Scherry - Adam Kuckhoff - E-Book
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Adam Kuckhoff

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Beschreibung

“Verflucht nochmal: Wenn zu einem Werk die zweiten Männter nötig sind, und sie weigern sich, es zu sein, was soll man da mit ihnen anfangen? Ich habe nie in das Lamento mit einstimmen können, wenn bei großen Ereignissen Menschen verbraucht wurden.” Der Schriftsteller, Publizist und Dramaturg Adam Kuckhoff (1887 -1943) verfasste seinen Débutroman „Scherry“ gegen Ende der Weimarer Republik. Die darin erzählte Begegnung mit dem fiktiven Clown Scherry und dessen Partner Doré darf als Hommage an das reale Vorbild Grock gelten – doch zugleich geht es um die Utopie der Gemeinschaft und deren alltägliches Scheitern im rücksichtslosen Kampf aller gegen alle. Das Scherry’sche Dilemma lässt sich nicht so einfach als Einzelfall abtun, Kuckhoff wollte den Text denn auch als Schlüsselroman seiner Zeit verstanden wissen. Anfang der Dreißiger Jahre schrieb er: “Im übrigen umfaßt das Thema des Scherry so ziemlich alles, was sich über das Verhältnis von Mensch zu Mensch, dem wirklichen DU, wie ich es nenne, von Mensch und Kunst, von Einzelnen und Masse, von Pseudoerlebnis und Realität sagen lässt”. Mit einem literaturhistorischen Nachwort des Herausgebers.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Adam Kuckhoff

Scherry 
 
Eine Begegnung

Edition Widergänger

         

Impressum
 
Copyright Ⓒ 2024
krautpublishing
Dr. Ansgar Warner
Rungestr. 20 (V)
10179 Berlin
Veröffentlicht überTolino Media
 
Herausgeben u.
mit einem Nachwort
versehen von
Ansgar Warner,
Text folgt der
1931 bei Rütten & Loening
verlegten Fassung
 
Coverabbildung:
Clown Grock (Berliner Scala, 1939)
Fotograf: Willy Pragher
Quelle:
Landesarchiv Baden-Württemberg
Abt. Staatsarchiv Freiburg
W 134 Nr. 010256b

(cc-by-3.0-de)

„Am Ende hängen wir doch ab Von Kreaturen, die wir machten.“  Johann Wolfgang von Goethe:Faust. Der Tragödie zweiter Teil

Wir fuhren durch ein abgelegenes Alpental, um die Zeit, wo die Natur für eine kurze Spanne wieder ein wenig sich selbst gehört. Wir fuhren unseren 4 PS, wie schon die ganze Fahrt über, in angemessener Geschwindigkeit, fern jenem Rasewahn, der allen Weg im Scheinziele vernichtet.

Und das nicht nur um unserer selbst willen. Der Führer und Besitzer des Wagens gehörte zu jenen selteneren Menschen, die als Besitzer eines Wagens noch nicht Besitzer der Landstraße zu sein glauben. Es sind das die Leute, die auch in Gemäldegalerien nicht laut reden, wennschon es bei einem Bild nichts zu hören gibt, also niemand durch Entzückungsausrufe oder fachliche Erläuterungen gestört werden kann; die in der Straßenbahn vor alten Männern und müden Arbeiterfrauen aufstehen, und die nun auch, weil es mit Recht für unanständig gelten würde, in Gesellschaft jemanden plötzlich mit einer Hand voll Staub zu beschmeißen, sich nicht für berechtigt halten, den Fußgänger und Radfahrer auf der Landstraße gleich mit einer ganzen Wolke zu überschütten.

Wir hatten am Abend vorher über dieses Thema eine lebhafte Auseinandersetzung gehabt: mit einem Autofahrer, der uns unterwegs im 80-Kilometertempo überholte und den wir später in unserem Nachtquartier wieder antrafen. Ein erzogener und offenbar herzensguter Mann, von auffallend warmer Rücksicht gegen die Seinen, Frau und zwei erwachsene Töchter. Mein Freund hatte, als wir behaglicher ins Gespräch gekommen waren, plötzlich mit der ihm eigenen, vielleicht ein wenig zu geraden Geradheit die Frage gestellt, wie ein Mann von so ausgesprochener und nicht nur äußerlicher Bildung es mit dieser Bildung vereinbaren könne, auf der Landstraße Menschen wie du und ich plötzlich als leblose Klötze oder Bäume zu behandeln; wo schon die Bäume unter ihrer gottsjämmerlichen Staubschicht jedem wirklichen Naturfreund das Gewissen schlagen ließen.

Der Mann war auf das peinlichste überrascht gewesen, und, ob er sich nun unter der Jähheit des Angriffs besonders versteifte — bis zum Schluß des in die Nacht hinein dauernden Gesprächs blieb er dabei, den Standpunkt meines Freundes für „ganz unmöglich“ zu erklären. Die Rücksicht auf den Nächsten habe ihre Grenze in den allgemeinen Bedingungen, unter denen wir lebten und über die wir nicht Herr seien. Jeder Fortschritt bringe natürlicherweise seine Nachteile mit sich, und vielleicht seien die sogenannten Schattenseiten gerade das, was den Fortschritt bewirke. Beispielsweise in unserem Falle könne nicht geleugnet werden, daß die Beanspruchung der Landstraße durch das Auto Anlaß geworden sei, die Straßen allmählich in besseren Stand zu bringen. Hätte wohl irgendeine dörfliche Gemeinde sich bewogen gesehen, für staubfreie Anlagen, wenigstens im Dorfbezirk, zu sorgen, wenn die kaum mehr aussetzenden Staubwolken nicht ganz unerträglich geworden seien? Diese Begründung befeuerte ihn so, daß er am Ende nicht weit davon entfernt war, den Autostraßenstaub als einen der größten Beförderer menschlichen Fortschritts zu feiern.

Mein Freund hatte — nicht ganz gerne — diese Ansicht der Dinge gelten lassen müssen. Es sei in der Tat so, daß die natürliche Trägheit des Menschen gemeinhin den schärfsten Stachel brauche, um einem Übel abzuhelfen. Aber berechtige das den, der dieses Übel zufüge, seine wohltätige Wirkung auf den anderen lobzupreisen? Fortschrittsbegeisterung sei hier nicht am Platze, eher ein bitteres Mitleid mit der menschlichen Natur, die überall jenen schärfsten Stachel brauche, um nur einen kleinen Schritt vorwärtszukommen.

Ob das nicht allzu weichlich empfunden sei? meinte der andere. Vielleicht! Und er, mein Freund, sei weit davon entfernt, auf dem Autostraßenstaub ein System des kosmischen Pessimismus zu errichten. Aber bestehen bleibe, daß den ethischen, das heißt gemeinschaftsfühlsamen Menschen in seinem Handeln nur die natürliche Rücksicht auf den Nebenmenschen bestimmen dürfe. Auch glaube er nicht, daß dadurch der sogenannte Fortschritt gehemmt zu werden brauche. Ein vernünftig fahrender Wagen wirbele auf staubigem Wege noch Staub genug auf, um die Anwohner und, in den Benutzern der Straße, die breitere Öffentlichkeit zu Verbesserungen zu bewegen. Übrigens komme es hier wie überall nicht so sehr auf das an, was dem andern an greifbar Unangenehmem zugefügt werde, als auf das Gefühl verletzter menschlicher Würde. Die namenlose Wut der Fußgänger gegen das Auto habe schon einen tieferen Sinn: Alle Demütigung, alle Mißachtung der Kreatur durch den Begünstigteren sei wie sinnbildlich zusammengefaßt in jenem Augenblick, wo der rücksichtslose Fahrer, selbst schon in weiter Ferne, minutenlang ein in Staub gehülltes oder mit Straßendreck bespritztes Wesen seinesgleichen hinter sich zurücklasse. Das schien unserem Gegenpart nun doch so übertrieben, daß er nicht darauf antwortete. Er holte noch die Entwicklung der Automobilindustrie hervor, die ohne gehörige Beanspruchung der Wagen nicht möglich gewesen wäre, worauf wiederum mein Freund nichts erwiderte. Der übliche stumpfe Gesprächsabschluß, man trennte sich höflich und ging zu Bett.

Ich hatte der Frage den Tag über unwillkürlich weiter nachgehangen. Selbstverständlich stand ich auf Seiten meines Freundes. Aber wenn mich das Gespräch über seine eigentliche Bedeutung hinaus beschäftigte, so lag das an einem einzelnen Wort, das gefallen war: „Weichlich“, ob das nicht vielleicht zu weichlich sei, hatte der Fortschrittsfreund gesagt, ohne daß es mich im Augenblick besonders berührt hätte. Aber nun stellte ich mir seine straffe, gesunde Gestalt vor, seine ritterliche Art gegen Frau und Töchter, und unwillkürlich sah ich zu meinem Freund am Steuer hinüber, wie er behaglich, aber, doch ja — ein wenig weich, den Wagen lenkte, immer im gleichen gemessenen Tempo, obwohl die Straße, herrliche Straße, menschenleer im Morgenglanze vor uns lag. Gewiß hatte er recht, aber hier war doch niemand, auf den Rücksicht zu nehmen gewesen wäre, und wenn wir auch die Landschaft so auf das vortrefflichste genossen — mein Gott, wir fuhren schon mehrere Tage, Berge sind am Ende Berge, und es hätte mich nicht eben gestört, diese einmal in schneller Verschiebung an mir vorbeigleiten zu sehen. Auch das hat seinen Reiz, auch das Gefühl der sausenden Fahrt hat seinen Reiz!

Ich fühlte mich schon ein wenig ungeduldig und ungerecht werden. Mir schien, daß die Kraft jener Überzeugungen durch die gerade, gemächlich durchfahrene Strecke leide. Einmal mußten wir jetzt ausholen, ein einziges Mal — aber nichts dergleichen geschah, wie ich wohl wußte, daß nichts dergleichen geschehen würde.

Denn mit einer gewissen Bosheit, deren ich mich vergebens zu erwehren suchte, klaubte ich jetzt andere Züge aus dem Wesen des Mannes da vor mir heraus, oder vielmehr, sie klaubten sich selbst heraus mittels jenes perfiden Magneten der „Weichlichkeit“ hieß. Wenn er recht hatte, aber nicht er recht hatte: weil er diese Straße nicht im 80-Kilometertempo fuhr, weil er überhaupt nie in das 80-Kilometertempo geraten konnte! Kommt es denn darauf an? Kommt es nicht nur darauf an, daß das Rechte geschieht, gleichviel wieso und von wem?

Übrigens, was doch aus seiner Frau, diesem prachtvollen unbedingten Menschen, geworden war. Fast so gerecht, so überall Rücksicht nehmend wie er ist sie jetzt. Weichlich — ja, er war weichlich.

In diesem Augenblick näherten wir uns einem der weit im Tal auseinandergezogenen Dörfer. Die Straße stieg ein wenig an ein paar Häusern vorbei zu einem Gehöft, das auf einem Wiesenhügel mitten im Tale lag. Ein bäuerliches Großanwesen, wie sie hier üblich sind, Wohnung, Scheune und Stall unter demselben Dach, das eigentliche Wohnhaus kenntlich an seinem blendend weißen Anstrich, den oft hübsche Bilder und Sprüche zieren. Ich las gerade an diesem in noch behaglicher gewordener Fahrt mit Vergnügen den echten Bauernspruch: „Es wünsch’ uns jeder, was er will, wir wünschen ihm nochmal so viel“ —als plötzlich Musik um die Hausecke zu mir herumfuhr. Eine Sekunde nur, kaum Zeit, des sonderbaren Charakters dieser Musik innezuwerden, und schon gab die Fahrt den Blick auf die Seite des Hauses frei: Ein Baumgarten jenseits des Holzzaunes, darin im Kreis eine Anzahl von Bauernjungens und -mädels, deren Gelächter man halb bewußt eben noch zwischen den Tönen vernommen hatte, die nun aber schweigend zu einer seltsamen Gestalt emporstarrten. Vor ihnen erhob sich nämlich in das grüne Gewölbe der Zweige hinauf ein Mann, in einen verschossenen, grünschwarzen, überall zu kurzen und zu engen Frack gekleidet, ebenso reichten die wie zusammengeschrumpften Hosen kaum bis zu den Knöcheln, während die Füße in zwei viel zu großen Stoffbabuschen steckten. Das Gesicht war clownartig geschminkt, eine Clownperücke auf dem Kopfe, in den Händen aber, hoch über den Kopf, schwang die Gestalt das Instrument, dessen Töne zu uns gedrungen waren: Harmonika beinahe, ein Bandonion, schwarz wie alles übrige und von sechs- oder achteckiger Form.

lch war mir bewußt, daß ich diese Wahrnehmungen nicht in dem kurzen Augenblick der Vorüberfahrt gemacht haben konnte, das war kein Sehen, sondern ein Wiedersehen, Wieder; erkennen eines unverlierbar Festgeprägten. Ich griff „halt halt!“ nach vorn zu dem Freunde, der eine neue Krümmung der Straße wie immer mit verdoppelter Vorsicht nahm und so von dem Vorgang nichts bemerkt hatte.

Augenblicks brachte er den Wagen zum Stehen.

Wer? Was? Nicht möglich! Im nächsten Augenblick standen wir auf der Straße und gingen den kurzen Weg zurück, ohne zu bedenken, wie unsere unvermutete und neugierige Ankunft vielleicht wirken würde. Und in der Tat: als wir an den Zaun herantraten, mit einer Zudringlichkeit, die nur durch unsere fassungslose Überraschung zu erklären war, dergleichen hier zu begegnen, verstummte das Spiel, einen Augenblick stand der Mann noch aufrecht, zu uns herübersehend, das Instrument niederhängend in der rechten Hand — um dann ruhig von seinem Stuhl herabzusteigen und, die wenigen Schritte hinübertuend, im Hause zu verschwinden.

Seine junge Zuhörerschaft blieb verlegen und nicht eben freundlich zurück, ohne daß wir, unserer Plumpheit zu spät innewerdend, eine Frage an sie zu richten wagten. Erst als wir wieder bei unserem Wagen standen und die Neugier den einen oder anderen Buben uns nachlockte — sie schienen zu wissen, daß es, für heute wenigstens, mit dem wohlfeilen Schauspiel zu Ende sei —, erkundigten wir uns vorsichtig nach den Bewohnern des Hofes, spürten jedoch sogleich in den Antworten noch etwas anderes als jene Zurückhaltung richtiger Bauernjungen, Gemisch aus Scheu und Stolz; und auch ein paar Erwachsene, ein alter Bauer, eine Bäuerin, hielten mit eingehenden Auskünften hinterm Berge, Der Brandelschmied sei das eben, der Hof, und, dem er jetzt gehöre, ein Herr aus der Stadt. — Ja, er wohne immer hier heraus — bis man beide Male mit einem „I komm scho“ einem ungehörten, wenigstens von uns ungehörten Ruf aus dem Hause zu folgen vorgab.

Was blieb uns übrig, als unseren Wagen wieder in Gang zu setzen und weiterzufahren, einige vierzig Kilometer, zum heutigen Ziel unserer Fahrt, dem Hauptmarktflecken der Gegend.  Wieder kam mir der der Gedanke an das gestrige Gespräch, als wir am Nachmittag in dem Landhaus unseres gemeinsamen Freundes, des Doktors, auf der Terrasse saßen, vor uns Berge und See, um uns jene ruhende Atmosphäre eines Kreises von Menschen, die in der Stimmlage zueinander passen.

Der Doktor war ein Studiengenosse meines Freundes, ich hatte ihn hei einem seiner gelegentlichen Besuche in der Stadt kennengelernt, gleich in herzlichem Einvernehmen mit ihm, so daß man schon, ohne das Wort zu sehr zu bemühen, von Freundschaft reden durfte. Was mich betraf, so war ich nur des Grundes dieser Freundschaft wohl bewußt: Ganz im Gegensatz zu mir, ein Wunschbild, das ich gleichwohl nie zu erreichen sicher war, gehörte er zu den glücklichen Naturen, die immer im Richtigen sind, begrenzt in Wirksamkeit und Gefühl, nicht aber aus Enge, sondern aus natürlicher Griffsicherheit für das ihnen am meisten Gemäße. Als junger Arzt, dem man eine bedeutende Zukunft voraussagte, dabei von ausgesprochener schriftstellerischer Begabung, hatte er sich zu allgemeinem Erstaunen hier draußen niedergelassen, jung verheiratet mit einer jungen Frau, und sich seitdem nicht mehr vom Flecke gerührt.

Unbegreiflich! Aber ich begriff es wieder in demselben Augenblick, wo er uns aus fröhlichem Kindergejuchze den Weg vom Haus hinunter entgegenkam und seine Frau oben still freundlich in die Türe trat, ich begriff es noch deutlicher, als wir dann zusammensaßen und er humorvoll und doch mit wärmstem Anteil von seiner Tätigkeit hier in der Gegend berichtete. Hier hatte ein Mensch eine Nebenbegabung mit sicherem Instinkt seiner eigentlichen Berufung dienstbar gemacht. Wie er die Menschen des Landes, seine Patienten, vor uns hinstellte, wie er mit Achtung von ihren alt überlieferten Hausmitteln sprach, denen er im gegebenen Falle oft den Vorzug vor seinen eigenen Quacksalbereien gäbe, wie er andererseits das Eindringen der modernen Zivilisation in die überkommene Volksmedizin bewertete, das dadurch bedingte Nachlassen ihrer „magischen“ Kraft, die Gefährdung des primitiven Instinkts — alles das zeugte von einer ursprünglich künstlerischen Intuition. So daß die hartnäckigen Klagen meines Freundes um jene ohne Folge gebliebenen dichterischen Versuche — alberne Schnakereien nannte sie der Doktor — mich kaum weniger ungeduldig machten als ihren längst darüber hinausgewachsenen Urheber.

Und merkwürdig: Wie ich unwillkürlich die beiden Männer vor mir miteinander verglich, wandte sich das Gespräch in einem Bogen zum Gegenstand des gestrigen zurück, nur antickend und gleichsam nur für mich.

Unser warmherziger Doktorfreund, der mit solch ausblühender Liebe von seinen Bauern-Patienten sprach, hatte es nämlich mit den Sommerfrischlern, nicht aus einer romantischen Ablehnung moderner Entwicklung, sondern aus natürlichem Haß gegen alles Verschrobene und Ungemäße. Der Sommerfrischler, das war nicht der einzelne, im grauen Takt der Städte erschöpfte Mensch, es waren die Herren und Damen, die in Lederhosen und Dearndlkostümen beim Kramerwirt zum Radio Foxtrott tanzten und sich zwischendurch echte Platteltänze vorführen ließen, der Sommerfrischler, das war das arrogante hochnäsige Pack, das hier an den vergehenden Formen eines alten Volkstums seine sentimentale Befriedigung suchte. Das Wort „Klasse“ fiel nicht, auch lagen unserem Doktor aus Wahl seiner Natur die städtischen Entwicklungen zu fern, aber kein „Roter“ hätte mit ingrimmigerer Freude erzählen können, wie er eine solche Gesellschaft recht absichtlich mit seinem Wagen in eine Schütterwolke von Staub gehüllt habe, als er ihr auf der Fahrt zu einem der Nachbardörfer unversehens begegnete. Da war es also wieder, unser Gespräch von gestern, und wie mir schien, in einer neuen und bezeichnenden Wendung. Aber im gleichen Augenblick verknüpfte sich mir damit die Erinnerung an jenen Augenblick auf der Landstraße, ich sah wieder das Dorf, die schwarze Gestalt unter den Bäumen. Wo war bessere Gelegenheit, über die merkwürdige Begegnung Näheres zu erfahren? Überrascht, aus ingrimmig herzlichem Gelächter, sah der Doktor auf, als ich meine Frage an ihn richtete.

„Was? Sie haben Scherry gesehen? Ja, natürlich ist er es, wie könnte man ihn verkennen? Ich hätte Ihnen längst erzählen können, daß er dadrinnen haust, wenn ich nicht vielleicht schon stillschweigend mit in dem Bunde wäre, den er da oben um sich geschaffen hat. Was hat der Mann im Anfang für Mühe und Kraft aufwenden müssen, ehe ob ihm gelungen ist, die öffentlichen und privaten Störenfriede, die naiv und bewußt Unverschämten von sich abzuhalten, bis die Aussichtslosigkeit des Unterfangens allmählich auch die Abgebrühtesten mürbe machte. Und wer weiß, ob es ihm bis heute gelungen wäre, wenn da nicht unverdeckt jene freiwillige Leibgarde einen regelrechten Wall des Schweigens um das Haus auf der Höhe errichtet hätte, den nur hin und wieder sprechende Blicke oder ein paar niedersausende Bauernfäuste zu verstärken brauchten. Ja, denken Sie sich das einmal recht: Ein Clown, ein Faxenmacher, wenn auch ein Faxenmacher von Weltruf, tritt da unter unsere Bauern, und in Halbjahresfrist haben sie begriffen, daß diesem Mann gegenüber anderes geboten ist, als ihn, beim Fehlen eines namhaften Touristenberges, zum Hauptanziehungspunkt des Ortes zu machen – oh, sie bringen das in anderen Fällen ganz schön fertig, unsere Bauern! –, haben sie besser als alle Reporter, Kritiker und sonstige Verehrer ihm die rechte Ehre zu erweisen gewußt: seine gewollte Abgeschlossenheit vor der Welt zu achten und notfalls zu verteidigen. Vielleicht hat Scherry in seiner ganzen umjubelten Laufbahn keinen solchen Erfolg davongetragen, und ich glaube, daß er sich dessen bewußt ist und daß ihn keiner mehr freut.“ Wir erfuhren weitere Einzelheiten. Scherry hauste dort oben mit seiner Frau — Kinder hatte er nicht — und dem unzertrennlichen Partner seiner „Nummer“, dem Geigenvirtuosen, der, an sich nicht sonderlich sympathisch, mir bei wiederholtem Sehen einen gewissen verstehenden Anteil abgewonnen hatte. Sie lebten ein höchst beschauliches Dasein, das sich nach Maßgabe des Fremdenverkehrs ausdehnte und zusammenzog, in der Hauptfremdenzeit sich fast ausschließlich auf das Haus und den rückwärtigen Teil des breit von der Seite herumgreifenden Gartens beschränkte; vorher und nachher, wie eben jetzt, sich in freierer Bewegung auf Wanderungen, Bergtouren und so weiter entfaltete. Selbst zum Ort hier mochten die drei dann einmal herüberkommen und ganz menschlich im Cafe am See ihren Nachmittagskaffee einnehmen. Das war denn auch die hohe Zeit für das Dorf und die Dorfjugend insbesondere – wir hatten es ja erlebt –, Teile der täglichen Nummer wurden dann gelegentlich ins Freie verlegt, alt und jung durfte sich dazu einfinden und fand sich ein, die Erwachsenen nicht minder gern als die Kinder, wenn Scherry es nicht manchmal so einrichtete, daß es nur die Kinder sein sollten.

„Die tägliche Nummer?“ fuhr ich im ersten Augenblick, wo es ziemlicherweise anging, dazwischen. Ich saß offenbar mit so verdutztem Gesicht da, daß die drei in ein herzliches Gelächter ausbrachen.

„Es ist schon so, Scherry bleibt auch nach dem Rücktritt von der öffentlichen Bühne Scherry, und der ganze Unterschied gegen vormals scheint darin zu bestehen, daß er sich zu der immer gleichen Nummer nun auch das immer gleiche Publikum oder gar keins gewählt hat. Man kann dergleichen wohl ebensowenig lassen wie das Tabakrauchen, wenn man sich einmal daran gewöhnt hat.“

Ich konnte nicht umhin, den Doktor in diesem Augenblick ärgerlich banal zu finden. Freilich, wie sollte er eine andere Erklärung suchen, wenn ihn die Frage selbst nie tiefer beschäftigt hatte! Mich aber hatte sie tiefer beschäftigt, und zwar aus einem besonderen Grunde.

Als seinerzeit die Nachricht von Scherrys Abschied in den Zeitungen erschien, durchzuckte es auch beim Lesen, daß damit ein eigentümliches Vorgefühl überraschend bestätigt wurde. Ich hatte ihn kurz vorher nach langer Pause wieder einmal gesehen, und sonderbar: während des ganzen Abends ließ mich der Gedanke nicht los, es sei das letztemal; obwohl in jenem Zeitpunkt noch nichts auf den demnächstigen Entschluß hindeutete. Freunde, denen ich später von diesem Vorgefühl erzählte, wußten eine einleuchtende Erklärung. Es sei ihnen ähnlich gegangen. Scherry habe doch deutlich nachzulassen begonnen, es sei nicht möglich, dieselbe Nummer Jahr für Jahr zu bringen, ohne allmähliches Absinken in eine spannungslose Handwerklichkeit, und, feinfühlig wie er sei, entschließe er sich zu dem einzig Richtigen: noch auf höchster Höhe, so, daß nur die Hellsichtigsten die kommende Neigung spürten, im Gedächtnis der Mitwelt, in der Überlieferung an die Nachwelt zu verbleiben.

Ich hatte darauf geschwiegen, weil ich mit vollkommener Sicherheit fühlte, daß dem nicht so war. Nicht nur war mir im Vergleich mit früheren Malen kein Niedergang bewußt geworden, vielmehr erschien mir sein Spiel erst jetzt zur letzten künstlerischen Reife gelangt. In der Tat, er gab scheinbar immer noch dasselbe, festgelegt bis in die kleinsten Nuancen, ja, er gab weniger. Aber gerade in diesem Weniger steckte es. Steigerte er früher einen künstlerischen Effekt durch Wiederholung, so daß das Publikum in gekitzelter Erwartung kaum noch ein und aus wußte, so brachte er ihn jetzt nur einmal, wodurch zwar der Effekt selbst einbüßte. Aber diese Einbuße war offensichtlich, für mich wenigstens offensichtlich, gewollt. Statt einer gehäuften, knatternden Folge von Teilwirkungcn schwang sich jetzt eine große Linie durch das ganze Spiel, der alles Einzelne untergeordnet war, wurde der tiefer zugrunde liegende Sinn zur Dominante, jenes unfaßbare Etwas, immer schon vorhanden und gefühlt und um dessen Deutung ein Heer von Schreibenden sich gemüht hatte. Nein, wenn das Niedergang war, so lebe der Niedergang! Eher gab es von hier aus kein Weiter, und mit der Erklärung hatte ich mich auch nach Einigem zufrieden gegeben.

Und nun hörte ich, daß die Nummer weiterbestand; Tag für Tag, wenn das Gerücht zutraf, weiterbestand. Denn was verschlug es, oh sie vor einer Schar von Bauernjungen und -mädels, ob sie vor schweigenden Wänden geschah?

Könnte man nicht doch einmal auf irgendeine Weise Zeuge des Schauspiels werden?

Nein, das sei ganz unmöglich. Er selbst als Bekannter des Hauses würde nicht wagen, die Bitte zu stellen, und heimliche Versuche würden bei der Wachsamkeit des Walles dem Betreffenden schlecht bekommen.

Wie, er kannte das Haus, er kannte Scherry persönlich? Nun, als Arzt: Von drei Menschen nebst Bedienung kann der eine oder andere nicht umhin, im Laufe mehrerer Jahre einmal krank zu werden. Übrigens war es niemals Scherry selbst, der Hausgenosse, seltener einmal die Frau, deren beider Wohlsein ihm offenbar mehr als das eigene am Herzen lag, wie er überhaupt im Verkehr von großer menschlicher Liebenswürdigkeit und Wärme war.

Ich besann mich einen Augenblick. Ich war mir bewußt, daß die Bitte, die ich zu tun im Begriffe stand, höchstwahrscheinlich eine entschiedene Ablehnung erfahren würde. Auch wußte ich mir keine Rechenschaft darüber zu geben, was mich zu dieser Bitte berechtigte. Ich hatte zu Scherry kein anderes Verhältnis als die Tausende, die er Abend für Abend mit seiner Kunst beschenkte, ich hatte auch nicht den mindesten Anlaß, auf Grund meiner Freundnachbarlichkeit zu einem Dritten die Stille, die er mit betontem Willen um sich zog, zu verletzen. Was wollte ich ihm denn sagen? „Ich möchte Sie gern kennenlernen“, oder „Sagen Sie mir bitte, was Sie damals eigentlich zur Abkehr von der Bühne bewogen hat“, Worte, wie sie wohl allen auf den Lippen gelegen hatten, die sich mit tausend Mitteln und Mittelchen bemühten, zu ihm zu dringen.

Dennoch, da saß das in mir als eine fixe Idee, mit der ganzen Verbohrtheit , Unwidersprechlichkeit, Entschlossenheit einer fixen Idee: daß ich den Mann kennenlernen, daß ich mit diesen oder anderen Worten genau die Frage an ihn richten wollte. Und so sprach ich die Bitte aus, von der ich wußte, daß sie angeschlagen werden würde. Sie wurde abgeschlagen. Der Doktor, wie aus sorgloser Heiterkeit kühl zurückgescheucht, erklärte kurz und trocken, es könne selbstverständlich nicht davon die Rede sein, daß er, und erst recht in seiner Eigenschaft als Arzt des Hauses, jemandem jemanden zuführe, von dem er im voraus wisse, daß er unwillkommen sei. Mein Freund sah zu mir herüber, als ob er fassungslos an mir irre werde. Man schwieg – sehr peinlich für mich –, der Doktor mochte bereuen, sich so eingehend über Scherry ausgelassen zu haben. Zum Glück blieb die Kraft meiner fixen Idee über mir. Ich erklärte, daß ich den Standpunkt des Doktors sehr wohl verstehe und keinen Augenblick verüble, wie ich ihn eigentlich erwartet habe, daß mich nicht eitle Neugier treibe — obwohl ich Mühe gehabt hätte zu sagen, was denn sonst — und daß ich im übrigen versuchen werde, meine Absicht ohne fremde Hilfe zu erreichen.

Der Abend verlief dann nach diesem Zwischenfall noch unerwartet angenehm. Man wandte die Dinge ins Komische, wie denn auch ein fix Besessener immer ein komischer Gegenstand ist, man neckte mich ob meiner Hartnäckigkeit und der mir zuversichtlich bevorstehenden Abenteuer, immer vielleicht doch in dem Gedanken, daß ich spätestens zum Abend von meiner Laune zurückkommen werde. Bis der Doktor auf ein Wort von mir — oder war es nur der Tonfall? einen schrägen Blick zu mir herüberschoß. Es sei denn das beste, wenn ich schon die Nacht drüben im Gasthof verbringe, man könne mich gerade noch bis zur Wegkreuzung hinauffahren, von wo ich dann als unauffälliger Tourist meines Weges zum Dorfe weiterwandern sollte.  Mir war, als mich die beiden eine Stunde später unter Scherzworten an der bezeichneten Stelle abgesetzt hatten und der Wagen mit den Zurückwinkenden hinter der nächsten Talkrümmung verschwand, mit einem Mal recht katzenjämmerlich zumut. Wozu dieses aussichtslose Abenteuer, bei dem ich mich nur lächerlich machen würde? Hatte es mich noch gestern im geringsten beschäftigt, warum Scherry damals von der Szene abgetreten war? Man läßt sich unversehens durch eine Stimmung, durch einen vorübergehenden Anteil ergreifen, der nur durch die Nähe des Gegenstandes plötzlich so hoch wächst, man erhält den letzten kleinen Anstoß durch etwas ganz und gar Nebensächliches, eine unbeherrschte Voreiligkeit, von der man dann nicht mehr zurückkann Die Antwort des Doktors ein klein wenig weniger schroff, ob ich dann auch hier im Straßenstaub stünde, widerwillig, ja: widerwillig, verpflichtet, eine Reihe klug gefügter Handlungen zu begehen, zu einem Zweck, in dem ich mit bestem Willen keinen Zweck mehr entdecken konnte?

Ja, erhebe du dich nur verächtlich über den Reporter, den Sensationsmenschen! Der weiß am Ende, was er will, er hat, wenn es gelingt, seinen Lohn dahin: in einem fetten Zeilenhonorar oder auch nur im unangekränkelten Gefühl des Jägers, der sein Wild erlegte. Gestehe nur, daß deine größte Sorge ist, es könne dir unversehens glücken, du säßest vor dem Mann in einer glatten Allerweltsunterhaltung bis zum freundlich leeren Abschied. Und? Und?

Die Dämmerung brach ein. Das Tal versank in jene Tiefe, aus der mit einemmal die immer doch brausenden Bäche erst aufzulauten scheinen, aus der die Berge sich wie mit klar gebreiteten Armen höher heben. Stunde des ruhigen Atmens, Stunde der Brust, die sich entgegendehnt, des Wissens um Frieden, Schlaf und Tod als unsere Brüder am Ende des Wegs. Ich wanderte auf das Dorf zu, ich saß unter den Bäumen vor dem einfachen Gasthof, von einem Glase Wein über die letzte Schwelle gehoben – wie fern, aufgeregt lag jetzt die doch so behagliche Stunde des Gesprächs in dem Landhaus drunten am See! Indes die guten Alltagslaute des Abends, Geknarr eines heimkehrenden Wagens, Tellergeklapper im Haus, Gejaul eines werbenden Hundes, vermischt mit Stimmen der Vorübergehenden von der Landstraße her, mich wie mit Ruderschlägen weitertrieben in die Stille der kühl hereinbrechenden Nacht. Ich ging in das Zimmer hinauf, ich zog meinen Mantel über und schlenderte die Dorfstraße hinan, unabsichtlich und in ruhiger innerer Zuversicht. Am Hause oben standen die Fenster offen, Musik drang heraus, ich trat au den Zaun und lauschte hinüber.

Ja, da war es also wieder, da klang es auf in der Dunkelheit dieses stillen Bergtals, was einmal in allen Großstädten der Welt die Tausende, die Weggefremdeten von ihren Ursprüngen, mit der unwiderstehlichen, unbegriffenen und unbegreiflichen Gewalt des Einfachen ergriffen hatte.

Wie ich die Stelle kannte, wie ich wußte, was jetzt da drinnen vor sich ging!

Scherry hatte seinen geduldigen Partner nun doch auf das entschiedenste gekränkt. Er forciert ihn zum Spielen auf. Die Geige erhebt sich in ihren süßesten Tönen, hoch auf der E-Saite, dort, wo sie Alleinherrscherin ist. Scherry begleitet verzückt die Bewegungen des gleitenden Bogens, aber wie der nun in einem letzten unendlichen und unendlich feinen Ton über die Saite hinaufkommt, zieht das Fangelicht der langsam steigenden Spitze mit einem Male wieder alle Kobolde der Unterwelt mit sich empor. Noch widersteht er, indes er zugleich den letzten möglichen Zeitpunkt bemißt. Tsst – ein kleiner Fingerhieb obenhin: der Bogen fällt zu Boden, die mündende Harmonie ist zerstört, ein ätherisch ausschwingendes Gefühl in seiner letzten Hingabe lächerlich gemacht.

Das also war vorausgegangen. Denn die Töne, die jetzt zu mir drangen, gehörten schon zu der vielleicht liebenswürdigsten Erfindung des ganzen Werkes. Scherry will seinen mit Recht zornigen Partner versöhnen. Grotesk Vergebung heischende Blicke fruchten nichts, da greift er zu seinem Bandonion und beginnt auf ihm ein regelrechtes Zureden in Tönen, jede Wendung in sich verständlich, wie Laute einer allgemeinen Weltsprache, eines musikalischen Esperanto: von einem einzelnen aufmunternden „Nun?“ zu ganzen Sätzen — „Willst du nicht?“ „Aber so komm doch!“ „Du!“ — Bis unversehens das scherzhaft gutmütige Geplänkel übergeht in eine große strömende Melodie, über der das schalkhaft lächelnde Auge des Wissenden steht: um die unwiderstehliche Macht der Musik, um den hohen Gemeinschaftsrausch, in dem Instrument und Instrument, Ich und Du, sich miteinander verbinden. Und in der Tat, der andere kann nicht widerstehen, und nun geht es an ein Musizieren der Leiber und der Seelen, daß alle Himmel zu Häupten sich zu öffnen scheinen.

Gerade diese Szene war es gewesen, die mich damals in dem Glauben an Scherrys unablässig wachsende Meisterschaft versicherte. Wie manchen anderen Effekt, hatte er einige Jahre vorher auch jenen Tick auf die Bogenspitze mehrmals wiederholt, zum ungeheuren Vergnügen der Zuschauer denen ein dutzendmal und mehr gerade recht gewesen wäre. Nun aber erschien das Motiv in einer bedeutsamen Weise gewandelt. Wohl folgte noch das Auge dem Bogen, wenn er sich in einem langen Striche erhob, mit deutlicher Versuchung; aber ein kleiner Schein darin, das Leuchten des ganzen Antlitzes verriet, daß die Unterwelt endgültig verspielt hatte, daß sie wohl noch gegen die verriegelten Falltüren drängte, ohne Hoffnung jedoch, den endgültigen Triumph der lichten Gewalten ernstlich zu gefährden. In einem letzten überirdischen Ton ging das Spiel der beiden erlöst und erlösend zu Ende.

Ich stand in der Nacht und lauschte. Jeder Ton war mir vertraut, und doch war mir, als hörte ich ihn zum erstenmal. War nicht die Hälfte dieser Szene Sehen gewesen? Des Kampfs, des schon gewonnenen Kampfs in Scherrys Zügen, der nachfolgenden Verklärung? Und nun steigerte das Ohr allein den Eindruck über alles Ernst und Jemals hinaus! Ich gab mir darüber keine Rechenschaft, ich suchte nach keiner Erklärung, ich stand nur, in das Innerste ergriffen, vor dem Ineinander dieser beiden Instrumente, deren Stimmen in einem frommen Jubel zu dem mit eins mächtig bestirnten Himmel aufzusteigen schienen. Ich hörte das Schurren eines Fußes. Als ich mich umwandte, sah ich hinter mir im Dunkel eine Anzahl schweigender Gestalten. Im Gasthof fragte mich die Wirtin, ob ich nicht gestern schon einmal im Auto durchgekommen sei. Die Leibwache war zur Stelle.  Ich hatte eine schlechte Nacht. Ein hart im Frühwind schlagendes Fenster weckte mich auf, dann war da der Bach, der wie eine dampfablassende Lokomotive durch die Stille rauschte, und der aufschlagende Wasserstrahl des Brunnens vor dem Hause. Man weiß, wie in solchem Halbschlaf die Dinge sich verzerren. Nicht mehr nur erschien mir das Abenteuer, in das ich mich eingelassen hatte, eine richtiggehende Dummheit, sondern Schlimmeres: ein erneuter Beweis für die ganze Halt- und Ziellosigkeit meines Wesens. Würde mein Freund oder würde gar der Doktor sich durch ein zufällig auftauchendes Wunschbild in ein Unternehmen haben hineinsteigern lassen, das schon beim ersten wirklichen Schritt die Substanzlosigkeit seiner Antriebe verriet? Aber der gestrige Abend, die kurzen und doch so gefüllten Minuten dort oben vor dem geöffneten Fenster? Bleibt mir weg damit! Rausch, Gefühlsbenommenheit, die sich jeder leisten kann, und das mittels eines geringeren Apparats, eines Glases Wein oder eines Freundschaftsgespräches nach Mitternacht. Zum Kotzen dies ewige Gefühlsgeschwärme, jeder sachlich geschusterte Schuh ist mehr wert, worauf es ankam, das war, wie der Doktor etwas zu wollen, das seinen stillen ruhigen Sinn in sich selbst trug und daraus die klaren, zielhaft gerichteten Kräfte der Verwirklichung zog: meinethalben auch Scherry zu sprechen, aber dann ihn wirklich sprechen zu wollen, anstatt wie ich die Unkraft des eigenen Wunsches in flauen Scheinhandlungen zu enthüllen. Was würde ich denn morgen unternehmen? Ich würde mich ziel- und planlos noch ein paar Stunden herumtreiben, einzig, weil das Postauto erst um ein Uhr ging, ich würde dann unten, um nicht ganz blamiert dazustehen, die Minuten des gestrigen Abends zu übermäßiger Bedeutung aufputzen, nachdem ich nur auf der Rückfahrt sorgsam die Formel zurechtgelegt hätte, die das eigentliche Mißlingen meiner Absicht klug übersprang. Ja, das würde ich. So einer war ich. Der Morgen vermochte das strenge Urteil, das ich da über mich selbst gefällt hatte, nicht zu mildern. In der Tat, was sollte ich tun? Einfach hingehen, schellen, sagen, ich, Herr Soundso, wünsche Herrn Scherry zu sprechen? Vielleicht. Vielleicht sollte man das. Aber man mußte dazu ein anderer sein, als ich es war. So tat ich, was ich mir in der Nacht vorher verkündigt hatte. Wieder schlenderte ich die Straße hinauf, gefolgt von den mißtrauischen Blicken meiner Wirtin, die mit eingestemmten Armen in der Türe stand.

Das Haus lag droben wie gestern, stiller nur, wie es schien, im frühen Morgen. Niemand war zu sehen. Doch, da: Im Augenblick, wo ich die Grenze des Grundstückes erreicht hatte, kam von der Rückseite des Hauses her eine städtisch gekleidete Gestalt in modisch grauem Anzug. Ich schritt aus. Wenn ich so weiterging, mußte ich gerade an der Eingangspforte mit ihm zusammentreffen.

Ja, er war es. Ziemlich unverändert, nur das Haar ein wenig angegraut — nicht Scherry, aber der andere, der Partner. Er warf mir einen kurzen Blick zu und ging vor mir, der ich meinen Schritt verlangsamte, weiter, die Landstraße hinunter. Welche Gelegenheit! Aber nicht einmal einen Gruß hatte ich gewagt, der doch als landesüblich ganz unverfänglich gewesen wäre. Und jetzt? Komme einmal jemand an jemanden heran, dem er bis auf Blickwechsel begegnete und der nun vor ihm herschreitet. Vorbei, verfehlt! Die einzige zufallsgebotene Möglichkeit verspielt! Da hatten wir es: Ich war unfähig. Ich konnte mich wohl erhitzen bis zum Scheinbild der Tat, ich konnte mir hübsch alles auseinanderlegen, aber — ich konnte nicht handeln. Gedrückt ging ich meines Weges weiter, immer die wandelnde elegante graue Gestalt vor Augen. Gut. Ich würde um ein Uhr mit dem Postauto zurückfahren. Ich ließ es gleichgültig geschehen, daß mein Mann nach einer Weile rechts in einen Seitenweg bog, der zu einem Vorberg über dem Tal zuführen schien. Ich dachte nicht daran, ihm nachzugehen, um vielleicht doch noch ins Gespräch mit ihm zu kommen, ich schlug gedankenlos den nächsten Pfad ein, las ein Schild, das zur Mairalm wies, folgte dem Weiser — zur Mairalm so gut wie anderswohin! — stieg einen tannenbesetzten Hang hinauf, sah einmal, nach einer halben Stunde etwa, links, aber durch eine Bachschlucht getrennt, eine Alm liegen, stieg daran vorbei höher hinauf, indes die Bergsonne trotz der späten Jahreszeit schon kräftig zu brennen begann, und – landete schließlich in einem stumpfen Nichts! Der Weg verlief sich auf einem Bergsattel in eine sumpfige Mulde, ich mußte irgendwo, wahrscheinlich in Höhe jener Hütte, die wohl die Mairalm war, von dem richtigen Wege abgewichen sein.

Da saß ich nun, recht symbolisch, mit nassen Füßen zwischen Tannen, Gesträuch und Gestrüpp, ohne Ausblick nach irgendeiner Seite. Humor überkam mich. Ich verbeugte mich irgendwo in die Luft hinein und rief: „Besten Dank!“ Ein mucksmäusiges Echo, das da saß, rief es mir dreifach zurück.

„Nichts zu sagen“, antwortete ich, und ohne mich weiter um den dreifachen Wiederrufer zu scheren, trat ich summend und guter Dinge den Rückweg an. Richtig, rechts vom Weg führte ein kleiner Pfad durch die Schlucht zu jener Alm hinüber. Ich schlug ihn ein, traf die Sennerin dabei, den weiß naturgezimmerten Fußboden mit Seife und Bürste sonntäglich auszufegen, es war doch nicht die Mairalm, sondern die Lehpointneralm — meinetwegen auch die Lehpointneralm —, um nach einem Glase frisch gemolkener Milch den geraden Weg (weit im Bogen war ich herangekommen) bergabwärts fortzusetzen.

Ein köstlicher schattiger Pfad, in den es von einem offenbar nicht weit entfernten kleineren Wassersturz hineinrauschte. Das Rauschen näherte sich, ich bog um eine Felsecke, der Fall unterquerte den Weg, rechts an einem Sturzbecken stand eine Bank, auf der Bank aber saß – er, mein eleganter Herr in modisch grauem Anzug, in der Hand eine gestopfte, aber unangezündete Shagpfeife.  Nun, ein so albernes Rindvieh war ich denn doch nicht, daß ich mich nicht als verschwitzter Wandersmann sogleich mit kurzem Gruß an seine Seite setzte. Die Begegnung schien ihm sogar nicht unwillkommen, er bat mich um Feuer, das er ärgerlich vermißt haben mochte, und weiß Gott, es fand sich eine Streichholzschachtel in meiner Tasche. In kurzem war ein Gespräch im Gange, zu dem meine Irrfahrt den ersten heiteren Anlaß bot.

Sonderbar genug, ich handelte, aus dem humorigen Almabstieg zu dieser unvermuteten Begegnung gebracht, mit vollkommener Sicherheit und einer heiteren und überlegenen Auswahl der zweckgerichteten Mittel. Dem Manne war beizukommen auf dem Wege über sein Geltungsbedürfnis, ein Geltungsbedürfnis, das aus seiner Vergangenheit her gefühlsmäßig bestimmt sein mußte. Man wandert nicht nach mehrjähriger Ansässigkeit im Gebirge so soigniert in städtischer Kleidung durch die Weltgeschichte, wenn man nicht zwangsläufig mit seiner Vergangenheit verhaftet ist; man geht auch nicht so heißhungrig auf den gesellschaftlichen Konversationston, das ironische Spiel um die Dinge ein. Da war etwas nicht zu Ende gebracht, und ich wußte sogar, was das war, ich wußte es so, fast bis zum Übermut, daß ich noch in den ersten Anfängen des Gesprächs einen Trumpf ausspielte, der alles mit einem Schlag gefährden konnte. In eine kurze Pause hinein warf ich wie nebenbei hin: „Ich kenne Sie übrigens.“ Einen Augenblick schien es wirklich, als habe ich zuviel gesagt, ein nervöser, verkniffener Ausdruck trat in seine Züge, und das „So?“, das er herausbrachte, hatte ganz den Ton eines türzuschlagenden Rückzugs. Aber als ich dann harmlos weitersprach, mit einem deutlichen Beiklang weitläufiger Achtung es begrüßend, daß ich auf diese Weise persönlich meinen Dank aussprechen könne für so vieles, was ich an jenen Abenden empfangen habe, hellte es sich zusehends bei ihm auf. Ich muß gestehen, daß ich meine Worte überaus zielhaft wählte. In ihnen erschien nicht Scherry, sondern er, der Partner, als die Hauptperson, durfte es auch erscheinen, denn er war es ja, den ich vor mir hatte und dem ich meinen Dank aussprach. Natürlich war ich nicht plump genug, den Nebenmann auf Kosten des anderen zu loben, nein, daß Scherry der Eigentliche war, blieb in stillschweigendem Einverständnis außer Betracht. Um so starker konnte ich hervorheben, wie wesentlich er, der Partner, für die Nummer gewesen sei, was es für eine Leistung, menschlich und künstlerisch, bedeute, dazusein und zugleich nicht dazusein, vor allem aber dazusein, denn die Höhepunkte, das Zusammenspiel zum Beispiel: das war ja kein nachgeordnetes Stichwortreichen, hier galt es, sich aufzuschwingen in die schöpferische Einheit. Welche Esel, jene Virtuosen, die glauben, ihre Mitspieler zu stummen Bedienten herunterdrücken zu müssen! Gerade der große Künstler braucht den Partner, der ihm in seiner Weise ebenbürtig ist.

Ich log eigentlich nicht, während ich das alles sagte. So war es im allgemeinen, und so war es, wenn man den allzu enthusiastischen Ton abzog, auch im besonderen Falle. Mein Banknachbar hatte in der Tat seine Sache gut gemacht, besser sogar, als man beim ersten Sehen erkannte, das alle Aufmerksamkeit auf Scherry lenkte. Aber doch war, was ich da tat, eine kleine Infamie, die Lüge des photographischen Ausschnitts, möchte ich sagen, die alle Umgebung wegläßt und so den herausgegriffenen Gegenstand mit einem übermäßigen Akzent versieht; ganz abgesehen davon, daß ich meine Bemerkungen nicht um ihrer selbst noch auch um meines Gesprächspartners Willen machte, sondern zu einem ganz bestimmten, außerhalb liegenden Zwecke. Ich wurde mir dessen sogar einen Augenblick schuldhaft bewußt: als der arme Kerl, fast vor Freude errötend, meine Komplimente auf seinen Freund und Meister zurückwandte, und das, wie mir schien, nicht nur aus der angebrachten Haltung eines „Zweiten“, der klug und schicklich genug ist, die Unterschiede nicht zu verwischen, sondern zugleich in dem deutlichen Bemühen, sich der überragenden Größe des andern neidlos bewußt zu bleiben und sie auf Kosten der eigenen Person Dritten gegenüber zu betonen. Dennoch schien er dann jedesmal erleichtert, einer inneren Pflicht Genüge getan zu haben, stürzte er sich mit erneuertem Eifer in die Erörterung der tausend Nuancen, mit denen mein unverschämtes Gedächtnis ihm dienen konnte, so daß allmählich im Gespräch die ganze Szene vor uns erstand; immer mit kleinen Anmerkungen meinerseits, die zeigten, wie sehr ich auf ihn, den Genossen und Helfer, geachtet hatte.

In Glück gebadet saß er am Ende neben mir, die leichte Griesgrämigkeit, die ihn immer noch ein wenig kennzeichnete, war behoben, einen frohen und zufriedenen Menschen hatte ich an meiner Seite. Arme Menschheit, die durch ein kleines Wort der Anerkennung, wie immer sich ihr Antlitz weise, schön gemacht werden kann, durch ein Wort, das sie nur aus Gleichgültigkeit und Trägheit so selten zu hören bekommt; übles Subjekt, das da dieses Wort, überdies noch aus verwünschter Begabung eingehüllt in alle Reize einer liebenswürdigen Geistigkeit, zum Köder auswirft, um eine unbeträchtliche Absicht zu erreichen, von der es noch vor einer Stunde flau und verdrossen abzustehen bereit war!

Mein neuer Bekannter dachte einen Augenblick nach: Ja, ob ich wisse, daß Scherry hier in der Gegend wohne, das heißt, er und Scherry. Scherry habe sich natürlich nicht von ihm trennen wollen, und er natürlich nicht von ihm. Es hätte ihm auffallen müssen, wie verlegen und ausweichend ich ihm auf diese unmittelbare Frage antwortete, wenn er nicht schon in ganz bestimmten Gedankengängen gewesen wäre.

Ja — allerdings — ich habe gehört — — —

Hm. Es sei ja so, daß Scherry im allgemeinen keine Besuche empfange — mir schlug das Herz — ich glaube nicht, was man alles versucht habe, um zu ihm zu dringen, aber in diesem Falle — wenn ich vielleicht Zeit und den Wunsch hätte — er habe trotz allem, was über Scherry geschrieben worden sei, kaum jemanden getroffen, der mit solchem Verständnis von seiner Kunst gesprochen habe. Scherry werde vielleicht selbst wünschen mich kennenzulernen, und es ihm am Ende verargen, wenn er mich jetzt einfach so gehen lasse. Ob ich auf der Wanderung sei, oder wo ich mich eben aufhalte?

Ich glaubte zu verstehen. Kein Wunder: Alles, was ich seit einer halben Stunde gesagt hatte, war ja auf diese Wirkung angelegt. Über Scherrys Kunst hatten wohl schon viele ebenso gut und besser gesprochen, aber wohl kaum einer so über seine, des Partners, Kunst. Dennoch stutzte ich ein wenig über die Eilfertigkeit, mit der dieser bereit war, mich in das allen verschlossene Haus einzuführen.

Wie mochte wohl das Verhältnis der beiden zueinander sein? Hatte er es nötig, jetzt noch, nach manchem Jahr der zurückgezogenen Ruhe, sich durch einen Dritten vor dem Freunde bewähren zu lassen? Ja, es mochte nicht leicht gewesen sein, das Lob des Zweiten Jahre hindurch im Bühnenlicht der europäischen Großstädte. Aber jetzt? Und die Innigkeit, mit der gestern abend Ton im Ton und Seele an Seele sich ineinanderschlangen?

Ich hatte keine Zeit, ich hatte keine Lust, dem nachzuhängen, ich hörte nur, daß, wenn nicht alles trog, das kaum Geglaubte, kaum Gehoffte, kaum Gewollte sich wirklich ereignen würde. Ich erwiderte so ruhig wie möglich, daß ich bis morgen im Gasthof wohne, daß mir im übrigen durch eine Begegnung mit Scherry ein schon vor Jahren gehegter Wunsch erfüllt werde — was nichts anderes als die lautere Wahrheit war.

Gut, er werde mit Scherry reden und mir dann zum Gasthof Nachricht geben.

Wir brachen auf und gingen in ruhigerem Gespräch den Berg hinunter. Gerade als wir vor dem Eingang, aus dem ich ihn am Morgen hatte treten sehen, voneinander Abschied nahmen, fuhr das Postauto an uns vorüber. Ich konnte mich nicht enthalten, ihm mit der freien Hand, während die rechte noch den Händedruck des anderen erwiderte, ausgelassen nachzuwinken.

Ich aß frohgemut zu Mittag und wartete auf den Boten, der, so oder so, bald die Straße herunterkommen mußte. Ich zweifelte nicht, daß alles nach Wunsch gehen werde — genau so grundlos zuversichtlich, wie ich am Morgen grundlos kleinmütig gewesen war. Aber eine halbe Stunde nach der anderen verging, und nichts geschah. Meine Wirtsleute, ein paar Bauern in der Schankstube musterten mich immer auffälliger, und das mit vollem Recht. An einem herrlich schönen Nachmittag trieb ich mich da in wachsender Nervosität in und bei einem nicht gerade einladenden Gasthof herum. Ich war schon wieder drauf und dran, in die trübe Verzweiflung des Morgens umzuschlagen, als eine mit städtischen Anklängen gekleidete Dienstmagd die Stube betrat, natürlich gerade in dem Augenblick, wo ich einmal meinen Beobachtung und Warteposten draußen verlassen hatte. — Ja, dort sei der Herr. — Herr Scherry lasse mich bitten, zu ihm heraufzukommen.

In der Schankstube fuhren die Köpfe zusammen. Hochmütig obenauf ließ ich bestellen, daß ich in einer Viertelstunde dort sein werde.

In der Tat, warum sollten sie es oben eilig gehabt haben? Konnten sie wissen, daß ich seit gestern zu keinem anderen Zwecke hier saß, als dem, von einer Dienstmagd gebeten zu werden, zu Herrn Scherry heraufzukommen? — Ich ging auf mein Zimmer, machte mich ein wenig zurecht und schritt zum drittenmal seit gestern—aber diesmal mit welchen Gefühlen! — die Dorfstraße hinan.

Zu meiner Überraschung kam „er“, der Partner — nicht einmal seinen Namen kannte ich, schäme dich! — mir vom Hause herab entgegen. Weiß Gott, was ihn zu der Eröffnung bewegen mochte, die er mir eilfertig machte, als hänge wichtigstes davon ab. Die Verzögerung der Botschaft an mich war nicht beiläufig gewesen. Scherry habe sich zunächst geweigert, mich zu sehen, und erst später, in einem behaglicheren Augenblick, nachgegeben, wie er ihm endgültig kaum je etwas abschlage.

Meine Betroffenheit mußte ihm auffallen. — — Nein, nein, Scherry empfange mich gern, er habe ihn vielleicht zu unvermittelt überfallen, wirklich, ich werde sehen, er freue sich aufrichtig — Aber wenn er damit auch mein Zögern überwand (ich hatte Miene gemacht, nicht weiterzugehen), was er durch diese Mitteilung angerichtet hatte, konnte er nicht ahnen.

Nein, er konnte nicht ahnen, mit was für einem elenden Empfinderich er es in mir zu tun hatte, konnte es nicht nach der kräftigen und sprühenden Sicherheit, die ich ihm am Morgen bewies. Ich verwünschte mich selbst. Hatte ich, als ich in der Villa unseres Doktorfreundes so keck die Absicht äußerte, Scherry auf eigenen Wegen kennenzulernen, gedacht, hatte ich denken können, daß er mich Unbekannten mit offenen Armen empfangen würde? Ich stand im Begriffe, gegen alle Wahrscheinlichkeit zu erreichen, was ich erreichen wollte, und — wäre nun am liebsten wieder umgekehrt? Da hatte ich es: Immer in Ekstase, in Übersteigerungen, und so, wehrlos, der ersten besten Hemmung preisgegeben. Ein anderer, ein Richtiger, ein Mensch in gesunder Gefühlslage würde sich gesagt haben: Scherrys Zurückhaltung ist nur das natürlicherweise zu Erwartende; Hauptsache, er empfängt dich, an dir liegt es nun, was du aus dieser Begegnung machen wirst. Statt dessen war ich ohne Gegenrede überzeugt, daß dieser erschlichene Besuch mit einer tiefen Beschämung für auch würde. War das nicht klar: Scherrys Weigerung erging nicht obenhin? Ohne dabeigewesen zu sein hatte er die Szene aus den preisenden Worten seines Freundes, aus dessen glänzenden Augen die Szene oben am Wasserfall nicht als listig Betörter, sondern als kühl beobachtender Dritter erlebt. Er fühlte, was da gespielt worden war, und so, als durchschauter Hochstapler der Seele, sollte ich ihm gegenübertreten?

Wortkarg schlich ich hinter meinem zutraulich redenden Begleiter her, stand auf der Diele, legte ab, sah eine Tür vor mir geöffnet und — saß ihm gegenüber.

Weiß man, wie widerlich verlogen uns die eigne süße Schnauze lauten kann? Im Verkehr mit einfachen Leuten aus dem Volk, überhaupt mit jedem Menschen, der nicht aus unserer gesellschaftlichen Konvention, sondern aus einer eigenen Sprache des Herzens spricht? Oben am Wasserfall war es leicht gewesen mit den ästhetisch gedrehten und abgeschnellten Fangbällen. Aber dem Manne gegenüber, vor dem ich da saß, der jeder Wendung unbewußt den Ton echter Gewachsenheit gab, klang mir meine eigene Stimme nicht anders ab ein theaterhaftes Geprassel von Erbsen auf Blech. Ich gab mir Mühe, dieser zwangsläufigen Empfindung Herr zu werden, ich rettete mich in einige kluge Bemerkungen, deren Originalität mir bewußt war, und die mir am Morgen so gute Dienste geleistet hatten, unterstützt von dem andern, dem Partner, der ja die eigene Rechtfertigung seiner Vermittlung zu erfahren hatte — vergebens. Ich fühlte, ich glaubte zu fühlen, wie wesenlos mein Gerede ihm erscheinen mußte, das er hundertmal so oder ähnlich von Klugschwätzern gehört hatte, die sich an ihn heranmachten — obwohl er mit gleichmäßigem, freundlichem Interesse zuhörte, ab und zu auch das Gespräch, das vorwiegend von uns beiden andern bestritten wurde, durch ein paar Worte weiterführte. Aber wenn ich es nicht selbst gefühlt hätte, der Wechsel im Verhalten des Partners mußte mir zeigen, wie stumpf und leer diese scheinbar lebhafte Stunde verlief. Seine strahlende Laune verblaßte, er wurde nervös und gezwungen; wo blieben all die lebendigen Dinge, die ich am Morgen, vor allem über ihn, gesagt hatte? — Unsicher sah er zu dem Freund hinüber, der, scheinbar in gutem Wohlwollen, dasaß.

Schluß, vorbei, ich war durchgefallen, ich hatte meinen verdienten Lohn für die aus leerem Antrieb erfolgte Scheinhaftigkeit meiner „Tat“ . Wenn es nur schon vorüber wäre. Meine letzten Sätze waren nur noch ein belangloses, überstolpertes Hingerede. Ob ich ich nicht einmal das Anwesen sehen wolle? Ich verstand: Man zeigt dem Gast, mit dem man nichts mehr zu reden weiß, zuletzt noch Haus, Hof und Garten, und damit Lebewohl und auf Nimmerwiedersehen! Natürlich erklärte ich mich eifrig bereit, nicht sehr verwundert, als der Partner sich entschuldigte.

Scherry erhob sich und ging voran. Wir traten hinter das Haus hinaus, wo zuerst ein üppig verwirrter Garten, fast ein Bauerngarten, aber mit einzelnen fremden und erlesenen Zuchtgewüchsen, uns erwartete. Scherry sprach in seiner schlichten Art von den Blumen, deren jede einzelne ihm am Herzen zu liegen schien, von einer bestimmten neuen windharten Ritterspornart, die er anzupflanzen gedenke, indes er im Vorübergehen gelegentlich eine hochgewachsene Dahlie an sich zog und wie in vertrautem Verkehr liebevoll in den goldenen Kranz der Staubgefäße blickte, bald irgendeine kleine Handreichung tat, ein welkes Blatt abriß, ein Unkraut auszog. Langsam schritten wir dann durch einen gepflegten Obstgarten — offenbar sein besonderer Stolz — in die ohne Verzäunung dahinter beginnende Wiese, die sich weit und hoch am Hang hinauf erstreckte. Eine unwillkürliche Beruhigung kam über mich, stieg auf aus seinen gleichmäßig langsamen Schritten, aus seiner warmen Stimme, der natürlichen Herzlichkeit, mit der er zu mir, dem Fremden, von seinen Besitz und jedem einzelnen, liebevoll betreuten Leben darin sprach, und die nichts verriet von der bedenklichen Meinung, die er etwa über mich haben mochte. Ich fühlte, wie die Verzattertheit der letzten halben Stunde, der kläffende Nachhall eines geistigen Gesprächs, von mir absank, und gleich — o ewig unverbesserliches Geschöpf! — regte sich wieder in mir jene gefährliche Gefühlshaftigkeit. „Schwoll“ es wieder einer Übersteigerung, einer neuen Dummheit entgegen?

Wir standen auf der Höhe, unter uns Haus und Dorf, indes das Tal in abendlichem Glanze zur Ruhe ging. Schweigend blieben wir nebeneinander, bis Scherry mit einer leichten Bewegung Weitergang und Abstieg einleitete. Da geschah es, nein — es geschah nicht! Was ich jetzt sagte, kam nicht aus jener verantwortungslosen Hemmungslosigkeit des Gefühls. Ruhig und männlich erzählte ich Scherry, wie dieser Besuch zustande gekommen sei, nichts verschweigend, auch nicht die absichtsvoll berauschende Hinterlist, mit der ich den andern, ohne selbst ein Wort des Wunsches zu äußern, zur bereitwilligen Vermittlung gebracht habe. Aber auch das verschwieg ich nicht: was den eigentlichen Anstoß zu dem Unternehmen gebildet hatte. Ich sprach ihm von meinen Beobachtungen, als ich ihn das letztemal sah, von dem Rätsel, das seine Abkehr von der Bühne mir aufgegeben habe, und wie dies lang Zurückliegende und scheinbar Verschüttete mich mit einer vielleicht übertriebenen Gewalt ergriffen habe. Ich machte mich nicht schlechter und nicht besser, nicht dümmer und nicht klüger, als ich war. Ich machte es richtig. Scherry hatte mir ohne jede Zwischenäußerung zugehört.

„Der gute Doré! Ja, ich habe es mir, was die Begegnung am Wasserfall angeht, nicht anders gedacht. Sie werden ihm selbstverständlich seinen Glauben belassen — wenn er ihn noch hat. — Ja, und über das andere — ist es Ihnen recht, heute nacht unser Gast zu sein? — über das andere reden wir vielleicht morgen früh. Kommen Sie! Das Gong wird gleich zum Abendessen rufen.“

Unten im Hause entschuldigte sich Scherry, um die nötigen Anweisungen zu geben. Während seiner Abwesenheit hatte ich Muße, mich in dem Raume, in den er mich zurückgeführt hatte, umzusehen.

Sein Zimmer offenbar, wenn auch der eine Teil — man hatte in dem alten Bauernhof eine oder mehrere Wände herausgebrochen, um eine Art von Saal zu gewinnen —, durch Sitzgelegenheiten und den großen Flügel verriet, daß das Ganze gelegentlich gemeinsamem Zusammensein diente. Die Einrichtung war keineswegs „künstlerisch“, eher mit einer, vielleicht nicht absichtsvoll gewollten, aber bewußten Disharmonie angeordnet. Die einzelnen Stücke paßten im Stil nicht zueinander, schienen jedes ihr Dasein einer Wahl zu verdanken, die sich nur von dem Gegenstand selbst, dem Gefallen an ihm, und zwar deutlich einem nicht nur ästhetischen Gefallen, hatte bestimmen lassen, ohne Rücksicht auf ein bestehendes oder zukünftiges Ganzes, An den Wänden einige wenige Bilder, darunter ein Porträt Scherrys von einem der bedeutendsten zeitgenössischen Künstler, aber auch richtiger Kitsch, ein paar teils süßlich, teils dilettantisch gemalte Landschaften, die nur auffallend das eine gemeinsam hatten, peinlich —in doppeltem Sinne peinlich — abkonterfeite Wirklichkeit zu sein. Ganz fehlten die üblichen Künstlertrophäen, von denen Scherry doch eine Menge erhalten haben mochte. Dafür war an einer Stelle ein kleines verwelktes Sträußchen mit einer Heftzwecke in der Wand befestigt, ebenso ein vergilbtes Zeitungsbild, das zwei Volkskomiker in ihrer bekanntesten Nummer zeigte. Auf dem Schreibtisch, der wenig benutzt zu werden schien, stand die Fotografie einer jungen Frau in der steifen Manier eines Durchschnittsfotografen um die Jahrhundertwende. Der äußerst geschmacklose Jugendstilrahmen war von Kratzern übel mitgenommen.

Trotz alledem, ja gerade um seiner Disparatheit willen, hatte der in seiner Größe wohlbehagliche Raum den Stempel eines überall Einheitlichen und Notwendigen. Es war derselbe Geist, der Scherry, im Zeitalter einer raffinierten Bühnengestaltung, stets die konventionellsten Dekorationen zum Rahmen für seine Nummer hatte wählen lassen. Eine Schiebetür zur Seite öffnete sich. Eine schlank füllige, einfach gekleidete Dame mit ergrauendem Haar und auffallend braunen Augen, das Urbild der Fotografie auf dem Schreibtisch, nur schöner in ihrer freien Bewegtheit und der seelischen Gelockertheit der Züge trotz der vorgerückten Jahre, reichte mir ohne Formalitäten die Hand und bat mich zu Tisch. Drüben fand ich Scherry und Doré, der mich ein wenig unsicher forschend zu betrachten schien, und eine junge Person, Stütze, wie aus ihrer Sorge um den Tisch hervorging, die aber von allen wie eine Verwandte behandelt wurde.

Die Mahlzeit auf umlaufender Bank verlief behaglich. Scherry, von mir allmählich herzhaft sekundiert, führte das Gespräch voll Laune. Im typischen Jargon der Leute vom Bau, den er im Übermaß der zwischengestreuten Internationalismen zugleich zu ironisieren schien, schoß er kleine boshafte Bemerkungen um sich her; kein unbekanntes Spiel offenbar für die Gefährtin: Nur gelegentlich einen direkten Anwurf graziös parierend, blieb sie vor allem aufmerksame Wirtin, nicht zuletzt in einer natürlichen Kunst des Zuhörens, die mehr als jedes aufmunternde Wort im Kreise heimisch machte. Doré blieb wortkarg; so daß Scherry, der neben ihm saß, ihn einmal unter einem herzlichen, fast zärtlichen und, zu meinem Erschrecken, ein ganz klein wenig ironischen Blick auf die Schulter schlug, bis er allmählich in die allgemeine Belebtheit mit einging.

Nach aufgehobenem Tisch kehrten wir in den anstoßenden Raum zurück. Man lud mich ein, es mir in einem großen modernen Sessel bequem zu machen, indes Scherry und Doré wie selbstverständlich zum Flügel gingen. Doré stimmte seine Geige: Ein Stück von Bach, darauf ein Satz aus einer Beethovenschen Sonate, nicht mehr; in der Beschränkung wohltuend abgesetzt von der ausschweifenden Unersättlichkeit der zünftigen Musikfanatiker. Wieder empfand ich die echte Musikalität dieses musikalischen Clowns, die gelegentliche technische Schnitzer eher bewußter machten, wenn mir auch schien, daß strenge klassische Musik, bei aller Liebe zu ihr, ihn in einem Teil seines Wesens beengte. Und so war es mir auch nicht weiter verwunderlich, als er nach beendetem Spiel das auf einem Borde liegende Bandonion ergriff. Ein paar quirlende eilige Töne mit langem Auszugsakkord, und schon erhob es sich in dem süß quellenden Zauber dieses für mich unerklärlich jenseitigen Instrumentes eine Verdische Arie, in die die Geige aus natürlicher Zugehörigkeit alsbald mit einfiel.

Wieder erging es mir wie am Abend vorher. In diesem Zusammenspiel spürte ich ein Ergreifendes, das über den Inhalt des Vorgetragenen hinausging, ja kaum mehr in sinnenhafter Beziehung zu ihm zu stehen schien. Scherry schlug mit einem Scherzwort die Stimmung um — wer war dessen Meister wie er! —: Auf ein kleines Musikräuschlein schlafe man nicht minder gut als auf einen Scherry-Cobler oder Doré-Flip. Sie pflegten hier früh zu Bett zu gehen, was mich nicht weiter verhindern solle, einen Nachtbummel auf die nächsten Berggipfel zu unternehmen.

Von dem freundlichen Fräulein geleitet, suchte ich meine Schlafkammer im zweiten Stock auf. Ein breit eingebautes Vorhangbett, in dem ich bald mit unter den Kopf gelegten Armen den wechselnden Ereignissen dieses Tages nachsann.

Seltsam. Wieviel Verwirrtes, Schiefes, Falsches und doch, wie magisch, zu diesem Ende, dem Lager hinter dem Bettvorhang, in Scherrys Hause, hingebogen! Willst du versuchen, Sinn und Ordnung in das wie das Licht des Tages von Stunde zu Stunde, mit Wolken und freiem Himmel Wechselnde zu bringen? Begnüge dich mit der Gewißheit: Da es einmal so ist, so ist es jedenfalls so und nicht anders geworden. Schlaf ein! Ich schlief. 

Wir traten hinaus in den herbstlich frischen Morgen: Scherry und ich. Die Sonne langte noch nicht in den Talgrund hinab, erst als wir eine Weile rechts von der Straße hinangestiegen waren, gerieten wir in ihre bergüberwachsenden Strahlen.

Ich war im Gespräch mit Scherry des Weges kaum inne geworden, obwohl nur von nächsten einfachen Dingen die Rede war: vom glimpflich verlaufenen Almabtrieb, es habe kaum Verluste, so daß allenthalben die Herden blumengeschmückt von den Bergen hinunterstiegen; von Gemsen auf dem rechts dunkel sich vorschiebenden Seeberg, vom Standort der Forelle in dem vorrüberrauschenden Fluß, ein Thema, bei dessen Behandlung man in Scherry den leidenschaftlichen Fischereiliebhaber erkannte, wenngleich er beiläufig erwähnte, daß er den Angelsport seit einigen Jahren aufgegeben habe. Jetzt erst sah ich, wo wir uns befanden. Es war der Pfad, den ich gestern mit Doré talab gestiegen war, und schon vernahmen wir an der nächsten Wegbiegung leise das Rauschen des in die Schlucht hineinstürzenden Wasserfalls.

Zufall oder Absicht? — Aber schon hatten wir die Felsennische erreicht, Scherry sprang eher, als daß er ging, drei, vier Schritte zur Bank hinauf und lud mich, während er selbst stehen blieb, durch eine opernhafte Geste zum Sitzen ein. Kein Wunder, daß ich mich einigermaßen umständlich und unbehaglich niederließ. Und als sei gerade das beabsichtigt gewesen, markierte er mit der Rechten ein kleines Beifallklatschen, indes seine Augenwinkel sich belustigt zusammenzogen.

„— — — Bravo, bravo. Sie setzen sich zurecht, Sie sind sicher, alla tedesca, eine tiefgründige Erklärung zu erhalten. Wie aber, wenn jene Freunde e tutti quanti, die Sie gestern ein wenig mitleidig herablassend erwähnten, recht gehabt hätten? Braucht es denn überall höhere oder tiefere Beweggründe? Ich dächte, es wäre — wie wollen wir sagen? — schon aller Ehren wert, wenn ein Mann im richtigen Augenblick Punkt zu machen versteht, Schluß, Ende, Tableau, besonders heute, wo mancher alte Herr hohe Zinsen von einem Kapital bezieht, das in Wirklichkeit nicht mehr vorhanden ist. Es hat mich sehr impressioniert, als ich einmal hei einem Ausflug nach Stratford hörte, wie dieser Shakespeare zu dichten aufgehört haben soll, als er genug hatte, ganz einfach genug Geld, um da draußen sein Leben ohne äußere Sorgen zu Ende zu leben, verstehen Sie: zu dichten! Also kein Publikum, auf das unsereins nun einmal angewiesen ist. Vielleicht hat er trotzdem gedichtet, meinen Sie nicht? Wenn auch – Nun, das ist eine andere Sache. Ich will nur sagen, Sie sollten vielleicht etwas natürlicher denken, wenn Sie gestatten, ich glaube, es hat keine Gefahr bei Ihnen, oder — ?“

Ich zuckte in wachsender Verlegenheit die Achseln, Scherry lachte herzlich, was nicht dazu beitrug, mir meine Rolle in dieser undurchsichtigen Posse klarer zu machen.

„Quite well. In allem Ernst, das hat bei meinem Entschluß nicht unwesentlich mitgesprochen. Mir sind von jeher Menschen verdächtig gewesen, reifere Menschen, versteht sich, die scheinbar alles aus Einem Antriebe tun. Mir scheint, daß da irgend etwas nicht in Ordnung ist: ein Hochmut gegen die menschliche Natur, die auch die niederen Kräfte zu ihren Zwecken braucht, wenn wir uns anmaßen wollen, in Hoch und Niedrig zu trennen, und so habe ich mich beispielsweise nie eines unbestimmten Verdachtes gegen Leute erwehren können, die ‚aus Idealismus‘ mit ihren Gelddingen nicht fertig wurden, allerlei gemeinnützigen Kram unternahmen, während sich die Ihren daheim in der Enge zusammendrückten.

Schön und gut: Wenn die Freunde sich meinen Abgang als klugen Rückzug im richtigen Augenblick auslegt haben, so darf ich das dankbar als nicht unverdienten Abschlussbeifall in Empfang nehmen.“

Er stand wirklich da und sah vor sich hinunter, als gälte es, den ersten Reihen im Parkett seinen Dank zu Füßen zu legen. Ich wußte nicht, worauf das hinauswollte, ich fühlte nur, daß er mit mir spielte, ich tat ihm nicht den Gefallen, den scheinbaren Schlußstrich durch eine Bewegung oder ein Wort zu quittieren.