der Umgebung, einer Vase, einem Tintenfaß, einem Buch oder etwas dergleichen. Diese Dinge scheint er in sein Vertrauen zu ziehen, sie zu Repositorien seiner Schlüsse zu machen, während Du selbst die Spitze eines Kirchturms sein könntest, so wenig scheinst du in den Zusammenhang seines Denkens zu gehören. Gegenwärtig war Gryce, wie schon bemerkt, in die andächtige Beobachtung der Thürklinke versunken.

»Eine furchtbare Geschichte,« wiederholte ich.

»Kommen Sie!« forderte er mich auf und musterte einen meiner Manschettenknöpfe.

Er ging voran, blieb aber auf dem obersten Treppenabsatz stehen. »Herr Raymond,« sagte er, »ich pflege nicht eben viel über die Geheimnisse meines Berufes zu schwatzen; aber in diesem Falle hängt alles davon ab, gleich zu Anfang die richtige Fährte zu finden. Hier haben wir es mit keiner gemeinen Schurkerei zu thun, ohne Zweifel ist dabei Genie thätig gewesen. Nun kommt es zuweilen vor, daß ein gänzlich unvoreingenommener Geist unwillkürlich auf eine Spur trifft, während der Fachmann im Dunkeln tappt. Sollte sich derartiges ereignen, dann denken Sie daran, daß ich der Mann für Sie bin. Verlieren Sie kein Wort an andere, sondern kommen Sie unverzüglich zu mir; denn wir stehen vor einem bedeutenden Fall, sage ich Ihnen, vor einem bedeutenden Fall – und jetzt folgen Sie mir.«

»Aber die Damen!«

»Sie haben sich in eines der oberen Zimmer zurückgezogen. Ihr Schmerz ist natürlich groß; doch sollen sie ziemlich gefaßt sein, wie ich höre.« Er trat an eine Thür, öffnete dieselbe und winkte mir.

Sobald sich meine Augen an die in dem Gemache herrschende Dunkelheit gewöhnt hatten, bemerkte ich, daß wir uns im Bibliothekzimmer befanden.

»Hier genau auf derselben Stelle ist er ermordet worden,« bemerkte der Detektiv, indem er seine Hand auf den Rand eines mit Tuch überzogenen Tisches legte, der mit dem dazu gehörigen Stuhl die Mitte des Zimmers einnahm. »Sie sehen, daß sich der Schauplatz des Verbrechens direkt jener Thür gegenüber befindet,« fuhr er fort, schritt über den Fußboden und stand vor der Schwelle eines engen Ganges still, der in ein dahinter liegendes Gemach führte. »Da nun der Ermordete in seinem Stuhle sitzend angetroffen wurde, also mit dem Rücken dem Gange zugekehrt, so muß der Mörder durch jene Thür gekommen sein, um seinen Schuß abzugeben, und wird etwa hier Posto gefaßt haben.« Mit diesen Worten bezeichnte Gryce eine bestimmte Stelle auf dem Teppich, die etwa einen Fuß von der vorher erwähnten Stelle entfernt war.

»Aber –« warf ich ein.

»Hier giebt's gar kein Aber,« unterbrach er mich, »ich habe die ganze Situation aufs genaueste untersucht.« Und ohne sich weiter über diesen Gegenstand auszulassen, wandte er sich schnell um und schritt durch den Gang. »Hier stehen die Weinflaschen, da ist der Kleiderschrank und dort der Waschtisch nebst Zubehör,« setzte er mir auseinander, seine Erklärungen durch Handbewegungen erläuternd. »Leavenworths Schlafzimmer,« schloß er, als sich dieses Gemach vor uns in seiner ganzen Eleganz aufthat.

Wir näherten uns dem durch schwere Vorhänge verhüllten Bett; Gryce zog sie zurück, und auf den Kissen lag ein kaltes, ruhiges Gesicht, welches so ganz unentstellt war, daß ich einen Ausruf des Erstaunens nicht unterdrücken konnte.

»Sein Tod kam zu plötzlich, als daß er die Züge irgendwie hätte verändern können,« belehrte mich mein Begleiter, indem er das Haupt des Toten emporhob und mir eine Wunde im Hinterkopf zeigte. »Ein solches Loch befördert den Getroffenen aus der Welt, ohne daß er Zeit hat, davon Notiz zu nehmen. Der Arzt wird Ihnen beweisen, daß ein Selbstmord eine absolute Unmöglichkeit ist.«

Entsetzt fuhr ich zurück; da fiel mein Blick auf eine Thür, die mir gegenüber auf den Korridor führte. Mit Ausnahme des Ganges, den wir durchschritten hatten, schien dies der einzige Ausweg aus dem Bibliothekzimmer zu sein. »Sollte der Mörder nicht diese Thüre benutzt haben?« dachte ich bei mir.

Gryce hatte jedenfalls meinen Blick bemerkt, obwohl der seinige auf einem Armleuchter haftete; er beeilte sich, meine stumme Frage zu beantworten. »Jene Thür wurde von innen verschlossen gefunden, so daß es zweifelhaft bleibt, ob der Thäter durch sie eingedrungen ist.«

»Wen beargwöhnen Sie?« flüsterte ich.

Er betrachtete aufmerksam meinen Ring. »Jeden und niemanden,« antwortete er, »es ist nicht meine Sache zu verdächtigen, sondern zu entdecken.« Darauf ließ er die Vorhänge in ihre frühere Lage zurückfallen und verließ mit mir das Zimmer.

Da die Untersuchung durch den Coroner Ein Beamter, welcher die Ursache plötzlicher Todesfälle unter Zuziehung von Geschworenen zu untersuchen hat. gerade jetzt im Gange war, konnte ich mich nicht enthalten, ihr beizuwohnen, und ersuchte Gryce, die Damen zu benachrichtigen, daß ich anstatt des abwesenden Herrn Veeley erschienen sei, um ihnen in dieser traurigen Angelegenheit jeden nur möglichen Beistand zu leisten.

Alsdann begab ich mich nach dem unteren Wohnzimmer und nahm einen Sitz unter den dort versammelten Personen ein.

Zweites Kapitel. Die Untersuchung nimmt ihren Anfang.

Die Umgebung, in welcher die Untersuchung vorgenommen werden sollte, rief in ihren scharfen Kontrasten einen höchst eigentümlichen Eindruck bei dem Beschauer hervor. Der palastähnliche Bau, die fürstliche Einrichtung, die Erinnerungen an das friedliche Leben des gestrigen Tages, so z. B. der Anblick des offenen Pianos, das durch einen zierlichen Damenfächer am Notengestell festgehaltene Musikheft, – fesselten meine Aufmerksamkeit in gleichem Maße wie das düstere Bild der heute zusammengewürfelten und ungeduldigen Schar, die sich um mich drängte.

Ganz besonders zog mich auch ein lebenswahres Porträt an, welches an der Wand mir gegenüber hing; es war ein reizendes, von poetischem Duft überhauchtes Gemälde. Das Bild einer jungen, goldlockigen, blauäugigen Schönen im Kostüme des ersten Kaiserreichs. Sie stand auf einem Waldpfade und schaute über die Schulter zurück, als ob ihr jemand folge, mit so schelmischem Auge und so frischem Kindermunde, daß es mir wie eine getreue Nachahmung der Wirklichkeit erschien. Hätte sie nicht das ausgeschnittene Kleid mit der hohen Taille und die kurzgeschnittenen Löckchen auf der Stirn gehabt, ich würde das kleine Kunstwerk für das wohlgetroffene Porträt einer der Damen des Hauses gehalten haben.

Von dieser lieblichen Mädchengestalt glitt mein Blick auf das tiefernste, kluge und aufmerksame Gesicht des Coroners sowie auf die Gruppe der Geschworenen und auf die zitternden Gestalten der sich in einer Ecke zusammendrängenden Dienerschaft des Hauses, endlich auf den blassen, schäbig gekleideten Reporter, der an einem kleinen Tische saß und mit geschäftsmäßiger Hast seine Notizen machte.

Der Coroner Hammond war mir von früher her bekannt; er galt für einen Beamten von außergewöhnlichem Scharfsinn, der seines schwierigen Berufes mit großer Gewissenhaftigkeit, Gewandtheit und Umsicht waltete.

Was die Geschworenen anbelangt, so trugen sie im großen und ganzen das bei derartigen Gelegenheiten gewöhnliche Gepräge.

Wie es der Zufall brachte, waren sie von den Straßen aufgelesen, aber von solchen Straßen, in denen sich der Hauptverkehr regt; sie machten den Eindruck von intelligenten Geschäftsleuten, welche, voll Entrüstung über den Mord, im Begriff standen, ihre Bürgerpflicht zu erfüllen. Nur ein einziger von ihnen schien ein wirkliches Interesse an der Untersuchung selbst zu empfinden.

Als erster Zeuge wurde der Arzt aufgerufen, welcher von der Familie des Verstorbenen herbeigeholt worden war. Derselbe sagte hauptsächlich über die Wunde aus, die sich an dem Kopfe des Ermordeten befand. Er hatte den Toten, auf einem Bette im Vorderzimmer des zweiten Stockwerkes liegend, angetroffen, wohin man denselben offenbar aus einem anstoßenden Gemach einige Stunden nach seinem Ableben gebracht hatte. Die Wunde am Hinterkopfe war die einzige, die man am Körper entdeckte. Die Kugel hatte der Arzt herausgezogen und übergab sie jetzt den Geschworenen; sie war unten an der Basis der Schädeldecke in das Gehirn eingedrungen und hatte, einen augenblicklichen Tod herbeiführend, die medulla oblongata getroffen.

Die Beschaffenheit des Loches in der Schädeldecke sowie die Richtung, welche die Kugel genommen hatte, schlossen jede Möglichkeit eines Selbstmordes aus, zumal das Aussehen des die Wunde umgebenden Haares die Thatsache feststellte, daß der Schuß in einer Entfernung von drei bis vier Fuß abgefeuert sein mußte. Zog man ferner den Winkel in Betracht, in welchem die Kugel die Hirnschale durchbohrt hatte, so war es offenbar, daß der Entseelte zur Zeit der That nicht nur in seinem Stuhl gesessen hatte, sondern auch in einer Beschäftigung begriffen war, bei der er das Haupt vorwärts gesenkt hielt. Wäre nämlich die Kugel in den Kopf eines aufrecht sitzenden Mannes in einem Winkel von 45° wie hier eingedrungen, so hätte der Mörder das Pistol in einer eigentümlichen Lage und sehr niedrig halten müssen; hatte jedoch der Getroffene beim Schreiben den Kopf vornüber geneigt, so konnte der Mörder mit gekrümmtem Ellenbogen den Schuß sehr leicht in der erwähnten Richtung abgeben.

Als der Arzt über den Gesundheitszustand des Herrn Leavenworth befragt wurde, antwortete er, der Verstorbene habe sich, seiner Ansicht nach, zur Zeit seines Todes im besten körperlichen Wohlsein befunden; da er jedoch nicht Hausarzt gewesen sei, könne er sich ohne vorherige Untersuchung darüber nicht aussprechen. Eine Pistole habe er übrigens weder auf dem Fußboden des Zimmers, in welchem der Mord geschehen, noch in einer der anstoßenden Räumlichkeiten entdeckt. Aus den weiteren Aussagen des Arztes ging noch folgendes als unzweifelhaft hervor: Die Gruppierung des Tisches, des Stuhles und der dahinter liegenden Thür bewies, daß der Mörder unter den obwaltenden Umständen auf oder vor der Schwelle des Ganges gestanden haben mußte, der in das andere Zimmer führte. Da ferner die Kugel klein und aus einem gezogenen Lauf abgefeuert worden war und infolgedessen beim Durchdringen des Knochens leicht nach rechts oder links hätte abweichen können, erschien es dem Arzt als sicher, daß das Opfer keine Bewegung gemacht hatte, um aufzustehen oder den Kopf nach seinem Angreifer umzuwenden. Daraus ergab sich der zwingende Schluß, daß der Tritt des Thäters ein dem Ermordeten wohlbekannter, daß also die Anwesenheit des Meuchlers in dem Gemache keine ungewöhnliche oder unerwartete war.

Nachdem der Arzt seine Aussage beendigt hatte, nahm der Coroner die vor ihm auf dem Tisch liegende Kugel, rollte sie einen Moment überlegend zwischen den Fingern, zog dann einen Bleistift aus der Tasche, warf rasch einige Zeilen auf ein Blatt Papier, rief einen Polizisten zu sich herein und übergab ihm dasselbe, indem er ihm zugleich im Flüsterton einen Befehl erteilte.

Der Sicherheitsbeamte nahm das Billet in Empfang, sah mit einem verständnisvollen Aufblitzen des Auges die Adresse an, setzte sich den Hut auf und verließ den Saal. In der nächsten Minute verkündete ein lautschallendes ›Hurra‹ der Straßenjugend, daß er vor die Hausthür getreten war.

Drittes Kapitel. Das Verhör.

Als ich meine Aufmerksamkeit dem Verhör wieder zuwandte, sah ich, wie der Coroner durch sein goldenes Augenglas in ein Notizbuch blickte. »Ist der Hausmeister da?« fragte er.

Sofort regte es sich unter der in der Ecke gruppierten Dienerschaft. Ein mit einem gewissen Selbstbewußtsein auftretender Irländer drängte sich aus der Mitte hervor und stellte sich den Geschworenen gegenüber.

»Oh,« dachte ich bei mir, als ich die sorgfältig gepflegten Bartkoteletten, das sichere Auge und die achtungsvolle, aber keineswegs demütige Haltung des Mannes einer Prüfung unterwarf, »das ist ein Musterdiener und wahrscheinlich auch ein Musterzeuge!« Und darin sollte ich mich nicht getäuscht haben.

Der Coroner, auf welchen er wie auf alle anderen im Saale einen günstigen Eindruck gemacht zu haben schien, schickte sich ohne Zögern an, ihn zu verhören. »Sie heißen Thomas Dougherty?«

»Das ist mein Name, Herr.«

»Wie lange haben Sie schon die gegenwärtige Stelle inne, Thomas?«

»Es werden wohl so etwa zwei Jahre sein.«

»Sie waren der erste, welcher Herrn Leavenworths Leiche entdeckte.«

»Ja, Herr; ich und Herr Harwell.«

»Wer ist Herr Harwell?«

»Der Privat-Sekretär, der die Schreibereien für Herrn Leavenworth besorgte.«

»Zu welcher Tages- oder Nachtzeit machten Sie jene Entdeckung?«

»Gegen acht Uhr des Morgens.«

»Und wo?«

»Im Bibliothekzimmer, das mit dem Schlafgemach in Verbindung steht. Wir waren ängstlich, da der Herr gegen seine Gewohnheit nicht beim Frühstück erschien, und mußten die Thür aufbrechen.«

»Sie war also verschlossen?«

»Ja, Herr.«

»Von innen?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen; denn es steckte kein Schlüssel in der Thür.«

»Wo lag Herr Leavenworth, als Sie ihn fanden?«

»Er lag gar nicht, sondern saß an dem großen Tisch in der Mitte des Zimmers, den Rücken dem Schlafgemach zugekehrt, den Oberkörper nach vorn geneigt, den Kopf auf die Hände gesenkt.«

»Wie war er gekleidet?«

»In dem Anzuge, welchen er gestern bei Tisch trug.«

»Waren Anzeichen eines vorhergegangenen Kampfes im Zimmer vorhanden?«

»Nein, Herr.«

»Lag eine Pistole auf dem Tisch oder auf dem Boden?«

»Nein, Herr.«

»Haben Sie Grund zu vermuten, daß ein Raubmord stattfand?«

»Nein; Herrn Leavenworths Uhr und Portemonnaie befanden sich noch in seiner Tasche.«

Auf die Frage, wer zur Zeit der Entdeckung im Hause anwesend war, antwortete er: »Die beiden Fräulein Mary und Eleonore Leavenworth, Herr Harwell, Kate, die Köchin, Molly, das Zimmermädchen, und ich.«

»Sind das alle Mitglieder des Haushaltes?«

»Ja, Herr.«

»Wessen Amt ist es, allabendlich das Haus zu schließen?«

»Das meinige.«

»Haben Sie dieser Pflicht auch gestern genügt?«

»Ja, wie immer.«

»Und wer hat heute morgen die Thüren geöffnet?«

»Ich selbst, Herr.«

»Wie fanden Sie dieselben?«

»Genau so, wie ich sie am Abend verlassen hatte.«

»War kein Fenster, keine Thür offen? Besinnen Sie sich genau, bevor Sie antworten!«

»Nein, Herr.«

In diesem Moment hätte man das Fallen einer Nadel gehört, so bänglich still war es in der Versammlung geworden. Die Ueberzeugung, daß der Mörder, wer es nun auch sein mochte, das Haus nicht verlassen hatte, wenigstens nicht bevor es am Morgen geöffnet worden war, schien schwer auf den Gemütern aller Anwesenden zu lasten. Obgleich mir diese Thatsache bereits vorher bekannt gewesen, empfand ich doch eine gewisse Aufregung, als jetzt der Beweis dafür geliefert wurde, und indem ich das Gesicht des Hausmeisters scharf beobachtete, suchte ich nach irgend einem Zeichen in demselben, welches mir vielleicht verriete, ob er nicht, um eine Pflichtvernachlässigung zu verdecken, so nachdrücklich gesprochen habe. Aber der Ausdruck seiner Mienen war ebenso freimütig als fest, und er begegnete allen auf ihn gerichteten Blicken mit der Ruhe eines Felsens.

Auf die Frage, wann er Herrn Leavenworth zuletzt lebend gesehen habe, antwortete Thomas: »Gestern abend beim Essen.«

»Es hat ihn aber jemand noch später gesehen, nicht wahr?«

»Jawohl. Herr Harwell sagt, er sei noch um halb elf Uhr bei ihm gewesen.«

»Welches Zimmer bewohnen Sie hier im Hause?«

»Ein Stübchen im Erdgeschoß.«

»Und wo schlafen die anderen Mitglieder des Haushaltes?«

»Zum größten Teil im dritten Stock; die Damen in den großen Hinterzimmern, Herr Harwell in einem kleinen nach vorn gelegenen Gemach, die Dienstmädchen schlafen oben.«

»Es befand sich also niemand mit Herrn Leavenworth in derselben Etage?«

»Niemand.«

»Um welche Zeit begaben Sie sich zur Ruhe?«

»Etwa um elf Uhr.«

»Erinnern Sie sich gar nicht, vor oder nach dieser Zeit ein Geräusch im Hause vernommen zu haben?«

»Nicht das geringste,« lautete die bestimmte Antwort.

Aufgefordert, einen ausführlichen Bericht seiner Entdeckung im Bibliothekzimmer zu geben, wiederholte Thomas alle Einzelheiten mit der größten Genauigkeit, und ohne sich auch nur in den geringsten Widerspruch zu verwickeln.

»Und wie nahmen die Damen jene Entdeckung auf?« fragte der Coroner, nachdem der Hausmeister seine Schilderung beendet.

»Sie folgten uns in das Zimmer, in welchem der Mord geschehen war; Fräulein Eleonore wurde beim Anblick der Leiche ohnmächtig.«

»Und die andere Dame? Fräulein Mary, glaube ich, heißt sie –«

»Ich weiß mich dessen nicht mehr zu erinnern, da ich beschäftigt war, Wasser für Fräulein Eleonore zu holen.«

»Wann wurde Herr Leavenworth in das Schlafzimmer geschafft?«

»Unmittelbar nachdem Fräulein Eleonore sich erholt hatte.«

»Und das geschah?«

»Sobald das kalte Wasser ihr Gesicht benetzte.«

»Wer gab den Befehl, die Leiche wegzubringen?«

»Fräulein Eleonore; sie trat an den Toten heran, dabei schauderte sie zusammen und bat dann Herrn Harwell und mich, ihn auf das Bett zu legen und einen Arzt zu holen. Wir thaten, wie sie uns geheißen.«

»Begab sie sich mit Ihnen in das anstoßende Gemach?«

»Nein, Herr.«

»Was that sie denn?«

»Sie blieb am Tisch im Bibliothekzimmer stehen.«

»Und was machte sie dort?«

»Das konnte ich nicht sehen, da sie mir den Rücken zukehrte.«

»Wie lange verweilte sie dort?«

»Bei unserer Rückkehr war sie nicht mehr da.«

»Nicht mehr am Tisch?«

»Ueberhaupt nicht mehr im Zimmer.«

»Hm. – Wann sahen Sie das Fräulein wieder?«

»Sie trat wieder ein, als wir das Bibliothekzimmer verlassen wollten.«

»Hatte sie etwas in der Hand?«

»Nicht, daß ich wüßte.«

»Vermißten Sie irgend etwas auf dem Tisch?«

»Darum habe ich mich gar nicht gekümmert.«

»Wen ließen Sie im Zimmer zurück, als sie hinausgingen?«

»Die Köchin, Molly und Fräulein Eleonore.«

»Fräulein Mary nicht?«

»Nein, Herr.«

»Hat die Jury noch irgendwelche Fragen an den Zeugen zu richten?«

Bei dieser Frage machte sich eine Bewegung unter den Geschworenen bemerkbar.

»Ich hege allerdings die Absicht,« sagte ein kleiner, aufgeregter Mann, der schon geraume Zeit auf seinem Sitz unruhig hin und her gerückt war, als könne er es nicht erwarten, den Gang der Untersuchung zu unterbrechen.

»Ich stehe zu Diensten,« antwortete Thomas.

Als jedoch der Geschworene sich räusperte, um sein Verhör zu beginnen, ergriff ein großer selbstgefälliger Mann, der ihm zur Rechten saß, die Gelegenheit, ihm das Wort vom Munde wegzunehmen.

»Da Sie, Ihrer Aussage nach, zwei Jahre in dieser Familie gedient haben, so werden Sie uns auch wohl mitteilen können, ob es in derselben stets friedlich und einträchtig zugegangen ist.«

»Soweit mir bekannt ist, ja,« antwortete der Hausmeister, ernst um sich blickend.

»Standen die jungen Damen mit ihrem Oheim immer auf gutem Fuße?«

»Ganz gewiß.«

»Und wie war das gegenseitige Verhältnis der beiden Damen unter sich?«

»Ein vortreffliches, soviel ich weiß; übrigens erlaube ich mir darüber kein Urteil.«

»Soviel Sie wissen? Sollten Sie Grund zu einer anderen Annahme haben?«

Thomas zögerte einen Augenblick; als aber sein Inquirent im Begriff stand, die Frage zu wiederholen, nahm er eine straffe Haltung an und antwortete: »Durchaus nicht, Herr!«

Der Geschworene schien die Verschwiegenheit eines Dieners zu achten, welcher es ablehnt, sich über so delikate Angelegenheiten auszulassen. Er zog sich zufrieden auf seinen Platz zurück und gab durch eine Handbewegung zu verstehen, daß er nichts mehr zu sagen habe.

Sogleich erhob sich der vorhin erwähnte, kleine Mann und fragte: »Um welche Zeit haben Sie heute morgen das Haus aufgeschlossen?«

»Etwa um sechs Uhr.«

»Hätte jemand nach dieser Zeit das Haus ohne Ihr Wissen verlassen können?«

Thomas warf bei dieser Frage einen unruhigen Blick auf die anderen Mitglieder der Dienerschaft, antwortete aber schnell und ohne Rückhalt: »Ich glaube nicht, daß es jemandem möglich wäre, nach sechs Uhr aus dem Hause zu gehen, ohne daß ich es bemerkte oder die Köchin. Die Leute pflegen doch nicht am hellen, lichten Tage aus dem zweiten Stockwerke zu springen, außerdem schließt die Vorderthür mit einem solchen Geräusch, daß man es im ganzen Hause hört; wer aber durch die Hinterthür und den Garten hinausgehen will, der muß am Küchenfenster vorbei und würde jedenfalls von der Köchin bemerkt werden.«

Diese Erklärung brachte bei allen Anwesenden einen sichtbaren Eindruck hervor. Man hatte das Haus verschlossen gefunden, und späterhin konnte es niemand verlassen haben; nach dem Mörder mußten wir also ganz in der Nähe suchen.

Der Geschworene, welcher die letzte Frage gestellt hatte, schaute mit einer gewissen Selbstgefälligkeit ringsum; als er das von neuem erregte Interesse auf allen Gesichtern sah, mochte er die Wirkung seiner Frage nicht durch ein fortgesetztes Verhör abschwächen und nahm seinen Sitz wieder ein.

Da niemand Lust zu haben schien, Thomas noch weiter zu inquirieren, verlor dieser ein wenig die Geduld, fragte jedoch respektvoll: »Wünscht einer der Herren noch etwas von mir zu wissen?«

Als sich keiner meldete, warf er einen Blick der Erleichterung auf seine Kollegen und zog sich mit einer Hast und Befriedigung zurück, über die ich mir in jenem Moment keine Rechenschaft zu geben vermochte.

Da jedoch der nächste Zeuge kein anderer war als mein neuer Bekannter von heute morgen, Harwell, der Geheim-Sekretär und die ›rechte Hand‹ des Ermordeten, wandte sich meine ganze Aufmerksamkeit diesem zu, so daß ich Thomas' auffälliges Benehmen vorläufig vergaß.

Harwell trat mit der Ruhe und Entschiedenheit eines Mannes vor die Jury hin, der sich dessen bewußt ist, daß Leben oder Tod von seinen Worten abhängt. Die Ruhe und Würde seines Benehmens stimmten alle günstig, und auch ich verlor das Vorurteil, welches ich bei unserer ersten Unterredung gegen ihn gefaßt hatte. Er besaß in seinem Aeußern nichts, was für oder gegen ihn eingenommen hätte; es war eines jener Alltagsgesichter mit glatt gestrichenem, sorgfältig gepflegtem, dunklem Haar und Backenbart; nur war über sein ganzes Wesen eine gewisse Düsterheit ausgegossen, wie sie einem Manne eigen ist, der in seiner ganzen Vergangenheit mehr Kummer als Freude, mehr Entbehrungen als Wohlleben erfahren hat.

Ohne sich weiter bei der Musterung der äußeren Erscheinung des Sekretärs aufzuhalten, begann der Coroner sein Verhör. »Ihr Name?«

»James Trueman Harwell.«

»Ihr Geschäft?«

»Ich habe bei Herrn Leavenworth während der letzten acht Monate das Amt eines Privat-Sekretärs bekleidet.«

»Sie sind der letzte gewesen, der den Ermordeten noch am Leben gesehen hat?«

Der junge Mann erhob den Kopf mit einer hochmütigen Bewegung. »Keineswegs!« antwortete er, »bin ich doch nicht der Mann, der ihn getötet hat.«

Diese Entgegnung, welche eine Untersuchung, deren hohen Ernst wir alle begriffen, wie eine Posse behandelte, erschien der Versammlung so anstößig, angesichts der bereits enthüllten und noch zu enthüllenden Thatsachen, daß sich die anfänglich günstige Gesinnung gegen diesen Mann in ihr Gegenteil verkehrte. Ein Gemurmel der Mißbilligung lief durch den Saal, und durch diese eine Bemerkung verlor James Harwell alles, was er vorher durch sein sicheres Auftreten gewonnen hatte. Er schien das auch selbst einzusehen; denn er reckte den Kopf noch höher.

»Ich meinte,« rief der Coroner, den es offenbar empört hatte, daß der junge Mann ihm eine solche Erwiderung geben konnte, »Sie seien der letzte gewesen, der Herrn Leavenworth vor seiner Ermordung durch eine bis jetzt unbekannte Persönlichkeit gesehen hat.«

Der Sekretär kreuzte die Arme über die Brust. Ich vermochte nicht zu unterscheiden, ob er damit ein Zittern, das ihn ergriffen hatte, verbergen oder nur einen Augenblick zur Ueberlegung gewinnen wollte.

»Mein Herr,« entgegnete er endlich, »ich kann Ihnen darauf keine ganz bestimmte Antwort geben. Aller Wahrscheinlichkeit nach war ich der letzte, der ihn lebend gesehen hat; aber in einem so großen Hause, wie dieses ist, kann ich nicht einmal solche einfache Thatsache mit voller Ueberzeugung behaupten.« Als er nach diesen Worten die unbefriedigten Mienen der Anwesenden bemerkte, fügte er langsam hinzu: »Meine Stellung brachte es mit sich, daß ich ihn noch zu später Stunde sah.«

»Ihre Stellung als Sekretär, nicht wahr?«

Der Gefragte nickte ernst mit dem Haupte.

»Herr Harwell,« fuhr der Coroner fort, »das Amt eines Privat-Sekretärs ist kein begrenztes; wollen Sie uns auseinandersetzen, welches Ihre Pflichten in dieser Eigenschaft waren, – kurz, wie Herr Leavenworth Sie beschäftigte?«

»Sehr gern. Der Verstorbene besaß, wie Ihnen wohl bekannt sein wird, großen Reichtum; da er mit vielen Gesellschaften, Klubs und Instituten in Verbindung stand, da er ferner weit und breit den Ruf eines freigebigen und wohlthätigen Mannes genoß, so empfing er täglich zahlreiche Briefe und Bittschriften, die ich öffnen und beantworten mußte. Seine Privat-Korrespondenz war stets mit einem Zeichen versehen, welches sie von den übrigen unterschied.

»Das war indes nicht alles, was mir zu thun oblag. Da mein Chef früher den Theehandel betrieben und aus diesem Grunde mehrere Reisen nach China gemacht hatte, so interessierte er sich sehr für die Verkehrsfrage zwischen jenem Lande und dem unsrigen. Um den Amerikanern ein besseres Verständnis des chinesischen Volkes, seiner Eigentümlichkeiten und des vorteilhaftesten Handelsbetriebes mit dem Reich der Mitte beizubringen, war er seit einiger Zeit beschäftigt, ein Buch über diesen Gegenstand zu schreiben. Bei der Abfassung dieses Buches leistete ich ihm insofern Beistand, als ich täglich drei Stunden lang nach seinem Diktat schrieb. Die letzte Stunde war von halb zehn bis halb elf des Abends angesetzt. Herr Leavenworth war ein sehr methodischer Mann, der sein Leben und das seiner Umgebung mit fast mathematischer Genauigkeit einhielt.«

»Sie sagten, daß Sie allabendlich nach seinem Diktat geschrieben hätten, – thaten Sie das auch am verflossenen Abend?«

»Wie gewöhnlich.«

»Was können Sie uns von seinem Aussehen und Benehmen während jener Zeit erzählen, war es in irgend einer Weise auffallend?«

Des Sekretärs Stirn runzelte sich. »Da er wahrscheinlich keine Vorahnung seines Todes hatte, wie hätte da in seinem Benehmen eine Aenderung eintreten können?«

Der Coroner ergriff die Gelegenheit, sich für das Betragen des Zeugen von vorhin schadlos zu halten, und sagte in strengem Ton: »Es ist Sache des Zeugen, Fragen zu beantworten, aber nicht solche zu stellen.«

Der Sekretär errötete vor Aerger, und die Rechnung war ausgeglichen.

»Sehr wohl. Also, wenn Herr Leavenworth irgendwelche Todesahnungen fühlte, so hat er sie mir nicht offenbart, im Gegenteil schien er mehr als sonst in seine Arbeit vertieft zu sein. Eines seiner letzten Worte, die er zu mir sprach, war: »Bevor ein Monat vergangen ist, werden wir das Buch in der Presse haben, nicht wahr, James?« Ich erinnerte mich gerade dieser Einzelheit, weil er dabei sein Weinglas füllte; er trank regelmäßig ein Glas Wein, ehe er sich in sein Schlafgemach zurückzog. Ich hatte soeben die Hand auf der Thürklinke und antwortete auf seine Bemerkung: »Ich hoffe es auch, Herr Leavenworth.« »Dann lassen Sie uns darauf anstoßen,« sagte er und schenkte mir ein. Ich trank mein Glas auf einen Zug ans, wogegen Herr Leavenworth das seinige nur halb leerte. Es war noch halb voll, als wir ihn heute morgen tot fanden.«

Die Schilderung dieses letzten Auftritts mußte James doch in hohem Grade erregt haben, denn er zog sein Taschentuch hervor und wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn. »Das ist das letzte, was ich den Verstorbenen thun sah; denn als er das Glas niedersetzte, wünschte ich ihm ›Gute Nacht‹ und verließ das Zimmer.«

Der Coroner blieb der Erregtheit des jungen Mannes gegenüber durchaus gleichgültig; er lehnte sich auf seinen Sitz zurück und maß den Zeugen mit prüfendem Blick. »Und wohin verfügten Sie sich dann?« fragte er.

»Auf mein Zimmer.«

»Sind Sie unterwegs niemandem begegnet?«

»Keinem Menschen.«

»Hörten oder sahen Sie nicht etwas Ungewöhnliches?«

Des Sekretärs Stimme sank ein wenig, als er antwortete: »Nein, mein Herr.«

»Besinnen Sie sich noch einmal, Herr Harwell; können Sie es mit gutem Gewissen beschwören, daß Sie weder jemand trafen, noch etwas Auffälliges hörten oder sahen?«

Das Gesicht des Zeugen wurde ängstlich, zweimal öffnete er die Lippen, um zu sprechen, und ebenso oft schloß er sie wieder, um zu schweigen. Endlich entgegnete er mit Anstrengung: »Allerdings bemerkte ich etwas, das zu unbedeutend schien, um erwähnt zu werden; aber außergewöhnlich war es, und ich mußte unwillkürlich daran denken, als Sie mich zum Nachsinnen aufforderten.«

»Was war es?«

»Eine Thür stand halb offen.«

»Wessen Thür?«

»Fräulein Eleonore Leavenworths.« Die Stimme des Sekretärs war bei dieser Antwort fast nur ein Flüstern.

»Wo befanden Sie sich, als Sie das gewahrten?«

»Das kann ich Ihnen nicht genau sagen; wahrscheinlich an meiner eigenen Thür, da ich mich nicht entsinne, unterwegs stehen geblieben zu sein. Wäre das gräßliche Ereignis nicht eingetreten, so würde ich an einen so geringfügigen Umstand überhaupt nicht wieder gedacht haben.«

»Schlossen Sie beim Betreten Ihres Zimmers die Thür ab?«

»Gewiß, mein Herr.«

»Wann gingen Sie zu Bett?«

»Sofort.«

»Hörten Sie gar nichts, bevor Sie einschliefen?«

Wieder jenes unerklärliche Zögern. »Wirklich gar nichts,« sagte er endlich.

»Vernahmen Sie keinen Fußtritt auf dem Korridor?«

»Das könnte wohl sein.«

»Sie haben also einen Fußtritt vernommen?«

»Ich vermöchte es nicht zu beschwören.«

»Glaubten Sie es wenigstens?«

»Es ist möglich; gerade als ich im Einschlafen begriffen war, erinnere ich mich dunkel, etwas wie das Rauschen eines Gewandes und Fußtritte vernommen zu haben; doch es machte keinen besonderen Eindruck auf mich, und bald war ich eingeschlafen.«

»Weiter nichts?«

»Etwas später erwachte ich plötzlich, als hätte mich etwas erschreckt; was es aber gewesen ist, vermag ich nicht zu sagen. Ich weiß nur noch, daß ich mich im Bett aufrichtete und mich rings umschaute. Da ich jedoch weder etwas hörte, noch sah, versank ich bald wieder in Schlaf und erwachte erst heute morgen wieder.«

Nachdem Harwell die Aussagen des Hausmeisters in allen Einzelheiten bestätigt hatte, fragte ihn der Coroner, ob er den Tisch im Bibliothekzimmer bei seinem Weggange in Augenschein genommen habe.

»Ein wenig wohl,« lautete die Antwort.

»Was befand sich darauf?«

»Die gewöhnlichen Gegenstände: Bücher, Papier, eine Feder mit eingetrockneter Tinte, die Flasche und das Weinglas, aus welchem der Ermordete vorher getrunken hatte.«

»Sonst nichts?«

»Nicht, daß ich wüßte.«

»Bezüglich des Glases,« fiel hier einer der Geschworenen ein, »sagten Sie ja wohl, daß es in demselben Zustande aufgefunden worden sei, in welchem es war, als Sie Herrn Leavenworth verließen?«

»Jawohl.«

»Und doch pflegte er sonst das Glas ganz auszutrinken?«

»Gewiß.«

»Es muß also gleich nach Ihrem Weggange eine Unterbrechung stattgefunden haben?«

Eine fahle Blässe überzog plötzlich das Gesicht des jungen Mannes; er zuckte zusammen und sah einen Moment lang aus, als habe ihn ein schrecklicher Gedanke ergriffen. »Das folgt gerade nicht daraus,« brachte er endlich mühsam hervor. »Herr Leavenworth mag –« hier brach er ab, als sei es ihm unmöglich, weiter zu sprechen.

»Fahren Sie fort, Herr Harwell, und lassen Sie hören, was Sie noch zu sagen haben,« bemerkte der Coroner.

»Ich habe Ihnen nichts mehr hierüber mitzuteilen,« bemerkte der Sekretär, als kämpfe er mit einer heftigen Erregung.

Mehrere der Anwesenden warfen sich bei dieser Antwort argwöhnische und bedeutsame Blicke zu, als glaubten sie, in der Aufregung des jungen Mannes einen Schlüssel zur Lösung des Geheimnisses gefunden zu haben.

Der Coroner nahm indessen keine weitere Notiz davon und fuhr in seinem Verhör fort: »Wissen Sie, ob der Schlüssel zum Bibliothekzimmer, als Sie dasselbe gestern abend verließen, im Schlosse steckte oder nicht?«

»Ich habe nicht darauf geachtet.«

»Sie sind aber der Ansicht, daß er darin war?«

»Ich muß es allerdings annehmen.«

»In jedem Falle war aber die Thür heute morgen verschlossen und der Schlüssel verschwunden?«

»Jawohl, mein Herr.«

»So muß also derjenige, der den Mord begangen hat, beim Verlassen des Zimmers die Thür verschlossen und den Schlüssel mitgenommen haben.«

»Es hat den Anschein.«

Der Coroner schaute die Geschworenen mit ernsten Blicken an. »Meine Herren,« sagte er, »das Verschwinden des Schlüssels ist ein Geheimnis, das notwendigerweise aufgeklärt werden muß.«

»Erlauben Sie mir eine Frage,« ließ sich jetzt der kleine Geschworene wieder vernehmen, »man erzählt uns, daß beim Aufbrechen des Bibliothekzimmers die beiden Nichten des Herrn Leavenworth Ihnen in das Gemach folgten; war dem so, Herr Harwell?«

»Nur eine begleitete uns: Fräulein Eleonore.«

»Ist diese die voraussichtliche Universalerbin des Ermordeten?« forschte der Coroner.

»Nein, das ist Fräulein Mary.«

»Auch ich möchte Herrn Harwell eine Frage vorlegen,« ließ sich jetzt ein Geschworener vernehmen, der bisher noch nicht gesprochen hatte. »Man hat uns eine ausführliche Schilderung von der Auffindung der Leiche gegeben; nun wird aber doch niemals ein Mord ohne bestimmte Absicht verübt. Weiß der Sekretär vielleicht, ob Herr Leavenworth einen geheimen Feind gehabt hat?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Stand jedermann im Hause mit ihm auf gutem Fuße?«

»Ja, mein Herr.« Doch kam die Antwort ein wenig zögernd heraus.

»Lag kein Schatten zwischen ihm und irgend einem Mitglied der Familie?« fragte der Geschworene.

»Das kann ich mit Bestimmtheit nicht sagen,« erwiderte der Zeuge ängstlich und scheu, »es mag vielleicht ein Schatten –«

»Zwischen ihm und wem?«

Eine lange Pause entstand; endlich antwortete der Sekretär: »Und einer der Nichten.«

»Welcher?«

»Fräulein Eleonore.«

»Können Sie uns den Grund davon angeben?«

»Nein, mein Herr.«

»Sie öffneten Herrn Leavenworths Briefe?«

»Das that ich allerdings.«

»Können Sie sich nicht erinnern, daß in einem der jüngst an den Ermordeten eingelaufenen Schreiben etwas gestanden hat, das einiges Licht auf diese dunkle That werfen könnte?«

Es hatte fast den Anschein, als wollte der Zeuge darauf überhaupt nicht antworten; überlegte er nur seine Antwort, oder war er wirklich wie in Stein verwandelt?

»Herr Harwell!« drängte der Coroner, »haben Sie die Frage des Geschworenen nicht vernommen?«

»Gewiß! Ich dachte nur über dieselbe nach. – Mein Herr,« erwiderte er endlich, indem er dem Geschworenen voll in das Gesicht sah, »ich habe wie gewöhnlich auch in den letzten Wochen Herrn Leavenworths Briefe geöffnet, vermag mich aber nicht zu entsinnen, in denselben etwas gefunden zu haben, was mit diesem Verbrechen auch nur im geringsten in Verbindung stände.«

Der Mann log, das merkte ich sofort; seine linke Hand zitterte, als er diese Aussage machte; dann aber ballte sie sich fest zusammen, als sei er zu einem Entschluß gekommen.

»Das mag nach Ihrer Meinung wahr sein, Herr Harwell,« warf der Coroner ein; »man wird indes die Korrespondenz des Ermordeten ganz genau darnach durchforschen.«

»Das finde ich vollständig in der Ordnung,« lautete die ruhige Entgegnung des Sekretärs.

Viertes Kapitel. Ein Schwur.

Jetzt wurde die Köchin des Hauses aufgerufen, eine stattliche, wohlgerundete Gestalt mit rotem, gutmütigem Gesicht.

Als sie mit großer Eilfertigkeit vortrat, prägten sich in ihren Zügen Neugier und Furcht aus, und es fiel den Anwesenden schwer, beim Anblick dieser komischen Person ein Lächeln zu unterdrücken.

»Ihr Name?« fragte der Coroner sofort.

»Katharine Malone, Herr.«

»Seit wie lange sind Sie in Herrn Leavenworths Diensten, Katharine?«

»Es sind gute zwölf Monate her, daß ich auf Herrn Wilsons Empfehlung in dieses Haus kam und –«

»Warum sind Sie aus dem Dienst der Frau Wilson getreten?«

»Sie entließ mich, weil sie nach Irland zurückging und –«

»Also seit einem Jahre befinden sie sich in der Familie des Ermordeten?«

»Jawohl, Herr.«

»Und sind gern in Ihrer Stellung. War Herr Leavenworth ein freundlicher Herr?«

»Ich habe niemals einen besseren gehabt. Fluch dem Schurken, der ihn tötete! Er war gütig und hochherzig, und oftmals habe ich zu Hannah gesagt –« Sie brach mit einem plötzlichen Schrecken ab und blickte auf das andere Gesinde hin, als habe sie unvorsichtigerweise etwas Dummes geredet.

Der Coroner bemerkte es und fragte rasch: »Hannah? – Wer ist Hannah?«

Die Köchin zuckte krampfhaft mit ihren dicken Fingern, machte eine Anstrengung, gleichgültig zu erscheinen, und antwortete dann dreist: »Hannah ist nur das Kammermädchen, Herr.«

»Aber ich sehe niemanden dieses Namens hier. Sie haben doch von keiner Hannah gesprochen, die zum Dienstpersonal des Hauses gehörte?« fügte der Coroner, zu Thomas gewandt, hinzu.

»Das allerdings nicht,« entgegnete der Gefragte mit einer Verbeugung und einem strafenden Seitenblick auf die rotbäckige Köchin. »Sie haben von mir nur wissen wollen, wer zur Zeit der Entdeckung des Mordes im Hause anwesend war, und das habe ich Ihnen mitgeteilt.«

»Ah, so!« bemerkte der Coroner spöttisch; dann kehrte er sich wieder der Köchin zu, die sich unterdessen in stummem Schrecken im Saale umgesehen hatte, und fragte: »Und wo ist Hannah jetzt?«

»Sie ist fort.«

»Seit wie langer Zeit?«

Die Köchin atmete schwer. »Seit gestern nacht.«

»Wie spät war es, als sie das Haus verließ?«

»Meiner Treu, Herr, das weiß ich nicht, – ich weiß überhaupt nichts davon.«

»Ist sie entlassen worden?«

»Nicht, daß ich wüßte, ihre Sachen sind noch hier.«

»Ah, ihre Sachen sind hier! Um welche Zeit vermißten Sie das Mädchen?«

»Ich habe sie gar nicht vermißt; sie war gestern abend hier, und heute morgen fehlt sie; daraus schließe ich, daß sie fortgegangen ist.«

»Hm,« meinte der Coroner, sich langsam im Zimmer umblickend, während jeder der Anwesenden aussah, als sei er plötzlich auf eine Thür gestoßen, die ihm bis dahin verborgen gewesen. »Wo pflegte das Mädchen zu schlafen?«

Die Köchin, welche unruhig mit ihrer Schürze gespielt hatte, blickte auf. »Wir alle schlafen im obersten Stock des Hauses.«

»In demselben Zimmer?«

»Jawohl, Herr,« lautete die zögernde Entgegnung.

»Ist Hannah in der verwichenen Nacht hinaufgekommen?«

»Gewiß.«

»Um welche Stunde?«

»Wir gingen alle um zehn Uhr zu Bett; ich hörte die Stunde schlagen.«

»Haben Sie in ihrem Aeußeren irgend etwas Ungewöhnliches entdeckt?«

»Sie litt an Zahnschmerzen!«

»So! – an Zahnschmerzen! – Erzählen Sie mir alles, was Sie wissen.«

»Aber sie hat es ganz gewiß nicht gethan!« versicherte die Köchin, in Thränen und Schluchzen ausbrechend, »glauben Sie es mir, Hannah ist ein gutes Mädchen und so ehrlich wie eine. Auf die Bibel will ich es schwören, daß sie niemals die Hand auf die Thürklinke seines Zimmers gelegt hat; sie ging nur deshalb hinab, um sich einige Tropfen von Fräulein Eleonore auszubitten.«

»Schon gut!« unterbrach sie der Coroner, »es fällt mir ja gar nicht ein, Hannah anzuklagen. Ich habe Sie nur danach gefragt, was Hannah that, nachdem Sie Ihr Zimmer aufgesucht hatten. Sie ging die Treppe hinab, sagen Sie; geschah dies lange Zeit nachher, nachdem Sie sich zur Ruhe begeben hatten?«

»Darüber vermag ich Ihnen wirklich keine Auskunft zu geben; aber Molly erzählt –«

»Was Molly erzählt, geht uns hier nichts an. Sie haben sie nicht hinabgehen sehen?«

»Nein, Herr.«

»Auch nicht zurückkommen?«

»Nein, Herr.«

»Auch heute morgen nicht?«

»Wie hätte ich das können? Sie war ja fort.«

»Aber gestern abend haben Sie bemerkt, daß sie an Zahnschmerz zu leiden schien?«

»Ja, Herr.«

»Gut. Jetzt erzählen Sie mir, wie und wann Sie von dem Tode des Herrn Leavenworth erfuhren.«

Ihre Antworten auf diese Frage waren so breit und enthielten so wenig Neues, daß der Coroner schon im Begriff war, das Verhör mit ihr abzubrechen, als einer der Geschworenen sich erinnerte, daß die Köchin gesagt hatte, sie habe Fräulein Eleonore wenige Minuten, nachdem der Ermordete in das anstoßende Zimmer gebracht worden war, aus der Bibliothek treten sehen. Er fragte, ob ihre Herrin in jenem Augenblick etwas in der Hand gehalten habe.

»Ich weiß es nicht, Herr. – Meiner Treu!« rief sie plötzlich aus, »ich glaube, sie hatte ein Stück Papier in der Hand. Jawohl! Jetzt entsinne ich mich auch sehr deutlich, daß sie dasselbe in die Tasche schob.«

Als nächste Zeugin folgte Molly, das Zimmermädchen. Molly O'Flanagan war ein rotwangiges, schwarzhaariges, flinkes Mädchen von etwa 18 Jahren, die unter gewöhnlichen Umständen auf jede Frage eine Antwort gewußt hätte; aber zuweilen schüchtert die Furcht selbst das unerschrockenste Herz ein, und Molly bot, wie sie jetzt vor dem Coroner stand, keineswegs einen mutigen Anblick dar. Ihre von Natur roten Backen erblaßten bei dem ersten an sie gerichteten Wort, und der Kopf sank ihr zaghaft auf die Brust.

Soviel sie wußte, war Hannah ein ungebildetes Mädchen von irländischer Abkunft, das vom Lande gekommen war, um als Zofe und Näherin bei den Damen Leavenworth einzutreten. Sie hatte schon einige Zeit vor Molly in der Familie gedient, und, obwohl von Natur sehr schweigsam, besonders hinsichtlich ihrer Vergangenheit, hatte sie es doch verstanden, sich bei allen Mitgliedern des Haushalts beliebt zu machen. Im übrigen war sie »melancholisch und träumerisch wie eine Lady,« meinte Molly.

Da dies eine seltsame Gewohnheit ist für ein Mädchen in solcher Stellung, so bemühte man sich, Näheres hierüber aus der Zeugin herauszulocken. Molly jedoch schüttelte den Kopf und beschränkte sich auf die gegebene Aussage, indem sie hinzufügte, daß die Vermißte des Nachts öfter aufzustehen und sich ans Fenster zu setzen pflegte. Bezüglich der Ereignisse des vergangenen Abends gab sie an, Hannah habe zwei Tage oder länger ein geschwollenes Gesicht gehabt, und ihre Schmerzen seien in der verflossenen Nacht so heftig geworden, daß sie aufgestanden sei und sich vollständig angezogen habe. Hier wurde Molly scharf befragt, ob sich Hannah wirklich ganz angekleidet, und sie bestand darauf, daß dies von Kopf bis zu Fuß geschehen sei; dann hätte sie eine Kerze angezündet und ihre Absicht kund gegeben, zu Fräulein Eleonore hinunterzugehen.

»Warum zu Fräulein Eleonore?« fragte einer der Geschworenen.

»Weil diese es war, welche etwaige Arzneien an die Dienstboten verabfolgte.«

Auf weitere Fragen erklärte das Mädchen, es sei dies alles, was sie wisse; Hannah sei nicht zurückgekommen, noch habe sie sich zur Frühstücksstunde im Hause eingefunden.

»Sie sagten, daß sie eine Kerze mit hinunter genommen hätte,« forschte der Coroner, »steckte dieselbe in einem Leuchter?«

»Nein, Herr!«

»Warum nahm sie überhaupt eine Kerze; brannte Herr Leavenworth nicht Gas in den Korridoren?«

»Gewiß; aber wir löschen das Licht aus, wenn wir zu Bett gehen, und Hannah fürchtet sich im Dunkeln.«

»Wenn sie eine Kerze nahm, so muß dieselbe doch irgendwo im Hause liegen geblieben sein; hat jemand eine solche gefunden?«

»Ich erinnere mich nicht.«

»Ist es diese?« rief eine Stimme über meine Schultern hinweg.

Es war Gryce, der eine halbverbrannte Paraffin-Kerze emporhielt.

»Gewiß; aber mein Gott, wo haben Sie den Stumpf gefunden?«

»Auf dem Rasen des Hofes, auf dem halben Wege von der Küche nach der Straße,« antwortete er ruhig.

Unter den Anwesenden entstand eine allgemeine Aufregung. Endlich hatte man doch eine Spur, etwas, das jenen geheimnisvollen Mord mit der Außenwelt zu verbinden schien. Sofort wurde die Hinterthür der Hauptgegenstand des Interesses; die im Hof aufgefundene Kerze lieferte den Beweis, daß Hannah, bald nachdem sie aus dem Zimmer gegangen, das Haus verlassen haben mußte, und zwar durch die Hinterthür, welche nur wenige Schritte von dem auf die Querstraße gehenden Eisengitter entfernt war.

Als Thomas indessen wieder aufgerufen ward, wiederholte er seine Versicherung, daß nicht nur die Hinterthür, sondern auch alle unteren Fenster des Hauses, als er sie um 6 Uhr des Morgens besichtigt habe, fest verschlossen gewesen seien. Hieraus ergab sich der zwingende Schluß, daß jemand sie hinter dem Mädchen zugemacht und verriegelt hatte.

Wer war aber dieser Jemand? das drängte sich jetzt als ernste, brennende Frage in den Vordergrund.

Fünftes Kapitel. Die Aussage des Sachverständigen.

Inmitten der allgemeinen Spannung, welche sich der Anwesenden bemächtigt hatte, erklang der helle Ton der Hausglocke. Sofort richteten sich aller Augen auf die Thür, diese öffnete sich langsam, und der Polizist, der vor etwa einer Stunde in so geheimnisvoller Weise vom Coroner fortgesandt worden war, trat in Begleitung eines jungen Mannes ein, dessen schlanke Gestalt, intelligentes Auge und Vertrauen erweckendes Aussehen ihn als das erscheinen ließen, was er auch in der That war, den Vertrauensmann und Sachverständigen eines bedeutenden kaufmännischen Geschäftes.

Ohne das geringste Zeichen von Verlegenheit, obwohl jedes Auge im Saal mit lebhafter Neugierde auf ihn geheftet war, trat er auf den Coroner zu und machte ihm eine leichte Verbeugung. »Sie haben nach Bohn und Comp. geschickt, mein Herr,« begann er.

Sofort gab sich unter den Versammelten eine starke Aufregung kund; Bohn und Comp. war ein wohlbekanntes Pistolen- und Munitionsgeschäft am Broadway.

»Jawohl, mein Herr,« antwortete der Coroner; »hier ist eine Kugel, die wir gern von Ihnen untersucht haben möchten. Sie sind mit allem, was Ihr Warenlager betrifft, vollständig bekannt?«