Scheinbar - Theresia Seisenberger - E-Book

Scheinbar E-Book

Theresia Seisenberger

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Beschreibung

Du kannst ihr nicht entkommen. Egal was du tust, sie begleitet dich. Du bist jeden Tag mit ihr konfrontiert. Ihre Last erdrückt dich fast. Sie raubt dir den Schlaf. ANGST. Irgendwann siehst du keinen Ausweg mehr. Was tust du?

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Seitenzahl: 297

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Ähnliche


Theresia Seisenberger,

Studentin,

geboren 1999 in Mühldorf am Inn

Für mich selbst.

Weil es besser ist

ein Buch zu schreiben

als sich total hängen zu lassen.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Epilog

Prolog

Wenn sie dich einmal gepackt hat, dann lässt sie dich nicht mehr los.

Mit eisernem Griff legt sie sich um dein Herz.

Du kannst ihr nicht entkommen.

Egal was du tust, sie begleitet dich.

Du bist jeden Tag mit ihr konfrontiert.

Ihre Last erdrückt dich fast.

Sie lässt dir keine Ruhe und raubt dir den Schlaf.

Mit ihr fallen dir die einfachsten Dinge unendlich schwer. Selbst wenn du denkst, sie hat dich verlassen, ist sie noch da.

Und sie kommt in den unerwarteten Momenten.

Es gibt fast keine Möglichkeit, sich auf sie vorzubereiten. Sie lässt niemals zu, dass du deine Augen schließt und alles vergisst.

Ich spreche von Angst.

Objektiv gesehen vielleicht eine unlogische Angst.

Subjektiv gesehen vielleicht eine berechtigte Angst.

Dein einziger Wunsch ist, ihr zu entkommen.

Aber das fällt dir schwer, denn sie lähmt dich.

Du weißt nicht, wie lange du noch durchhalten kannst.

Und ob du der Angst nicht ein Ende setzen willst.

Doch man kann sie nicht einfach so abschütteln.

Es ist eine große Herausforderung, sie zu bekämpfen.

Du musst jeden Tag an deine Grenzen gehen.

Und viele brechen unter dieser Belastung zusammen.

Wer noch genug Kraft hat, rafft sich ein letztes Mal auf.

Irgendwann siehst du keinen Ausweg mehr.

Was tust du?

1

Es war eiskalt draußen. Luisas braune Locken wehten ihr ständig ins Gesicht und trotz ihrer kuscheligen Stiefel spürte sie ihre Zehen kaum noch.

Seit ein paar Tagen war nun November. Ein unnötiger Monat zwischen freundlichem Herbst und gemütlichem Winter, wie sie fand. Es deprimierte sie jeden Tag aufs Neue, wenn sie aus dem Fenster lugte und nur trostloses Grau am Himmel hängen sah. Luisa hatte also guten Grund dazu, etwas missmutig zu sein und mit zusammengekniffenen Augen über die Stadthausbrücke zu eilen. Die Hände hatte sie tief in den Taschen ihres blauen Mantels vergraben, damit sie ein wenig Wärme abbekamen. An Handschuhe hatte sie an diesem Morgen leider nicht gedacht.

Die Gegend, in der Luisa arbeitete, war zugegebenermaßen nicht die schönste, die Hamburg aufzuweisen hatte. Zwar befanden sich auch dort immer wieder ein paar Grünstreifen, doch ansonsten reihten sich bunt gemischt Backsteingebäude und weiße Neubauten aneinander. Dabei handelte es sich hauptsächlich um Banken oder Versicherungen, soweit Luisa das beurteilen konnte. Hamburg war jedenfalls nicht hierfür, sondern für die viel schöneren Plätze wie den Hafen, die Speicherstadt oder die Binnenalster bekannt. Aber wie in jeder Großstadt gab es eben Viertel fernab der Touristenattraktionen, in denen der Alltag tobte.

Die Augen stur auf den Weg gerichtet, nahm Luisa ihre Umgebung an diesem Tag jedoch gar nicht richtig wahr. Der regenverhangene Himmel tauchte die Straßen in ein recht trostloses Licht und der sowieso schon spärliche Charme dieses Viertels war somit ganz verschwunden. Selbst die kleinen Bäumchen, die man angepflanzt hatte, verloren jetzt ihre Blätter.

Kurz vor ihrem Ziel wurde Luisa fast von einem Radfahrer erfasst. Als sie ihm hinterherschrie, fuhr er jedoch einfach weiter. Kopfschüttelnd stieg sie die Stufen hinauf, die zu einem Reihenhaus aus Backstein führten. Von außen betrachtet sah es sehr spießig und langweilig auf, drinnen herrschte jedoch fast rund um die Uhr Hochbetrieb. Sie stieß die große Glastür auf, rief ein kurzes „Moin“ in den Raum und hängte dann ihren Mantel an den Haken.

Erst einmal brauchte Luisa unbedingt einen Kaffee. Die letzte Nacht war ziemlich schlaflos gewesen und sie hatte viel Zeit damit zugebracht sich herumzuwälzen und nachzudenken. Morgens konnte sie diesen verpassten Schlaf dann natürlich ziemlich gut gebrauchen, was sie fast täglich zu einem Morgenmuffel werden ließ.

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Als sie sich umdrehte, stand Ben vor ihr und lächelte sie an. Er lächelte Luisa immer an. Seit ihrem ersten Tag, der inzwischen fast zwei Jahre zurücklag, schien sie bei ihm eine Sonderstellung eingenommen zu haben. Mit seinen sanften braunen Augen und den verwuschelten Haaren sah er zugegebenermaßen ziemlich hübsch aus und er war ein überaus hilfsbereiter Kollege. Trotzdem hatte sie sich nach ihrer letzten Trennung geschworen, sich erst einmal auf ihre Arbeit zu konzentrieren, statt sich in ein neues Abenteuer mit einem Mann zu stürzen. Sachte, aber bestimmt schob sie die Hand von ihrer Schulter und grinste zögerlich zurück. „Na, wiedermal etwas überambitioniert?“, fragte sie mit Blick auf die dampfende Tasse in seiner anderen Hand. Sie versuchte natürlich nur die Stimmung aufzulockern, aber für Ben musste es wie eine eindeutige Ablehnung geklungen haben. Das Lächeln verschwand aus seinen Augen und er drückte ihr den Kaffeebecher wortlos in die Hand. Luisa war bekannt für diese kühle Distanziertheit, die schon so manchen enttäuscht hatte. Sie sagte sich immer wieder, dass das genau die richtige Eigenschaft für ihren Beruf war und dachte daher nie länger darüber nach. Sie bemerkte aber wohl, dass Ben sich nicht unterkriegen ließ, auch wenn sie ihm noch so oft eine Abfuhr erteilte und das beeindruckte sie ein wenig.

Dass sie jetzt einen Kaffee in den Händen hielt, war für Luisa aber auch an diesem Morgen die Hauptsache und um nicht unhöflich zu sein, bedankte sie sich noch knapp, bevor sie sich an ihren Schreibtisch setzte und vorsichtig an dem Getränk nippte.

Noch war der große Raum ziemlich leer und außer ein paar leise geführten obligatorischen Telefonaten am Eingangstresen herrschte Stille. Luisa genoss es immer besonders, wenn sie eine der Ersten war. Langsam ließ sie den Blick durch den großen Raum schweifen. Am gegenüberliegenden Schreibtisch saß ihr Kollege und tippte hektisch in den Computer. Wie so oft hatte Luisa ihm wohl auch an diesem Tag die Laune verdorben, was ihr jetzt wieder aufrichtig leidtat. Leise seufzte sie und nickte dann den beiden Kollegen der Schutzpolizei zu, die gerade hereingekommen waren.

In den letzten beiden Tagen war es sonderbar ruhig auf dem Revier, die schlimmsten Vergehen waren ein gestohlenes Sparschwein, Fahrerflucht bei einem Unfall in St. Pauli und ein entlaufener Hund gewesen, dessen Besitzerin sich sicher gewesen war, dass es sich um eine Entführung handelte. Der kleine Dackel war natürlich nicht entführt worden, sondern in Behandlung eines Tierarztes, was die Frau aufgrund ihrer Demenz nicht mehr gewusst hatte. Und auch der Alltag der Kriminalbeamten plätscherte nur träge vor sich hin. Einen wirklich herausfordernden Fall hatte es schon länger nicht mehr gegeben. Meist waren es kleinere Delikte, bei denen es eine eindeutige Beweislage gab und die somit schnell abgeschlossen werden konnten. Die kriminalistischen Fähigkeiten des Teams um Luisa wurden so gesehen gar nicht mehr gebraucht.

Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, fiel die Eingangstür krachend ins Schloss und Nele stöckelte in den Raum.

„Es ist doch nicht zu fassen“, schimpfte sie und ließ sich Luisa gegenüber auf einen Stuhl fallen.

„Was“, sagte diese und war nicht wirklich interessiert. Nele war eher der Typ Mensch, der durchgehend positiv war und Party machte. Ihre Probleme sollten sich als nicht allzu grausam entpuppen.

„Meine Lieblingsbar wird neu verpachtet, und das obwohl es bei Malek doch immer so gemütlich war. Finden übrigens auch viele andere“, betonte sie.

Luisa verdrehte die Augen und konzentrierte sich lieber auf den Zettel, der an ihrem Monitor klebte: „Bitte bei Rolf vorbeibringen!“

Na toll. Rolf war auf dem Polizeikommissariat 14 der Spezialist für alles, was mit Technik zu tun hatte. Sah so aus, als hätte das uralte Modell vor ihr nun endgültig den Geist aufgegeben. Bei Gelegenheit würde sie Adrian erneut um eine modernere Ausstattung bitten müssen, was sie schon gefühlt zehnmal getan hatte.

„Hallo“, sagte Nele und schnippte mit ihren Fingern vor Luisas Gesicht herum. Sie lehnte jetzt neben ihrer Kollegin an der Tischkante.

„Ja, das ist unerhört“, antwortete Luisa und strich Nele mit gespieltem Mitleid über den kurzen blonden Bob. Nele schnaubte und gab ihr lachend einen Klaps auf den Oberarm.

„Das kannst du laut sagen“, kam es da aus dem Hintergrund. Es war Jonas, der Rechtsmediziner. In Sportklamotten. Was er hier tat, war den beiden allerdings ein Rätsel. Schließlich hatten sie keinen aktuellen Fall. Fragend schauten sie ihn an.

„Ihr habt nämlich eine neue Aufgabe“, verriet er und hielt eine Tüte hoch. Nele unterdrückte ein Würgen und auch Luisa fand den Anblick nicht gerade appetitlich. Durch das Plastik schimmerte ihnen ein blutiger kleiner Finger entgegen.

„Gibt es dazu auch eine Leiche?“, erkundigte sich Luisa.

„Das ist eine gute Frage. Ich bin vorhin zufällig auf den Finger gestoßen, als ich wie jeden Morgen an der Binnenalster joggen war.“

„Wie, auf ihn gestoßen?“, fragte Nele und verzog das Gesicht.

„Einige Passanten haben herumgeschrien, dass da ein Finger im Wasser schwimmt.“

„Und da zückst du mal eben ein Tütchen und nimmst den Finger einfach mit?“, platzte Luisa heraus und warf ihm einen fassungslosen Blick zu. „Du weißt schon, dass du nicht einfach so Material vom Tatort aufsammeln kannst, wenn kein Mensch Bescheid weiß oder?“

„Hätte ich ihn also einfach weitertreiben lassen sollen, auf die Gefahr hin, dass ihn irgendein Spaßvogel aus dem Wasser fischt? Oder noch besser: sein Hund?“ Er warf Luisa einen siegessicheren Blick zu und schob noch hinterher: „Außerdem war ich schon bei Adrian. Alles gut.“

Adrian Lemke war der Kriminalhauptkommissar im Team und ein ausgezeichneter Polizist mit recht sonnigem Gemüt. Luisa mochte und schätzte ihn. Dass er bereits in Kenntnis gesetzt worden war, beruhigte sie daher ein wenig.

„Hauptsache ihr fangt schnell mit dem Ermitteln an. Lange ist es noch nicht her, dass ich ihn gefunden habe. Und inzwischen reißen sich die Leute bestimmt darum, auch einen Blick in das blutige Wasser zu werfen“, spornte Jonas die Kommissarinnen an.

Nele schnappte sich schon ihren Pelzmantel und stolzierte Richtung Tür. „Wieso hast du es denn auf einmal so eilig?“, rief Luisa ihr nach. Sehnsüchtig schaute sie auf ihren Kaffee.

„Je eher wir eine Leiche finden, desto schneller haben wir es hinter uns. Also mach schon, Isa.“

Jonas zuckte mit den Schultern und sagte noch: „Gefunden habe ich ihn übrigens nahe der Lombardsbrücke. Rechterhand.“ Zur Betonung hob er die Tüte noch einmal hoch. „Jetzt fahrt schon!“

Dann verließ er mit seiner großzügigen Gewebeprobe den Raum.

Seufzend nahm Luisa einen letzten Schluck vom Kaffee und wappnete sich für die kalte Luft, die sie draußen erwartete.

2

Atemnot. Erstickungsgefühle. Hitzewallungen. Zittern. Angstschweiß.

Es läuft fast immer gleich ab. Ich sehe es kommen, aber kann nichts dagegen tun. Die Symptome erfassen mich mit solch einer Wucht, dass ich taumelnd zu Boden gehe und erst viel später wieder die Kraft aufbringen kann, mich aufzurichten.

Sie haben mich in ihrer Gewalt.

Ich habe mich schon oft gefragt, was der Grund dafür ist.

Immer wieder drängen sich diese Bilder in meine Gedanken. Obwohl es schon so lange her ist, lassen sie mich nicht los.

Ich sehe die Situation vor mir, als wäre es erst gestern passiert. Die ganze Verzweiflung kommt wieder hoch. Falsch, sie war eigentlich immer da. Ich habe es verdrängt, so gut es ging, aber irgendwann wird man eben wieder davon eingeholt.

Ich bin es leid, so darunter zu leiden. Ich bin müde und antriebslos. Ich habe keine Kraft mehr. Ich bin am Ende. Und was das Schlimmste ist: Ich kann nichts gegen meine erbärmliche Situation tun.

Seit Jahren leide ich nun unter den Erinnerungen und es sieht nicht so aus, als ob sich das in nächster Zeit bessern würde. Ich habe verschiedenste Phasen durchlaufen und hin und wieder hat es tatsächlich den Anschein gemacht, dass ich darüber hinweg war. Doch immer dann, wenn alles zurückgekommen ist, war es schlimmer als jemals zuvor. Es tut schrecklich weh, sich an Verluste zu erinnern und gleichzeitig mit den aufkommenden Schuldgefühlen zurechtkommen zu müssen.

Irgendwann stand fest, dass es so nicht mehr weitergehen konnte.

Ich weiß, dass meine Entscheidung richtig war. Ich brauche Abstand von meinem alten Leben. So viele Dinge müssen sich ändern. Und endlich habe ich den ersten Schritt gemacht.

Trotzdem ist es noch immer sehr anstrengend. Meinen Kopf habe ich schließlich immer dabei und somit endet die Qual nie. Das Vorstellungsvermögen ist der größte Feind des Menschen. Manchmal reichen schon Kleinigkeiten aus, die dann gewaltsam dieses Szenario heraufbeschwören, das man vergessen wollte. Plötzlich sieht man alles wieder genau so vor sich, wie es damals war.

Man kann einen Ort nur voll und ganz verlassen, wenn man sich auch dazu zwingt, an etwas anderes zu denken. Man muss versuchen, alle Brücken abzubrechen und seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Doch wer kann das schon, solange er noch einen Funken Sensibilität in sich trägt?

Mir persönlich fällt das nicht leicht.

3

„Luisa Koch, Kriminalpolizei“, stellte sie sich vor und hielt ihren Ausweis hoch. „Wer von Ihnen hat hier vorhin diesen sensationellen Fund gemacht?“

Aufgrund der vielen Menschen, die noch immer am Geländer lehnten und in die Alster starrten, waren Luisa und Nele nicht weit gekommen. Sie standen nach wie vor unter der Lombardsbrücke und hatten den Tatort somit noch gar nicht gesehen.

Die Leute brabbelten zwar einfach weiter, aber man konnte den angsterfüllten Gesichtern ansehen, dass sie wussten, von welchem Fund die Kommissarin sprach.

Auch Nele versuchte es: „Hier ist die Polizei, wir benötigen dringend Ihre Mithilfe.“

Als immer noch alle weiter durcheinander redeten, fing sie plötzlich an zu brüllen.

„Stopp! Jetzt erklärt uns mal jemand, was hier gerade passiert ist!“

Tatsächlich drehten sich jetzt drei Männer zu ihnen um.

„Ja aiso i woas ned wos genau Sie jetz woin, aber mia san grod do auf da Bruckn aufgwacht, wia do oana zum Schreia ogfanga hod“, sagte der Kleinste von ihnen.

„War a lange Nacht mit vui Alkohol“, fügte der andere zwinkernd hinzu.

Bayerische Touristen. Mit sehr starkem Akzent. Luisa hatte nur die Hälfte verstanden.

„Wer hat den Finger gefunden?“, fragte Nele. Sie wurde schon wieder ungeduldig. Eines ihrer Mankos, dass sie in ihrem Beruf schon oft behindert hatte.

„Der do“, sagte der dritte Bayer jetzt und deutete auf einen muskulösen Mann Ende 30. Er stand etwas abseits und hatte die Arme vor der Brust verschränkt.

„Schon besser“, freute sich Nele und setzte wieder ihr Lächeln auf. Sobald es um hübsche Männer ging, konnte sie mit der Situation mehr anfangen, ganz gleich ob es sich dabei um Verbrecher, Zeuge oder Passant handelte.

„Hagedorn, meine Kollegin Koch“, sagte sie zu ihm und deutete vage hinter sich.

„Könnten Sie uns schildern, was passiert ist?“

„Ich komme morgens immer an der Binnenalster vorbei. Beim Joggen.“

Er kratzte sich am Dreitagebart und schaute Nele nervös an.

„Und dann?“, fragte sie mit einer plötzlich aufgetauchten Engelsgeduld.

„Hab eine Pause gemacht.“

„Direkt am Wasser, nehme ich an?“

„Ja.“

Der Mann schien nicht besonders redselig zu sein. Aufmunternd sah Nele ihn an. „Und dann haben Sie den Finger gesehen?“

Er nickte leicht.

„Und wann war das?“, redete Luisa dazwischen und klappte ihren kleinen Block auf.

„So gegen halb sieben.“

„Dann bräuchten wir noch Ihren Namen.“

„Henri Falk.“ Er knetete seine Finger. Jetzt hatte er offenbar richtig Angst.

„Muss ich jetzt mit Ihnen kommen? Ich hab doch nichts getan oder?“

„Aber nein, Herr Falk, Sie haben natürlich überhaupt nichts verbrochen“, säuselte Nele. „Sie helfen uns doch nur.“

Dankbar atmete Herr Falk durch. Mit ihrem klasse Aussehen und ihrer liebenswürdigen Art konnte Nele die Männer immer beeindrucken. Und leider auch völligen Schwachsinn für wahre Worte verkaufen.

„Eigentlich haben Sie bisher ungefähr gar nichts gesagt und dadurch sind Sie nicht automatisch unschuldig“, mischte Luisa sich wieder ein. Es störte sie manchmal, dass ihre Kollegin so leicht zu beeindrucken war. Außerdem wollte sie diese Befragung nicht unnötig in die Länge ziehen. Professionalität war ihr auf jedem Gebiet sehr wichtig.

Nele strafte Luisa für ihren Kommentar mit einem finsteren Blick.

Nach weiteren zehn Minuten traf die Spurensicherung ein. Die Kommissarinnen versuchten, die Schaulustigen mit freundlichen Worten zurückzudrängen, doch sie bekamen nur empörte Schreie und kleinere Beleidigungen zu hören. Also schlugen sie einen etwas schärferen Ton an und warfen Begriffe wie „Behinderung der polizeilichen Ermittlungsarbeit“ in den Raum, was eine einschüchternde Wirkung hatte.

Als der Tatort mit Müh und Not endlich gesperrt war, verstummten auch die letzten klickenden Kameras und die Menschenmenge löste sich langsam auf. Die Kommissarinnen konnten also zur Tagesordnung übergehen.

„Gut. Wir haben einen Finger. Mitten in der Alster. Mehr wissen wir bisher nicht. Ziemlich wenige Anhaltspunkte also“, stellte Luisa fest.

Nele lächelte schon wieder in die Richtung des attraktiven Finders. Genervt räusperte Luisa sich. Schnell drehte sie ihren Kopf wieder herum und setzte ihre Unschuldsmiene auf.

„Schau ihn dir doch an, Isa!“

Luisa schaute unbeeindruckt nach drüben und sagte nichts. Also gab Nele nach:

„Das stimmt. Und wir wissen nicht, ob der Finger einer Leiche gehört oder einer ansonsten quicklebendigen Person.“ Dann lachte sie kurz auf. „Also entweder hat jemand brutale japanische Verstümmelungsmethoden angewandt oder einen Menschen komplett zerstückelt.“

„Beides nicht unbedingt angenehm“, kommentierte Luisa.

„Wie lange soll ich noch warten?“, fragte Herr Falk hinter ihnen.

„Ich nehme Sie kurz mit auf die Wache“, bat Nele an. „Und dann schicke ich dir den tollen Ben“ sagte sie an Luisa gewandt und zwinkerte ihr zu.

„Wieso willst du ihn plötzlich mitnehmen?“, fragte Luisa irritiert. „Wir müssen ihn nicht noch einmal befragen.“

„Und ein Protokoll brauchen wir auch nicht“, flüsterte ihr Nele grinsend zu. „Aber das weiß er ja nicht. Und ich werde die Fahrt nutzen, um mich mit ihm zu unterhalten.“ Sie schenkte Luisa ein breites verschmitztes Lächeln.

„Tu, was du nicht lassen kannst“, antwortete Luisa mit einem Schulterzucken. Nele nickte bestimmt und stöckelte mit Henri Falk im Schlepptau zum Auto.

„Erkundige dich auf jeden Fall, ob jemand als vermisst gemeldet wurde!“, rief Luisa ihr noch hinterher.

Die Kriminaltechniker konnten Luisa nur sagen, dass sie Wasserproben genommen hatten und das Team später informieren würden, falls es verwertbare Spuren gab. Luisa schickte sie nach Hause und setzte sich auf eine Bank am Ufer. Wieso warf jemand einen Finger ins Wasser? Könnten vielleicht weiter draußen noch mehr Körperteile treiben? Und wer in aller Welt war zu so etwas fähig? Sie schüttelte die schrecklichen Gedanken schnell wieder ab und rief Adrian an.

„Luisa!“, meldete er sich. „Ben ist soeben aufgebrochen“

„Keine Ahnung, ob das vorerst was bringt. Wir wissen ja noch nicht einmal, wem der Finger gehört“, seufzte Luisa.

„Da kann ich dir vielleicht weiterhelfen: Wir haben zwar noch keine DNA-Analyse, aber ich habe vorsichtshalber die neuesten Vermisstenmeldungen überprüft: es war nur eine einzige dabei, die hier eine Rolle spielen könnte. Eine Frau vermisst seit vorgestern einen Angehörigen und es gibt bisher keine Anhaltspunkte.“

„Okay, wir schauen mal bei ihr vorbei. Wo wohnt sie denn?“

„Pelzerstraße 5, es handelt sich um eine circa 70-jährige Frau.“

„Alles klar“, sagte sie und legte auf.

Als sie Ben kurz darauf erspähte, ging sie ihm entgegen und informierte ihn, wo sie hinfahren würden.

„Andauernd besuchen wir Rentner“ scherzte er.

„Ja, aber diesmal könnte mehr dahinterstecken als eine Demenz“, gab Luisa zurück.

Insgeheim hatte sie aber ihre Zweifel daran. Das Ganze hörte sich für sie zu diesem Zeitpunkt nicht nach einer sonderlich spannenden Ermittlung an.

4

Um zur Pelzerstraße zu gelangen, mussten sie ein paar Blocks mit dem Streifenwagen zurücklegen. Wie so oft wurde auf der Fahrt nicht viel gesprochen. Luisa schaute viel lieber aus dem Fenster und beobachtete die vorbeiziehenden Geschäfte und Passanten. Sie genoss es, ihren Gedanken freien Lauf zu lassen, zumal sie die Gespräche mit Ben meistens als zu verhängnisvoll empfand.

Wenig später hielt der Wagen vor einem großen Wohnhaus. Beim Aussteigen blickte sie an der grauen Fassade hoch. Dem Zustand des Gebäudes nach zu urteilen wohnten hier nicht allzu wohlhabende Leute. Ben durchsuchte schon die Namensschilder neben der Tür.

„Renke, da ist es ja“, murmelte er zufrieden und drückte auf den dazugehörigen Klingelknopf. Er wusste also sogar einen Namen, was durchaus hilfreich war. Luisa hatte gar nicht daran gedacht, dass es verschiedene Wohnungen geben könnte. Kurz darauf ertönte ein Summen und Ben stieß die Glastür auf. Er hielt sie einer aus dem Haus kommenden Frau auf, die pinke Strähnchen im Haar hatte und ein schreiendes Baby auf dem Arm trug. Sie schaukelte das Kind unruhig hin und her und versuchte gleichzeitig, sich eine Zigarette anzuzünden. Bedauernd schaute Luisa den beiden hinterher und ging dann hinter Ben die Treppe hoch.

Frau Renkes Wohnung lag gleich im ersten Stock. Vor der Tür lag ein zerschlissener Schuhabtreter mit kitschigen Katzen darauf. Die alte Dame hatte bisher nur einen Spalt breit geöffnet und lugte misstrauisch zu den Besuchern nach draußen.

„Wir sind von der Kriminalpolizei“, fing Ben an und hielt lächelnd seinen Ausweis hoch. „Sie haben uns wegen einer vermissten Person verständigt.“

Die Frau schien sich zu erinnern und schloss die Tür. Ben warf Luisa einen verwirrten Blick zu. Frau Renke nahm aber wohl nur die Kette heraus, um kurz später ganz zu öffnen. Eine relativ magere Frau stand in der Tür. Ihre blasse faltige Haut bildete einen starken Kontrast zu ihrer auffälligen Kleidung: Sie trug einen lila Wollpullover, eine blaue Jogginghose und rote Filzpantoffeln. Die dünnen grauen Haare hatte sie zu einem nachlässigen Zopf zusammengebunden.

„Na, dann kommen 'Se mal rein“, meinte sie und ging voran in ein spärlich beleuchtetes Wohnzimmer. Im Hintergrund lief leise der Fernseher. Luisa ließ den Blick kurz durch den Raum schweifen: Das durchgesessene Sofa war bedeckt von Wollknäueln und Stricknadeln. Eine halbfertige Decke lag daneben, an der Frau Renke offenbar zurzeit arbeitete. Auf dem Esstisch stapelten sich benutzte Teller und ungeöffnete Briefe. Ein Wäscheständer stand mitten im Raum.

Mit einer kurzen Handbewegung bot Frau Renke die herumstehenden Stühle an. Während Ben sich mit einem dankbaren Lächeln setzte, blieb Luisa lieber stehen. Sie mochte es nicht, sich bei fremden Leuten wie ein richtiger Gast zu benehmen.

„Erzählen Sie uns doch einmal genauer, wen sie vermissen und seit wann.“

„Ach, der Paul, mein Junge“, seufzte sie und nestelte an der Wolle herum, die sie wieder auf den Schoß genommen hatte. „Seit zwei Wochen hab ich den schon nich mehr gesehen“, sagte sie.

„Paul? Ihr Sohn?“, hakte Luisa nach.

„Mein Enkel. Eltern hat der keine“, sagte die Frau mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Wissen 'Se, der wohnt hier eigentlich. War zwar immer 'n Kerl, der viel unterwegs war, aber so lang dann doch nich.“

Sie steckte sich mit zitternden Händen eine Zigarette an. Erst jetzt fiel Luisa der stehende Rauch im Zimmer auf.

„Wieso haben Sie sich erst vorgestern bei der Polizei gemeldet?“

„Der Junge is doch erwachsen. Ich dachte, der wird schon wissen, was er tut.“

Luisa und Ben wechselten einen besorgten Blick.

„Was können Sie uns denn über Ihren Enkel sagen? Haben Sie eine Idee, wieso er weg ist und wo er sein könnte?“, bohrte Ben nach.

„Ne, das is es ja. Keinen Schimmer“ antwortete Frau Renke gleichgültig und widmete sich wieder ihrer Handarbeit.

Irgendwie schien sie sich keine allzu großen Sorgen zu machen. Das beunruhigte Luisa ein wenig. Jeder sollte ihrer Meinung nach jemanden haben, der immer ein offenes Ohr hatte und sich kümmerte.

„Wohnt außer Ihnen und Ihrem Enkel noch jemand in dieser Wohnung?“, fragte Luisa.

Ohne aufzublicken, schüttelte die Frau den Kopf.

„Wir haben heute Morgen einen Fund gemacht. Es könnte durchaus sein, dass Ihr Paul etwas damit zu tun hat“, setzte Luisa sie in Kenntnis.

„Welchen Fund denn?“, fragte Frau Renke verwirrt.

Noch bevor Luisa etwas erwidern konnte, schaltete sich Ben ein. Er verstand sich darauf, besonders einfühlsam mit den Angehörigen der Opfer zu sprechen.

„Bestimmt hat das Ganze nichts mit Ihrem Enkel zu tun“, beruhigte er die Frau und warf Luisa einen warnenden, aber trotzdem milden Blick zu. „Zur Sicherheit wollen wir Ihnen aber kurz Speichel abnehmen, um eine DNA-Analyse vornehmen zu können.“

Frau Renke blickte ihn zwar skeptisch an, zuckte dann aber mit den Schultern und sagte bloß: „Na, wenn's der Polizei hilft.“

Als sie wieder draußen auf der Straße standen, tauschten sich die beiden Kommissare über ihren Eindruck aus. „Etwas gleichgültig, oder?“, meinte Luisa und blickte noch einmal zu dem Fenster im ersten Stock hoch, an dem sie kurz vorhin noch gestanden hatte. „Ja, durchaus“, pflichtete ihr Ben bei. „Wir sollten dringend beweisen, dass der Finger nicht zu ihrem Enkel gehört. Die Frau tut mir irgendwie leid.“

Auch Luisa fand den Lebensstil stark gewöhnungsbedürftig. Die Einsamkeit, obwohl so viele Menschen in diesem Haus auf engstem Raum lebten. Der kalte Rauch. Die unordentliche Wohnung. Und eine Großmutter, die nichts über das Leben ihres Enkels wusste. Es wunderte Luisa nicht wirklich, dass Paul Renke das Weite gesucht hatte.

Im Kommissariat war es noch immer sonderlich ruhig. Nele erledigte gelangweilt ihren Papierkram und kratzte ständig an ihrem roten Nagellack herum. Wie sie mit ihrer Arbeitseinstellung damals den Job bekommen konnte, wunderte Luisa jedes Mal aufs Neue. Sie saß ihr gegenüber und wartete auf einen Anruf aus dem Labor. Inzwischen war sie gespannt, zu wem der Finger wohl gehörte. In der Datenbank des Landeskriminalamts hatte es zur DNA und zum Abdruck des Fingers wohl keinen Eintrag gegeben. Dadurch war die Vermisstenmeldung von Frau Renke eigentlich der einzige Anhaltspunkt. Anhand ihrer Speichelprobe würde sich herausstellen, ob der Finger zu Paul Renke gehören konnte.

Adrian gesellte sich an ihren Tisch. Mit seinem weißen, schon etwas lichteren Haar sah er wie der Bilderbuch-Großvater aus. Nur seine wachsamen Augen deuteten darauf hin, dass in ihm mehr steckte, als sein Aussehen vermuten ließ.

„Neuigkeiten?“, fragte er in die Runde.

Nele hob nicht einmal den Kopf und schimpfte leise vor sich hin. Da Adrian sie gut kannte, schenkte er dem nicht viel Beachtung und ließ sie weiter murmeln. Irgendjemand musste schließlich auch die nervtötende Arbeit erledigen.

Da klingelte das Telefon. Luisa hob ab und meldete sich. Kurz wurde sie ruhig und schluckte. Als sie aufgelegt hatte, schaute Adrian sie neugierig an.

„Sieht so aus, als müsste ich Frau Renke mitteilen, dass ihr Enkel ermordet wurde. Oder zumindest verstümmelt.“

Adrian blickte Luisa mitleidig an und legte ihr kurz seine Hand auf die Schulter. Dann verschwand er wieder in seinem Büro.

5

Es tut so weh. Wieder einmal hat es mich eiskalt erwischt und zwingt mich in die Knie. Gerade kann ich nicht einmal mehr sagen, ob diese Schmerzen körperlich oder psychisch sind. Mein einziger Gedanke ist: Flucht. Ich muss entkommen, koste es, was es wolle.

Mein Atem geht schnell und ich sehe fast nichts mehr. Meine Schultern beben und ich kann nicht mehr gerade sitzen. Mein Herz rast und ich habe das Gefühl, zu ersticken. Ich muss weiteratmen!

Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen.

Gibt es nicht irgendeine Möglichkeit, von diesen Qualen erlöst zu werden? Ich muss sicherlich nur abwarten.

Tatsächlich beruhige ich mich langsam und erlange wieder Kontrolle über mich selbst. Ich befinde mich wieder in der Realität. Aber was ist das schon für eine Realität? Ich habe viele Jahre versucht, meine Erlebnisse zu verarbeiten. Geschafft habe ich es jedoch nicht. Jetzt lebe ich in einem Scherbenhaufen aus Gefühlen und weiß nicht, wann ich welche Emotionen hervorholen muss.

Ich habe vergessen, wie man sich richtig freut und wie man einen Sinn im Leben findet. Seit ich etwas angeschlagen bin, zieht mir jeder noch so kleine Einschnitt den Boden unter den Füßen weg; die großen hingegen lassen mich zweifeln, ob es überhaupt noch Sinn macht, weiterzuleben.

Mit der Zeit werden die ohnehin seltenen unbeschwerten Tage noch seltener und irgendwann bleiben sie ganz aus. Da ist es klar, dass man sich eines Morgens sagt, dass es so einfach nicht weitergehen kann. Und obwohl ich etwas verunsichert bin, muss ich meinen Plan durchziehen. Ich muss mich endlich befreien.

Jeder hat mich bereits aufgegeben. Anfangs wollten alle helfen, doch mit der Zeit wurde klar, dass ich ein hoffnungsloser Fall bin.

Dann war ich ganz allein.

6

Ben und Luisa machten sich ein zweites Mal auf den Weg in die Pelzerstraße. Wieder verlief die Autofahrt ohne ein Gespräch. Das Überbringen trauriger Nachrichten hatte Luisa noch nie gefallen und auch heute fiel es ihr schwer, als sie der alten Dame an der Haustür von ihren Erkenntnissen berichteten. Frau Renke ging wortlos zurück in die Wohnung und ließ sich wieder aufs Sofa fallen.

Die beiden Kommissare folgten ihr und blieben diesmal beide stehen. Jetzt war das Ganze schon eine Spur ernster.

„Is er wirklich tot?“, fragte sie mit traurigem Blick.

„Sicher können wir das natürlich nicht sagen, aber wir müssen davon ausgehen. Wir werden alles daran setzen, Ihren Enkel aufzuspüren“, sagte Luisa.

Ben fügte noch hinzu: „Es kann natürlich auch sein, dass wir ihn wohlauf finden.“

Frau Renke schien nicht sonderlich überzeugt davon zu sein. Gedankenverloren starrte sie auf ihre Hände.

„Wir bräuchten ein Foto von ihm“, setzte Luisa wieder an. „Für die Fahndung.“

„Ob ich da wohl eins hab?“, überlegte Frau Renke laut und schlurfte in die Küche. Sie wühlte eine Weile in einer Schublade herum und hielt dann ein Stück Papier hoch. Dann faltete sie es auf, starrte darauf und gab es an Ben weiter.

Auch Luisa war interessiert und blickte ihm über die Schulter. Man konnte einen relativ jungen, finster drein schauenden Jungen sehen. Er hatte strubbeliges schwarzes Haar und schöne Augen.

„Das nehmen wir mit“, sagte Ben und steckte es in seine Jackentasche.

„Einige Informationen brauchen wir aber trotzdem noch über ihn“, meinte Luisa und kramte ihren Block heraus.

„Naja, recht viel kann ich Ihnen nich sagen. War eher ruhig. Eigentlich immer nett zu allen.“

„Das heißt, es gibt niemanden, mit dem er Streit hatte?“

Frau Renke entfuhr ein Lachen. „Ich glaub, der hatte nich so viele Freunde. Ich kannte zumindest keine.“

Sie steckte sich eine Zigarette an und schaute aus dem Fenster nach draußen.

„Hatte er eine Freundin?“

„Früher mal. Is schon lang nich mehr. Natascha hieß die“, antwortete die Frau.

„Nachname?“

Frau Renke zuckte nur mit den Schultern.

„Können wir sein Zimmer sehen?“

Luisa und Ben wurden in ein kleines schmuddeliges Nebenzimmer geführt. Es war eher karg eingerichtet und sah nicht wirklich bewohnt aus. Nach Fotos oder persönlichen Gegenständen suchten sie hier vergeblich.

„Wie alt ist Paul eigentlich?“, wollte Luisa wissen.

„Da schäm ich mich jetzt aber“, seufzte Frau Renke, „aber ich würd sagen 25. Wissen 'Se, Geburtstage haben 'wa nich so oft gefeiert.“

Als sich die Frau umdrehte und wieder aus dem Zimmer ging, zog Ben eine Augenbraue hoch und sah Luisa misstrauisch an.

„Würden 'Se dann bitte wieder gehen? Hab noch zu tun“, war aus dem Wohnzimmer zu hören. Luisa und Ben verabschiedeten sich und liefen die Treppe hinunter nach draußen.

Irgendwie kam es Luisa komisch vor, dass Frau Renke so ungerührt wirkte. Der Enkel tat ihr ausgesprochen leid, was auch immer mit ihm geschehen sein mochte. Auch wenn sie es nicht so zeigen konnte, berührten sie die Schicksale anderer Menschen. Eine intakte Familie zu haben, schätzte sie in diesen Momenten immer sehr.

„Immer noch seltsam“, sprach Ben Luisas Gedanken laut aus, als er an einem Zebrastreifen anhielt.

Luisa nickte beipflichtend.

„Wir müssen die Ex-Freundin finden. Die Frage ist, wie wir das anstellen sollen.“

Sie schwiegen wieder.

Adrian hatte eine erste Lagebesprechung einberufen. Auch Jonas war anwesend.

„Schieß los, Lord!“, forderte Nele ihn auf, sobald alle da waren.

'Lord' nannte das Team ihren Rechtsmediziner aufgrund einer Legende. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts lebte ein gewisser 'Lord von Barmbeck' in Hamburg, der das Verbrechen zu seinem Beruf gemacht hatte. Er war angeblich stets adrett gekleidet und hoch angesehen bei seinen Bandenmitgliedern. Zu Jonas passte der Spitzname aus zweierlei Gründen: Zum einen teilten er und der richtige Lord ihren Nachnamen, Petersen. Zum anderen war auch Jonas ein piekfeiner Mensch, der nach Perfektion strebte und stets schicke Hemden trug. Besonders witzig wurde das Ganze natürlich dadurch, dass Jonas eigentlich gegen das Verbrechen arbeitete und nicht dafür.

„Wir können mit absoluter Sicherheit sagen, dass der Finger Paul Renke gehört. Aus den Proben der SpuSi ging jedoch nichts hervor. Auch unsere Taucher haben im näheren Umkreis der Fundstelle keine weiteren Teile seines Körpers gefunden.“

„Wurden auch die Brücke und die Promenade abgesucht?“

„Selbstverständlich. Leider nichts Auffälliges. Oder zum Glück.“

„Genau genommen sind wir also bisher nicht viel weitergekommen“, stellte Adrian grübelnd fest.

Ben meldete sich zu Wort: „Wenigstens haben wir seit ein paar Minuten die ungefähre Adresse seiner Ex-Freundin. Frau Renke rief an, da sie sich erinnerte, ihren Enkel einmal in der Niedernstraße abgeholt zu haben. Sogar das Haus konnte sie ein wenig beschreiben.“ Luisa war überrascht, dass Ida Renke sich nun doch noch Gedanken gemacht hatte. Vielleicht war ihre Gleichgültigkeit nur gespielt gewesen.

„Perfekt, dann könnt ihr das gleich übernehmen“, freute sich Adrian und deutete auf Nele und Ben. Die beiden nickten und verschwanden. Luisa blieb mit Jonas und Adrian zurück. Die drei sahen sich eine Weile ratlos an, bis Jonas sich verabschiedete und sich wieder auf den Weg in die Rechtsmedizin machte.

„Komm mal mit“, bat Adrian Luisa und winkte sie zu sich ins Büro.

Luisa setze sich vor ihn und betrachtete die vielen Fotos auf dem Schreibtisch ihres Vorgesetzten. Das aktuellste zeigte ihn mit seiner Frau in Norwegen.

Luisa hatte nicht sonderlich viel Lust auf dieses Gespräch, denn sie konnte sich schon denken, was er sie fragen würde.

„Wie kommst du mit dem Fall zurecht?“

„Gut. Wieso fragst du?“

„Weil du dich vielleicht zu sehr an etwas erinnert hast, das du vergessen wolltest“, setzte Adrian mit mitleidigem Blick hinzu.

Luisa ließ ihre Gedanken kurz in die Vergangenheit schweifen. Lange bevor sie ins PK 14 geholt worden war, hatte sie einen Job in Neumünster gehabt. Einer der schwersten Fälle dort hatte ebenfalls mit einer Vermisstenmeldung zu tun. Luisa war maßgeblich an den Ermittlungen beteiligt gewesen und ihr Team konnte die Person nicht rechtzeitig finden, bevor sie eine Todesnachricht erreichte. Der junge Mann hatte sich in einer abgelegenen Scheune erhängt.

Die Parallelen waren also unübersehbar. Doch Luisa wollte sich nicht von der Vergangenheit beeinflussen lassen. Ihre Arbeit war ihr wichtiger als alles andere und es stand für sie an erster Stelle, sie professionell und gelassen auszuführen.

„Falls es mich einschränken sollte, gebe ich dir Bescheid“, versuchte Luisa das Thema abzuhaken. Adrian schaute sie noch eine Weile prüfend an und nickte dann.

7

Luisa zeichnete gerade die einunddreißigste Blume auf ihren Block, als Ben auftauchte. Sofort sprudelte es aus ihm heraus: „Zuerst konnte uns niemand weiterhelfen. Dass fast alle Gebäude auf Frau Renkes Beschreibung passten, erschwerte die Suche noch. Nach einer Stunde machten wir also eine Pause, da wollte ein circa 50-jähriger Mann das Haus hinter uns betreten. Er trug einen Sack Katzenfutter und eine Orchidee auf dem Arm. Und endlich hatten wir Glück: Der Mann war tatsächlich gerade auf dem Weg in die Wohnung seiner Tochter Natascha. Morgen kommt sie aus dem Urlaub zurück.“

„Dann bleibt uns nur zu hoffen, dass du die Richtige gefunden hast.“

Ben starrte sie kurz an, bis Luisa begriffen hatte, wie mehrdeutig ihr Satz geklungen hatte. Schnell sagte sie: „Ich besuche sie morgen.“

Ben riss kurzerhand den Zettel mit der Adresse ab, drückte ihn seiner Kollegin in die Hand und drehte sich um. Zerknirscht sah Luisa ihm hinterher.

Am nächsten Nachmittag klingelte Luisa an der Wohnungstür, die Ben ihr beschrieben hatte. Der Name Engel stand daneben. Eine Frau um die 20 öffnete die Tür und obwohl sie sichtlich überrascht war, bat sie Luisa hinein.