Scheunenfund - Bruno Heter - E-Book

Scheunenfund E-Book

Bruno Heter

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Beschreibung

Verschollene Oldtimer die offiziell nicht existieren, Raubkunst und Raubgold aus der Nazizeit, vielleicht sogar das sagenumwobene Bernsteinzimmer? Die Kulturgeschichte birgt so manches Rätsel. Und mittendrin Maria di Copertino, Maria Pignatelli, die Grande Dame der Apulischen Mafia. Elena Pignatelli, ihre Enkelin, findet in einer Scheune auf ihrem Grundstück in Nardò fünf sorgfältig aufbewahrte Oldtimer, welche ihrem Großvater gehört hatten. Sie kennt die Legende einer geheimnisvollen Automobilsammlung unvorstellbaren Ausmaßes. Sollte sie den ersten Hinweis dazu hier gefunden haben? Zusammen mit ihrem Verlobten Marco Stalder und ihrem gemeinsamen Freund Umbigwe macht sich Elena auf die Suche nach den Fahrzeugen und entdeckt dunkle Kapitel aus der Geschichte ihrer Großmutter. Zudem werden die modernen Schatzsucher von Steuerfahndern und skrupellosen Sammlern verfolgt. Es beginnt eine lebensgefährliche Jagd nach vergessen geglaubten Kulturgütern.

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Seitenzahl: 612

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Prolog – 1975 Nardò, 30. Juni
1 Apulien – Gegenwart, Juni
2 Schweiz – Gegenwart, Mai
3 Frankreich – Paris 1934, 14. August abends
4 Apulien – Gegenwart, Juni
5 Giuseppe Pignatellis Tagebuch
6 Sizilien – Gegenwart, Juli
7 England – 1906 im März
8 Apulien – Gegenwart, Juli
9 Tunis – Gegenwart, Juli
10 Sizilien – Gegenwart, Juli
11 Schweiz – Gegenwart, Juli
12 Breslau, Deutsches Reich – 1945, Januar
13 Apulien – Gegenwart, August
14 Nordfrankreich – 1940, 5. April
15 Schweiz – Gegenwart, August
16 Tunis – Gegenwart, August
17 Apulien – Gegenwart, August
18 Palermo – 1938, im März
19 Apulien – Gegenwart, August
20 Rom – Gegenwart, August
21 Apulien – Gegenwart, September
22 Apulien – 1979, im November
23 Tunis – Gegenwart, September
24 Apulien – Gegenwart, September
25 Russland – 1949
26 Apulien – Gegenwart, September
27 Rom – Gegenwart, September
28 Apulien – Gegenwart, Oktober
29 Nardò - Gegenwart, Oktober
30 Palermo – Gegenwart, Oktober
31 Rom - Gegenwart, Oktober
32 Alberobello – Gegenwart, Oktober
33 Nardò – Gegenwart, November
34 Schweiz – Gegenwart, November
35 Apulien – Gegenwart, November
36 Sizilien – Gegenwart, November
37 Walbrzych, Polen – Gegenwart, Dezember
38 Apulien – Gegenwart, Dezember
39 Napoli - Gegenwart, Dezember
40 Nardò Technical Center - Gegenwart, Dezember
41 Internationale Presse – Gegenwart, Dezember
42 Rom – Gegenwart, Dezember
43 Apulien – Gegenwart, Dezember
44 Nardò – Gegenwart, Natale
45 Südfrankreich & Apulien – Gegenwart, Dezember
46 Süditalien – Gegenwart, April
47 Schweiz, Apulien & Südfrankreich – Gegenwart, Juni
48 Monaco – Gegenwart, Juni
49 Apulien - 1952 bis heute, Marias Geschichte
50 Mittelmeerküste – Gegenwart, Juni
Epilog – Ein Jahr später
Nachwort

Scheunenfund

Bruno Heter

IL-Verlag, Basel

[email protected]

www.brunoheter.ch

1. Auflage, 2024

© 2024 Alle Rechte vorbehalten.

Der IL-Verlag, Basel, erhält für die Jahre 2021-2024 vom BAK (Bundesamt für Kultur) Fördergelder.

Originalausgabe 2024

Copyright 2024: IL-Verlag

Copyright 2024: Bruno Heter, www.brunoheter.ch

Umschlagbild: Bruno Heter

Satz: IL-Verlag

ISBN: 978-3-907237-76-2

Diese Geschichte ist ein Roman. Geschichtliche Hintergründe beruhen auf wahren Begebenheiten oder historischen Personen, sind jedoch in fiktive Handlungen eingebettet. Jede weitere Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist nicht beabsichtigt und rein zufällig.

Prolog – 1975 Nardò, 30. Juni

Die Pista di Nardò, auch Pista FIAT genannt, war als wirtschaftliche Hilfe für den unterentwickelten Süden Italiens gedacht. Ein modernes Testzentrum für die Automobilindustrie. In wenigen Jahren erbaut, strahlt sie heute Fortschritt und wirtschaftlichen Aufschwung aus. Am 30. Juni 1975 ist die feierliche Eröffnung. Der Bürgermeister von Nardò, Samuele Vanni, der das Geschäft mit der Staatsregierung geplant und verwirklicht hat, heißt eine kleine Gruppe von geladenen Gästen willkommen.

Es ist ein sonniger Morgen in Nardò am Tag vor der offiziellen Eröffnung. Die geladenen Gäste scharen sich um die bereitgestellten Bartische und genehmigen sich schon einen Bianco di Puglia, einen regionalen Weißwein. Die FIAT-Werke haben alle ihre aktuellen Fahrzeuge ausgestellt. Dazu gesellen sich auch die Autos von Alfa Romeo aus dem Werk in Neapel, dem Lokalkolorit geschuldet ‚Alfasud‘ genannt. Ihr Entwickler Rudolf Hruska hat für Fiat und für Alfa Romeo gearbeitet, weswegen beide Automarken an der Eröffnung teilhaben dürfen. Die polierten Autos stehen sauber aufgereiht zu beiden Seiten des eisernen Eingangsportals. Die Hauptattraktion ist aber die 12,6 Kilometer lange, kreisrunde Hochgeschwindigkeitsstrecke. Ursprünglich war sie als Teilchenbeschleuniger geplant, daher ihre runde Form, heute aber ist sie die modernste Rundstrecke der Welt. Auf ihr werden viele Rekorde fallen, glauben zumindest die Erbauer.

Der satte Klang eines kraftvollen V8 Ferrari 308 GTB lässt die Gäste sich umdrehen und zum Eingangstor blicken. Der rote Sportwagen hält erst nach dem Eingangsportal an. Die linke Türe öffnet sich und ein sportlich-eleganter Mittfünfziger entsteigt dem brandneuen Fahrzeug aus dem nördlichen Maranello. Sofort begeben sich die Vertreter von Politik und Wirtschaft in seine Richtung.

„Buongiorno, Giuseppe!“ Der Bürgermeister eilt dem Nachkömmling entgegen. „Schön, hast du es auch geschafft.“

„Salve, amico“, begrüßt der Ferrarifahrer den Politiker etwas außer Atem, „ich habe soeben einige Runden auf der Piste gedreht. Sie ist wahnsinnig schnell, diese Strecke.“ Giuseppe Pignatelli, oft auch Giuseppe di Copertino genannt, hat mit seinem Geld den Bau des Forschungszentrums uterstützt. Er ist ein Wirtschaftsboss aus Copertino, einem kleinen Dorf in Apulien. Giuseppe ist, wie vor ihm sein Vater Gabriele, der größte Arbeitgeber der Region und stolz darauf, dieses Entwicklungsprojekt mittragen zu können. „Können wir eröffnen?“, fragt er frohen Mutes.

„Selbstverständlich. Wir haben nur noch auf dich gewartet, nun kann es losgehen.“

Die Eröffnungsfeier zieht sich bis in die späten Nachmittagsstunden. Die anwesenden Politiker loben und preisen die Wichtigkeit dieses Entwicklungsprojektes. Der Süden Italiens werde nun endlich dem wirtschaftlich fortgeschrittenen Norden ebenbürtig. Alles Bullshit, denkt sich Giuseppe Pignatelli. Schickt diese Schöngeister endlich nachhause, damit wir den wirklich wichtigen Teil eröffnen können.

Nach und nach verlassen die geladenen Gäste das Areal. Giuseppe verabschiedet die wichtigsten Gäste. Zum Schluss stehen bloß noch der Bürgermeister, Giuseppe und zwei Sicherheitsmänner am Eingangstor. „Gut, schreiten wir zum zweiten Teil der Veranstaltung. Folgt mir“, fordert Giuseppe die anderen Männer auf.

Die Gruppe geht um das erste Gebäude herum. Dort, wo der Rundkurs der Teststrecke beginnt, zeichnet sich eine Rampe ab, sie deutet auf einen unterirdischen Wartungsraum oder die Räume für die technischen Anlagen hin. Die Männer folgen der Rampe bis zu einem großen Schiebetor. Giuseppe klaubt einen Schlüssel aus seiner Jackentasche und öffnet das Schloss, dann schiebt er das Tor zur Seite. Kühle Luft, nach frischem Beton riechend, mit dem Ozon elektrischer Geräte angereichert, strömt den Männern entgegen. Das flackernde Licht erhellt einen mächtigen, rechteckigen Raum, in dessen Mitte Regale stehen. An den Seiten befinden sich Werkbänke und Elektroschränke. Zur rechten Seite sieht es aus wie im Kontrollturm eines großen Güterbahnhofs. Eine Schalttafel aus Metall ist an der Wand befestigt, viele Lämpchen leuchten, zahlreiche Regler und Schalter sind in Reih und Glied angeordnet. Giuseppe stellt sich neben den Stuhl, der unter die Schalttafel geschoben steht. „Meine Herren, das hier ist nicht die Technik der Teststrecke. Wie Sie wissen, befindet sich jene Technik im Kontrollgebäude gleich neben dem Eingang. Das hier ist die Klimakontrolle für meine Räume. Entlang des Rundkurses gibt es vier unterirdische Hallen, welche auf keinen Plänen erscheinen. Sie sind außer mir, meinem Vater und dem Architekten die einzigen, welche von der Existenz dieser Hallen Kenntnis haben.“

„Was ist mit den Bauarbeitern? Die wissen doch auch, was sie gebaut haben.“ Der ehemalige Bürgermeister von Nardò wirkt besorgt.

„Darum haben wir uns gekümmert. Wir haben uns ihr Schweigen mit großzügigen Lohnzahlungen erkauft. Zudem haben wir die Hallen von Bauarbeitern erstellen lassen, die in unserem Dienst stehen. Von dieser Seite kommt keine Gefahr.“ Giuseppe di Copertino ist sichtlich zufrieden. Er weist die Sicherheitsleute in die Technik ein. Er erklärt ihnen, welche Schalter sie bewegen dürfen und welche Werte die Messgeräte anzeigen sollen. „Die Anlage funktioniert beinahe wartungsfrei. Sie müssen lediglich einmal pro Woche die Werte ablesen und protokollieren.“

„Was befindet sich in diesen Hallen, das eine so moderne Klimakontrolle rechtfertigt?“, wundert sich einer der Männer.

Giuseppe schaut den jungen Mann streng an. „Das ist für Sie nicht interessant. Wichtig sind Ihre Zuverlässigkeit und Verschwiegenheit. Dafür werden Sie bezahlt. Sollte es einen Notfall geben, rufen Sie bitte die Nummer an, welche Sie auf dem Notfallschild dort lesen können. Das Telefon wurde extra deswegen installiert, damit Sie von hier aus anrufen können. Die Nummer ist rund um die Uhr besetzt. Haben Sie weitere Fragen?“

Die Männer verneinen eingeschüchtert. Damit ist der Arbeitsvertrag geschlossen. Die Gruppe verlässt den Technikraum, als letzter löscht Giuseppe das Licht und schließt das Rolltor sorgfältig ab.

1 Apulien – Gegenwart, Juni

Ein neuer Tag beginnt in Nardò. Seit Tagen hat es nicht mehr geregnet, die Pflanzen beginnen, ihre Blätter zu schließen, den Wasserverlust zu minimalisieren. Elena Pignatelli steht vor ihrer zugemauerten Scheune. Ein Vierteljahr ist es nun her, seit sie das große Landgut von ihrer Großmutter hat erben können. Drei Monate ist es her, dass Marco in die Schweiz gefahren ist. Marco. Der hartnäckige und leicht naive Schweizer, der verzweifelt seinen Campingbus verfolgte. Sie lächelt, als sie an die Umstände denkt, unter welchen sie sich kennengelernt haben. Nun ist er zurück in der Schweiz. Elena weiß nicht, ob er tatsächlich zu ihr nach Apulien ziehen wird. Sie hofft es, ihre gemeinsamen Pläne eines Agriturismo versprechen eine interessante Zukunft.

Jetzt aber steht sie vor der Halle. Sie hat eine Taschenlampe und einen schweren Vorschlaghammer mitgebracht, womit sie ein zugemauertes Fenster der Halle einschlagen will. Die Halle ist eigentlich eine ganz normale landwirtschaftliche Scheune, so wie man sie überall sehen kann. Vor etwa vierzig Jahren, genauer gesagt 1980, hat ihre Großmutter die Halle zumauern lassen. Elena weiß nicht genau weshalb, sie hat Nonna darüber noch nicht ausgefragt, will dies aber nachholen. Elena fasst den schweren Hammer mit beiden Händen, hebt ihn hoch und schlägt gegen das Mauerwerk. „Aua!“, entfährt es ihr. Der Schlag überträgt sich auf ihre Schulterknochen, fährt mit stechendem Schmerz in ihre Glieder. Sie stellt sich anders hin, spannt ihre Muskulatur, dann hämmert sie mehrere Male hintereinander auf die Mauer ein. Zuerst ist da nur ein kleiner Riss, doch ab dann geht es schnell. Erste Brocken kollern aus der Mauer, nach innen und nach außen. Elena schwitzt und atmet schwer, lässt sich dadurch aber nicht stoppen, im Gegenteil, die brechende Mauer gibt der jungen Frau zusätzliche Energie. Mit einigen gezielten Schlägen schafft es Elena, ein etwa bildschirmgroßes Betonstück herauszubrechen. Augenblicklich strömt ihr kühle und abgestandene Luft entgegen, begleitet von viel Staub.

Elena legt den Hammer vor sich auf den Boden und greift sich die Taschenlampe, welche sie extra mitgebracht hat. Nachdem sich der Staub etwas gelegt hat, leuchtet sie in das Dunkel der Scheune. Der Lichtstrahl ist, wie Elena es von Konzertauftritten her kennt, klar zu sehen, wie ein Strahl im Nebel. Noch kann sie wenig erkennen, Kisten, Säcke, Regale. Im Hintergrund scheinen Schränke oder Türme von Paletten zu stehen. In der Mitte der Halle aber, sorgfältig mit Planen vor Schmutz und Licht geschützt und abgedeckt, stehen einige Umrisse, welche an Fahrzeuge erinnern. Unten lässt sich etwas wie Reifen erkennen, die sich unter den Planen abzeichnen.

Elenas Puls steigt sprunghaft an, sie spürt ihn deutlich am Hals, ihr Herz schlägt stärker. Sollte sie am Ende auf die ersten Fahrzeuge der legendären und verschollenen Autosammlung ihres Urgroßvaters und Großvaters gestoßen sein? Dann wäre die Sammlung ja wohl nicht verschollen!

Elena schaltet die Taschenlampe wieder aus und packt sie zusammen mit Handschuhen und etwas Kleinwerkzeug in die mitgebrachte Tasche. Sorgfältig bindet sie ein Seil an deren Griffe. Dann ergreift sie den Hammer erneut und schlägt das Loch größer, bis sie sicher ist, hindurchklettern zu können. Der Staub lässt sie zwischendurch husten, der Schweiß brennt salzig in ihren Augen und läuft ihr über den Körper. Zufrieden betrachtet sie schließlich das große Loch. Sie legt den Hammer nieder und stellt eine kurze Leiter an die Mauer. Dann klettert sie durch die Öffnung in die Halle.

***

Maria di Copertino steht zufrieden in der großzügigen Küche ihres rustikalen Landhauses. Sie bereitet einen Pizzateig vor, hinter ihr köchelt die Tomatenbasis auf dem Gasherd. Es riecht nach Tomaten, Pilzen, Rosmarin, Thymian, Knoblauch und Rotwein. Maria ist fröhlich, sie summt ein traditionelles Lied, denkt dabei an ihren Mann Giuseppe und an Elena, ihre Enkelin. Seit Giuseppes Tod hat sich Maria nie mehr so lebensfroh gefühlt wie jetzt. Vor wenigen Wochen ist wie aus heiterem Himmel ihre Enkelin wieder aufgetaucht, nachdem sie auf der Suche nach einer musikalischen Karriere viele Jahre durch Europa trampte. Nun aber wohnt sie im alten Landhaus in Nardò, als Erbin und neue Besitzerin. Heute Abend wollen sie zwei alleine einen Frauenabend machen, im Garten sitzen, Wein trinken und Pizza essen.

Maria ist eine gute Köchin. Sie würde nie einen Fertigteig kaufen. Ihr Garten gibt alles her, was sie an Gemüse für die Pizza braucht. Für den Teig nimmt sie regionales Mehl aus Lecce. Sorgsam und dennoch mit der nötigen Kraft knetet sie den Teig, wendet ihn mal links mal rechts und wirft ihn zwischendurch auf die Arbeitsfläche.

Mitten in ihrer Arbeit wird sie durch den Klingelton ihres Telefonino unterbrochen. Maria wischt sich die Hände am Küchentuch ab und greift nach dem Mobiltelefon.

„Pronto!“

Am anderen Ende meldet sich unverkennbar die tiefe Stimme des Duce. „Maria! Sono io, Pietro. Was machst du gerade? – Nein, lass mich raten: Du kochst.“

„Pietro, lieber Freund! Wie schön. Wie immer weißt du alles oder fast alles. Ich bereite Pizza vor. Elena und ich wollen heute einen Abend unter Frauen verbringen. Wir haben so viel nachzuholen.“

Pietro Romito ist Marias Schulfreund, der heute in Palermo auf Sizilien wohnt. Viele Jahre lang war er der große Mann der Cosa Nostra, heute lebt er in Pension. Sie kennen sich ihr ganzes Leben lang und haben den Kontakt zueinander nie abgebrochen. „Eigentlich wollte ich nachfragen, wie es so läuft bei euch, auf dem Festland. Hat sich Elena schon etwas einleben können?“

„Das wird noch dauern, du kennst sie ja. Aber sie hat Pläne. Inzwischen wohnt sie drüben, in Nardò. Sie hat sich bereits ein Zimmer wohnlich eingerichtet. Nur zum Essen, da will ich sie hier haben. Das arme Mädchen hat die letzten Jahre wohl nicht Vernünftiges zu sich genommen, so dünn wie sie ist.“

Der Duce lacht. „Maria, du weißt ja, die jungen Dinger von heute wollen dünn sein, dünner als die Wassertriebe an den Olivenbäumen. Hast du schon etwas von Marco gehört?“

„Nein. Elena wohl auch nicht. Sie hat Sehnsucht, scheint sehr verliebt zu sein. Ach, die Jugend!“ Maria atmet sehnsuchtsvoll aus. „Hör mir zu, Pietro, wenn ich etwas Neues weiß, melde ich mich. Dann kommt ihr rüber zu uns und wir feiern Einweihung. Was sagst du?“

Der Duce denkt lange nach, es bleibt ruhig in der Leitung. Schließlich stimmt er seiner Freundin zu. „Das machen wir so. Alles andere hat noch Zeit. Lassen wir die beiden erst mal Fuß fassen, hier im Süden. Vor allem der Schweizer muss noch deutlich ruhiger werden, wenn er hier leben will.“

Darauf lachen sie beide und unterbrechen die Verbindung. Maria fragt sich kurz, woher das plötzliche Interesse des Duce an Marco kommt, dann widmet sie sich wieder ihrem Teig und ihrem Sugo.

***

Elena klettert vorsichtig durch die Öffnung in die Halle hinein, sie lässt sich auf den kalten Boden gleiten. Danach zieht sie mit dem Seil ihre Tasche nach, vorsichtig, damit die Taschenlampe nicht zerbricht. Sie schaltet die Lampe ein und sucht als erstes einen Lichtschalter. Ganz vorne am Gebäude, da, wo sich früher einmal das Einfahrtstor befunden hat, wird sie fündig. Elena drückt den Schalter, in der Hoffnung, die Lampen in der Halle mögen noch funktionieren. An der Decke beginnt es zu knistern und zu summen. Flackernde Röhren verbreiten kaltes Licht, etwa jede dritte von ihnen bleibt dunkel. Die Lampen erhellen die Halle soweit, dass Elena nicht mehr auf ihre Taschenlampe angewiesen ist. Deutlich erkennt sie nun das Ausmaß der Halle. Im hinteren Bereich stehen tatsächlich Schränke aus dunklem Holz. Obendrauf liegen Gerätschaften, die Elena aus der Landwirtschaft kennt, darunter auch eine Rolle Zaundraht. Die Halle ist vollgestellt mit Maschinen, alten Haushaltgeräten, Schrott und Möbeln. Offensichtlich hat ihr Großvater hier ein Lager an Einrichtungsgegenständen für das Haus gesammelt.

Dass es hier drin nicht nach Mäusen oder Ratten riecht, zeugt davon, dass die Halle wohl wirklich dicht verschlossen wurde. Elena fragt sich, weshalb. Sie nähert sich vorsichtig den abgedeckten Fahrzeugen. Ihrer Form nach zu beurteilen, handelt es sich zumindest bei zwei Fahrzeugen um Sportwagen. Flach und breit. Elena glaubt auch, die kleine Kugel eines Fiat 500 zu erkennen, diese Plane hebt sie als erste an. Tatsächlich steht ein alter Cinquecento in dunkelblau darunter. Elena muss lachen. Sie versteht nicht sonderlich viel von Autos, aber diese kleinen Dinger findet sie süß, zudem ist der hier sicher ziemlich alt. Sie lässt die Plane wieder zurückfallen und hebt die nächste an. Anhand der Rücklichter kann Elena nichts erkennen, aber den Stern des deutschen Automobilherstellers Mercedes erkennt sie. Der Wagen ist schwarz und hat seltsam wirkende Rundungen. Elena kennt den Typ nicht, die hinteren Kotflügel stehen etwas von den Türen ab. Sie lässt auch diese Plane fallen. Was immer das auch für Autos sind, sie stellen keine seltene, verschollene Sammlung dar, soviel ist bereits klar. Unter den nächsten zwei Planen findet Elena einen weiteren Fiat, eher kantig und einen merkwürdig modern wirkenden, sportlichen Alfa-Romeo. Die letzte Plane gibt endlich etwas Seltenes frei: einen Ferrari. Elena zieht diese Plane vorsichtig ab. Vor ihr steht ein roter Sportwagen aus Maranello, 308 GTB steht am Heck angeschrieben. Nun breitet sich ein zufriedenes Grinsen auf Elenas Gesicht aus. Sie geht um den Wagen herum und greift schließlich nach dem seltsam abstehenden Türgriff, der Wagen ist nicht verschlossen. Der typische Geruch von altem Leder und Teppichen, leicht abgestandene Luft, strömt ihr entgegen. Elena setzt sich in den Wagen, der ihr eigenartig unbequem erscheint. Für einen kurzen Moment überlegt sie, wer jemals so viel Geld für einen solch unbequemen Wagen bezahlen würde, dann wird ihr plötzlich klar, dass der Ferrari ihr gehört. Sie bleibt für eine Weile im Sportwagen sitzen, stellt dabei zufrieden fest, dass der Zündschlüssel steckt. Dann denkt sie an ihren Großvater und mit einem Mal kollern einige Tränen über ihre Wangen. „Nonno, ich werde deinem Erbe auf den Grund gehen. Ich werde deine Schätze finden und sie in Ehren halten. Das verspreche ich dir.“ Kaum hat sie diese Worte laut ausgesprochen, formt sie das Kreuz vor der Brust.

Danach steigt Elena wieder aus dem Wagen aus, schließt dir Türe und macht mit ihrem Telefon einige erste Bilder, welche sie Marco schicken will. Die Plane zieht sie wieder sorgsam über den Wagen. Auch vom Rest der Halle schießt sie rasch einige Fotos. Elena beschließt, ihre Großmutter beim gemeinsamen Nachtessen am Abend über diese Halle auszufragen. Zum Schluss löscht sie das Licht und klettert wieder aus der Öffnung. Mit einigen Brettern, die sie in der Halle gefunden hat, verschließt die das Loch behelfsmäßig von außen.

***

Die Sonne steht bereits tief am Himmel, das warme Licht lässt die sanften Hügel golden scheinen. Elena trifft auf dem Landgut ihrer Großmutter ein. Sofort wird sie herzlich begrüßt und findet bereits erste Antipasti vor ihrer Nase, was sie schmunzeln lässt. „Nonna, bist du immer noch um meine Gesundheit besorgt?“

„Du isst zu wenig, mein Kind. Du bist ja nur noch Haut und Knochen. Du musst essen.“

Beim Nachtessen sprechen die beiden Frauen über den Fortschritt der Arbeiten. „Ich habe heute in der Küche angefangen den alten Putz von den Mauern zu schlagen. Da kommt ein richtig schönes Mauerwerk zum Vorschein. Ich freue mich darauf, diese Küche neu einrichten zu können“, strahlt Elena und greift sich ein großes Stück Pizza.

„Giuseppe wäre stolz, dich so im Elan sehen zu können. Für mich ist es das größte Geschenk, dass du wieder hier bist, Elena. Weiße Mauern waren damals modern. Aber wie du hier sehen kannst, habe ich die groben Steinmauern auch lieber.“

„Nonna, ich war heute auch in einer der Scheunen“, sagt Elena dann eher etwas leise, weil sie nicht weiß, wie Maria darauf reagieren wird. Sie bemerkt, wie das Gesicht der alten Dame augenblicklich härter wirkt.

„Aha. Ja, das hat wirklich nicht lange gedauert. Da ist doch nur altes Zeug darin. Ihr solltet die Scheunen räumen und abreißen lassen. Ihr solltet einen Strich ziehen zur alten Zeit.“ Maria spricht leise, unsicher, traurig.

Elena legt ihr eine Hand auf den Unterarm. „Nonna, du kennst mich besser. Was ist wirklich dran, an der Geschichte rund um die verschollenen Autos? Was verschweigst du mir?“

„Elena, bitte frag mich nicht darüber aus. Ich weiß nichts. Das sind alte Geschichten. Ich habe dir das Buch deines Urgroßvaters gegeben. Das ist alles, was mich an diese Zeit erinnert. Ich weiß nichts von Autos. Wir sollten schlafen gehen, es ist schon spät.“

Elena erschrickt ob der plötzlich abweisenden Haltung ihrer Großmutter und bereut, das Thema angesprochen zu haben. Gleichzeitig wird jedoch ihre Neugier angestachelt. Sie beschließt, mit weiteren älteren Personen aus dem Dorf zu sprechen. Irgendwer muss doch etwas wissen, sich an ihren Großvater erinnern. Maria steht auf und strauchelt. Bevor sie fallen kann, ist Elena bei ihr und packt sie sicher am Arm.

„Nonna, entschuldige, dass ich dich aufgeregt habe. Ich helfe dir in dein Zimmer. Die Küche räume ich schon auf, leg dich nur hin.“ Dann führt Elena ihre Nonna in den oberen Stock des Landhauses, wo sich die Schlafräume befinden. Als sich die alte Dame hingelegt und Elena versichert hat, es gehe ihr besser, löscht die Enkelin das Licht und geht in die Küche zurück. Nachdem sie die Küche fertig aufgeräumt hat, fährt sie in ihr eigenes Haus zurück. Bevor sie einschlafen kann, nimmt sie das alte, in Leder gebundene Werkstattbuch ihres Urgroßvaters zur Hand, öffnet vorsichtig das Band und schlägt willkürlich eine Seite auf. Sie beginnt einen Eintrag aus dem Jahr 1934 zu lesen.

***

Am nächsten Morgen fährt Elena schon sehr früh in den Ort. Sie will mit Alberto sprechen, dem etwas brummigen alten Mann, welchen sie noch aus ihrer Kindheit kennt. Damals hatte sie Angst vor ihm. Heute trifft sie den kleinen Mann zwischen den Fruchtbäumen. Er pflückt einige reife Aprikosen. Als er den Wagen kommen hört, dreht er sich ungelenkig um. Elena begrüßt ihn herzlich. „Guten Morgen Alberto. Immer noch früh auf den Beinen?“

„Schau an, die kleine Pignatelli. Lange nicht gesehen. Habe schon gehört, du seist wieder aufgetaucht. Wo ist der Fremde, den du mitgebracht hast?“

Es trifft Elena immer noch hart, wenn sie spürt, dass die Menschen in ihrer Gegend fremdenfeindlich reagieren. „Marco ist halber Italiener und nicht hier.“

„Halber Italiener, soso. Aber sicher aus dem Norden. Was willst du bei mir?“ Der Alte scheint mit dem falschen Bein aufgestanden zu sein.

„Ich will plaudern, Alberto. Ich habe Kaffee mitgebracht.“ Elena nimmt einen Thermobehälter aus ihrem Auto und schlendert auf Alberto zu. „Setzen wir uns doch an deinen Gartentisch, wenn du magst.“

„Reden. Worüber denn. Kaffee tönt gut, danke.“ Alberto stützt sich auf seinen Stock und geht langsam zum Gartentisch.

Elena berichtet Alberto von dem Werkstattbuch und dem Eintrag, welchen sie am Vorabend gelesen hat. Sie erzählt ihm auch von den fünf Fahrzeugen in ihrer Scheune. Die ganze Zeit über blickt Alberto sie kein einziges Mal an. Er dreht seine Kaffeetasse mal nach links, mal nach rechts.

„Ich wusste, das kommt alles wieder. Merda. Gabriele, du alter Schelm. Ich hab's dir gesagt!“ Plötzlich greift er nach Elenas Hand, sein Griff ist fest. Er schaut ihr direkt in die Augen. Seine großen, dunkeln Augen fixieren sie drohend unter den buschigen Augenbrauen hervor. „Mädchen, lass die Finger davon! Du weißt nicht, welche schlafenden Hunde du weckst! Dein Urgroßvater und sein Sohn haben mit ihrem Leben dafür gebüßt. Lass es gut sein!“

Elena will ihre Hand zurückziehen, aber der alte Mann hat eine unglaubliche Kraft. Sie zittert, eiskalt fährt ihr der Schrecken ein. „Wovon soll ich die Finger lassen? Was ist wahr an der Geschichte?“

„Wahr ist nur, dass es vorbei ist. Basta, wir haben eine andere Zeit heute. Mehr ist da nicht. Danke für den Kaffee.“

Elena versteht, dass sie heute nichts mehr aus dem alten Alberto herausholen wird. Sie braucht dringend einen anderen Plan. Auf diese Art wird sie nie etwas erfahren. Die alten Menschen hier sind zu stur, wenn es um ihre Vergangenheit geht. Sie verabschiedet sich von Alberto und fährt auf ihr Grundstück nach Nardò.

2 Schweiz – Gegenwart, Mai

Marco steht in seiner Wohnung in Brugg. In den Händen hält er sein neues Buch. Endlich hat er wieder einen Roman fertig schreiben können, und es ist ein Bestseller geworden. Er dreht das Buch um und betrachtet sein Foto. Dunkelhaariger Mann, Mitte dreißig, sieht ganz passabel aus, denkt er und muss über den kurzen Anflug von Eitelkeit schmunzeln. Er legt das Buch in die Kartonkiste, welche neben ihm steht, zu den anderen Büchern.

Der junge Schriftsteller räumt seine Wohnung aus. Er hat den Mietvertrag gekündigt und will nach Süditalien auswandern. Vor drei Monaten hat er seine neu gewonnene Liebe alleine zurückgelassen. Elena, die quirlige Italienerin, welche er während eines unglaublichen Abenteuers kennengelernt hat. Marco sehnt sich nach ihr. Er freut sich auf den Umzug in ein wärmeres Land, wo kein Nebel hängt. Als ob die Natur auf solche Gedanken reagieren könnte, beginnt es draußen in Strömen zu regnen.

Plötzlich klingelt das Telefon. „Ja bitte?“, meldet sich Marco.

„Hallo Marco, Kathrin hier“, klingt die vertraute Stimme seiner Verlegerin Kathrin Zürcher aus dem Lautsprecher. „Hast du schon die neuesten Zahlen gesehen?“

„Hallo Kathrin. Leider nein. Wie du weißt, bin ich mit dem Umzug beschäftigt und kann nicht so oft im Intranet nachschauen, wie viel wir gerade verdienen.“ Marco scherzt gerne mit ihr über den Erfolg, den ihnen sein Buch beschert.

„Wir nähern uns dem Podest, Marco. Dein Buch liegt im Verkauf schon auf dem vierten Platz. In Deutschland sind wir in den Top-Ten. Wie immer hattest du einen guten Riecher, als du über einen ehemaligen Mafiaboss in Pension geschrieben hast. Apropos: Wann fährst du?“

„Wenn alles gut läuft, dann kann ich Ende der Woche fahren. Die Wohnung lasse ich reinigen, das kann ich mir glaube ich leisten. Ich weiß aber noch nicht, woher ich einen LKW bekommen kann.“

„Frag doch bei deinem Arbeitgeber nach, ob er dir ein Fahrzeug leihen könnte. Schließlich bist du im Nebenjob immer noch als Gelegenheitsfahrer angestellt.“

„Daran habe ich auch schon gedacht. Aber sie haben keine solche Fahrzeuge mehr. Sie haben bloß noch Müllkipper. Na ja, fragen kann ich ja.“

„Ich habe mir überlegt, dich zu begleiten, Marco. Nicht, dass du uns wieder verloren gehst. Selina würde auch mitfahren und gleichzeitig eine Reportage über dich und deinen spektakulären Umzug nach Italien schreiben. Was meinst du dazu?“

„Begleitschutz … Großartig! Dir würde das sicher gut tun. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass du den Camper anstelle des Geldes genommen hast, als die Versicherung nachfragte. Du bist kaum wiederzuerkennen.“

„Ich nehme das mal als Kompliment an. Also, ich spreche mit Selina und wir suchen uns ein Hotel in Nardò.“

„Wieso denn? Duschen, Essen und alle diese Dinge könnt ihr bei uns auf der Baustelle. Und zwei Schlafplätze habt ihr ja im Camper.“

„Auch wieder wahr. Also, wir hören uns. Mach's gut, ciao.“ Dann legt Kathrin Zürcher auf.

Marco denkt noch einen Moment über das Gespräch nach. Noch vor einem halben Jahr war seine Verlegerin eine unausstehliche Karrierefrau gewesen. Er schmunzelt. Offenbar hat sein Abenteuer nicht nur ihn verändert. Er freut sich auch darauf, die Journalistin Selina Zaugg wiederzusehen. Dann packt er einen Stapel Asterixbücher und legt sie sorgfältig in eine neue Kiste.

***

Am nächsten Tag wird Marco durch einen Anruf geweckt. Es ist sein Arbeitgeber der Transportfirma. „Guten Morgen, Herr Stalder. Ihre Verlegerin hat bei uns nachgefragt, ob wir Ihnen ein Fahrzeug für den Umzug leihen könnten. Der einzige Wagen, der dafür in Frage käme, ist unser Oldtimer. Aber den würden wir lieber nicht noch einmal auf eine solch lange Fahrt schicken. Wir haben bei einer befreundeten Transportfirma ein passendes Fahrzeug gefunden. Wissen Sie, wo Unterkulm liegt?“

Marco begreift nicht so ganz, was gerade abläuft. Offenbar war seine Chefin mal wieder schneller als er.

„Herr Stalder? Sind Sie noch dran?“

„Ja, ja, entschuldigen Sie bitte. Das tönt hervorragend. Haben Sie vielen Dank. Ja, ich weiß, wo Unterkulm liegt.“

„Dann melden Sie sich dort bei Christian, dem Chef. Er weiß Bescheid und wird Ihnen ein passendes Fahrzeug geben. Gute Fahrt. Wir hören uns.“ Dann ist er auch schon wieder weg.

Marco steigt umständlich aus seinem Bett und schlendert immer noch schlaftrunken in sein Badezimmer. Überall stehen Kisten und halb demontierte Möbel herum. Nachdem er sich erleichtern konnte, geht er zielstrebig in die Küche und stellt eine Tasse unter den Auslauf der Kaffeemaschine. Draußen sieht die Welt deutlich freundlicher aus als gestern.

***

Unterkulm. Ein kleines Dorf irgend in einem ländlichen Nebental zwischen Luzern und Aarau. Das stattliche Schulhaus steht neben der zentral gelegenen Kirche. Mitten auf der Straße fährt eine Schmalspurbahn, wie ein Tram in den großen Städten der Schweiz. Das ist aber auch das einzige Detail, welches an moderne Zivilisation erinnert. Kaum vorstellbar, dass es hier eine Transportfirma hat, zehn Kilometer von der nächsten Autobahn weg, denkt sich Marco. Umso mehr ist er erstaunt, einen modernen Betrieb mit Lager- und Werkstatthallen anzutreffen, scheinbar mitten in der Wohnzone. Er parkt seinen Wagen auf den Besucherparkflächen und meldet sich beim Empfang.

„Guten Tag, Herr Stalder. Ich bin Christian, der Chef hier.“ Ein großgewachsener Mann blickt ihn freundlich an und streckt ihm die Hand zum Gruß entgegen.

Marco ergreift die Hand und bereut es sogleich wieder, der Händedruck des Fuhrunternehmers ist stark. „Grüezi. Bitte nennen Sie mich Marco.“

„Freut mich. Also, Marco, du suchst nach einem Lastwagen für einen Umzug nach Italien, ist das richtig?“

„Ja, das stimmt. Ich wandere aus. Es geht nach Nardò, das liegt in Apulien.“

„Ich kenne da bloß die Porsche-Teststrecke. Den Ring von Nardò.“

„Das liegt ganz in der Nähe, ja, die kreisrunde Hochgeschwindigkeitsbahn. Hättest du ein Fahrzeug für mich?“

„Philipp, dein Chef, hat mir schon in etwa erklärt, worum es geht. Wie viele Sachen hast du denn?“

„Nicht so viel. Die meisten Möbel habe ich verschenkt oder über das Internet verkauft. Ich glaube nicht, dass ich ein sehr großes Fahrzeug brauche.“

„Also einen normalen Zweiachser, vorzugsweise mit Hebebühne. Ja, so etwas haben wir, sogar mit Zollverschluss. Wenn du deine Sachen in Aarau beim Zollhof zeigst und alles deklarierst, dann gibt es in Chiasso keine Probleme. Es wird aber einer unserer Fahrer mitkommen und das Auto wieder zurückbringen. Ihn müsstest du bezahlen. Geht das für dich in Ordnung so?“

„Das ist mehr als großzügig, vielen Dank.“ Marco kann es kaum glauben. Eine normale Miete oder ein Umzugsunternehmen hätten ihn weit mehr gekostet.

„Philipp hat mir gesagt, du hättest ihm seinen gestohlenen Oldtimer zurückgebracht. Da wäscht doch eine Hand die andere. Ich bin erfreut, dich kennenzulernen. Ich habe den Bericht über die abenteuerliche Fahrt mit Philipps Oldie in der Zeitung gelesen.“ Christian lacht: „Was für eine Aufregung.“

„Das kannst du laut sagen. Ja, dieser Artikel hat mich auf einen Schlag berühmt gemacht.“

Die beiden Männer trinken noch einen Kaffee zusammen, dann verabschiedet sich Marco wieder. Sie haben ausgemacht, dass der LKW gegen Ende der Woche in Brugg beladen werden kann.

***

Wieder in seiner Wohnung schätzt Marco ab, wie viele Sachen er tatsächlich hat. Er kommt zum Schluss, dass der Platz reichen wird. Noch steht sein Arbeitstisch in der lichtdurchfluteten Nische der Altstadtwohnung. Marco setzt sich an seinen Laptop und öffnet das Mailprogramm. Die Mails wird er später lesen. Er beginnt zu tippen:

An: Java

Betreff: Umzug

Hi Java

Lange nichts gehört. Meinen Kram habe ich mittlerweile in Kisten verpackt, war ganz schön anstrengend. Die Möbel sind fast alle weg. Einige wenige Stücke, an denen ich hänge, werde ich mitnehmen. Heute habe ich einen Lastwagen organisieren können, mit dem ich meinen Umzug machen darf. Freue mich auf die Fahrt. Aber doch irgendwie komisch. Weg von hier, raus aus der Schweiz. Schon immer habe ich davon geträumt, den Schritt aber nie gewagt. Nun ist es soweit. Ende der Woche wird verladen, am Montag fahre ich.

Vielen herzlichen Dank, dass ich deine Wohnung nutzen darf. Ich werde dir eine kleine Überraschung hinterlassen.

Ich hoffe sehr, du kommst mich einmal besuchen in Nardò. Unmögliches Wort, um auf der Tastatur zu tippen ...

Umarme dich, mach's gut. Ich schicke dir Bilder.

Marco

Java ist seit vielen Jahren mit Marco befreundet. Sie ist wie eine Schwester für ihn, macht Musik und stammt ursprünglich aus der Dominikanischen Republik. Sie ist meistens irgendwo unterwegs, hat aber eine kleine Wohnung in Winterthur. Die beiden vertrauen sich in allen Lebenslagen. Marco schmunzelt, nachdem er die Mail abgeschickt hat. Wo immer sie sich auch gerade aufhalten mag, sie wird die Nachricht lesen.

Danach geht er in Gedanken noch einmal alles durch, was er die letzten Tage und Wochen hat organisieren müssen. Er überprüft, ob er auch kein Detail vergessen hat. Seine Papiere hat er bei der lokalen Einwohnerkontrolle abgeholt. Er hat sich offiziell abgemeldet. Die Bankverbindungen hat er bis auf eine einzige, auf welcher die Honorare des Verlages eingezahlt werden, alle aufgelöst. Seine Altersvorsorge lässt er momentan noch unangetastet. Auf der italienischen Botschaft hat er die neuen Aufenthaltspapiere beantragt und zugesichert erhalten. Dem Umzug steht eigentlich nichts mehr im Weg. Mit diesen zufriedenen Gedanken legt er sich schlafen.

Ende der Woche wird alles verladen. Der Chauffeur stellt sich als Bernhard vor und ist ein Deutscher. Sein fast neuer Volvo FH16 steht fein säuberlich eingeparkt vor der Treppe des Mietshauses in Brugg. Das Fahrzeug ist dunkelblau mit einem weißen Blitz auf der Seite der Fahrerkabine. Sieht sehr schnittig aus, denkt sich Marco, als er Bernhard die Hand schüttelt.

Einige Kollegen Marcos helfen beim Einladen. Er steht oben und stellt die Dinge bereit, Bernhard bleibt im Lastwagen und ordnet die Sachen für den Transport. In wenigen Stunden ist der LKW voll, die Wohnung leer.

„Dann treffen wir uns am Montagmorgen, sagen wir um sechs Uhr. Passt Aarau für dich?“, wendet sich Bernhard an Marco.

„Ja, perfekt. Das passt mir gut. Ich darf unterdessen die Wohnung einer Freundin nutzen, welche auf Reisen ist. Wo in Aarau?“

„Auf dem Areal des Zollfreilagers. Ich fahre heute noch hin, lasse die Sachen gemäß deiner Liste überprüfen und ein Zoll-Siegel anbringen. Das erspart uns in Chiasso viel Zeit. Vergiss deine Fahrerkarte nicht. Der hier hat einen digitalen Tachographen, nichts mehr mit Scheibe ausfüllen.“ Bernhard lacht.

„Ich freue mich auf die Fahrt. Mit uns wird übrigens noch ein VW-Bus fahren, mit zwei Frauen drin. Meine Chefin will sehen, wo ich ab jetzt arbeite, und eine Journalistin will eine kleine Reportage über den Umzug schreiben. Also wundere dich nicht, wenn ein solcher Camper immer in unserer Nähe sein wird.“

Die beiden Männer verabschieden sich, Marco dankt Bernhard für seine wichtigen Vorarbeiten. Anschließend geht er mit seinen Kollegen in Brugg essen und fährt danach mit dem Zug zu Javas Wohnung nach Winterthur.

3 Frankreich – Paris 1934, 14. August abends

Der Salon de l‘Automobile war in diesem Jahr, trotz der grassierenden Wirtschaftskrise, ein Volltreffer. Viele Tausend Besucherinnen und Besucher haben die Messehallen gefüllt und sich für die zahlreichen modernen Automobile und den Fortschritt der Technik interessiert. Die Ausstellungsfläche von André Citroën hat wie immer sehr viele Menschen angezogen. Der Name Citroën steht für Innovation und Einzigartigkeit, unter anderem durch die neue Zusammenarbeit mit dem jungen Karosseriebauer und Ingenieur André Levebvre. Natürlich haben sich die Menschen vor allem für die verschiedenen Varianten des beliebten Modells Légère, den neuen Traction Avant, interessiert. In diesem Jahr hat Citroën sogar einige besonders starke Fahrzeuge als Prototypen ausgestellt: Die Reihe des 22CV steht kurz vor der Produktion. Angekündigt als ‚Bientôt‘ werden alle Varianten mit ihren Preisen vorgestellt. Doch die Lage im Unternehmen Citroën ist alles andere als rosig. Es steht ein Führungswechsel bevor, das Autohaus wird demnächst seinen Besitzer wechseln. Zudem ist die internationale politische Lage unsicher. In Deutschland sind die Faschisten an der Macht, man spricht von einem möglichen Krieg.

André Citroën steht vor einer schwierigen Entscheidung. Man trifft ihn nach Torschluss zusammen mit einem Wachmann und zwei Offizieren der lokalen Polizei vor seinen ausgestellten Automobilen. „Messieurs, Sie wissen, warum Sie hier sind?“

Die angesprochenen Herren schauen sich vorsichtig um, bevor einer nach dem anderen nickt. Nervös ziehen sie an ihren Zigaretten und blicken den berühmten Unternehmer mit seinem Schnurrbart an.

„Wir müssen befürchten, dass diese einzigartigen Automobile, die modernsten ihrer Art, wohl nie gebaut werden. Ich werde, wie Sie wissen, meine Firma an Michelin verkaufen müssen, es bricht mir das Herz.“ André Citroën blickt wehmütig auf seine Fahrzeuge und streicht mit der Hand über einen schwarzen Kotflügel mit integriertem Scheinwerfer. Ihr hättet meine Firma gerettet, ihr seid die Zukunft, denkt er sich dabei.

Die drei Männer lassen den Geschäftsmann schweigen. Schließlich wagt einer der Polizisten zu fragen, was sie denn nun tun sollen.

„Ich will“, sagt Citroën wieder mit starker Stimme, „dass Sie diese beiden Fahrzeuge, das Coupé und das Cabriolet, nach Monaco fahren. Sie sollen vor der Zerstörung bewahrt werden. Ich kenne einen Geschäftsmann in Copertino, das liegt in Süditalien. Er ist ein Schlitzohr, aber absolut zuverlässig und verschwiegen. Zudem sammelt er seltene und schöne Automobile. In diesem Schreiben hier bestätigt er mir, zwei meiner Fahrzeuge ankaufen zu wollen. Sie müssen dabei äußerst vorsichtig sein. Man darf Ihre Spur nicht verfolgen können. Sie müssen noch heute Nacht losfahren.“

Die Männer schauen sich unsicher an. „Monsieur, bei allem Respekt, aber das ist rechtlich nicht korrekt. Die Fahrzeuge gehören praktisch schon Michelin, Sie wissen das.“

„Ach, hören Sie doch auf! Gerade weil Sie sich um solche Kleinigkeiten keine Gedanken machen, stehen Sie hier mit mir in dieser Halle, meine Herren! Kann ich auf Ihre Diskretion zählen?“

„Ich habe nichts gesehen, Monsieur Citroën. Die Halle habe ich vorschriftsgemäß abgeschlossen und bin nachhause gegangen.“ Der Wachmann hat bei diesen Worten ein feines Grinsen im Gesicht, dann schüttelt er Citroëns Hand.

„Was soll's, so sehe ich wenigstens wieder mal Nizza“, sagt schließlich einer der Polizisten und der zweite stimmt ihm zu. „Aber ohne Uniform, d'accord?“

„Auf jeden Fall ohne Uniform. Sie sollen nicht auffallen. Bitte tragen sie Sorge zu den Fahrzeugen und fahren Sie nur nachts. Am Tag verstecken Sie die Wagen auf Bauernhöfen oder im Wald. Sie werden in vier Tagen in Monaco erwartet. Nehmen Sie Ihre Reisedokumente mit, damit Sie in den kleinen Staat einreisen können. Dort ist ein Zimmer im Hotel Casino für Sie reserviert, auf den Namen Pignatelli. Sie treffen da einen Herrn Gabriele Pignatelli, welchem Sie die Wagen übergeben und dafür Ihren Lohn sowie meine Verkaufssumme entgegennehmen. Haben Sie das verstanden?“ Citroën blickt die beiden Polizisten streng an. Die zwei Männer salutieren bloß zur Bestätigung.

Kurz darauf verlassen zwei schwarze Fahrzeuge die Halle und schließlich Paris in Richtung Süden. Der Wachmann verabschiedet sich von André Citroën. „Auf Wiedersehen, Monsieur Citroën. Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihre Zukunft.“ Sie schütteln sich die Hände, dann schließt der Wachmann die Tore und geht nachhause. Hätte er ahnen können, dass André Citroën ein Jahr später sterben würde, hätte er sich wohl noch persönlicher verabschiedet.

***

Der Wagen ist ein Traum, denkt sich Robert Durand. Der junge Polizist in Zivilkleidung sitzt hinter dem Lenkrad eines Citroën 22CV Coupé und fährt auf der staubigen Straße irgendwo zwischen Lyon und Valence hinter seinem Kollegen Henri Baudin her. Es ist Nacht, wie immer, wenn die beiden unterwegs sind. Eigentlich schade, denn so haben sie die herrlichen Schlösser entlang der Loire nicht richtig sehen können, genauso wenig wie die imposanten Berge und Schluchten, bei welchen sie sich nun befinden. Baudin und Durand wechseln sich mit dem Vorausfahren ab. Der Hinterherfahrende schluckt den Staub, das ist anstrengend. Am Horizont im Osten macht sich bereits ein feiner Streifen orangeroten Lichts bemerkbar. Es wird langsam heller und damit Zeit, einen Bauernhof für die Fahrzeuge zu finden. Zwei Nächte sind sie nun schon unterwegs. Noch liegen drei Nächte Fahrzeit bis nach Monaco vor ihnen. Es wird knapp werden. Robert hofft, dass sie es noch bis Valence schaffen. Seine Augen sind vom Staub und von der Anstrengung des Fahrens gerötet. Die modernen Autos erreichen auf geraden Strecken bis 140 km/h, aber hier in den Bergen sind die Straßen selten geradlinig. Seit Lyon folgt die Straße dem mächtigen Fluss Rhone, was bei Tageslicht bestimmt ein schöner Anblick wäre. Robert ist verschwitzt und sehnt sich nach einem Bad im ruhig fließenden Wasser.

Kurz vor Valence biegt das elegante Cabrio, das vor Robert fährt, in die Zufahrt zu einem großen Bauernhof ein. Die beiden Wagen fahren auf den Hof; aus der Scheune kommend, nähert sich ein älterer Mann. „Bonjour Messieurs, haben Sie Probleme mit ihren Automobilen?“

Henri Baudin ist schon ausgestiegen und streckt dem Bauern seine Hand zur Begrüßung hin. „Bonjour Monsieur, nein, nein, wir sind bloß müde, weil wir lange gefahren sind und wollten fragen, ob wir uns hier vielleicht etwas ausruhen könnten.“

„Aber sicher, das ist kein Problem. Wollen Sie Ihre Automobile in die Scheune stellen?“ Der Bauer begreift schnell, dass jemand mit einem so eleganten Wagen, der nachts unterwegs ist, wohl nicht gesehen werden will. Die beiden Fahrer nehmen das Angebot an und parken in der Scheune. Danach serviert ihnen die Bauersfrau ein Frühstück und zeigt ihnen ein Zimmer, wo sie sich erholen können.

***

Zur selben Zeit ist Gabriel Voisin mit seinem neuesten Cabriolet, einem gelben Voisin C27 ‚Figoni‘ auf der gleichen Strecke unterwegs. Er will diesen eleganten Luxuswagen zusammen mit einem einzigartigen Coupé vor dem drohenden Krieg in Sicherheit bringen und hat sich deshalb mit einem ihm unbekannten Mann in Monaco verabredet. Sein ehemaliger Konstrukteur Lefebvre, der jetzt bei Citroën arbeitet, hat ihm erzählt, es seien zwei Prototypen unterwegs zum Mittelmeer, um an einen reichen Italiener verkauft zu werden. Voisin will mit dem Verkauf seines neuesten Wagens genug Geld einnehmen, um seine Firma vor den Folgen der Wirtschaftskrise zu bewahren und sie damit zu retten. Dabei hatten er und sein Bruder Charles große Pläne gehabt mit Avions Voisin und der Konstruktion teurer Luxusautomobile. Gabriel lenkt den schweren Wagen, der eigentlich für den Schah von Persien gebaut wurde, sicher über die Landstraße. Er hofft, die beiden Citroënfahrer noch vor Monaco einzuholen, damit sie ihn ihrem Kontaktmann vorstellen können.

Hinter ihm fährt Giuseppe Figoni persönlich in einem speziellen Coupé, dessen Dach zur Hälfte geöffnet werden kann. Der Wagen hat elegante Scheibenräder und wirkt futuristisch. Er trägt die Bezeichnung C27 ‚Aérosport‘ und ist vom Designer und Architekten André Noël Telmont im Art Déco Stil geplant worden. Der weiß-schwarze Wagen ist ein Kunstwerk auf Rädern.

In den frühen Nachmittagsstunden erreichen sie die Umgebung der Stadt Valence. Sie flitzen an der imposanten Mauer mit dem breiten Einfahrtstor zu einem stattlichen Bauernhof an der rechten Straßenseite vorbei, dann erreichen sie die Stadtgrenze.

***

Zwei Tage später fahren vier staubige Luxuswagen vor das Hotel Casino in Monaco. Die beiden Voisins haben die Citroëns eingeholt. Ihre Fahrer sind müde und strecken sich ausgiebig, nachdem sie ausgestiegen sind. Ein Portier nähert sich ihnen. „Guten Tag meine Herren. Haben Sie reserviert?“

„Ja, es ist für uns ein Zimmer auf den Namen 'Pignatelli' angemeldet“, gibt Robert zur Antwort.

Der Portier bestätigt und bittet die Herren an die Rezeption. Voisin und Figoni haben nicht reserviert, erhalten aber dennoch ein Zimmer, der Name Voisin ist in Monaco ein Begriff.

„Monsieur Pignatelli erwartet sie zum Diner, um acht Uhr im großen Salon. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt.“ Der Empfangschef überreicht den Herren die Zimmerschlüssel. Das Gepäck wird hochgetragen.

Im Zimmer lässt sich Robert Durant auf eines der beiden Betten sinken. „Endlich ein richtiges Bett. Die Fahrt war ganz schön anstrengend.“

Sein Partner Henri blickt ihn fragend an. „Ihr Jungen habt einfach keine Ausdauer mehr. Autofahren ist nun mal nicht entspannend, das liegt in der Natur der Technik. Dafür haben wir etwas Schönes vor der Zerstörung gerettet. Die Nachwelt wird es uns danken.“

Pünktlich um acht Uhr abends treffen sich alle im Salon. Gabriele Pignatelli begrüßt die beiden französischen Polizisten und blickt fragend zu den anderen Herren, deren Gesichter er zwar kennt, ihnen jedoch keine Namen zuordnen kann. „Verzeihen Sie, mit wem habe ich die Ehre?“

„Mein Name ist Gabriel Voisin, Inhaber der Avions Voisin, aus Issy-les-Moulineaux, Frankreich. Das ist Monsieur Figoni, Automobilkonstrukteur. Es ist uns eine Ehre, Sie kennenzulernen, Monsieur Pignatelli.“

Sofort wird Pignatelli klar, wen er hier vor sich hat. Er ruft einen Kellner zu sich. „Bitte bereiten Sie zwei weitere Plätze an unserem Tisch vor, wir werden fünf Personen sein. - Meine Herren, nehmen wir unterdessen doch einen Aperitif an der Bar.“ Mit einer einladenden Handbewegung führt er seine Gäste an die elegant geschwungene Theke der Hotelbar.

„Das wird kein Zufall sein, dass Sie hier sind, meine Herren. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“

„Wir haben zwei unserer Automobile mitgebracht und hoffen, Sie könnten sich dafür interessieren. Mein persönlicher Freund, Monsieur Lefebvre, hat Sie uns empfohlen, Monsieur.“

„Ah, Lefebvre, der Konstrukteur meines Freundes Citroën. Jetzt verstehe ich. Selbstverständlich werde ich mir Ihre Fahrzeuge sehr gerne ansehen. Ich habe allerdings nicht mit vier Automobilen gerechnet und daher auch nur zwei Fahrer mitgebracht. Da müsste ich noch schnell zwei weitere organisieren.“

Nach dem Nachtessen werden die Geschäfte abgewickelt. Die Männer treffen sich bei den Automobilen. Pignatelli schaut sie sich genau an. „Das sind wirklich einzigartige Fahrzeuge. Mein Freund André Citroën hätte mit ihnen viel Erfolg gehabt. Ich danke Ihnen, dass Sie mir diese Prachtstücke hergebracht haben.“ Er schüttelt den beiden Polizisten die Hände.

Danach betrachtet er auch die beiden Voisins. „Ich habe von Ihren Automobilen der Luxusklasse gehört, Monsieur Voisin. Aber sie hier zu sehen und die Möglichkeit haben, sie zu kaufen, das macht mich sehr glücklich. Ich bin sicher, wir werden uns einigen können.“

„Es gibt jeweils nur ein Exemplar davon, Monsieur Pignatelli. Sie erwerben also auch hier Einzelstücke. Wir haben den C27 bisher nur zweimal gebaut“, fügt Voisin dazu.

Gabriele Pignatelli kauft alle vier Wagen. Voisin ist glücklich, und auch die anderen Herren sind sehr zufrieden. Zurück auf seinem Zimmer nimmt Pignatelli sein in Leder gebundenes Werkstattbuch und öffnet es im hinteren Teil, wo sich eine Liste aus losen Blättern befindet. Er trägt gewissenhaft Marke und Modell aller vier Autos ein, jeweils zusammen mit dem Jahrgang, dem Datum und dem Ort des Geschäftes sowie dem bezahlten Preis. Danach beginnt er im vorderen Teil seines Buches den Eintrag des heutigen Tages. Sein dreizehnjähriger Sohn Giuseppe wird begeistert sein, wenn er diese Automobile sehen kann.

***

1934, 18. August

Gestern habe ich in Monaco vier Wagen für meine Sammlung gekauft. Mein lieber Freund André Citroën hat mir zwei Einzelstücke liefern lassen. Er will sie vor dem drohenden Krieg und seinem Bankrott schützen. Welch ein Jammer, dass mein Freund keinen Erfolg hat. Er baut so schöne Autos. Beide Wagen sind moderne Fahrzeuge mit acht Zylindern. André nennt sie 22CV.

Die zwei anderen Fahrzeuge sind Voisin C27. Auch sie werden damit vor den drohenden Unruhen beschützt. Zwei herrliche Fahrzeuge, die ich bisher nicht kannte. Autos der Luxusklasse. Das Cabriolet ist von Giuseppe Figoni entworfen, das Coupé von André Noël. Ursprünglich wäre das Cabriolet für den Schah von Persien gedacht gewesen. Er wird es nicht vermissen.

4 Apulien – Gegenwart, Juni

Elena steht mitten in einem Zimmer im ersten Stock ihres großen Hauses. Sie schlägt den alten Mauerputz von den Bruchsteinmauern. Der Raum ist voller Staub, die zierliche Süditalienerin trägt einen Mundschutz und schwitzt bei ihrer Arbeit, obwohl es noch früh am Morgen ist. Diese schmutzige Höhle soll später einmal ein romantisches Zimmer werden, wie alle acht Schlafräume des großen Haupthauses ihres zukünftigen Bed&Breakfasts. Elena und Marco haben entschieden, nur Zweierzimmer zu erstellen. Bis es jedoch soweit ist, gibt es noch sehr viel zu tun. Die Abbrucharbeiten sind anstrengend und dreckig. Aber Elena freut sich auf das, was hier entsteht. Das Haus wird wiederbelebt, zu lange hat es leer gestanden. In der Mitte des Hauses führt eine lange Treppe in den oberen Stock. Entlang der frontseitigen Terrasse führt je ein Gang nach links und nach rechts. Auf jeder Seite liegen vier Zimmer. Jeder dieser Räume soll eine eigene Dusche mit Toilette erhalten. Die hohen und großzügigen Räume lassen es zu, dass man kleine Badezimmer einbauen kann. Jedes Zimmer soll einen eigenen Charakter erhalten. Den Raum, in welchem Elena jetzt gerade arbeitet, stellt sie sich als eine Art Weinkeller vor. Deshalb muss der Putz von den Wänden runter.

Elena packt den Schlaghammer und arbeitet weiter. Der Lärm ist unerträglich. In einer kurzen Pause legt sie ihren Gehörschutz ab. Plötzlich hört sie ein sonores Drucklufthorn aufheulen. Sofort legt sie die Schutzbrille und ihr Werkzeug auf den Fußboden und geht in freudiger Vorahnung zum Fenster. Ein dunkelblauer Lastwagen biegt in die Einfahrt zum Grundstück ein. Marco ist hier! Elena rennt die lange Treppe nach unten und stürmt nach draußen.

Unterdessen hat der Lastwagen den Platz vor dem Haus erreicht und angehalten, die Feststellbremse zischt, der tief brummende Motor stirbt ab. Noch einmal ertönt das Drucklufthorn, dann öffnen sich die Türen. Den Mann, der auf der Beifahrerseite aussteigt, kennt Elena nicht. Sie rennt zur Fahrerseite und fällt Marco um den Hals.

„Hast du mich vermisst?“, fragt er, bevor er ihren fordernden Kuss erwidert.

„Und wie! Du hast dir ganz schön Zeit gelassen!“ Elena spielt die Beleidigte, was ihm ganz gut gefällt. Marco streicht ihr über den Kopf, löst sich dann aus ihrer Umarmung und dreht Elena aus, als ob sie Tango tanzten. Er deutet mit einer Handbewegung in Richtung des Chauffeurs.

„Elena, das ist Bernhard. Er wird den Lastwagen zurückfahren, denn ich bleibe diesmal hier!“ Dann lächelt er sie an.

Bernhard begrüßt Elena. „Schön habt ihr‘s hier. Könnte mich hier auch wohl fühlen“ sagt er und schaut respektvoll auf die Umgebung.

„Hallo Bernhard, ich bin Elena. Ja, das wird hier ganz toll werden. Aber vorher gibt es noch sehr viel zu tun. Ich bin dir dankbar, dass du Marco hergebracht hast.“

„Ach, den größten Teil ist er selbst gefahren. Ich habe ihn kaum vom Lenkrad weggebracht“, scherzt Bernhard. „Er ist ein sehr routinierter und sicherer Fahrer. Ich habe mich nie unwohl gefühlt.“

„Danke dir. Es hat mir auch richtig Spaß gemacht. Danke für dein Vertrauen.“ Marco klopft Bernhard auf die Schulter.

In diesem Moment fährt ein dunkelgrün und weiß lackierter VW Campingbus durch das Tor. Der neue Wagen hält hinter dem Lastwagen an. Zwei Frauen steigen aus. Elena schaut Marco fragend an.

„Darf ich dir noch unsere Begleiterinnen vorstellen? Das sind Kathrin Zürcher, meine Chefin, und Selina Zaugg, die Journalistin, von der ich dir auch schon erzählt habe.“ Marco setzt noch zu weiteren Worten an, aber Elena ist schon auf dem Weg zu den beiden Frauen und hört ihm nicht mehr zu.

„Herzlich willkommen bei der Villa Pineta. Ich bin Elena, Marcos Freundin.“ Sie greift nach den Händen der Frauen und lässt sie sich vorstellen.

„Du bist also der Grund dafür, dass Marco nicht mehr in der Schweiz wohnen und arbeiten will? Ich kann ihn voll und ganz verstehen. Dieser Ort, verbunden mit einer so sympathischen Frau, da ist ihm die Entscheidung wohl nicht mehr schwergefallen.“ Kathrin strahlt Elena an. „Es ist traumhaft schön hier!“

Unterdessen hat Selina schon ihre Kamera ausgepackt und schießt einige Fotos der Begrüßungsszene. Dann geht sie einige Schritte von der Gruppe weg und macht Bilder von der Umgebung und vom Haus. Die Männer haben den Lastwagen geöffnet und damit begonnen, die Sicherungsgurten der Kisten und Möbelstücke zu lösen.

Elena wendet sich zu den Männern. „Wir werden die Möbelstücke noch in der Scheune zwischenlagern müssen. Das Haus ist noch nicht bezugsbereit. Wir haben viel zu tun, Marco.“ Sie zeigt auf eine der beiden Scheunen. „Die vordere ist offen. Es hat auch noch etwas Platz. Die hintere ist immer noch versiegelt. Keine Ahnung, was dort alles lagert.“ Dabei zwinkert sie Marco verschwörerisch zu.

Bernhard fährt den Lastwagen rückwärts vor das Tor der Scheune. Dann beginnen die Männer mit dem Ausladen. Elena und Kathrin gehen um das Haus herum und betrachten die Aussicht. Selina bleibt bei den Männern, packt mit an und macht zwischendurch einige Fotos für ihre Reportage. „Sag mal, Marco, was ist dran an dem sagenhaften Scheunenfund, von dem man da so erzählt?“

Marco schaut sie mit großen Augen an. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, sagt er, während er mit einer Schrankwand in die Scheune verschwindet.

Bernhard reicht Selina die Schranktüre. „Komm schon, Marco, du weißt es genau. Elena hat doch von möglichen verschollenen Fahrzeugen gesprochen, welche sich eventuell in dieser geheimnisvollen versiegelten Scheune da hinten befinden. Meinst du nicht, wir sollten mal nachsehen, ob das stimmt?“ Selina packt sich die Türe und folgt damit Marco.

In der Scheune stellt Marco die Rückwand sorgfältig auf zwei Holzbalken, welche den Abstand zum Betonboden sicherstellen. „Nein, wir werden nicht nachsehen. Selina, wenn es hier eine Geschichte geben wird, dann werde ich dich selbstverständlich als erste informieren. Aber im Augenblick gibt es keine Geschichte und ich bitte dich, das auch mit keinem Wort zu erwähnen, auch die verschlossene Scheune nicht. Wir wollen hier umbauen und können keine Sensationstouristen brauchen.“

„Das verstehe ich ja schon. Aber meinst du nicht, es könnte eine interessante Story sein?“

Marco schmunzelt. „Das wird es mit Sicherheit. Und diese wird exklusiv dir gehören. Kannst du dich damit zufriedengeben?“

Selina küsst Marco auf die Wange. „Ich danke dir. Und natürlich hoffe ich, dass die vielen verschollenen Autos wirklich in dieser Scheune stehen.“

Draußen gibt sich Bernhard ungeduldig. „He, ihr zwei, arbeiten, nicht quatschen! Es hat noch viele Dinge hier!“

Auf der Vorderseite des Hauses stehen Kathrin und Elena im dürren Gras und blicken über die sanften Hügel in Richtung Küste. „Dieses Fleckchen Erde ist wirklich paradiesisch. Ich werde richtig neidisch.“

„Danke, Kathrin. Und danke auch, dass du Marco ziehen lässt. Das rechne ich dir sehr hoch an.“

Kathrin blickt Elena in die dunklen Augen. „Sag das nicht, denn ich lasse ihn nicht ziehen. Er wird schön brav weiterhin Bücher schreiben. Da musst du mit ihm schon etwas Geduld haben. Aber er kann von hier aus arbeiten. Was soll's, in Italien schreibt er sowieso bessere Bücher als jemals zuvor.“

Elena lacht. „Ja, das kann durchaus sein. Ich muss gestehen, ich habe noch keines gelesen. Aber das werde ich nachholen. Werden seine Bücher auch auf Italienisch erscheinen?“

„Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Ich denke, es ist eine Überlegung wert. Auch wenn eine Übersetzung rund siebentausend Franken kostet, würde es sich eventuell lohnen. Ins Englische werden wir das neueste Buch auf jeden Fall übersetzen lassen. Die Amerikaner lieben solche Geschichten. Mafia, Verschwörung, Frauenhandel, Liebe - was braucht es mehr.“ Sie wechselt das Thema. „Und hier? Ihr wollt ein B&B eröffnen?“

„Ja, das ist der Plan. Das Haus ist zu groß für uns zwei. Es wäre schön, das mit Ruhe suchenden Menschen teilen zu können. Wir planen, eine Art Oliven-Oase zu erstellen. Die Menschen können bei der Pflege der Bäume mithelfen oder bei der Olivenernte im Herbst dabei sein. Wir wollen mit der Tradition hier im Süden brechen und die Früchte früher ernten, damit wir ein wirklich gutes Öl pressen können. Aber das ist noch Zukunft.“

„Tönt nach viel Arbeit und realistischen Zielen. Du bist das Beste, was dem Schweizer da hinten passieren konnte!“ Kathrin Zürcher zeigt mit dem Daumen hinter das Haus.

Elena lacht und schließt Kathrin in die Arme. „Danke. Marco hat mir nicht gesagt, dass seine Chefin eine so sympathische Frau ist.“

„Na, das war ich auch nicht immer, lass dich nicht täuschen, ich kann eine echte Zicke sein. Seine Abenteuer im letzten Jahr haben da stark mitgeholfen, aber danke für die Blumen. Nicht vergessen, ich bin immer noch eine knallharte Verlegerin, die vor allem an finanziellem Gewinn interessiert ist. Die ganze Gefühlsduselei ist mir einfach bloß zuwider. Ehrlich!“ Dabei lacht sie die erschrockene Elena an und winkt mit der Hand. „Lass uns wieder zu den Männern gehen, bevor sie irgendwelche Dummheiten anstellen können.“

Nun lacht auch Elena. Die beiden Frauen umrunden das Haus und nähern sich dem Lastwagen.

Rund die Hälfte der Waren ist schon in der Scheune verstaut. Die Büroeinrichtung, das Bett und viele Kisten fehlen noch. Kathrin packt mit an, Elena verschwindet in der Küche. Sie hat in den letzten Wochen bereits eine gründliche Reinigung vorgenommen und den Gasherd repariert. Im kleinen Réduit unter der Treppe, der Sottoscala, holt sie eine Flasche Wein und Wasser in Petflaschen. Sie bereitet eine kleine Erfrischung vor. Dazu schneidet sie ungesalzenes Brot in dünne Scheiben, welche sie mit verschiedenen Pasten bestreicht. Neben frischem Ziegenkäse hat sie auch eine Olivenpaste, eine Wildschweinpaste, Tomatenpaste und grünen Pesto bereitgestellt. Nun schneidet sie auch Fleisch auf und bereitet Käse vor.

Draußen stellt Elena einen Campingtisch und fünf Stühle auf. Das Wasser und die Erfrischungen stellt sie bereit, bevor sie die arbeitenden Freunde zu sich ruft. „Macht mal eine Pause. Ich habe einen kleinen Willkommens-Apéro zubereitet.“

Die Angesprochenen reagieren erfreut, gehen in der Küche Hände waschen und setzen sich strahlend an den reich gedeckten Tisch.

„Du bist die Größte“, sagt Marco und küsst Elena auf den Mund. „Danke, mein Schatz. Du verwöhnst uns.“

„Gewöhn dich nicht dran. Ab morgen arbeitest du unter meiner Führung, mein Lieber. Wer möchte etwas Weißwein?“

Die anderen lachen, die Stimmung ist locker und entspannt. Man genießt die wohlverdiente Pause.

***

Spät am Abend sitzen Elena und Marco in ihrem improvisierten Zimmer und sprechen zum ersten Mal an diesem Tag alleine miteinander. Marco greift nach ihren Händen. „Ich bin so glücklich, nun hier zu sein. Ich freue mich darauf, unser wunderschönes Haus zu einem schicken Ferienresort umzubauen. Ich freue mich auf die Arbeit. Ich freue mich, das mit dir zu planen und zu verwirklichen. Ich liebe dich.“ Dann küsst er sie lange.

„Du hast mir auch gefehlt. Ich war schon fleißig, aber viele Pläne fehlen noch. Ich bin froh, bist du nun hier. Wir haben übrigens freie Hand. Die Finanzen sind von Nonna gedeckt. Stell dir vor, sie will uns alles finanzieren! Ist das nicht großartig?“

„Wow, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Maria ist so großzügig. Nun, du bist ja auch ihre einzige Enkeltochter. Ich freue mich so darauf, sie wiederzusehen!“

„Vor deiner Abreise hat sie mir dieses Buch gegeben.“ Elena steht auf und holt das alte Werkstattbuch ihres Urgroßvaters. „Schau, hier steht etwas von einer Liste mit unglaublich vielen Autos, Bildern und Kunstgegenständen, alles mit Datum, Ort und Preis. Großvater und sogar mein Urgroßvater waren sehr gewissenhaft. Sie haben alles fein säuberlich dokumentiert. Leider habe ich kein solches Buch meines Großvaters. Und die Liste fehlt leider auch.“ Elena blättert vorsichtig in dem Buch und zeigt Marco den Hinweis auf die lange Liste am Ende des Buchs. Plötzlich hält Marco seine Hand auf die Seiten und unterbricht Elena.

„Warte mal. Hier steht etwas von einem Bugatti Atlantic? Davon hat es nur vier gegeben. Einer ist zerstört, zwei kennt man und einer ist verschollen. Kann das möglich sein? Wenn das stimmt, dann sprechen wir hier von hundert Millionen Euro!“ Marco schaut Elena direkt an. Sein Blick ist eine Mischung von Spannung, Freude und Angst.

„Ich weiß es nicht, die Fahrzeuge klingen alle teuer, vielleicht mit Ausnahme der kleinen Fiats oder Citroëns. Ich habe in der hinteren Scheune übrigens fünf davon gefunden. Nur fünf, Marco. Ein Bugatti ist nicht dabei, aber ein Ferrari. Den werde ich ganz sicher fahren. Ich, nicht du!“ lacht sie ihn an. „Von allen anderen, die hier erwähnt sind, fehlt jede Spur. Es finden sich keine Hinweise darauf, wo diese Schätze versteckt sein könnten. Wir brauchen mehr Hinweise und vor allem diese Liste.“

„Wir sollten das Buch genauer lesen. Im vorderen Teil finden wir vielleicht noch mehr Hinweise.“

„Ich habe versucht, mit den Alten aus Copertino zu sprechen. Niemand sagt mir etwas, aber aus ihren Reaktionen schließe ich, dass sie durchaus etwas wissen. Meine Großväter waren offensichtlich sehr bekannt, aber nicht sehr beliebt.“

„Wir werden uns dieses Geheimnisses annehmen. Das tönt sehr spannend. Übrigens ist auch Selina sehr an der Geschichte interessiert.“

Elena versteift sich sofort, als der Name der Journalistin fällt. „Ich bin mir bei ihr nicht so sicher, Marco. Warum ist sie hier?“

Marco küsst seine Freundin. „Entspann dich, Elena. Selina ist harmlos. Sie ist eine Journalistin und deshalb von Berufs wegen neugierig. Wenn sie eine große Story wittert, nimmt sie deren Fährte auf. Sie hat uns damals mit den entführten Frauen sehr geholfen, erinnerst du dich?“

„Ja, klar. Aber nun würde ihre Story großen Ärger bedeuten. Nonna hat mir auch gesagt, ich soll die Finger davon lassen. Ich bin nicht sicher, ob wir das untersuchen sollen.“

„Aber natürlich sollen wir das tun. Stell dir bloß mal vor, die Fahrzeuge existierten noch. Das würde weltweit für Aufsehen sorgen und uns auf einen Schlag unglaublichen Reichtum bescheren. Wir könnten ein Automuseum bauen und hätten eine Attraktion, von der ganz Apulien wirtschaftlich und vor allem touristisch profitieren könnte. Das wäre sicher im Sinne deiner Großväter, meinst du nicht?“

Elena ist müde geworden. Sie schläft in den Armen Marcos ein. Er trägt sie zum Bett und deckt sie sorgsam zu, dann küsst er sie auf die Stirn. Seine Gedanken drehen sich um die verschollenen Fahrzeuge. Er schaut sich das Buch noch einmal an und beschließt, sich im Internet mehr Wissen anzueignen. Neugierig geworden, blättert er im vorderen Teil des Buches und bleibt bei einem Eintrag vom März 1926 stehen. Voller Ehrfurcht, dass das handgeschriebene Buch schon so alt ist, beginnt er zu lesen.

***