Adam Kuckhoff & Peter Tarin
Strogany
und
die Vermissten
Kriminalroman
Edition Widergänger
Impressum
Copyright © 2024
krautpublishing
Dr. Ansgar Warner
Rungestr. 20 (V)
10179 Berlin
Veröffentlicht über
Tolino Media
Herausgegeben &
mit e. Nachwort versehen
von Ansgar Warner,
Text folgt der
1941 beim
Universitas Verlag Berlin
verlegten Erstausgabe
Coverbild:
Zar Nikolaus II. & Familie (1916)
Bildquelle:
Romanov Collection,
Beinecke Rare Book &
Manuscript Library,
Yale University
„Der Wunsch des Lesers, gepflegt unterhalten zu werden, ist legitim. Und er kommt einem Wunsch auch des dichterisch verantwortungsbewussten Autors entgegen, aus dem Schatz seiner Erlebnisse und Erfahrungen Dinge zu sagen, die man nur sagen kann, wenn man sich freier gehen lässt. Die Hauptsache bleibt dabei, dass der Leser zuletzt etwas in der Hand behält, was ihm ein Stück Wirklichkeit mehr, im ganzen und im einzelnen, verstehen lässt.“
(Adam Kuckhoff,
Vorwort der Erstausgabe
von “Strogany und die Vermissten”, 1941)
Fürst Bronsky geht zu Fuß
«Haben der Herr Graf sonst noch Wünsche?»
“Nein, danke, Foma. Bring den Portwein und die Sandwiches herein, und dann geh. Was gibt es heute in der Oper?”
«Tristan und Isolde, Herr Graf.»
«Hat das denn nicht schon angefangen?»
«Doch. Aber es ist eine lange Sache.»
«Na, dann mach schnell. Stell nur alles ins Nebenzimmer. Ich hole es dann selbst herein. Und nimm dir einen Iswostschik.»
«Danke, Herr Graf.»
Das Gesicht des alten Dieners strahlte, mehr noch vor Rührung über die sorgende Wärme des jungen Herrn als in der Freude über den zu erwartenden Genuss. Strogany sah ihm lächelnd nach. Musik, Fomas ganze Liebe, die die Loge in der Oper ausgiebig zu erfüllen gestattete, mochte sich die Gesellschaft über diese “Sonderbarkeit” Stroganys, wie über manche andere, den Mund zerreißen.
Er schob sich einen Sessel an den Kamin und entfaltete die Zeitung, die Foma hereingebracht hatte. Seine Augen suchten den Lokalbericht, obwohl er in der Sache der Vermissten kaum etwas für ihn Neues zu finden erwartete. Natürlich! In großer Aufmachung die Aussage jenes Kellners, der einem der Verschwundenen zu früher Morgenstunde in einer Vorortstraße begegnet sein wollte. Strogany lächelte belustigt. Der Polizeipräsident war mit ihm über den Wert oder vielmehr Unwert dieser Aussage völlig einig gewesen, zumal feststand, dass der Mann seine Beobachtung in reichlich angeheitertem Zustand gemacht hatte. Aber schließlich, wenn man in einem Fall, der die Öffentlichkeit seit Monaten in Aufregung hält, nichts Greifbares zu sagen hat, nimmt man auch mit kleineren Sensationen vorlieb.
Noch einmal ging Strogany die Tatsachen durch, die sich bisher zweifelsfrei ergeben hatten. Nein. Nichts. Nicht der kleinste Anhaltspunkt, von dem man hätte ausgehen können.
Es war in St. Petersburg im Winter 1909/10, in der Zeit also zwischen der Revolution und dem Ausbruch des Weltkriegs. Im weiten Zarenreich herrschte Ruhe. Die revolutionären Aufrührer waren nach Sibirien verbannt, ihre Organisationen zerschlagen. Zwar gab es hin und wieder noch Attentate auf hohe Staatsbeamte und Mitglieder der kaiserlichen Familie, aber daran war man seit Jahrzehnten schon so gewöhnt, dass die breitere Öffentlichkeit sie fast als etwas Selbstverständliches hinnahm. Selbst die blutigste Sensation stumpft ab, wenn sie alltäglich wird.
Und so erweckte das unerklärliche Verschwinden einer Anzahl von Mitgliedern der ersten Gesellschaftskreise in diesem Winter einen größeren Widerhall als jene politischen Attentate — obwohl keineswegs feststand, dass nicht auch hier politische Motive zugrunde lagen. Jedenfalls schienen bestimmte Anzeichen darauf hinzudeuten, dass es sich bei den Tätern nicht um gewöhnliche Berufsverbrecher handelte.
Strogany hatte in seinen Gesprächen mit dem Polizeipräsidenten Boris Gnedin dir Möglichkeit der “politischen Theorie” nicht unbedingt bestritten. Aber er hatte darauf hingewiesen, dass es sich zuletzt nur um Vermutungen handle. Freilich wusste er nichts dagegen zu setzen, ja, er gab offen zu, dass es auf Grund des vorliegenden Materials bei ihm nicht einmal zu einer Vermutung lange.
Stroganys Verbindung mit Gnedin war ganz zufällig zustande gekommen. Der Polizeipräsident hatte bei einem Gespräch über einen Fall, der ihm durch gewisse logische und psychologische Widersprüche zu schaffen machte, Stroganys ungewöhnliche Kombinationsgabe entdeckt. Seitdem zog er ihn — und zumeist mit Erfolg — bei schwierigen Problemen zu Rat. Strogany selbst hatte an dem aufregenden Spiel Gefallen gefunden, obwohl es ihn mehr als billig von seiner eigentlichen Arbeit abzog. Aber es kam seiner Anlage zu sehr entgegen, als dass er sich nicht immer wieder hätte verlocken lassen, erst recht bei diesem ersten wirklich «großen» Fall. Nur dass er gerade hier völlig versagte.
Es schellte draußen zum zweitenmal. Offenbar war Foma schon gegangen. Strogany ging hinaus und öffnete.
«Nanu, Wassja, so pünktlich? Kaum eine halbe Stunde Verspätung! Du besserst dich ja zusehends», begrüßte er den Gast.
Wassja Morosoffs große Gestalt schob sich schnell durch die Tür. Er lachte über das ganze Gesicht und schälte sich mit einer einzigen Bewegung aus dem Pelz.
«Bin ich der erste?»
«Und zugleich der vorletzte. Ich erwarte nur noch Bronsky. Tarassoff hat leider im letzten Augenblick absagen müssen.»
«So? Schade, hätte lieber der Bronsky abgesagt. — Seit wann hausest du denn hier?»
«Erst seit fünf Tagen. So, bitte links! — Einen Augenblick!» Strogany ging zur Haustür, verschloss sie und betrat nach seinem Gast den Raum.
Morosoff sah sich um.
«Nett, aber wirklich schon sehr nett, das muss man sagen! Alles ganz englisch. Der Kamin mit den Klubsesseln, die Chippendalemöbel, die altmodischen kolorierten Sportstiche. Man könnte glauben, in London oder irgendwo auf dem Lande in Sussex zu sein.»
«Kein Wunder, das Haus ist von einem Engländer im heimatlichen Stil erbaut. Auch der größte Teil der Möbel stammt noch von ihm. Mein Vater hat es von einer Tante geerbt und für mich herrichten lassen.»
«Einen feinen Papa hast du, Sergej, so einen wünschte ich mir auch», meinte Morosoff lachend. «Und dazu du selbst mit deiner Lord-Physiognomie. Wirklich sehr stilvoll. Das fällt mir übrigens in dieser Umgebung ganz besonders auf», und er musterte Strogany kritisch. «Du hast wirklich Ähnlichkeit mit jenen jungen Lords, wie man sie auf den Zigarettenschachteln zeichnet. Auch dieser hochmütige Zug…»
«Oh, dieser unselige 'hochmütige Zug'», lachte Strogany. «Dabei hat er einen ganz äußerlichen Grund. Sieh mich mal näher an. Die linke Augenbraue sitzt bei mir etwas höher als die rechte: das ist das ganze Geheimnis meiner Zigarettenschachtellordschaft.»
«Zigarettenschachtellordschaft!» ereiferte sich Morosoff. «Nein, wirklich, Sergej, du bist unausstehlich mit deinen banalen Erklärungen. Als ob es darauf ankäme, was der äußere Grund ist! Ich habe dir das schon lange einmal sagen wollen. Du bist auch schon so verdorben durch diese moderne Wissenschaft, dass man kein vernünftiges Wort mehr mit dir reden kann.»
«Kein vernünftiges? Ich sollte gerade meinen, nur vernünftige, denn —» Strogany brach ab und horchte zum Vorzimmer, wo er ein Geräusch vernommen zu haben glaubte. Es blieb aber alles still. Dennoch ging er zur Tür, öffnete sie und schaltete das Licht in der Diele ein.
Mitten in der Diele stand Fürst Bronsky.
«Kossja, du? Wie bist du denn hereingekommen?»
Bronsky streifte sich mit langsamen Bewegungen die Handschuhe ab.
«War denn die Tür offen?»
«Das wird sie wohl gewesen sein», antwortete Bronsky mit seiner näselnden, leicht belegten Stimme.
«Aber wie ist das denn möglich! Ich selbst verschloss sie doch vor kaum zehn Minuten», wunderte sich Strogany.
Bronsky zuckte vage die Achseln und ließ sich aus dem Pelz helfen.
«Entschuldige.» Strogany verschloss die Haustür zum zweitenmal. Als er zurückkehrte, stand Bronsky vor dem Spiegel und ordnete mit seinen bleichen Händen das dunkle, wellige Haar, zupfte an der Krawatte, sah nochmals prüfend von der Seite in den Spiegel, zog das Taschentuch aus der Brusttasche, um es neu zu falten, was eine Wolke sonderbar exotischen Duftes verbreitete, und rückte sich den Smoking zurecht.
Wie eine Frau, dachte Strogany, das hat er doch früher nicht so gemacht, und wartete geduldig, bis Bronsky sich nach nochmaliger eingehender Musterung langsam vom Spiegel abwandte und sich mit weichen, wiegenden Bewegungen ins Zimmer schob.
«Tag, teurer Vetter», begrüßte ihn Morosoff. Er stutzte. «Mensch, wie siehst du wieder aus! Haut und Knochen. Und Schatten unter den Augen! Was sage ich, nicht unter, sondern vor den Augen. Die liegen bei dir schon bald im Hinterkopf. Dabei habe ich mich schon neulich bei Content über dich erschrocken. — Was sagt denn dein Arzt?»
Bronsky verzog missmutig das Gesicht.
«Arzt! Mir kann kein Arzt helfen.“
«Was heißt das? Was fehlt dir denn?»
«Ich bitte dich, Wassja, lass das», sagte Bronsky gereizt. «Glaub' mir, es verdrießt einen, immer, wohin man kommt, das gleiche zu hören. Mir fehlt nichts, und», fügte er ärgerlich hinzu, «wenn mir etwas fehlen sollte, dann wäre das doch schließlich meine Privatangelegenheit.»
«Entschuldige, liebster Vetter, entschuldige! Ich meinte es ja nur gut. Aber wenn das deine Privatangelegenheit ist — bitte schön!»
«Hast du was zu trinken, Sergej?» wandte sich Bronsky an Strogany und langte nach einer Zigarette.
«Ich hole gleich Portwein. Ist es dir recht oder — ?»
«Egal. Wenn es nur Alkohol ist.»
Morosoff sah bedeutsam zu Strogany hinüber, ohne sich jedoch noch einmal den Mund zu verbrennen. Strogany holte das Tablett mit dem Wein und den Sandwiches herein und goss Bronsky ein, der sich in einen der Klubsessel hatte gleiten lassen und teilnahmslos in das Kaminfeuer starrte. Als Strogany ihm anbot, fuhr er auf und stürzte das Glas mit einem Zug hinunter. Der Wein schien ihn zu beleben, er sah sich um und nickte beifällig, ein kleines undeutbares Lächeln auf den Lippen.
«Und das bewohnst du nun alles ganz allein?»
«Vorläufig ja. Das heißt, genauer gesagt, mit Foma; der Kutscher und die Köchin, ein Ehepaar, hausen drüben im Stallgebäude.»
«Was? Auch von Foma hat sich dein Vater getrennt? Das nenne ich Vaterliebe. Er wollte wohl seinen Einzigen nicht ohne Aufsicht lassen?» scherzte Morosoff.
«Ich weiß nicht», lächelte Strogany. «Eigentlich hält Papa mich ja eher für allzu solide.»
«Damit hat er auch recht», bemerkte Bronsky spöttisch. «Du bist ja wirklich nicht ganz normal.»
«Wieso nicht normal?»
«Wieso ja? Setzt sich so ein Mensch mit achtundzwanzig Jahren hin, um Medizin zu studieren! Warum eigentlich? Um irgendwelchen Hungerleidern Konkurrenz zu machen?»
«Du selbst hast doch auch studiert», warf Morosoff kampflustig ein.
«Hab' ich. Aber da war ich noch sehr grün. Habe es auch sehr bald gelassen. Wozu braucht unsereins zu studieren? Weil es Mode geworden ist? Weil man was werden muss? Ist doch alles blühender Blödsinn!» Ärgerlich warf er das lange Pappmundstück seiner Zigarette in das Kaminfeuer und griff nach einer neuen.
«Sag das nicht, Kossja», nahm Morosoff weiter Stroganys Partei, obwohl er innerlich Bronsky zustimmte. «Sieh mal — »
«Ach was, das sage ich und dabei bleibe ich.»
«Na na, nur der Tor ändert seine Ansicht nie», lachte Strogany. «Man braucht am Ende andern nicht das Brot zu nehmen. Es gibt ja leider Leute genug, die sich keinen Arzt leisten können.»
«Ach so, in Elendsquartieren Jagd auf arme Kranke machen», höhnte Bronsky. «Dazu braucht man neben anderen Vorzügen eine äußerst unempfindliche Nase. — Nun, immer noch besser» — Bronsky verschränkte in seiner halb liegenden Stellung die Hände über der Brust und sah Strogany von unten herauf an —, «wenn ein reicher Arzt auf arme Patienten Jagd macht, als wenn der — wie man nach seinen Reden ja annehmen muss — so ungeheuer sozial empfindende Graf Strogany Jagd auf Menschen macht. Auf Menschen, die irgendein verfluchtes Schicksal vom behördlich genehmigten Wege abgelenkt hat, ohne dass sie was dafür konnten.»
«Richtig», fuhr Morosoff auf. «Das ist überhaupt das erste, wonach ich dich fragen wollte. Du arbeitest doch in der Sache der Verschwundenen mit?»
«Mitarbeiten ist zuviel gesagt», wehrte Strogany ab. «Ich hatte nur einige Unterredungen mit Gnedin.» Er wandte sich zu Bronsky, ärgerlich, dass dessen unvermittelter Angriff ihm das Blut in den Kopf getrieben hatte. «Du wirft doch nicht etwa behaupten, es sei sozialer, Verbrecher einfach gewähren zu lassen? Du sagst, sie können nichts dafür. Und ihre Opfer, können die denn etwas dafür?»
Bronsky zuckte die Achseln. «Fragt sich, wer die wirklichen Opfer sind», sagte er rätselhaft. «Nun, und?» blinzelte er zu Strogany hinüber. «Hat dein fabelhaftes Schlussvermögen, von dem man so viel Rühmens hört, schon ein Ergebnis gezeitigt? Weißt du zum Beispiel, wer jene Anna Petrowna ist, die zwei der Vermissten vor ihrem Verschwinden besuchen wollten? Nicht ganz leicht, nicht wahr, bei den unzähligen Anna Petrownas, die es in Petersburg gibt?»
Strogany horchte auf. In Bronskys Stimme war ein Klang von Ironie, wie von jemandem, der mehr weiß, als er sagen will.
«Wieso? Kennst du etwa eine Anna Petrowna, die in Frage käme?»
«Ich?» Bronsky lachte auf. «Wie käme ich dazu? Ganz abgesehen davon, dass ich es nicht sagen würde, wenn ich sie kennte. Ich habe keine sozialen Regungen. — Ihr wisst also nichts?» Bronsky sah Strogany mit plötzlich wie angstvoll forschenden Augen an. «Diese politische Theorie ist natürlich Unsinn. Es muss da etwas anderes sein, etwas — » er brach ab, seine zitternden Hände führten das Glas zum Munde, er setzte es wieder hin, um seinen Inhalt nicht zu verschütten. Morosoff hatte sich vorgebeugt und starrte ihn atemlos an.
«Etwas — ? So sprich doch!» Er wandte sich aufgeregt zu Strogany. «Ich habe nämlich selbst eine ganz bestimmte Theorie, ich wollte mit dir darüber sprechen... Heißt es nicht, dass die Vermissten schon lange vor ihrem Verschwinden ,ein seltsam verändertes Wesen zur Schau getragen' haben, äußerst nervös, reizbar waren, schwere Depressionen hatten? Passt mal auf, mit dem Bronsky passiert auch noch etwas!»
Morosoff hatte sich derartig in Erregung gesprochen, dass er kaum noch an die Wirkung seiner Worte dachte.
«Wassja!» fuhr Strogany entrüstet dazwischen. Er sah besorgt zu Bronsky hinüber, der leichenblass geworden war und sich langsam aufrichtete.
«Wassja», wiederholte Bronsky heiser. «Du … du … du bist verrückt!»
Strogany, der schon Bronsky hatte beispringen wollen, hielt inne. Morosoff fuhr sich mit der Hand durch das Haar und lächelte verlegen. «Entschuldigt, Kinder, das war natürlich furchtbar blöd von mir.»
«Na. Viel weniger blöd habe ich mich ja auch nicht benommen.» Bronsky lachte ein paarmal auf. «Auf so einen Wahnsinn hereinzufallen! — Auf so einen Wahnsinn hereinzufallen!» wiederholte er. Er sah auf die Uhr. «Aber es ist höchste Zeit für mich.»
«Wieso?» erstaunte Strogany. «Ich dachte, du würdest den Abend mit uns verbringen?»
«Leider unmöglich, leider ganz unmöglich!» Eine neue Unruhe schien sich Bronskys zu bemächtigen. «Ich werde erwartet.» Er stand auf und verabschiedete sich von Morosoff, der ihm, um seine Unbeherrschtheit gutzumachen, besonders fröhlich die Hand schüttelte. «Ja — was ich noch sagen wollte. Es wird euch vielleicht interessieren.» Bronsky sah nacheinander Morosoff und Strogany mit einem undeutbaren Lächeln an. «Ich gehe jetzt zu meiner Anna Petrowna.»
Er ging schnell hinaus, offensichtlich, um Morosoff nicht Zeit zu lassen zu antworten oder eine Frage zu stellen. Strogany begleitete ihn, er half ihm in den Pelz, ergriff seine Hand und sah ihm herzlich in die Augen.
«Entschuldige! Aber du kennst ja den Wassja. Immer heraus mit dem, was er gerade im Kopfe hat!» Er lächelte. «Nun, unter Freunden — »
«Unter Freunden!» Bronsky löste mit einer ungeduldigen Bewegung seine Hand aus der Stroganys. «Freundschaft! Mein lieber Sergej, das sind hochtrabende Worte, deren Hohlheit einem um so deutlicher bewusst wird, je mehr man auf sie angewiesen — wäre. — Das heißt — » er zögerte — «eigentlich hätte ich gern einmal mit dir gesprochen.»
«Aber gern!» versicherte Strogany eifrig. «Komm jederzeit. Wenn deine Anna Petrowna dir Zeit lässt», fügte er mit forschendem Scherz hinzu.
Bronskys Gesicht verfinsterte sich, er lächelte bitter. Strogany merkte, dass er einen Fehler begangen hatte.
«Also, wie es dir passt, mein Lieber. Und komm gut nach Hause.»
Er ging zur Tür und steckte den Schlüssel ins Schloss. Der Schlüssel drehte sich nicht. Er versuchte es noch einmal, dann drückte er auf die nach einem alten Muster gearbeitete Messingklinke. Die Tür öffnete sich. Strogany sah es verblüfft. Diesmal war kein Irrtum möglich. Er hatte die Tür hinter Bronsky abgeschlossen, und das unter Umständen, die jede Gedächtnistäuschung ausschlossen.
«Was gibt's denn?» fragte Bronsky ungeduldig.
«Du erinnerst dich doch, dass ich die Tür hinter dir verschloss?»
«Dass du die Tür verschlossest? Ich glaube. Warum?»
«Weil sie jetzt offen war, wie du siehst.»
«Nun, und? Wird eben jemand hereingekommen sein und sie zuzuschließen vergessen haben. Aber verzeih, ich habe Eile!»
Strogany zog den Türflügel zurück. Bronsky trat hastig auf die Straße.
In diesem Augenblick fuhr gerade ein freier Iswostschik vorüber. Froh, einen Fahrgast in der stillen Straße gefunden zu haben, hielt er an und hob dienstbeflissen die Schlittendecke hoch. Aber Bronsky winkte mit der Hand ab, nickte Strogany zu und ging links die Straße hinunter.
Strogany sah ihm in Gedanken nach. Plötzlich schoss ihm durch den Kopf, dass er Bronsky hätte zurückhalten sollen. Sichtlich bedrückte ihn etwas. Einen Augenblick dachte er daran, ihm nachzugehen, unterließ es aber. Bronsky würde meinen, dass er ihm nachspionieren wolle und sich erst recht verschließen.
Die Tür fiel ihm ein. Er probierte das Schloss noch einmal durch. Das Schloss war in Ordnung. Blieb nur die Möglichkeit, dass einer von den Kutschersleuten herübergekommen war. Strogany ging durch die Toreinfahrt zu dem rückwärts gelegenen Stallgebäude. Er fand das Ehepaar im Begriff zu Bett zu gehen. Nein, seit den frühen Abendstunden hatte niemand von ihnen die Wohnung verlassen.
Als Strogany zurückkehrte, ging Morosoff aufgeregt in der Diele auf und ab.
«Gott sei Dank! Wo bleibst du denn?» empfing er ihn. «Ich fürchtete schon, du seist inzwischen auch mit dem Bronsky verschwunden.»
«Red' keinen Unsinn!» fuhr Strogany unwirsch auf. «Du hast darin heute schon genug geleistet.»
Er erklärte ihm den Grund seines Ausbleibens. Morosoff horchte auf.
«Ich sage dir, das geht alles nicht mit rechten Dingen zu», flüsterte er geheimnisvoll. Und du wirst sehen, dass ich recht behalte. Es sind genau die Anzeichen. Pass auf, auch Kossja wird eines Tages aufgelöst werden!»
«Aufgelöst werden! Was heißt das nun schon wieder?»
«Sag' mal, willst du mich nun endlich einmal ernst nehmen oder nicht», ereiferte sich jetzt auch Morosoff. «Schließlich kann ich ebenso gut eine Theorie haben wie du — oder nicht?»
«Du hast also eine Theorie?» lächelte Strogany amüsiert.
«Schön, reden wir nicht mehr darüber. Ich weiß, dass vor deiner Universitätsweisheit alles dummes Zeug ist was ich rede.»
«Aber nein doch!» begütigte Strogany. «Also schieß los. Was ist das mit deiner Theorie?»
Sie waren in das Kaminzimmer zurückgekehrt. Strogany schenkte ein und setzte sich Morosoff in betonter Erwartung gegenüber. Der versuchte noch einen Augenblick den zum Schweigen entschlossenen zu spielen, aber seine Theorie brannte ihm doch zu sehr auf dem Herzen, als dass er sie hätte zurückhalten können.
«Ich bin da nämlich … rein zufällig …» begann er unsicher. «Also nicht wahr, man gibt bei euch zu, dass in der Angelegenheit der Vermissten eine Anzahl geheimnisvoller Begleitumstände aufgetreten sind?»
«Was für Umstände meinst du?»
«Nun zuerst einmal die rätselhafte Veränderung der Verschwundenen. Ihr geistiges und körperliches Nachlassen, ihre Abmagerung vor allem. — Und nun erkläre mir gefälligst, wie es geschehen kann, dass Menschen, die sich nur flüchtig oder überhaupt nicht gekannt haben und die dann, jeder unabhängig vom andern, verschwinden, dasselbe Phänomen zeigen können.»
«In der Tat», sagte Strogany, «das ist die Frage, die mich auch beschäftigt, obwohl es bei der verhältnismäßig geringen Zahl der Fälle reiner Zufall sein kann — und übrigens für den des Gutsbesitzers Worowski nicht zutrifft. Und wie erklärst du es dir?»
Morosoff zögerte. «Also versprich mir, Sergej, dass du mich nicht auslachst, auch wenn es dir im ersten Augenblick unsinnig vorkommt.»
«Gern.»
«Also ich habe da, wie schon gesagt, rein zufällig, eine Stelle in einem Buch gefunden… du weißt, dass ich mich nebenbei mit Geheimwissenschaften und so beschäftige — »
Strogany nickte ergeben. Es war in der Tat, wenn man mit Morosoff verkehrte, unmöglich, es nicht zu wissen. Auch stand Wassja mit dieser “Nebenbeschäftigung” nicht allein. Sie war in seinen Kreisen, der Jeunesse Dorée die sich sonst nur mit Frauen und Pferden “beschäftigte”, stärker verbreitet, als man hätte denken sollen. Insbesondere fanden die theosophischen, mit aller Art magischer Theorien und Berichte gefüllten Bücher der Madame Blavatzki hier blindgläubige Leser.
«Nun, da stieß ich also auf eine verbürgte Überlieferung, dass es im sechzehnten Jahrhundert eine Geheimgesellschaft gegeben hat, die ihr missliebige Personen durch ein übersinnliches Verfahren verschwinden ließ!»
«Wie denn? Lösten sich die Missliebigen einfach in Luft auf oder wo blieben sie?»
«Das weiß ich nicht. Aber vielleicht weiß man es überhaupt nicht. Die Hauptsache ist, es hat das wirklich gegeben.»
«Hm. Und du meinst also, dass auch die Vermissten heute durch irgendeine Geheimgesellschaft — »
« — dematerialisiert worden sind! Ich bringe dir das Buch. Du kannst es selbst lesen.»
«Dass ich es lesen kann, dass es darin steht, glaube ich dir aufs Wort.» Strogany gab sich Mühe, sein Versprechen zu halten und nicht zu lächeln. «Nur dass sich die Dinge — damals und heute — so zugetragen haben, erscheint mir unwahrscheinlich.»
«So, du meinst also, dass es außer den bekannten Naturkräften keine gibt? Dann hätte es vor der Entdeckung der Elektrizität auch diese Naturkraft nicht geben dürfen.»
«Ich leugne durchaus nicht die Möglichkeit unbekannter Naturkräfte, meinetwegen sogar übersinnlicher Erscheinungen. Ich weigere mich nur, sie in einem gegebenen Fall zu mutmaßen, solange es andere, weniger ausgefallene Erklärungen gibt oder man hoffen kann, sie zu finden.»
«Nun das ist wenigstens annehmbarer als das übliche verbohrte Leugnen», sagte Morosoff, schnell zufrieden. «Du bist also bereit zu glauben, dass es übersinnliche Kräfte gibt?»
«Glauben? Bring mir Beweise, dann werde ich es nicht glauben, sondern wissen. Bisher sehe ich in unserm Falle nichts, was auf übersinnliche Kräfte deutet.»
«Und warum heulen die Hunde der Vermissten? Warum klopft es in den Wänden, wie die Polizei festgestellt hat?»
«Aber Wassja! Erstens hat die Polizei das nicht festgestellt, sondern nur als Aussage, meist der Dienerschaft, zur Kenntnis genommen, und dann weißt du am Ende auch, dass diese Klopftöne und heulenden Hunde bei uns immer als Erstes in Erscheinung treten, wenn jemand eines rätselhaften oder auch nur plötzlichen Todes stirbt. Wenn du keine besseren Beweise hast — » Strogany lächelte jetzt doch.
«So. Und die Türschlösser, die sich von selbst öffnen, sind auch nichts Ungewöhnliches, meinst du? Ich würde an deiner Stelle nicht so sorglos sein. Wenn das nicht eine Warnung ist — »
«Eine Warnung weswegen?»
«Dass du dich in die Sache der Vermissten eingelassen hast. — Es kann freilich auch Bronsky gegolten haben», überlegte Morosoff.
«Ja, Bronsky macht mir wirklich Sorge», versuchte Strogany, der von Wassjas Theorie genug hatte, aber den Gast nicht kränken wollte, das Gespräch unmerklich auf ein anderes Gleis zu lenken. «Man müsste ihm vielleicht zu helfen versuchen. Ich glaube, dass er ziemlich einsam ist. Ihr seid entfernt miteinander verwandt?»
«Ja, was man so Vettern nennt. Aber ich lege auf diese Verwandtschaft wirklich keinen Wert. Ich habe von den ganzen Bronskys nur die Schwester leiden mögen. Auch verschroben, aber trotz allem ein ganzer Kerl. Findest du nicht?»
«Ich habe sie nur ein paarmal flüchtig gesehen. Sie lebte nicht mehr im elterlichen Hause, als ich Bronsky kennenlernte. — Wer ist übrigens der Mann?»
«Lebte nicht mehr, ist gut», amüsierte sich Wassja. «Der Fürst hat sie kalten Herzens heraus geschmissen. — Ingenieur oder so etwas», beantwortete er Stroganys Frage. «Ich kenne ihn nicht persönlich. Man sagt, er sei politisch sehr radikal. Sie hat ihn übrigens durch Kossja kennengelernt. — Das ist es ja», kam Wassja eifrig auf sein Steckenpferd zurück. «Früher war der Kossja ein fröhlicher, offener Bursche, mit einem warmen Herzen für die ,Armen und Unterdrückten', so richtig verschwommene revolutionäre Ideen, weißt du, aber für alles interessiert — und sich ihn dir heute an! In jedem das gerade Gegenteil. Erklär' du mir das, wenn du kannst.»
Strogany antwortete mit ein paar beiläufigen Worten. Seine eigenen Gedanken beschäftigten ihn zu sehr, als dass ihn Wassjas naiv plätscherndes Gerede nicht auf die Dauer ermüdet hätte. Und so war er froh, als das Gespräch allmählich versandete und Morosoff sich zum Aufbruch anschickte. Wassja beugte sich neugierig zu dem Türschloss, das aber diesmal richtig verschlossen geblieben war, und verabschiedete sich von Strogany. «Und danke schön auch, dass du einmal regelrecht mit mir diskutiert hast. Ich bin dir ja natürlich nicht gewachsen. Aber — weißt du was, ich reiche dir das Buch gleich morgen früh herein. Es wird dich auch sonst interessieren.»
«Tu das, Wassja.»
Das Geheimnis des Türschlosses
Strogany verschloss aufatmend die Tür. Er blieb in der Diele stehen und lauschte. Das Haus lag in tiefer Stille. Er zögerte, entschloss sich aber dann, in das Kaminzimmer zurückzugehen. Die Tür zum Vorzimmer ließ er offen. Foma musste jeden Augenblick zurückkommen. Strogany liebte es, sich noch am Abend von ihm erzählen zu lassen, wie es gewesen war, und sich an seiner kindlichen Begeisterung zu freuen. Auch fühlte er sich zu unruhig, gleich zu Bett zu gehen.
Er setzte sich in einen Sessel vor den Kamin und stocherte mit der Feuerzange in der erlöschenden Glut. Hm. Wie so eine beiläufig herausgeschnellte Bemerkung treffen kann. «… Wenn ein reicher Arzt auf arme Patienten Jagd macht … Jagd auf Menschen …» Bronsky hatte es kaum sachlich gemeint, es war ein beliebiger Ausdruck seiner Reizbarkeit. Aber traf es deshalb weniger zu? Gewiss, man konnte sich darauf zurückziehen, dass Medizin zu studieren immer noch besser war als die leere oder gar lasterhafte Nichtstuerei, mit der die andern ihre Tage ausfüllten, und was die Jagd auf arme Patienten anging, so blieb immer die Möglichkeit, rein wissenschaftlich zu arbeiten. Wenn man es dann aber wenigstens tat! Wenn man das Studium so ernst nahm wie der erstbeste “Hungerleider”, den sein schmaler Geldbeutel zwang, die Examina in der kürzestmöglichen Frist abzulegen. Statt dessen braucht nur eine zufällige Begegnung dazwischen zu kommen, und man ist gleich bereit, der Jagd auf arme Patienten zwischendurch ein bisschen die Jagd auf Menschen zu gesellen. Und warum? Aus sozialen Beweggründen? Natürlich war es leicht, der Verbrecherromantik Bronskys Widerpart zu halten, man konnte andern und — sich selbst beweisen, dass die Bekämpfung des Verbrechens auf anderem Felde die gleiche Gesundheitshilfe war wie die ärztliche Tätigkeit. Aber Hand aufs Herz: Hatte es sich je anders bewiesen als zu dem Zweck, etwas, was ihm Spaß machte, vor sich selbst zu rechtfertigen? Ein Sport genau so wie Pferderennen, Wetten und — Geheimwissenschaften. Was aber blieb dann von dem andern? Wurde nicht auch das medizinische Studium ein Sport den man sich leistete, weil man es sich leisten konnte, um, wenn es so kam, daneben und dazwischen einen dritten, vierten, fünften Sport zu betreiben? —
Sergej Strogany war der einzige Sohn eines der reichsten Männer Petersburgs. Seine Mutter — eine Deutsche — starb früh. Der Vater hatte ihm die fehlende Mutterliebe zu ersetzen versucht und ihn dabei maßlos verwöhnt. Aber das hatte, als Ausnahme von der Regel, keinen nachteiligen Einfluss auf ihn gehabt. Im Gegenteil, vielleicht hatte er sich darum um so früher die Hörner abgelaufen.
Dabei war er nicht etwa seelisch oder geistig überzüchtet. Eine energische, lebendige Natur und, bis auf eine merkwürdige Schüchternheit Frauen gegenüber, ein richtiger Draufgänger, wenn es sich ergab, oder er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. So war er als Rennreiter wegen seiner Tollkühnheit berühmt und ein Schrecken für die Wetter. Öfter, als ihnen lieb war, steuerte er durch seinen rücksichtslosen Einsatz im Hindernisrennen Pferde zum Siege, die als chancenlos galten.
Mit fünfundzwanzig Jahren hatte er das elegante Nichtstun gründlich satt, ohne noch zu wissen, wodurch er es ersetzen solle. Offizier zu werden, dafür war es wohl schon zu spät, auch widersprach es seinem Unabhängigkeitsdrang. Das Nächstliegende schien ihm, Jura zu studieren und vielleicht einmal ein öffentliches Amt zu bekleiden. Aber die Trockenheit der Disziplin ließ sein Interesse bald erlahmen. So sattelte er um, halb aus Vorliebe für biologische und psychologische Probleme, halb aus bestimmten idealistischen Gedankengängen heraus, die die neue Welt des Universitätslebens in ihm entwickelt hatte.
Zum erstenmal nämlich war Strogany mit anderen Menschen als denen seiner eng begrenzten Kaste in nähere Berührung gekommen, und es wirkte auf ihn wie eine aufregende Entdeckung. Seine Mitstudierenden, die er bei den Vorlesungen kennenlernte und mit denen er dann, wie mit ihren Freunden aus andern Fakultäten, auch privat zusammenkam, würden sich gewundert haben, wenn sie gewusst hätten, wie romantisch er oft ihre Anschauungen, ihre Zukunftsabsichten, ja, ihre einfachsten Lebensäußerungen aufnahm und ausdeutete. Ein naiver Enthusiasmus ließ ihm alles, was sie taten oder dachten, in verklärendem Licht erscheinen, so sehr, dass er geneigt war, jedes, was sie von seinen eigenen Standesgenossen unterschied, vor allem auch ihre wirtschaftlichen Bedrängnisse und wie sie damit fertig wurden, als etwas Höheres anzusehen. Und da er es ihnen darin — in der wirtschaftlichen Bedrängnis — mit dem besten Willen nicht gleich tun konnte, so war er um so mehr bemüht, zunächst einmal ihre Ideale zu den seinen zu machen, leicht erschreckt allerdings, wenn diese Ideale sich ins Politische oder gar Revolutionäre wandten. Gewiss, das Drohnenleben vieler seiner Standesgenossen machte ihm den bitteren Groll dieser hart um Leben und Leistung Kämpfenden verständlich, aber tat er, indem er ihr Leben mit ihnen teilte, nicht das Seine, zu beweisen, dass es nicht immer so zu sein und zu bleiben brauchte?
Indes, er war zu klug, um auf die Dauer nicht zu erkennen, dass es mit diesem 'das Leben teilen' doch eine recht fragwürdige Bewandtnis habe. Was teilte er denn mit ihnen? Ihre Gesellschaft, mit dem Austausch von Gedanken und Erfahrungen, wobei sie sicher mehr gaben als er, mochte er noch so großzügig den Gastgeber machen oder auch unauffällig helfen, wo es gerade nötig war, nie unauffällig genug, dass es ihn nicht doch beschämt hätte. Eine Messerspitze von seinem Überfluss — aber wenn es ihm passte, ließ er dies Studium, das ihre ganze Existenz bedeutete, gleichgültig fallen, ohne andere Sorge als die, wie er die frei werdende Zeit ausfüllen solle. Und nun kam dieser Bronsky und legte, ohne es eigentlich zu wissen und zu wollen, den Finger auf die empfindlichste Stelle!
Der Schlag der Standuhr in der Ecke riss Strogany aus seinen Gedanken. Er zog ungläubig seine Taschenuhr, um zu vergleichen. Wahrhaftig, halb eins! Das Feuer im Kamin war niedergebrannt, von der Diele durch die offene Tür zog es kühl herein. Er konnte doch Fomas Kommen nicht überhört haben? Ausgeschlossen! Auch hätte Foma sich selbst gemeldet, wenn er durch die offene Tür Licht im Zimmer sah. Aber wo blieb er denn? Selbst wenn das Theater spät aus war, hätte er längst zurück sein müssen. Strogany fühlte ein Unbehagen, nicht eben Angst, aber doch, etwas, das ihn unsichtbar anhauchte und die Nerven spannte. Kam es aus dem draußen schwarz schweigenden Treppenhaus, dessen Stille sich mit dem Nachhall von Wassjas konfusem Gerede verbündete? Die zweimal verschlossene und wieder geöffnete Tür — erst jetzt wurde es Strogany deutlich, dass es ihn unterbewusst die ganze Zeit über beunruhigt hatte. Verständlich genug. Er hätte gleich im Hause nachforschen sollen. Es brauchte keine Warnung aus dem Übersinnlichen zu sein. Am Ende konnte es eine sehr reale Gefahr bedeuten, warum hatte er es eigentlich nicht getan?
Strogany schrak zusammen. Draußen in der Diele war plötzlich das Licht aufgeflammt, ohne dass die Haustür gegangen wäre. Gleichzeitig kam von oben ein Geräusch… Strogany sprang auf: Fomas Ausbleiben, das offene Schloss. … Schritte näherten sich die Treppe herunter. In der Tür stand Foma, notdürftig angezogen.
«Ich dachte, der Herr Graf … Ich sah den Lichtschein hier unten durch das Fenster, ich dachte, der Herr Graf hätten auszulöschen vergessen.»
«Foma, du! Ich habe mir schon Unruhe um dich gemacht. Wie bist du denn hereingekommen?»
«Schon lange. Ich hörte die Herren drinnen reden. Die Loge im Theater war besetzt. Drei Herren und eine Dame, wie der Logenschließer mir sagte.»
Strogany schlug sich vor den Kopf. «Richtig! Welchen Tag haben wir heute? Natürlich! Ich habe ja den Dunskis die Loge für heute gegeben. Übrigens — du hast wieder vergessen, die Tür hinter dir abzuschließen», fügte er mit leichtem Vorwurf hinzu.
«Ich weiß nicht … Ich glaube — »
«Halt mal», hielt er Fomas reumütige Entschuldigungen zurück. «Und als du gingst...? Wann bist du eigentlich gegangen? War ich da noch allein, oder — ?»
Foma bedachte sich. «Ja», fiel ihm ein. «Es hing wohl ein fremder Pelz in der Garderobe.»
«So!» Strogany lachte befreit auf. «Also hast du es zweimal an einem Abend vergessen! Ich würde mich nicht wundern, wenn sie uns noch das ganze Haus wegtragen. Na, dann ist ja alles in Ordnung», lächelte er vergnügt. «Einmal wirst du dich ja wohl daran gewöhnen. Armer Foma, tut mir leid, dass du um den langen Wagner gekommen bist. — Und nun geh wieder zu Bett. — Das kannst du morgen herausnehmen», wehrte er Foma, der sich verlegen an dem auf dem Tisch vor dem Kamin stehenden Geschirr zu schaffen machte. —
Es ist schon so, dachte Strogany, als er sich bald darauf in seinem Ankleidezimmer entkleidete. Mach dich noch so frei von allen «Gespenstern» und Beklemmungen, irgendwo hat es dich doch beim Wickel. Weil zu Hause immer jemand da war, der die Tür hinter ihm verschloss, kann sich Foma hier nun einmal nicht daran gewöhnen. Und warum kam ich nicht auf diesen Nächstliegenden Gedanken? Warum nicht? Mach dir nichts vor, mein Lieber! Irgendwie hat es auch in dir gespukt: Das Geheimnis um die Vermissten, Bronskys seltsame Verwandlung, ja sogar — schäme dich! — Wassjas geheimwissenschaftliche Theorie. Es liegt eben in der Luft, man hat es von Kind auf eingeatmet, unser ganzer Volksglaube, und nicht nur der Volksglaube ist davon durchsetzt: der Teufel, böse Geister, die überall ihr Spiel treiben, und, wenn das Christentum sie zwingt, ihretwegen auch in die Gestalten der Heiligen auf unseren Ikonen schlüpfen. Die orthodoxe Kirche häuft nicht wie die katholische Dogmenstreit über Dogmenstreit, aber als Peter der Große die Zauberbärte der Popen abschaffte, hat es richtigen Aufruhr gegeben, und sie sind siegreich wieder zurückgekehrt! Es wird schon stimmen, was jener Forschungsreisende mir erzählte, dass einsam lebende Europäer im schwarzen Erdteil, ob sie es wollen oder nicht, vom Dämonenglauben ergriffen werden. Und was beim niederen Volke allerprimitivster Geisterglaube ist, das verfeinert sich bei unseren Halbgebildeten bis hoch hinauf zu Wassjas Geheimwissenschaft: weil sie die Leere und Inhaltlosigkeit ihres Lebens nicht ertragen können und etwas haben müssen, woran sie sich halten. Etwas… ja, und etwas ist es auch bei Bronsky und etwas auch bei den Vermissten, nur dass ich nicht dahinter komme, verwirrten sich seine Gedanken, als er sich hingelegt hatte. Aber bevor er noch ganz hinüberschlief, nahm er sich vor, gleich am Morgen zu Bronsky zu gehen und zu versuchen, ob er dieses “etwas” nicht noch rechtzeitig enträtseln könne.
Eine gewisse Person
Strogany erwachte mit einem frischen Gefühl, als habe das, was ihn am vergangenen Abend beunruhigte und bedrückte, während des Schlafes von selbst seine Lösung gefunden. Das kommt wahrscheinlich, überlegte er in seinem immer wachen Anteil an psychologischen Erklärungen, weil das Rätsel des Schlosses mir irgendwo im Hirn steckte, und das durch die überraschend einfache Lösung erzeugte Wohlgefühl hat dann alles andere getönt und einbezogen. Aber wie dem auch sei, in der Tat ist das alles ganz einfach. Unsicher, wie ich im ganzen bin, macht die Unstetheit, mit der ich zwischen meinem medizinischen Studium und diesen kriminalistischen Fragen hin- und herspringe, mich nur noch unsicherer. Ich habe also nichts Besseres zu tun, als mich auf eine Sache, und das ist natürlich das Studium, zu konzentrieren. Aus der Sache der Vermissten kann ich ja zunächst nicht heraus, überlegte er weiter. Es sähe aus, als ob ich gleich beim ersten Misserfolg die Flinte ins Korn würfe. Schön, dann wird dieser Fall also mein erster großer und zugleich mein letzter sein.
Gleich nach dem Frühstück ließ er anspannen, um, seinem Vorsatz gemäß, zu Bronsky zu fahren. Der Frost, der in den letzten Tagen schneidend gewesen war, schien nachgelassen zu haben. Hohe Schneeberge türmten sich an den Rändern des Fahrdammes unter den Schaufeln der Dworniki, die alle Mühe hatten, die Bürgersteige vom nächtlichen Schneefall zu säubern. Der frische, blaue Morgen verscheuchte den letzten Nachhall des vergangenen Abends. Strogany war überzeugt, Bronsky so gesund und munter wie sich selbst vorzufinden.
Um so unangenehmer überraschte es ihn, als der Diener ihm mitteilte, der junge Fürst sei seit gestern noch nicht zurückgekehrt. — Nein, es sei nicht das erste Mal, gab er zögernd auf Stroganys weitere Frage Auskunft. Der Fürst sei in der letzten Zeit häufiger erst zum Mittagessen gekommen. Strogany unterdrückte das Gefühl der Unruhe, das sich wieder melden wollte. Was war schließlich dabei beunruhigend, wenn ein unabhängiger junger Mann gelegentlich die Nacht nicht zu Hause verbrachte! Er ließ sagen, dass er am Nachmittag wieder vorsprechen werde.
Draußen blieb er unschlüssig stehen. Womit sollte er, nachdem das Gespräch mit Bronsky ausfiel, den Morgen ausfüllen? Er schüttelte den Kopf. Der Gedanke, wieder einmal seine Vorlesungen zu besuchen, schien ihm wirklich recht fern gerückt zu sein, wenn etwas anderes ihn erst darauf bringen musste. Wie leicht sich so ein geschäftiger Müßiggang einnistet, wenn nicht irgendeine Peitsche dahintersteht! Strogany beschloss, seine guten Vorsätze vom Morgen gleich in die Tat umzusetzen und auch den Gedanken an das, was ihm die Vorlesungen ins Gedächtnis gerufen hatte, nach Möglichkeit auszuschalten.
Dennoch konnte er ein Gefühl der Enttäuschung nicht loswerden, als die Vorlesung begann, ohne dass eine gewisse Person ihren gewohnten Platz eingenommen hatte. Lydia Martowa versäumte keine Stunde, wenn es nicht unbedingt sein musste. Blieb sie aus, so hatte sie einen wichtigen Grund, meistens den, dass es ihrer Schwester wieder einmal wenig gut ging. Strogany merkte, wie er, ohne auf den Vortrag zu hören, von neuem über einen Weg nachsann, den Schwestern zu helfen, ohne dass er ihrem empfindlichen Selbstgefühl zu nahe trat.
Unwillkürlich schnipste er mit den Fingern, die Köpfe der Umsitzenden wandten sich ihm erstaunt zu, er tat, um seine Verlegenheit zu verbergen, als ob er aufmerksam den Worten des Professors lausche. Ein ganz glänzender Gedanke, wie ihm schien, der ihm da durch den Kopf gefahren war! Ja, so ging es! Und er konnte sich sogleich auch eine Gewissheit verschaffen, die ihm sehr wichtig war. Zufrieden dachte er es schnell noch einmal durch, um sich dann mit echter Aufmerksamkeit auf den Vortrag und seinen Gegenstand, Funktion und Tätigkeit der Leber, zu konzentrieren.
Aber er musste zu seinem Unbehagen feststellen, dass es ihm nicht gelang, und zwar aus einem beschämenden Grunde. Er vermochte nicht zu folgen, weil er über der Sache der Vermissten eine Anzahl von Vorlesungen versäumt hatte und sich in den Namen und Bezeichnungen, die der Vortragende ganz selbstverständlich gebrauchte, nicht zurechtfand. Er gab sich noch eine Zeitlang Mühe, aber dann verzichtete er. Er kannte das Katergefühl, das das selbstverschuldete Halb, oder Nichtbegreifen mit sich brachte. Er beschloss, lieber erst alles nachzuholen und auch die gleich anschließenden physiologischen Übungen lieber schwimmen zu lassen, obwohl es hier auf Ein- oder Mehrmalgefehlthaben nicht ankam. Er würde statt dessen zu Lydia fahren und sich ihr Kollegheft ausborgen. Dabei bot sich dann auch die Gelegenheit, den doppelbödigen Gedanken, der ihm gekommen war, zur Ausführung zu bringen. —
Strogany war Frauen gegenüber schüchtern, wenngleich nicht in der üblichen Art. Sein Erzieher und ständiger Begleiter war Monsieur Leblanc gewesen. Ein Pariser der alten Schule. Der hatte ihm zwei Grundsätze für den Umgang mit Frauen mitgegeben. Erstens: Die Frau ist die höchste Kostbarkeit auf Erden, sie ist dir Krone der Schöpfung, und zweitens: Man darf keine Ansprüche an sie stellen. Weder in geistiger noch in seelischer Beziehung. Eine Frau hat bestenfalls Esprit, und dann nennt man es bei ihr Geist. Ernstere Gespräche langweilen sie, auch vermag sie ihnen nicht zu folgen. Und es gibt nichts Tölpelhafteres, als eine Frau zu langweilen. Es ist auch gar nicht schwer, sie zu amüsieren. Man braucht nur so zu tun, als liebte und verehrte man sie. Dies überzeugend zu können — das sei die Kunst und die Aufgabe eines jeden wirklichen Kavaliers, der Anspruch auf diesen Ehrentitel erhebe.
Strogany beherrschte diese Kunst. Und er hatte ungewöhnliche Erfolge mit ihr, zumal er es verstand, auch den banalsten Komplimenten einen warmen, überzeugenden Unterton mitzugeben.
Trotzdem wurde er mit der Zeit immer schüchterner. Denn er suchte in der Frau mehr als jene Krone der Schöpfung, an die man keine Ansprüche stellen dürfe. Er wollte Ansprüche stellen. Nach Enttäuschungen begann er aber zu fürchten, Monsieur Leblanc könnte doch recht haben, und diese Furcht führte zu jener Unsicherheit, die das Grundelement jeder Schüchternheit ist.
Auf der Universität lernte er dann einen ganz anderen Typus von Frauen kennen, und seine Hoffnungen erhielten neue Nahrung. Ganz besonders beeindruckte ihn die Medizinstudentin Lydia Martowa. Das auffallend schöne Mädchen hatte lange seine Aufmerksamkeit erregt, ohne dass er den Versuch gemacht hätte, sich ihr zu nähern. Das lag vor allem daran, dass die Martowa stets von einer Schar von Bewunderern umlagert war, die sich vergeblich um sie bemühten. Strogany wollte sich dem Rudel dieser Erfolglosen nicht anschließen, und so hätte er sie wohl kaum je kennen gelernt ohne den Schwächeanfall, den sie vor etwa einem Jahr erlitt und der ihm Gelegenheit gab, sie in seinem Schlitten heimzufahren. Von da ab hatte sich ein allmählich immer regerer Verkehr entwickelt, und es verging jetzt selten eine Woche, ohne dass er sie ein-, zweimal besuchte.
Lydia war Waise. Ihr Vater — ein bekannter Bakteriologe — war vor zwei Jahren der früh verstorbenen Mutter gefolgt. Seitdem bewohnte sie gemeinsam mit ihrer älteren Schwester Nadjeschda eine kleine Wohnung im vierten Stock einer Mietskaserne. Sie hatten es nicht leicht, die Schwestern. Denn der Vater hinterließ ihnen fast nichts, und zudem waren Nadjeschdas Lungen bedenklich angegriffen. Trotzdem tat sie verbissen Tag für Tag ihren Dienst als Sekretärin in einem Krankenhaus. Früher war sie dort als Operationsschwester tätig gewesen, als jedoch ihr Leiden zunahm, wurde sie in das Büro versetzt, da mit Ansteckungsgefahr für die Patienten gerechnet werden musste. Besonders hart fiel ihr der Dienst im Winter, wenn das nasskalte Petersburger Klima sogar für Gesunde nur schwer zu ertragen war. Der Arzt riet dringend zum Süden, aber daran war nicht zu denken, da Nadjeschdas Gehalt gerade für den Lebensunterhalt der Schwestern reichte. Trotz des Stipendiums, das der Tochter des verstorbenen Professors gewährt wurde, fiel es schwer, Lydia das Studium zu ermöglichen.
Strogany hatte schon oft versucht, den beiden zu helfen, aber in diesem Punkte waren sie sehr empfindlich. Eine Zeitlang hatte er Lebensmittel geschickt, indem er vorgab, mehr vom Gut erhalten zu haben, als er verbrauchen konnte. Aber sehr bald ließ Nadjeschda die Bemerkung fallen, es sei doch nun an der Zeit, den Gutsverwalter zu veranlassen, seine Sendungen auf das richtige Maß einzuschränken.
Lydias Art und Haltung gaben Strogany mehr als ein Rätsel auf. So ernst er sie vom Kolleg her kannte, so fröhlich, ja kindlich ausgelassen gab sie sich, nachdem ihre anfängliche Scheu ihm gegenüber einem kameradschaftlichen Verhältnis gewichen war. Sie konnte stundenlang angeregt und mit viel Humor leicht hinplaudern und sich plötzlich vollkommen verändern, sowie das Gespräch auf ernstere Dinge, vor allem die Medizin kam. Niemand hätte dann noch die kurz vorher so lustige, fast oberflächlich erscheinende junge Dame wiedererkannt. Die Stimme, die Haltung, die Art, sich auszudrücken, alles änderte sich mit einem Schlage.
Aber das war nicht das Einzige und nicht einmal das Wichtigste. Weit tiefer beunruhigte Strogany die Undurchsichtigkeit ihrer Gefühle gegen ihn. Sie schien in ihm nur etwas wie einen großen Bruder zu sehen. Er dagegen war bereits seit längerer Zeit entschlossen, sie zu fragen, ob sie ihn heiraten wolle. Wenn er immer wieder zögerte, so geschah es weniger aus Furcht vor einer Absage — die durchaus möglich war — als vielmehr vor einer Zusage, die weniger der Neigung als sogenannten vernünftigen Überlegungen entspränge. Zwar glaubte er Beweise genug zu haben, dass Lydia nicht materiell gesinnt war. Gerade ihre innere Unabhängigkeit, die Menschen und Verhältnisse nur nach ihrem wirklichen Wert zu beurteilen schien, hatte ihn so stark angezogen. Dennoch blieb da ein kleiner Rest, stark genug, ihn zu hemmen. Sicher war er ihr als Mensch nicht unsympathisch. Andererseits hatte sie bei den traurigen Verhältnissen, in denen sie lebte, erhebliche Vorteile von einer Verbindung mit ihm, und wenn sie sich auch nicht bewusst davon bestimmen ließ, war es immerhin möglich, dass ihr Entschluss anders ausfiel, wenn sie sich in einer gesicherten oder auch nur weniger trostlosen Lage befände. Dieser Gedanke machte ihm mehr zu schaffen, als er sich selbst eingestehen wollte, und gerade das war es, was ihn doch immer wieder zögern ließ, wenn sein Gefühl zur Entscheidung drängte.
Unterwegs kaufte Strogany einen großen Strauß Rosen sowie eine Riesenschachtel Konfekt. Obwohl er nach Lydias Fehlen im Kolleg damit rechnen musste, Nadjeschda zu Hause anzutreffen, war er doch etwas enttäuscht, als er sie wirklich vorfand. Er hätte Lydia gerade heute so gern allein gesprochen; der Plan, den er ausgeheckt hatte, freute ihn so, dass er ihr dadurch allein ein ganzes Stück nähergekommen zu sein glaubte. Aber seine Enttäuschung wich sofort ehrlichem Mitleid, als er erfuhr, Nadjeschda habe einen so schweren Hustenanfall gehabt, dass es ihr unmöglich gewesen sei, das Haus zu verlassen. Das war nun bereits das dritte Mal in den letzten vierzehn Tagen, und so musste man damit rechnen, dass ihr häufiges Fehlen schließlich zur Kündigung führen würde. Was das aber zu bedeuten hätte, wagten sich die Schwestern gar nicht erst vorzustellen.
Strogany sah Lydia an. Ihr klares, von dunklen Haaren umrahmtes Gesicht in seinem Dreiklang von Weiß, Schwarz und Rot, wie es so rein nur die Russinnen und die Tscherkessinnen haben, schien ihm in seinem tiefen Ernst noch schöner als sonst. Erst widerwillig suchte er den Übergang zu dem heiteren Ton, den er brauchte, um seinen Plan einzufädeln. Es gelang ihm in dem Maße, wie er selbst die Vorfreude empfand, die beiden Frauen von der Sorge, die so schwer auf ihnen lastete, befreit zu sehen.
“Warum spielen Sie nicht eigentlich mal in der Lotterie?» fragte er wie von ungefähr.”
«Weil man doch nie gewinnt. Mein Vater kaufte manchmal Lose des Roten Kreuzes, aber es ist nie eins herausgekommen.»
«Dann haben Sie es falsch gemacht. Mir hat neulich jemand einen todsicheren Tipp gegeben.»
«Nun und?»
«Es ist ganz einfach. Man kauft Lose und verschenkt die Hälfte. Dann gewinnt der Rest.»
Lydia lachte. «Haben Sie es schon versucht?»
«Nein. Aber ich will es probieren. Morgen kaufe ich mir vier Lose und schenke davon jeder von Ihnen eins.»
«Ja, glauben Sie denn im Ernst daran?» staunte Nadjeschda.
«Warum soll ich es nicht einmal versuchen? Ich kaufe ohnehin zur Unterstützung des Roten Kreuzes jedes Jahr Lose. Bisher behielt ich alle selbst und habe nie gewonnen.»
«Und wenn nun gerade die verschenkten Lose gewinnen?»
«Nun, dann ist es eben mein Pech. Aber es soll nicht vorkommen, behauptet mein Gewährsmann.»
«Selbstverständlich würde man in einem solchen Fall das Los zurückgeben», überlegte Lydia.
«Nein, das darf natürlich nicht sein! Dann wäre es ja nur ein Scheingeschenk, und das machte den Zauber unwirksam. Sie müssten es schon einkassieren. Abgemacht?»
«Aber es wäre doch höchst peinlich für uns, wenn eins dieser Lose gewänne.»
«Warum? Umgekehrt wäre es peinlich, ein kleines Geschenk zurückzunehmen, nachdem es durch einen Zufall Wert erhalten hat.»
«Sie sind doch manchmal ein sonderbarer Mensch», sagte Nadjeschda warm.
«Abgemacht?»
«Meinetwegen», lachte Lydia. «Da aller Wahrscheinlichkeit nach ja doch keins der Lose herauskommt.»
«Abgemacht. Ich schicke Ihnen noch heute die Lose», sagte Strogany befriedigt. «Was würden Sie eigentlich tun, wenn Sie einen namhaften Betrag gewönnen?»
«Oh, ich wüsste schon, was ich täte», meinte Nadjeschda. Ein Schatten glitt über ihr schmales Gesicht. Die Frage hatte ihr das Elend ihrer Lage wieder bewusst gemacht. «Aber es hat keinen Zweck, sich das auszumalen», setzte sie lächelnd hinzu. «Denn Ihr Zauber wirkt doch gar nicht auf die verschenkten Lose, sondern nur auf die eigenen. Wie er immer nur bei denen wirkt, die ihn nicht nötig haben.»
Erst im Weggehen fiel Strogany ein, dass er sich Lydias Kollegheft hatte ausborgen wollen. Sie gab es ihm mit einem kleinen Zucken um die Mundwinkel.
«Was ist Ihnen denn nun wirklich wichtig? Die Spielerei mit den Losen oder das Kollegheft?»
Strogany sah sie an. «Immer das wirklich Wichtige», sagte er vieldeutig. «Oder glauben Sie nicht, dass man lachend ernst sein kann?»
«Sie sind schon ein sonderbarer Mensch, Nadjeschda hat recht», meinte sie nachdenklich, während sie ihn zur Tür begleitete. Der Ton ihrer Stimme schwang ihm noch nach, nachdem er sie verlassen hatte, zumal ihm schien, als habe ihre Hand beim Abschied einen Augenblick länger als sonst in der seinen gelegen.
Er sah auf die Uhr und stellte fest, dass es noch Zeit war, zu Botkin, dem Vorsitzenden des Roten Kreuzes, zu fahren. Er war ihm oft bei seinem Vater begegnet, der als eifriger Förderer dieser Institution viel mit Botkin zu tun hatte. Dass er ihn persönlich kannte, kam ihm jetzt sehr gelegen.
Botkin empfing ihn mit jener Liebenswürdigkeit, die der einzige Sohn aus reichem und angesehenem Hause bei Hilfs- und Wohltätigkeitsanstalten allemal erwarten darf.
«Ich hätte eine große Bitte an Sie, Herr Botkin», begann Strogany. «Sie ist allerdings etwas sonderbar.»
«Es würde mich freuen, dem Sohn eines Mannes, dem wir so viel verdanken, einen Dienst erweisen zu können.»
«Ja», lächelte Strogany. «Eigentlich sind es zwei Anliegen. Die erste Bitte wäre, dass Sie mir gütigst erlassen, die Gründe meiner zweiten Bitte zu nennen.»
«Aber gern», lachte Botkin. «Ich zeichne mich durch einen völligen Mangel an Neugier aus.»
«Glänzend. Also — meine zweite Bitte: Ich möchte ein Los haben, das so zwischen zehn- und fünfzehntausend Rubel gewonnen hat.»
Botkin sah ihn betroffen an. Wie? Glaubte der junge Strogany, es läge im Belieben des Roten Kreuzes, auf ein bestimmtes Los einen Gewinn fallen zu lassen?
«Das», stotterte er, «das wird nicht gut einzurichten sein.»
«Aber nein, Herr Botkin», lachte Strogany», «ich meine natürlich ein Los, das bereits gewonnen hat. Das von irgendeinem Gewinner bei Ihnen vorgelegt wird und für das Sie dem Betreffenden die Gewinnsumme aushändigen. Und zwar stelle ich es mir folgendermaßen vor: Ich übergebe Ihnen hier einen Scheck über fünfzehntausend Rubel. Von diesem Geld zahlen Sie dem Gewinner seinen Gewinn aus und übergeben mir das Los. Wenn es dann später vorgelegt wird, zahlt das Rote Kreuz dafür den Gewinnbetrag und behält den etwaigen Überschuss für sich.»
Botkin begriff. «Ach so», sagte er erleichtert.
«Geht es zu machen?»
«Doch. Ich lasse den Gewinner zu mir auf mein Zimmer kommen und bezahle ihm den Gewinn mit Ihrem Geld. Später wird es dann von der Kasse eingelöst. Ja, das wäre zu machen.»
«Ich wäre Ihnen außerordentlich dankbar, Herr Botkin. Wann ist die nächste Ziehung?»
«Die ist heute.»
«Schon heute? Kann ich noch ein paar Lose kaufen?»
«Leider nicht. Der Verkauf ist seit gestern geschlossen.»
«Gibt es denn gar keine Möglichkeit, noch drei Lose zu erhalten? Damit steht und fällt nämlich alles.»
Botkin überlegte. Der etwaige Überschuss war schon der Mühe wert. «Wenn es nicht mehr sind, soviele kann ich Ihnen schon von meinen eigenen abgeben.»
«O, das wäre nicht einmal nötig. Es genügte, wenn Sie sie mir auf ein paar Tage leihen. Der etwaige Gewinn bleibt natürlich Ihnen.»
Strogany stellte den Scheck aus. Botkin versprach, bei Strogany anzurufen, sowie sich ein Gewinner mit einem Anspruch zwischen zehn-und fünfzehntausend Rubeln melden würde.
«Wann könnte das sein?»
«Vielleicht schon morgen. Die Gewinnlisten werden allerdings erst in den nächsten Tagen gedruckt und verschickt, aber oft melden sich die Gewinner bereits auf die Veröffentlichung in den Tageszeitungen.»
Strogany verabschiedete sich mit erneutem Dank. Beim Essen zu Hause ertappte er sich ein paarmal dabei, dass er laut und fröhlich auflachte, zur Freude Fomas, der darin eine alte Gewohnheit Sergejs aus glücklicher Knabenzeit wiedererkannte.
Jede Lösung für möglich zu halten…
Am Nachmittag fuhr Strogany wieder zum Bronskyschen Palais. Konstantin war immer noch nicht zurückgekehrt. Der Diener meldete, der alte Fürst lasse den Herrn Grafen bitten, einen Augenblick bei ihm vorzusprechen. Strogany legte ab und stieg die Treppen zum oberen Stockwerk hinauf, das von den alten Herrschaften bewohnt wurde.
Fürst Bronsky, eine imposante Erscheinung im Stile eines Diplomaten der alten Schule, empfing Strogany nicht gerade sehr liebenswürdig.
“Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind», sagte er leichthin. «Können Sie sich ein Bild davon machen, warum Konstantin nichts von sich hören lässt?»
«Leider nicht, Durchlaucht. Ich fürchte fast, es ist ihm etwas zugestoßen.»
«Ich bin dessen sogar sicher. Es gehörte zu den wenigen Tugenden meines Sohnes, dass er uns stets wissen ließ, wenn er verhindert war, an der gemeinsamen Tafel zu erscheinen. Ich beabsichtige, eine Belohnung für seine Auffindung auszusetzen, wenn wir bis morgen nichts von ihm hören. — Lässt sich sonst etwas tun?»
«Ich wüsste nicht.»
«Konstantin erzählte, dass Sie so eine Art Liebhaber-Detektiv sind. Ein Sport, unter dem ich mir allerdings wenig vorzustellen vermag und für den mir auch jedes Verständnis fehlt.»
Strogany nickte. «Die Freude am Denken ist ja keine Allgemeinerscheinung.»
«So», lächelte der Fürst ironisch. «Das hat also mit Denken zu tun? Und was «denken» Sie denn nun über das Verschwinden meines Sohnes? Steht es im Zusammenhang mit dem der anderen Vermissten?»
«Das lässt sich vorläufig noch nicht entscheiden.»
Der Fürst trommelte nervös mit seinen gichtischen Fingern auf der Tischplatte. «Ein Skandal ist das! Seit Monaten verschwinden Leute, einer nach dem andern, und die Polizei sieht einfach zu! Das wäre früher nicht möglich gewesen. Niemals! Es ist eben heute alles faul bei uns. Alles!»
«Ich glaube, dass die Polizei weder damals allmächtig war, noch dass sie es jemals sein wird. Das liegt nun mal in der Natur der Sache. Soviel mir bekannt ist, werden eben die größten Anstrengungen gemacht, um dies merkwürdige Verschwinden aufzuklären.»
Bronsky sah zum Fenster hinaus. Dann stand er auf und reichte Strogany die Hand.
«Warten wir es also ab.»
Kein Wort weiter über den Sohn, kein Schatten der Trauer, ja auch nur der Sorge. Als handelte es sich um nichts mehr als eine ärgerliche Angelegenheit, deren Ausgang eben abgewartet werden muss. Strogany hatte schon viel von der Merkwürdigkeit des alten Fürsten und seiner eisigen Kälte gehört. «Nur keine Sentimentalitäten» war, so hieß es, sein oft wiederholter Lieblingsausspruch. Dass es aber so weit ging, hätte er nicht für möglich gehalten. Es war kein Wunder, dass sich alle von den Bronskys zurückgezogen hatten, und es war weiter kein Wunder, dass Kossja, mit diesem Erbteil belastet, zum Sonderling geworden war, dem es — sofern er noch lebte — einmal genau so gehen würde.
«Noch eine Frage, Durchlaucht. Hat Konstantin in der letzten Zeit viel Geld verbraucht?»
«Weiß ich nicht. Er hat vor einem Jahr ungefähr hunderttausend Rubel von meiner Schwester geerbt. Seitdem hat er mich nie um Geld gefragt.»
Unten schickte Strogany den Schlitten nach Hause. Bis zum Polizeipräsidium, wo er Gnedin aufsuchen wollte, war es nur eine kurze Strecke. Zurück würde er dann die Straßenbahn benutzen. Er tat es häufig und aus Grundsatz. Er fand, dass ein Einzelgefährt die Eigenschaft habe, abzusondern, weniger noch im sozialen Sinne: die ganze Stadt gewann eine andere Wirklichkeit, wenn man mitten unter den Menschen war. Er wäre früher nicht imstande gewesen zu beschreiben, wie eine Ecke von Petersburg denn nun eigentlich aussah. Die erste Zeit nach dem Entschluss, “wie alle Welt zu fahren”, waren es gelegentlich geradezu aufregende Entdeckungsreisen gewesen.
Gnedin empfing ihn sofort. Der korpulente ältere Herr erhob sich etwas mühsam hinter dem großen Schreibtisch seines nüchternen Dienstzimmers und schüttelte Strogany herzlich die Hand.
«Es freut mich außerordentlich, dass Sie mich besuchen, Graf. Ich nehme an, Sie bringen mir etwas Erfreuliches?»
«Leider nicht. Im Gegenteil: Höchst wahrscheinlich gehört seit heute auch Fürst Bronsky zu den Vermissten.»
«Donnerwetter!» Gnedin lehnte sich betroffen zurück. «Seit heute, sagen Sie? Wäre es dann nicht möglich, dass es sich harmlos aufklärt?»
«An sich schon. Ich sagte ja auch «höchst wahrscheinlich». Aber einmal teilte mir der alte Fürst mit, dass unentschuldigtes Ausbleiben durchaus gegen die Gewohnheit seines Sohnes sei, dann aber hat er mir bei seinem Besuch gestern abend einen geradezu verstörten Eindruck gemacht.»
«Er war gestern abend bei Ihnen?!»
Strogany nickte. «Gerade deshalb hielt ich es für richtig, Sie ohne Aufschub zu benachrichtigen. Abgesehen von meinem persönlichen Anteil an Bronsky: Wenn sich sein Verschwinden bewahrheitet, so wären wir noch nie so nahe, so zeitlich nahe, meine ich, an einen Fall herangekommen.»
«In der Tat. Ausgezeichnet überlegt, wie immer, Graf.» Gnedin rieb verbindlich die Handflächen aneinander. «Übrigens, wenn es Ihnen recht ist, lasse ich gleich Polonski rufen. Das ist der Kommissar — mein zuverlässigster Mann —, der jetzt die Sache bearbeitet.» Gnedin drückte auf einen Knopf unter der Schreibtischplatte und fast augenblicklich erschien der riesenhafte diensttuende Schutzmann in der Tür.
«Ruf Polonski. Er soll alles liegen lassen und herkommen. — Donnerwetter! Jetzt auch Bronsky. Donnerwetter.» Gnedin wandte sich zu Strogany. «Ein kleiner Kognak gefällig zur Stärkung?»
«Nein, danke, ich trinke tagsüber nie», lehnte Strogany ab.
Es klopfte hart und abgerissen.
«Herein!»
Ruckartig flog die Tür auf. Polonski trat ein und knallte grüßend die Hacken zusammen. Er war in Zivil, wirkte aber irgendwie militärisch. Der überaus knapp sitzende dunkelblaue Anzug, die eng anliegenden Beinkleider, die überbetonte Strammheit — alles war auf Schneid gestellt.
«Treten Sie näher, Polonski», lud Gnedin ihn ein. «Das hier ist Graf Strogany, von dessen außerordentlichen Fähigkeiten ich Ihnen schon erzählt habe.»
«Außerordentlich ist leicht übertrieben», dämpfte Strogany lachend ab. «Sonst wäre ich jetzt nicht ebenso ratlos wie alle andern.»
Er stand auf und drückte Polonski die Hand. Wieder knallte dieser die Hacken zusammen und verbeugte sich. Etwas zu tief. Als hätte er das auch empfunden, richtete er sich sogleich um so selbstbewusster auf und strich sein kleines schwarzes Schnurrbärtchen hoch. Ein Menschentyp, mit dem ich nichts anfangen kann, empfand Strogany.
«Ganz so ratlos sind wir ja nun nicht», verteidigte sich Polonski völlig humorlos gegen Stroganys verbindliche Anknüpfung, nachdem er auf Einladung Gnedins Platz genommen hatte.
«Aber, aber!» Gnedin fächelte sich mit der Hand hinter dem Ohr. «Seien wir ehrlich und geben wenigstens unter uns zu, dass wir nichts wissen. — Und nun bringt uns Graf Strogany auch noch eine neue Hiobspost. Erzählen Sie, Graf, wenn Sie so freundlich sein wollen.»
Strogany berichtete, was er von den Dingen am vorigen Abend als hingehörig betrachtete. Er machte sich jetzt Vorwürfe, dass er dem davongehenden Bronsky nicht gefolgt sei, besonders nach der geradezu herausfordernden Erwähnung jener Anna Petrowna. Polonski hörte zu, die niedrige Stirn unter dem hochgebürsteten Haar in nachdenkliche Falten gelegt.
«Das war in der Tat ein Fehler», sagte er trocken, «wenn Sie sich schon einmal mit der Sache der Vermissten beschäftigten. Diese Anna Petrowna ist nämlich höchst wahrscheinlich das Aushängeschild der politischen Gruppe, die hinter der Sache der Vermissten steht.»
«Sie müssen nämlich wissen, Graf», wandte sich Gnedin an Strogany, «Polonski hat von Anfang an und mit besonderer Entschiedenheit die Meinung vertreten, dass es sich um nihilistische Attentate handelt.»
«Darf ich fragen, worauf sich diese Ihre Ansicht stützt?» erkundigte sich Strogany.
«Selbstverständlich. Ist ja ganz naheliegend. Was haben die Fälle gemeinsam? Alle Verschwundenen sind Angehörige der ersten» — er betonte — «der allerersten Gesellschaftskreise. Also gesellschaftsfeindliche Motive.»
«Hm», meinte Strogany. «Andererseits könnte man — nämlich wenn man vom Gemeinsamen ausgeht — auch so folgern: Alle aus gehobenen Schichten, also alle vermögend, also Raub.»
Polonski lächelte überlegen. «Der Schluss hinkt, weil er zwei Begriffe gleich setzt, die sich nicht decken. Man kann den ersten Kreisen angehören, ohne besonders wohlhabend zu sein, wie umgekehrt — und das ist häufiger der Fall — wohlhabend, ohne den ersten Kreisen anzugehören.»
«Stimmt. Im Fall der Vermissten deckt es sich aber. Das den «ersten Kreisen Angehören» kann also Zufall sein.»
«Und wie erklären Sie es sich, dass wir im Gegensatz zu sonstigen Raubmordfällen nicht die geringsten positiven Hinweise erhalten? Warum werden keine Leichen gefunden? Obwohl die ganze Unterwelt Petersburgs infolge der enormen Höhe der Belohnungen auf der Suche ist?»
«Nun?»
«Sehr einfach. Niemand verpfeift. Also sozusagen» — Polonski verzog spöttisch die Mundwinkel — «ideale Motive. Ein Bild, das uns von der Bearbeitung politischer Fälle völlig vertraut ist.»
Strogany überlegte einen Augenblick. «Sie müssen nicht meinen, dass ich Ihrer politischen Theorie eine Raubmordtheorie entgegenstellen will. Ich gebe überhaupt nichts auf Theorien, die auf Vermutungen und bloßen Schlüssen beruhen», sagte er leicht hochmütig. «Aber erklären Sie mir um Himmelswillen, was an so sinnlosen Attentaten politisch sein soll? Es handelt sich doch durchgängig um Personen, die weder im öffentlichen Leben noch gar im Staatswesen eine Rolle spielen. Was sollten sich denn die Nihilisten von ihrem Verschwinden versprechen?»
Polonski lächelte finster. «Da kennen Sie diese Leute schlecht. Die Hauptsache ist denen, dass Unruhe geschaffen wird. Wie, das ist ihnen völlig egal.»
«Ich glaube, Sie täuschen sich, Herr Polonski. Den Nihilisten kommt es zwar, wie Sie sagen, auf Unruheerregung an, aber ganz so gleichgültig ist ihnen die Art der Beunruhigung doch nicht. Sie werden zugeben, dass man von dem Vorgehen gegen Staatsmänner mehr erwarten könnte als von dem gegen irgendwelche Bonvivants.»