Scheiß-Angst - Karina Spiess - E-Book

Scheiß-Angst E-Book

Karina Spiess

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Beschreibung

Reizdarm und andere P(r)obleme? #kackfluencerin Kiki hilft!

Karina alias Kiki ist online als Kikidoyouloveme unterwegs und hat sich innerhalb kürzester Zeit eine riesige Community aufgebaut. Die selbst ernannte »Kackfluencerin« leidet unter dem Reizdarm-Syndrom sowie Panikattacken und teilt auf ihren Kanälen alles rund um Stuhlgang, Durchfall, Blähungen, Darmerkrankungen, mentale Gesundheit & Co. Ihr Ziel: diese in der Gesellschaft so schambehafteten Themen zu enttabuisieren.

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Seitenzahl: 222

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Vorwort

Es geht

um die Wurst

Was dich in diesem Buch erwartet

Hey du! Ich bin Kiki, 25 Jahre alt, komme aus dem wunderschönen Hamburg und leide seit über zehn Jahren an einem Reizdarm sowie an Panikattacken. Viele Jahre lang habe ich mich für das alles extrem geschämt und mich nicht mehr vor die Tür getraut – zu groß war doch die Angst, ich würde mir in die Hose kacken. Freundschaften litten unter meinen Beschwerden und gingen teils deswegen auseinander, es erschien mir unmöglich, dass ich jemals eine richtige Beziehung führen können würde. Denn der Reizdarm und die daraus entstandene Angststörung bestimmten mein Leben und schränkten mich deutlich ein. Mein Leben als Jugendliche, in der Schule, an der Uni und mein jetziges Leben: Alles wurde und wird bestimmt durch starke Bauchkrämpfe, Durchfälle, Blähungen und Panikattacken.

Viele Jahre lang ging ich davon aus, ich wäre allein mit meinen Ängsten und Darmbeschwerden, weil einfach niemand in meinem Umfeld darüber sprach. Während meiner Jugend verbrachte ich viel Zeit auf Social Media, aber selbst dort sprach niemand über Darmbeschwerden oder Panikattacken. Ich fühlte mich allein, unverstanden und als würde ich übertreiben: „Stell dich nicht so an“, „Alle haben doch irgendwann mal Bauchschmerzen“, „Geh doch einfach aufs Klo“ – das sind Sätze, die mein Selbstwertgefühl viele Jahre lang immer kleiner werden ließen.

Ich entwickelte eine Scheiß-Angst.

Zum einen habe ich nun Angst vorm Scheißen, denn ich fürchte, immer und überall Durchfall zu bekommen, zum anderen die riesig große Scheiß-Angst, die sich in Panikattacken äußert.

Jedoch durfte ich in den letzten Jahren herausfinden, dass ich mit alldem eben nicht allein bin. Der Schritt, über meine Krankheit öffentlich auf Instagram (@kikidoyouloveme) zu sprechen, zeigte mir, dass ich ganz und gar nicht allein mit meinen Beschwerden bin: Knapp 4 Prozent der deutschen Bevölkerung leiden an einem diagnostizierten Reizdarm. Das sind rund drei Millionen Menschen – allein in Deutschland! Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen.

Also nein, wir sind nicht allein mit unseren Beschwerden! Ich möchte daher in diesem Buch offen übers Kacken, Furzen, über Durchfall und Verstopfung sprechen, möchte Einblicke in mein Leben und meinen Alltag mit Reizdarm und einer Angststörung geben und zeigen, inwiefern diese Krankheiten auch einen Einfluss auf meine Beziehungen haben. Damit möchte ich Betroffenen das Gefühl vermitteln, dass sie mit alldem eben nicht allein sind.

Das mache ich aber nicht allein: Die Ärztin Ekaterina (Katja) Spiess, meine Schwägerin, wird uns im Verlauf dieses Buches immer wieder durch medizinische Einordnungen einen Einblick darin geben, was in unserem Körper und unserem Darm eigentlich alles passiert. Ich habe schon etliche medizinische Ratgeber, Bücher und Artikel zu diesen Themen gelesen, aber sie waren alle nicht sonderlich verständlich: Sätze mussten mehrere Male gelesen werden, aber dennoch verstand ich nicht, was die Autor*innen mir jeweils eigentlich sagen wollten. Katja hingegen klärte mich über die Jahre über vieles auf und fand dabei ganz einfache Worte und Metaphern, sodass ich endlich verstand, was in meinem Darm vor sich geht.

Mache dir Notizen, markiere Sätze – wir wollen, dass du aus diesem Buch einen Mehrwert ziehen kannst. Einen Mehrwert, der zum einen dein Wissen über diese Krankheiten vertieft und zum anderen dir das Gefühl gibt, dass du nicht allein bist, sondern es viele andere mit ähnlichen Problemen gibt.

Außerdem wird es in dem Buch auch immer wieder Teile mit Platz zur Selbstreflexion geben. Nimm dir dafür gern ein paar Minuten Zeit, gehe in dich und schreibe deine Gefühle und Gedanken auf.

Bist du nun bereit für eine Reise in mein Leben mit vielen Höhen und Tiefen, vielen Tränen der Hoffnung und Trauer, vielen Kack-Storys und sehr persönlichen Einblicken sowie einer ganzen Menge (Scheiß-)Angst?

Kapitel 1

Der Anfang

Vor dem Reizdarm

Mein fünfzehnjähriges Ich – ein aufgeschlossenes, selbstbewusstes Mädchen, das wahnsinnig gern unter vielen Menschen ist, gern neue Erfahrungen sammelt, neue Menschen kennenlernt und möglichst wenig Zeit zu Hause verbringen möchte. Es kommt aus einem behüteten Umfeld, hat sowohl zu seinen Eltern als auch zum Bruder eine gute Beziehung, ist gut in der Schule und geht ziemlich problemlos durchs Leben. Das Mädchen ist immer unterwegs, sucht bei einem Anflug von Langeweile sofort nach einer neuen Beschäftigung, am besten mit möglichst vielen Menschen. Sie will die Welt erkunden und hat einen Kopf voller Träume.

Den Kopf voller Träume habe ich nach wie vor, leider kann ich das von allem anderen nicht mehr behaupten.

Nun kannst du dir vielleicht vorstellen, wie die fünfzehnjährige Kiki mit Tatendrang und Enthusiasmus ihre Eltern von der Idee überzeugte, sie für ein Auslandsjahr nach Amerika zu lassen. Und sie machte das ohne Ängste, Bedenken oder ein mulmiges Bauchgefühl. Schließlich hatten ihre besten Freundinnen das auch gemacht und nur Positives davon berichtet!

Ich suchte also voller Vorfreude nach Organisationen, mit denen ich mir diesen Traum erfüllen konnte. Erstellte PowerPoint-Präsentationen mit Orten, an denen ich mir vorstellen könnte, ein Jahr in einer völlig fremden Familie zu leben, zur Schule zu gehen und neue Freund*innen fürs Leben zu finden.

Ein alter Studienfreund meines Vaters, nennen wir ihn Manfred, lebte seit vielen Jahren in Los Angeles und schlug vor, dass ich bei seiner Ex-Frau und seinem Sohn Joshua wohnen könnte. Ich hatte Manfred und Joshua bereits während eines Familienurlaubs kennengelernt, wo wir uns sofort gut verstanden hatten. Los Angeles. Als ich das hörte, blendete ich alles andere aus und warf die potenziellen anderen Ziele über Bord.

In meiner Vorstellung lebte ich demnächst in einer wundervollen Gastfamilie, fand schnell neue Freund*innen in der Highschool, verliebte mich in einen Footballspieler und verbrachte meine Freizeit am Strand.

! Spoiler: In einen Footballspieler habe ich mich tatsächlich verliebt.

Für mich stand fest: Kiki goes Los Angeles. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich auf diese Zeit freute.

Drei Wochen vor meinem riesigen Abenteuer flog ich zur Familie meiner besten Freundin in die Türkei. Ganz allein, da sie und ihre Familie bereits seit zwei Wochen dort Urlaub machten, und über den Flug machte ich mir auch keine Gedanken, denn ich freute mich einfach auf eine intensive Zeit mit meiner besten Freundin, bevor ich sie ein Jahr lang nicht würde sehen können. Wir hatten eine wirklich enge Beziehung: Ich verbrachte teilweise ganze Ferienwochen bei ihr und wir durften auch während der Schulzeit unter der Woche beieinander übernachten. Wir waren unzertrennlich und ich war gespannt auf ihre Familie in der Türkei, die ich noch nicht kannte.

Leider fing ich mir einen Magen-Darm-Virus ein und verbrachte in dem Haus ihrer Großeltern ein paar Tage auf der Toilette und im Bett. Mir ging es schnell wieder besser, wir konnten also unseren Urlaub noch richtig genießen, bevor es wieder nach Hause ging und ich mich auf mein Auslandsjahr vorbereitete. Zu Hause plagten mich jedoch nach dem Urlaub immer wieder plötzliche Durchfälle, Bauchkrämpfe und Blähungen. Einmal waren die Schmerzen so schlimm, dass mich meine Mama auf der Toilette festhalten musste. Zum Glück bekamen wir noch vor meinem Abflug einen Termin beim Hausarzt. Wir hatten den Verdacht auf eine Laktoseintoleranz.

Schon als kleines Kind hatte ich immer wieder Darmbeschwerden im Skiurlaub gehabt. Wir verknüpften das mit der allmorgendlichen frischen Milch direkt vom hofeigenen Bauernhof. In diesem Urlaub hatte ich mir sogar mal mitten auf der Piste in die Hose gemacht. Meine Mutter tut mir bis heute bei dem Gedanken leid, dass sie meinen Schnee-Overall und mich in der Dusche sauber machen musste.

Auch in der achten Klasse, während eines Schüler*innenaustauschs mit einer Schule in Chicago, litt ich unter schlagartigen Durchfällen mit starken Schmerzen, wenn ich Mac ’n’ Cheese, Burger oder Frozen Yogurt gegessen hatte. Und da das wirklich das Einzige war, was es bei meiner Gastfamilie zu essen gab, ernährte ich mich drei Wochen quasi nur davon. Obwohl das nicht ganz stimmt, Pop Tarts habe ich auch unzählige gegessen: kleine, süße Kekse mit einer noch süßeren Füllung, die man sich im Toaster warm macht. Zusammenfassend kann man sagen: Drei Wochen lang ernährte ich mich unfassbar ungesund, dabei schmeckte es nicht nur miserabel, sondern gefiel meinem Darm eindeutig auch nicht sonderlich gut.

Ich erinnere mich noch gut an einen sehr unangenehmen Moment: Wir hatten in der Highschool Schulstunden, in denen alle Schüler*innen einer Klasse in der Aula frei arbeiten konnten. Es gab eine in meinen Augen völlig unsinnige Regel, dass man nur mit einem „toilet pass“, einem kleinen Zettel, den man sich um den Hals hängen musste, auf Toilette gehen durfte – immer nur eine Person. Wenn man ohne diesen „toilet pass“ in den Schulgängen vom (auch noch bewaffneten) Security Guard entdeckt wurde, musste man zum Direktor, das wollte ich unbedingt vermeiden.

Meine Bauchkrämpfe fingen an und ich musste unglaublich dringend auf Toilette. Ich wurde immer nervöser, fing an zu zittern, die Schmerzen wurden immer schlimmer, aber ich blieb sitzen und betete innerlich, dass endlich der „toilet pass“ frei werden würde. Als es dann endlich so weit war, versuchte ich möglichst unauffällig und normal die Aula zu verlassen, um dann durch die Gänge zur Toilette zu sprinten. Eins kann ich dir verraten: Das ging – wortwörtlich – fast in die Hose.

Auch zu diesem Zeitpunkt hatten wir bereits den Verdacht auf eine Laktoseintoleranz, ließen es aber nie offiziell abklären, da mein Leidensdruck zu Hause gering war und es mir nur in wenigen Situationen schlecht ging.

Kurz vor der Abreise wollte ich aber abklären, worauf ich gegebenenfalls während meines Auslandsjahrs verzichten sollte, um erneute Darmbeschwerden zu vermeiden. Ich machte eine Laktoseunverträglichkeitstest und siehe da: Er war positiv. Wir freuten uns, dass wir nun ganz offiziell wussten, woher die Beschwerden kamen. Meine Mama kaufte mir Lactase-Tabletten, die ich nehmen sollte, sobald ich laktosehaltige Nahrungsmittel essen würde. Ich war also für mein Auslandsjahr bereit.

Obwohl ich das Arrangement mit dem Studienfreund meines Vaters angenommen hatte, lief alles über eine Organisation, die im Vorhinein auch zwei Vorbereitungsseminare anbot, bei denen man zwei Wochenenden mit zwanzig anderen Jugendlichen in einer Jugendherberge verbrachte und sich auf das wohl aufregendste Jahr des bisherigen Lebens vorbereitete. Mir fiel schnell auf, dass alle anderen bereits stetigen Kontakt zu ihren Gastfamilien oder wenigstens bereits geskypt oder telefoniert hatten. Ich wunderte mich ein wenig, dass meine Nachfragen bei meiner Gastfamilie nach einem Kennenlerngespräch immer wieder ignoriert worden waren, aber die Vorfreude überwog und so stand ich mit fünfzehn Jahren am Flughafen und verabschiedete mich von meinen Freund*innen und meiner Familie. Ein paar Tränchen später freute ich mich einfach auf das bevorstehende Abenteuer. Wenn ich jedoch gewusst hätte, wie dieses Abenteuer enden wird, wäre ich niemals in das Flugzeug gestiegen.

Auslandsjahr mit Hindernissen

Wie ein Jahr in Amerika alles veränderte

Meine Organisation teilte die Austauschschüler*innen für die ersten drei Tage auf Gastfamilien auf, die nah beieinanderwohnten. Los Angeles ist riesig und wir hatten in den ersten Tagen gemeinsame Seminare, auch um uns untereinander besser kennenzulernen. Ich wurde mit einem anderen deutschen Austauschschüler, den ich bereits aus meinen Vorbereitungsseminaren in Deutschland kannte, einer Familie zugeteilt. Die Gastmutter Anna holte uns in einem großen Tesla ab. In mein Tagebuch schrieb ich: „Es hat sich angefühlt wie in einem Raumschiff!“ Wir fuhren nach Santa Monica und bogen in eine unfassbar schöne Straße ein. Rechts und links standen Palmen, eine Villa größer als die andere, es sah aus wie in einem Hollywoodfilm. Und auf einmal fuhren wir in die Auffahrt einer dieser Villen. Ich komme aus einem kleinen Ort bei Hamburg – Vorstadtfeeling, viele kleine Einfamilienhäuser, bloß nicht zu viel Protz. Was sollten sonst schließlich die Nachbarn denken?!

Hier aber tauchte ich für die nächsten drei Tage in eine andere Welt ein. Wir hatten eine Haushälterin, die uns morgens Frühstück zubereitete, ich hatte ein riesiges Zimmer mit eigenem Bad und verbrachte viel Zeit am hauseigenen riesigen Pool. Anna zeigte uns ein paar wunderschöne Spots in Santa Monica und wir aßen in teuren, edlen Restaurants. Als ich die Nummer 76 bestellte, schaute mich die Kellnerin an und flüsterte mir zu: „Honey, that’s not the number, that’s the price.“ Ich glaube, ich habe noch nie etwas so Teures gegessen.

An einem Nachmittag erkundete ich das Haus. Ich stand in einem riesigen Zimmer mit vielen Schallplatten an den Wänden und einer Vitrine voller verschiedener Trophäen. Ich dachte mir nichts weiter dabei, sondern war schlicht beeindruckt von diesem wunderschönen Haus.

Am nächsten Tag bot uns der Gastvater James an, mit ihm zur Arbeit zu kommen. Mich interessierte, was er beruflich machte, da wir das noch nie angesprochen hatten. Er verriet uns, er sei Komponist und wir könnten ihn ins Tonstudio begleiten. Nachdem wir durch das Security Gate gefahren waren, fragte ich mich: „Wo bin ich denn hier gelandet?“ Ich kann dir sagen, wo ich gelandet war: bei James Newton Howard höchstpersönlich – dem Komponisten der Musik von The Hunger Games, Pretty Woman, King Kong, Peter Pan, Emily in Paris und und und. Zwei Nächte hatte ich im Haus dieses Mannes verbracht, der unzählige Auszeichnungen gewonnen hatte und für mehrere Oscars nominiert worden war. Ich aber hatte keine Ahnung gehabt, wer da gerade vor mir saß und mit welchen Menschen dieser Mann arbeitete und befreundet war.

Diese drei Tage waren unglaublich beeindruckend und ich wäre unfassbar gern dortgeblieben. Am Abend des dritten Tages trafen wir uns mit der Organisation und den anderen Austauschschüler*innen am Hermosa Beach, um endlich unsere eigentlichen Gastfamilien kennenzulernen. Wir waren alle furchtbar aufgeregt.

Ich erinnere mich gut daran, wie alle ihre jeweilige Gastfamilie begrüßten, sich mit ihnen unterhielten, um dann gemeinsam zum neuen Zuhause zu fahren. Bei mir war das anders: Manfred, der Studienfreund meines Vaters, holte mich einige Stunden zu spät ab und erklärte mir, dass seine Ex-Frau noch nicht bereit sei, mich zu empfangen, und ich daher die ersten drei Wochen bei ihm wohnen würde. Er wohnte direkt in Santa Monica, auf einem großen Grundstück mit vielen kleinen Häusern, eins davon bewohnte er mit drei anderen Männern und einem sechzehnjährigen Pflegejungen. Mein Bett stand auf einem Dachboden ohne Zimmertür, dafür aber mit Ameisen als Mitschläfer. Auch das Bad, das ich mir drei Wochen lang mit vier fremden Männern teilen musste, war nicht abschließbar. Außerdem waren die Fensterscheiben hinter der Dusche kaputt und man konnte durch einige Stellen hindurchschauen. Ich fühlte mich unwohl. Es war das erste Mal in meinem Leben, das ich mich nicht sicher fühlte.

Eines Nachts hörte ich Schritte oben auf dem Dach, als würde jemand über das Dach rennen. Hin und her. Wie in einer Schockstarre blieb ich im Bett liegen, als ich begriff, dass ich selbst die Fenster zum Dachboden nicht von innen verschließen konnte – die Person auf dem Dach könnte also einfach in mein Zimmer kommen. Irgendwann war der Spuk zwar vorbei, aber in diesen Minuten dachte ich wirklich, dass ich jeden Moment überfallen werden würde. Schlafen konnte ich jedenfalls nicht mehr. Als ich am nächsten Morgen Manfred davon erzählte, erwiderte er lachend, dass dieser Mann in der Gegend schon bekannt sei und das häufiger vorkomme. Ich wollte mit niemandem darüber sprechen, wie unsicher ich mich dort fühlte; meinen Eltern sagte ich, dass alles gut sei, schließlich war es der Freund meines Vaters. Auch meinen Freund*innen gegenüber war ich unehrlich, denn ich wollte den Schein des „coolen LA-Austauschs“ wahren. Von den anderen Austauschschüler*innen hörte ich nur Gutes und so behielt ich mein ungutes Bauchgefühl erst einmal für mich.

Ich hatte das große Glück, dass eine Bekannte des einen Mitbewohners ein Praktikum in LA machte und auch kurze Zeit in einem der kleinen Häuser wohnte. Lilith war in meinem Alter, wir freundeten uns schnell an und ich verbrachte die meiste Zeit bei ihr. Wir erkundeten zusammen Santa Monica, die Strände, Restaurants und die süßen Boutiquen, gingen zusammen in die Universal Studios, schauten Filme und kochten. Unsere Leibspeise: Lachs mit Avocado und Salat, dazu Wassermelone und eingefrorene Weintrauben. Mit ihr kam endlich das Gefühl auf, das ich mir monatelang vorgestellt hatte: Kalifornien, Sonne, Salzwasser, leckeres Essen und unfassbar nette Menschen. Ich gewöhnte mich daran, ohne Zimmertür zu schlafen, kaufte mir im Dollar Store gegenüber ein Mittel gegen Ameisen und nutzte im Haus meiner Freundin die Toilette und Dusche. Auch der nachts über Dächer springende Mann tauchte nicht wieder auf – zumindest bekam ich es nicht mit. Der Sommer neigte sich dem Ende zu, auch wenn man das in Los Angeles gar nicht wirklich spürt.

Es war endlich Zeit, meine richtige Gastfamilie kennenzulernen, schließlich ging in ein paar Tagen die Schule los. Ich erinnere mich gut, wie ich den Wohnkomplex betrat, in dem ich nun ein Jahr zu Hause sein sollte. Es gab einen Pool, ein Fitnessstudio und die Wohnungen sahen neu aus. Der Wohnkomplex war ca. dreißig Minuten Fußweg entfernt von meiner High School und fünfzehn Minuten Fußweg entfernt vom Strand. Es schien alles so perfekt!

Dann lernte ich endlich meine Gastmutter kennen. Sie empfing mich mit einem belgischen Akzent und den „herzlichen“ Worten: „Hi Karina. Here you can find the broom (Besen) and the vacuum cleaner (Staubsauger). It would be nice if you cleaned the apartment.“ Sie zeigte mir mein Zimmer, in dem weder ein Bett noch ein Schrank stand.

Kate war mit ihrem Sohn Joshua vor Kurzem in die neue Wohnung eingezogen, weshalb es noch keine Möbel für mich gab. Es war also nichts vorbereitet und wir mussten erst einmal ein Bett für mich kaufen. Kates Empfang war nicht sonderlich herzlich und ich hatte in keinster Weise das Gefühl, dass sie sich auf mich gefreut hatte. So hatte ich mir das alles nicht vorgestellt. Meine Illusion einer Gastfamilie, die sich auf mich freute, mir die Kultur näherbrachte und gern Zeit mit mir verbrachte, zerplatzte schnell. Ich merkte, dass ich unerwünscht war, dass ich Kate zur Last fallen würde – auch finanziell.

Eigentlich war von der Organisation vorgeschrieben, dass Gastfamilien kein Geld von den Austauschschüler*innen erhielten, um zu vermeiden, dass sie des Geldes wegen fremde Jugendliche aufnahmen. Bereits am ersten Tag aber meinte Kate zu mir, dass ich monatlich für Essen, Strom und Wasser aufkommen müsste. Auch zur Schule müsste ich selbst laufen. Es gab keinen Bus, aber ich hatte auch kein Fahrrad oder etwas Ähnliches. Sie stellte von Anfang an klare Regeln auf: kein Kontakt zu Jungs, ich müsste mir eine Nachmittagsbeschäftigung suchen, damit ich nicht zu viel allein zu Hause sein würde, müsste gute Noten haben (auch wenn ihr das komplett egal sein könnte) und dürfe nicht zu spät nach Hause kommen.

Außerdem schrieb sie mir vor, ich solle mich sportlich betätigen. Sie sagte mir immer wieder, dass ich Sport machen müsste, damit ich fitter und durchtrainierter aussähe und eine Beschäftigung hätte. Ich war zu dem Zeitpunkt jedoch sehr dünn, fühlte mich nicht wirklich wohl in meinem Körper und diese Worte gaben mir ein ungutes Gefühl. Ich versuchte, mich mit der Situation zu arrangieren, fokussierte mich auf die schönen Aspekte: Ich ging jeden Tag an den Strand, verbrachte viel Zeit am Pool und lernte Joshua, der ein Jahr jünger war als ich, besser kennen. Wir verstanden uns sehr gut.

Nach ein paar Tagen in meinem neuen Zuhause waren die Sommerferien vorbei und die Schule fing an. Eine richtige Highschool, wie man sie aus Filmen kennt: mit eigenen Schließfächern, einer großen Mensa und sehr süßen Footballspielern. In Deutschland besuchte ich eine Schule mit ca. 950 Schüler*innen der Klassen fünf bis zwölf. Behütet und sicher. Meine neue Schule aber besuchten ca. 3200 Schüler*innen der Klassen neun bis zwölf. Du kannst dir vielleicht vorstellen, wie es sich anfühlt, als „Neue“ mit so vielen pubertierenden Teenager*innen zusammengeworfen zu werden – die reine Überforderung. Alle wussten, wer ich war. Die neue deutsche Austauschschülerin mit den langen blonden Haaren.

Ich erinnere mich noch gut an die Blicke meiner Mitschüler*innen, an die Flirtversuche der achtzehnjährigen Seniors und die ganzen ständig gestellten Fragen. In jedem Unterrichtsfach sollte ich mich vorstellen, von Deutschland und meinem Leben dort berichten. Man könnte meinen, ein fünfzehnjähriges Mädchen würde diese Art der Aufmerksamkeit genießen. Mich aber überforderte und stresste es nur. Ich habe mich nicht mehr behütet gefühlt, jedes Mal, wenn ich an den Jungsgruppen vorbeigegangen bin, hoffte ich, dass sie mich nicht wieder ansprechen würden.

Mir war es immer leichtgefallen, neue Menschen kennenzulernen, was mir auch hier wieder zugutekam, und ich fand schnell Anschluss an eine Mädelsgruppe, in der ich mich sehr wohlfühlte. Ich verbrachte nach der Schule viel Zeit mit ihnen. Das tat gut, denn ich war einfach nur froh, wenn ich nicht zu Hause sein musste. Es dauerte nicht lang, bis ich mich ein wenig in einen Footballspieler, Cedric, verguckt hatte. Ein großer, unfassbar hübscher junger Mann. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch nie einen festen Freund gehabt, geschweige denn im nüchternen Zustand einen Jungen so richtig geküsst. Wir haben sehr viel Zeit miteinander verbracht und lernten uns besser kennen. Jeden Freitag ging ich zu seinen Footballspielen, freute mich unfassbar, wenn er spielte und ich ihn anfeuern konnte. Danach kam er immer zu mir, umarmte mich vor gefühlt der ganzen Schule und ich war mir sicher: Das wird mein erster fester Freund. Diese Liebesromanze und Glücksgefühle hielten leider nur kurz an, denn Cedric fiel auf, dass er auch Gefühle für meine beste Freundin hatte. Und zufälligerweise fühlte sie das Gleiche. So musste ich meinen ersten kleinen Heartbreak erleiden. Ich kam zum Glück relativ schnell über ihn hinweg, suchte mir neue Freundinnen und kam immer mehr in der Schule an.

Zu Hause allerdings wurde es nur noch schlimmer: Nach dem plötzlichen Tod von Kates Mutter wurde sie immer und immer verletzender. Sie redete mich schlecht, drohte mir und unterstellte mir Sachen. Sie sagte mir regelmäßig, dass ich nicht hätte herkommen sollen, dass ich anstrengend sei und ihr zur Last fallen würde. Sie war wütend, laut und angsteinflößend. An Thanksgiving eskalierte die Situation. Sie wollte unbedingt, dass wir gemeinsam an dem sogenannten Turkey Trot teilnahmen. Einer Veranstaltung, bei der man einen Tag vor Thanksgiving viele Kilometer zu Fuß geht. Joshua und ich hatten keine Lust darauf. Sie akzeptierte, dass er aufgrund einer Fußverletzung nicht mitkommen würde, wurde bei mir aber immer ener-gischer. Wir stritten uns und sie wurde immer lauter. Diese Art der Kommunikation kannte ich von meiner Familie nicht, denn wir brüllten uns nie an. Meine Eltern vermieden Konflikte lieber, als diese auszudiskutieren, und so kannte ich diesen Umgang einfach nicht.

Ich war überfordert von der Situation und wusste nicht, wie man mit einer so wütenden erwachsenen Frau sprechen sollte. Irgendwann drohte sie mir, dass sie mich an den Haaren aus der Wohnung ziehen würde, wenn ich nicht an dem Turkey Trot teilnehmen würde. Ich schloss mich in meinem Zimmer ein, sie hämmerte gegen die Tür und schrie mich an. Dann hämmerte sie auch gegen Joshuas Tür. Ich rief Manfred an, sodass er Joshua und mich abholte. Lieber schlief ich auf einem Dachboden – wenn auch ohne Türen und wirkliche Fenster, dafür mit Ameisen und vier fremden Männern in einem Haus – als in der Wohnung dieser Frau. An diesem Abend beschloss ich, dass ich schnellstmöglich von Kate weg wollte. Ich hatte Angst vor ihr.

Die Organisation, mit der ich das Auslandsjahr gemacht habe, hatte allen Austauschschüler*innen eine Betreuungsperson zugeteilt, mit der man sich ab und zu traf und die nach dem Rechten schauen sollte. Beim ersten Treffen hatte ich mein ungutes Bauchgefühl noch für mich behalten. Bei unserem zweiten Treffen, das glücklicherweise eine Woche nach der Eskalation an Thanksgiving stattfand, schüttete ich ihr dann mein Herz aus und erzählte, wie es wirklich bei meiner Gastmutter war. Sie sagte zur mir, dass sie sich sofort nach einer neuen Gastfamilie umschauen würde und ich sie jederzeit anrufen könnte, sollte erneut so etwas passieren. Ich glaube an Schicksal, denn zwei Tage später erhielt ich einen Anruf einer potenziellen neuen Gastfamilie. Sie wollten mich in einer Kirche beim Schmücken des Tannenbaums kennenlernen. Ich war aufgeregt, ich wollte einen guten Eindruck hinterlassen, damit ich möglichst schnell von Kate wegkam. Und was soll ich sagen: Es war Liebe auf den ersten Blick. Abby, die Tochter der Familie, empfing mich mit offenen Armen. Sie war ein Jahr älter als ich und wir haben uns sofort unfassbar gut verstanden. Ich lernte auch die Mutter und den Vater kennen. Kennst du das, wenn Menschen eine bestimmte Energie ausstrahlen und du sofort ein warmes, wohliges Gefühl im Herzen spürst? So ging es mir hier. Meine Gastschwester erzählte mir im Nachhinein, dass sie abends zu ihren Eltern gegangen sei und gesagt habe: „Can we keep her?“

So stand also fest, dass ich am nächsten Wochenende umziehen konnte. Es war eine riesige Überwindung, Kate mitzuteilen, dass ich die Familie wechseln würde. Ich schrieb mir zuvor Stichpunkte auf, denn ich wollte ihr so gern mitteilen, welche Gefühle sie in den letzten Monaten in mir ausgelöst hatte. Ich fing schnell an zu weinen. Sie blieb kühl und distanziert, sagte, ich sei schwach und dass ich es im Leben mit meiner sensiblen, verletzlichen Art nicht weit bringen würde. Und ja, ich musste mir irgendwann eingestehen, dass ich ein extrem sensibler Mensch bin – worauf ich heute stolz bin.

Manchmal höre ich heute noch ihre raue, kühle Stimme, die mir in ihrem harschen Akzent sagt, dass ich nicht gut genug sei. Es ist der Wahnsinn, wenn man bedenkt, was für einen Einfluss diese Person auf mein Leben hatte. Ich denke, es liegt auch daran, dass ich in so einem verletzlichen Alter war, in dem ich wahnsinnig unsicher mit mir und meinem Körper war, in dem ich mich selbst finden musste, und noch nicht für mich einstehen konnte. Ich packte also meine vollbepackten Koffer und es fühlte sich gut an, als ich mich von dieser toxischen Person das letzte Mal verabschiedete.

Meine neue Gastfamilie, die Attigs, wohnten in einem großen Haus direkt am Strand. Ich bekam ein eigenes Zimmer mit einem großen Bett, einem Schreibtisch und einem richtigen Kleiderschrank – und einer Tür. Wir bauten innerhalb der ersten Woche eine extrem starke Bindung zueinander auf, unternommen vieles zusammen und aßen jeden Abend gemeinsam. Es fühlte sich ein wenig so an, als würde ich bei meiner eigenen Familie in Hamburg sitzen. Ich fühlte mich sicher, geborgen und wertgeschätzt. Vor allem meine Gastschwester Abby und ich verstanden uns auf Anhieb so gut und waren direkt auf einer Wellenlänge. Sie war wie die Schwester, die ich mir immer gewünscht hatte: Wir hatten denselben Humor, lachten unfassbar viel, schliefen in einem Bett und waren schnell unzertrennlich.

Meine Gastfamilie hatte eine Ranch, ungefähr drei Stunden außerhalb von Los Angeles. Alle zwei Wochen verbrachten wir dort die Wochenenden. Wir ritten auf den nicht sonderlich gut erzogenen Pferden aus (seitdem habe ich Angst zu reiten, denn diese Pferde hatten wirklich ihren eigenen Kopf), spielten mit den Welpen der Nachbarin, fuhren mit dem Quad durch die unfassbaren Landschaften und ich liebte jeden einzelnen Moment. Wir sprachen viel über die Erlebnisse, die ich in meiner vorigen Gastfamilie erlebt habe, ich erhielt Zuspruch, und vor allem meine Gastmutter baute nach und nach mein Selbstbewusstsein wieder auf.