Schlachthof und Ordnung - Christoph Höhtker - E-Book

Schlachthof und Ordnung E-Book

Christoph Höhtker

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Beschreibung

Ein revolutionärer Wirkstoff erobert den europäischen Markt: Marazepam, Markenname Marom. Offiziell ein Angstlöser, in Wirklichkeit ein hochintelligentes Psychopharmakon. Die Lösung für alles, gegen alles. Endgültige, allmächtige, Glück verheißende Arznei. Von der als Prostituierte getarnten Anhängerin einer feministischen Terrorgruppe bis hin zu den erfolgsgierigen Managern multinationaler Konzerne, alle sind der Glücksdroge verfallen. Mittendrin Joachim A. Gerke, ein Sozialhilfeempfänger mit literarischen Ambitionen - und einem Problem hinsichtlich der täglichen Zufuhr des Medikaments, das ihm sein Hausarzt plötzlich verweigert. Ein Medikament, das inzwischen eine Gesellschaft steuert, die beunruhigend genau nach der unseren klingt. Eine Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs.

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Über dieses Buch

Ein revolutionärer Wirkstoff erobert den europäischen Markt: Marazepam. Die Lösung für alles, gegen alles. Endgültige, allmächtige, Glück verheißende Arznei. Vom Sozialhilfeempfänger bis hin zu Konzernmanagern, alle sind der Glücksdroge verfallen.

Eine Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs, die beunruhigend genau nach der unseren klingt.

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Christoph Höhtker (*1967 in Bielefeld), Soziologiestudium. Lebt und arbeitet in Genf. Publiziert in unregelmässigen Abständen auch in der NZZ, der Welt, der Zeit, in Konkret, der WOZ oder im Magazin des Tages-Anzeiger.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Hardcover, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

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Christoph Höhtker

Schlachthof und Ordnung

Roman

E-Book-Ausgabe

weissbooks.w @ Unionsverlag

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Impressum

Dieses Buch wurde mit Mitteln der Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung gefördert.

Weissbooks Verlagsgesellschaft mbHWinsstr. 2710405 BerlinTelefon: (030) 62930450

Berlin 2021. Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Julia Borgwardt, borgwardt designunter Verwendung eines Motivs von kulzfotolia (Adobe Stock)Foto Christoph Höhtker: Alexandra SonntagSatz: Sven Schrape

ISBN 978-3-86337-181-4

www.weissbooks.com

[email protected]

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

SCHLACHTHOF UND ORDNUNG

Personenregister (eine Auswahl)

Realitätslevel –1

Realitätslevel 0

Realitätslevel –2

Teil 1 — Die Zweifel des Jean-Luc Béchamet

1 — 14.10.2022, 10.03 Uhr, Redaktions-Konferenzraum des Miroir, Paris

2 — Freitag, 14.04.2023, 20.11 Uhr, Bundesautobahn A2, zwei Kilometer nordöstlich der Anschlussstelle Bad Nenndorf

3 — Zweiter Brief der 28-jährigen Schwerstabhängigen Nele Hoffleit an die Firma Winston Pharmaceutics and Medical Care Deutschland Ltd. (undatiert)

4 – Gedicht

5 — Freitag, 16.12.2022, 19.24 Uhr, Industriegebiet Avignacq-sous-bois, vier Kilometer nordöstlich von Monéclair, Departement Gilotte, Region Argogne

6 — Aus den Entzugstagebüchern Marc Toirsier (vorläufiger Arbeitstitel: »Die Gesänge der Hölle«)

7 — Freitag, 16.12.2022, Paris, Gare du Nord

8 — Freitag, 14.04.2023, 21.33 Uhr, das (spärlich besetzte) Restaurant Jagdstube im Landhotel Osthoff, ca. fünfzehn Kilometer nordöstlich von Peine/Niedersachsen

9 — Internes Memorandum Winston Pharmaceutics and Medical Care Deutschland Ltd., Ebratal (Nordhessen), 04.09.2020

10 — Aus den Entzugstagebüchern des Marc Toirsier

11 — Der dritte Brief der Nele Hoffleit an die Firma Winston Pharma and Medical Care Deutschland Ltd.

12 — Samstag, 17.12.2022, 08.31 Uhr, die »Außenbezirke« der Kleinstadt Romme, Departement Gilotte, Region Argogne, Südwestfrankreich, Europa (West), Planet Erde, 14. Sonnensystem der Xeta-Klasse, Entfernung zum Raum-Zeit-Transponder: 231 Mrd. Lichtjahre, Entfernung zur großen metaphysischen Schranke: 446 Mrd. Lichtjahre, Entfernung zum Ende aller Dinge: unbekannt (aber rapide abnehmend)

13 — Samstag, 17.12.2022, 11.02 Uhr, Köln, Eigelstein-Viertel

14 – Kolumne

15 — Samstag, 15.04.2023, 09.12 Uhr, Frühstücksraum im Landhotel Osthoff, ca. fünfzehn Kilometer nordöstlich von Peine/Niedersachsen

16 — Aus den Entzugstagebüchern des Marc Toirsier

17 — Aus den privaten Archiven des Dr. Johannes Bindig, Ordner für Internet-Ausdrucke

18 — Der fünfte Brief der Nele Hoffleit an die Firma Winston Pharmaceutics and Medical Care Deutschland Ltd.

19 — Aus den Entzugstagebüchern des Marc Toirsier

Teil 2 — Die Bedürfnisstrukturen des Eric LeForbes

1 — Mittwoch, 12.04.2023, 16.03 Uhr, das Winston-Firmengelände im Industriegebiet Viereich, vier Kilometer südöstlich von Ebratal/Nordhessen

2 — Mittwoch, 12.04.2023, 21.03 Uhr, Château Lapin, Romme, Département Gilotte, Region Argogne, Frankreich

3 — Mittwoch, 12.04.2023, 16.17 Uhr, das Winston-Firmengelände im Industriegebiet Viereich, vier Kilometer südöstlich von Ebratal/Nordhessen

4 — Freitag, 13.05.2022, 12.47 Uhr, eine Einfamilienhaussiedlung in Ebratal-Altdorf

5 — Freitag, 14.04.2023, 15.00 Uhr, das Winston-Firmengelände im Industriegebiet Viereich, vier Kilometer südöstlich von Ebratal/Nordhessen

6 — Freitag, 14.04.2023, 14.24 Uhr, die Fahrgastzelle eines Citroën DXC E-Wavecross, unterwegs auf einer kleinen Stichstraße zur Atlantikküste unweit von Saint-Catherine sur Melons, im Grenzgebiet der Départements Gilotte und Nibe, Region Argogne, Frankreich

7 — Freitag, 14.04.2023, 17.13 Uhr, irgendwo in oder um Ebratal

8 — Freitag, 14.04.2023, 17.02 Uhr, der dritte Stock der Winston Pharmaceutics and Medical Care Deutschland Ltd., Industrie- und Verwaltungspark Viereich, vier Kilometer südöstlich von Ebratal/Nordhessen

9 — Samstag, 15.04.2023, 08.45 Uhr, ein Zimmer der Premium-Kategorie im Best Western Macrander Hotel Offenbach-Kaiserlei

10 — Samstag, 15.04.2023, 09.13 Uhr, das Schlafzimmer der Familienresidenz Dransfeld bzw. Dransfeld-Bechtloff, Ebratal-Altdorf

11 — Samstag, 15.04.2023, 09.13 Uhr, das Arbeitszimmer von Peter Dransfeld, Nordwestseite der Familienresidenz Dransfeld bzw. Dransfeld-Bechtloff, Ebratal-Altdorf

12 — Samstag, 15.04.2023, 13.56 Uhr, die Sportsbar Freezone, Zellau, Sachsen-Anhalt, das Stammlokal von Dr. Johannes Bindig und seiner politischen Weggefährten

13 — Samstag, 15.04.2023, 14.08 Uhr, die Bundesautobahn A3, unweit der bayerischen Ortschaft Waldbrunn, gut zwölf Kilometer westlich der Stadt Würzburg

14 — Samstag, 15.04.2023, 09.21 Uhr, das Einfamilienhaus der Familie Dransfeld bzw. ehemals Dransfeld-Bechtloff, Ebratal-Altdorf

Teil 3 — Konzerte im Belengi-Krater

1 — Praxis Dr. Gerhard Paul Bunnemann, später, sehr später Vormittag eines beliebigen Tages eines beliebigen Jahres; präzise Datierungen spielen ab einer bestimmten sozialen Positionierung nur noch für die staatlichen bzw. gesellschaftlichen Gängelungsagenturen eine Rolle, nicht aber für die Gegängelten selber. Die Uhrzeit hingegen sehr wohl.

2 — Die letzten drei Seiten eines insgesamt achtseitigen Briefes, den Dr. Gerhard Paul Bunnemann (108) am 29. und 30.04.2023 an seine verstorbene Frau Hildegard schrieb (und wenig später tatsächlich abschickte)

3 — Der elfte Brief der Nele Hoffleit an die Winston Pharmaceutics and Medical Care Deutschland Ltd.

4 — Praxis Dr. Gerhard Paul Bunnemann, 12.37 Uhr, Datum/Jahr/Jahrhundert – egal

5 — Der Weg der SS-Panzergrenadierdivision »Thorsten Kray«, aufgezeichnet durch die 22-jährige Krankenschwester Hildegard Brauk, später Bunnemann

6 — Praxis Dr. Gerhard Paul Bunnemann, 12.41 Uhr, an einem grauen Winter- oder Sommer- oder Frühlings- oder Herbsttag im Jahre 2023, Außentemperatur 15 °C, tief hängende, geschlossene Wolkendecke, schwache Schauerneigung, auffrischender Wind aus West-Süd-West. Im Behandlungszimmer 2 unterhält sich Doktor Gerhard Paul Bunnemann (108) mit der Patientin Dilek Karasu (37).

7 — Der 37. Brief der Nele Hoffleit an die Winston Pharmaceutics and Medical Care Deutschland Ltd.

8 — Praxis Dr. Gerhard Paul Bunnemann, Behandlungszimmer 1, 12.46 Uhr, Jahr 0007 seit der Markteinführung von Marom R100, 200 und 500, 0 Jahre, 0 Monate, 0 Tage und ca. 3 Stunden, 46 Minuten nach der letzten Einnahme

9 — Aus den Aufzeichnungen der Hildegard Bunnemann (geb. Brauk)

10 – WIKIPEDIA

11 — Praxis Dr. Gerhard Paul Bunnemann, Patientenwartezimmer, 12.51 Uhr, das Innenleben der Dilek Karasu (GLF), viereinhalb Minuten nach dem Erstkontakt mit dem Wirkstoff Marazepam

12 – WIKIPEDIA

13 — Dr. Gerhard Paul Bunnemann an seine verstorbene Frau Hildegard

14 — Praxis Dr. Gerhard Paul Bunnemann, Behandlungszimmer 1, 12.52 Uhr

Teil 4 — Kriege / Der Weg nach Ebratal

Teil 4a

1 — Praxis Dr. Gerhard Paul Bunnemann, Behandlungszimmer 1

2 — Praxis Dr. Gerhard Paul Bunnemann, Behandlungszimmer 1., 13.01 Uhr

3 — Der 121. Brief der Nele Hoffleit an die Winston Pharmaceutics Deutschland Ltd.

4 — 122. Brief der Nele Hoffleit an die Winston Pharmaceutics Deutschland Ltd.

5 — 123. Brief der Nele Hoffleit an die Winston Pharmaceutics Deutschland Ltd.

6 — Der erste Brief der Winston Pharmaceutics Deutschland Ltd. an Nele Hoffleit

7 — Praxis Dr. Gerhard Paul Bunnemann, Behandlungszimmer 1, ein Tag im frühen dritten Jahrtausend, 13.05 Uhr

8 – »Der Frontarzt«Autor anonym, Manuskriptangebot eingegangen am 15.3.1958 beim …

9 — Aus den Entzugstagebüchern des Marc Toirsier

10 — Praxis Dr. Gerhard Paul Bunnemann, Behandlungszimmer 1, 13.08 Uhr, die Sekunden vor der Kernschmelze (des Joachim Angelique Gerke)

11 – La cuisine du terreur

12 — 07.09.2023, 10.23 Uhr, Paris, 16. Arrondissement, Philippe de Meudon (nach wie vor Chefredakteur des Miroir, eine halbe Marom R500 am Wochenende, als Belohnung) telefoniert mit Anne Girardoux, einer ehemaligen Miroir-Redakteurin der Ressorts Kultur und (später) Gesellschaft/Politik

13 – Kämpferinnen der inneren und äußeren Fronten, Soldatinnen der …

14 — Praxis Doktor Gerhard Paul Bunnemann, 13.28 Uhr bzw. Stunde null, Tag X

15 – »The rapid withdrawal of Marazepam as a short …

16 — Hildegard Bunnemann, geb. Brauk, am 14.10.1970 über die Liebe

Teil 4b

1 — Früher Nachmittag des Tages der Sonnenschmelze, vor der Praxis Dr. Gerhard Paul Bunnemann

2 – »Die Ereignisse, die sich in den Mittagsstunden des …

3 – Meine Schuhe platschen durch zähflüssige, rostbraune Lachen …

4 — Städtische Kliniken B.-Zentral-Ost, elektronische Patientenakte J. A. Gerke, Update 12.01.2017, Bericht und Daten (kostenpflichtig) weitergeleitet an das Winston Internal Review Center (WIRC), Ebratal

5 – Zu Fuß vom Vorort ins Zentrum. Am Rande …

6 – »Na, du fährst hier ja schnittig vom Hof …

7 – Aus den Tagesbulletins der Polizeidirektion B., Sektor Innen-Ost …

8 – »Scheiß Regen. Was is’n das? Roter Wüstensand …

9 – Ergänzende Informationen zum Tagesbulletin 19.05.2023, Polizeidirektion B.Verfasser …

10 – Oh, là, là, kleiner Marvin. Da liegst du …

11 — Exkurs

12 — Transit-City-Apotheke, Hauptbahnhof B., Ostausgang

13 – Unsere 10 Gebote

14 – Soeben wurde meine Magenkarosserie entfernt, mittels einer stumpfen …

15 – Die fünf systemischen Codes der Tendance Surveillance Sicherheitsservice …

16 – »Meine Damen, meine Herren, guten Tag. Überraschend roter …

17 – Die vier Maximen der Ozgun Gebrauchtwagen GmbH

18 – Genieße deinen Körper? Wie, verflucht? Mir wird die …

19 – Die drei Premium-Verhaltensmaximen auf dem paralegalen Substanz-Nachschub-Open-Air-Markt der …

20 – »Hör mal, bist du hier der Vertriebsbeauftragte in …

21 — Aus den privaten Notizen der Hildegard Bunnemann, 14. Juni 1979

22 – Siebzehn Minuten und dreiundvierzig Sekunden später. Ich befinde …

23 – Generalsturmbannführer Medizin Gerhard Paul Bunnemann im kleinen Kreis …

24 — Der Weg nach Ebratal

Teil 5

1 – Die Ebratal-Verwicklung

2 — Der 185. Brief der Nele Hoffleit an die Firma Winston Pharmaceutics and Medical Care Deutschland Ltd.

3 — Die 21. Antwort der Winston Pharmaceutics and Medical Care Deutschland Ltd. an Frau Nele Hoffleit, Hamburg

4 — Die erste Mitteilung der Winston Corporate Communications GmbH an Frau Nele Hoffleit, Hamburg

5 — Der 186. Brief der Nele Hoffleit an die Winston Pharmaceutics and Medical Care Deutschland Ltd. (bzw. der erste Brief an die Winston Corporate Communications GmbH, Ebratal)

6 – Die Ebratal-Verwicklung (Fortsetzung)

7 — Die zweite Mitteilung der Winston Corporate Communications GmbH an Frau Nele Hoffleit, Hamburg

8 – Die Ebratal-Verwicklung (Fortsetzung)

9 — Die 23. Antwort der Winston Pharmaceutics and Medical Care Deutschland Ltd. an Frau Nele Hoffleit, Hamburg

10 – Die Ebratal-Verwicklung (Fortsetzung)

Teil 6 — Die Missionen des Patrick Esnèr bzw. die Missionen des Thorsten Kray

Teil 6a — 18. Mai 2023: Tag vor dem Tag

1 – Die Kreisstadt Ebratal, einst von den Nationalsozialisten aus …

2 — Rückblende: Gut einen Monat zuvor in den politischen Urwäldern des deutschen Ostens

3 – Endlich hatte Patrick Esnèr das Carlton Excellence entdeckt …

4 – Am späten Nachmittag des 18. Mai 2023 …

5 – 19.45 Uhr, Patrick Esnèr war auf sein Zimmer …

6 – Der gegrillte Wolfsbarsch an pikantem Limetten-Tomaten-Chili-Jus nebst Bratkartoffeln …

7 – Gegen 22.45 Uhr packte Patrick Esnèr aus unerfindlichen …

8 – Thorsten Kray lag wach und noch komplett bekleidet …

Teil 6b — Judgement Day

Prolog

1 – Patrick Esnèr war an diesem Morgen selbstverständlich mit …

2 – Thorsten Kray verließ das Hotel Wildkammer um exakt …

3 – Patrick Esnèr hatte das Frühstück beendet, war auf …

4 – Nicht nur Patrick Esnèr, auch ein Thorsten Kray …

5 – Ebratal, Nordhessen, 19. Mai 2023: Patrick Esnèr ordnete …

6 – Thorsten Kray fuhr durch die Randbezirke von Ebratal …

Fortsetzung 6

7 – Patrick Esnèr warf einen letzten Blick in den …

8 – Ebratal, Amselweg, 14.57 Uhr, der Richtungsstreit zwischen der …

Fortsetzung 8

9 – Caroline Therèse Bertesse-Esnèr seufzte. Aber warum tat sie …

10 – Machte er gerade etwas falsch? Verriet er jemanden …

11 — Ein moderner, aufmunternd gesichtsloser Tagungsraum im vierten Stock des B-Trakts des Hauptverwaltungsgebäudes der Winston Pharmaceutics and Medical Care Deutschland Ltd.

12 – Ebratal-West, 19.05.2023, 15.11 Uhr. Die Wetterlage: bewölkt (auffällige …

13 — Ebratal-West, 19.05.2023, 15.11 Uhr, die Zentrale der Winston Pharma and Medical Care Deutschland Ltd., vierter Stock, der mit psychedelischen Wandmalereien verzierte Trakt von Human Resources.

14 – Sexuell stimuliert, jedoch auch irritiert, fast ärgerlich stapfte …

Ebrataler Epilog

Teil 7 — An den Ufern der Reinhard

Teil 8 — Die Tagträume der Eglantine Butragnole

1 — Aus den Entzugstagebüchern des Marc Toirsier

2 — Aus den Entzugstagebüchern des Marc Toirsier

3 — Aus den Entzugstagebüchern des Marc Toirsier

4 – »Marc, ich bins. Hör zu, ich komme heute …

5 — Aus den Entzugstagebüchern des Marc Toirsier

6 — Gerhard Bunnemann an seine Frau Hildegard

7 — Caroline Bertesse-Esnèr, am Nachmittag des 30.06.2023 in der Küche der Villa Mersault, Saint-Catherine sur Melons, praktisch auf der Grenze zwischen den Départements Gilotte und Nibe (auch »Gilotte-Maritime« genannt) gelegen

8 — Kapitän Auguste Mersault im Spiegel zeitgenössischer Darstellungen

9 — Aus den Gehirnschriften der Eglantine Butragnole

Teil 9 — Schlachthof und Ordnung

1 — Montag, 03.07.2023, das Werksgelände des Schlacht- und Verwaltungszentrums Südwest der Milaut SA unweit von Monéclair, Département Gilotte

2 — Telefonat Eheleute Caroline und Patrick Esnèr, Montag, 03.07.2023, 11.23 Uhr

3 — Montag, 03.07.2023, 21.02 Uhr, Saint-Catherine sur Melons, das Restaurant La petite Gilottine

4 — Die Autobahn A15, nordöstlich der Stadt Charleroi, 17.10.2024, 23.12 Uhr

5 — 24.12.2025, der 434. und letzte Brief der Nele Hoffleit an die frühere Winston Pharmaceutics and Medical Care Deutschland Ltd. und jetzige Winston Health Solutions and Innovations Deutschland GmbH

Anmerkungen

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Über Christoph Höhtker

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Zum Thema Deutschland

Zum Thema Frankreich

Personenregister (eine Auswahl)

Realitätslevel –1

Marc Toirsier (Journalist (Le Miroir, Paris) und Abenteurer, schwerer Marazepam-Konsum)

Dr. Eric Brian LeForbes (Geschäftsführer, Winston Pharmaceutics and Medical Care Deutschland Ltd., Ebratal)

Anne Girardoux (freie Journalistin (u. a. Le Miroir, Paris), multiple Sehnsuchtsfigur)

Thorsten Kray (autonom operierende Zelle der A.N.N.E., Fachbereich Flurbereinigung Ostdeutschland, Marazepam-Konsument)

Patrick Esnèr (Mittelmanagement Frères Milaut SA, Werk Südwest, Monéclair, Departement Gilotte, Region Argogne, Frankreich)

Nele Hoffleit (Schwester von Thorsten Kray, Marazepam-Konsumentin)

Gina Vermehren (Callgirl, Mitglied der semi- bzw. vollterroristischen Hochschulgruppierung GRF/GLF)

Dilek Karasu (Mitglied der semi- bzw. vollterroristischen Hochschulgruppierung GRF/GLF)

Bill Hoffleit (Privatdetektiv, Vater von Nele und Thorsten)

Caroline Bertesse-Esnèr (Ehefrau von Patrick Esnèr)

Eglantine Butragnole (Scheidungsanwältin, beste Freundin von Caroline Bertesse-Esnèr)

Dr. Peter Dransfeld (Leiter Öffentlichkeitsarbeit Winston Pharmaceutics and Medical Care Deutschland Ltd., Ebratal, Ehemann von Karin Bechtloff-Dransfeld, extrem risikoreiche Marazepam-Selbstversuche)

Karin Bechtloff-Dransfeld (Winston Pharmaceutics and Medical Care Deutschland Ltd., Ebratal, Ehefrau von Peter Dransfeld)

Dr. Ansgar Rappert (Leiter Patente/Lizenzen, Winston Pharmaceutics and Medical Care Deutschland Ltd., Ebratal, Liebhaber von Karin Bechtloff-Dransfeld)

Dr. Johannes Bindig (stellvertretender Leiter Öffentlichkeitsarbeit, Winston Pharmaceutics and Medical Care Deutschland Ltd., Ebratal, Nationalsozialist)

Phillippe de Meudon (Chefredakteur, Le Miroir, Paris)

Realitätslevel 0

Joachim A. Gerke (Romanautor (keine Veröffentlichungen), Empfänger staatlicher Transferleistungen, habitueller Marazepam-Konsum)

Dr. Gerhard Paul Bunnemann (übermenschlich alt, Denkmal, hochdekorierter Ostfront-Mediziner, behandelnder Arzt von Joachim A. Gerke)

Rafit Ozgun (Gebrauchtwagenhändler)

Marvin (Bekannter/Gehilfe von Ozgun, diverse Vorstrafen)

Annegret Albers (Sprechstundenhilfe Praxis Bunnemann)

Renate Walter (Sprechstundenhilfe Praxis Bunnemann)

Elizabieta (bulgarische Literaturwissenschaftlerin, Aufsicht in der Spielhalle Game City)

Realitätslevel –2

Auguste Mersault (französischer Kapitän und Sklavenhändler)

Hildegard Bunnemann (verstorbene Ehefrau von Gerhard Bunnemann, ehemalige Krankenschwester im Generalgouvernement und an der Ostfront)

Teil 1

Die Zweifel des Jean-Luc Béchamet

1

14.10.2022, 10.03 Uhr, Redaktions-Konferenzraum des Miroir, Paris

Die Gespräche ebbten ab, die Blicke richteten sich zum Tischende, von unten, von der Rue Gérard Arbre, war das wütende Hupen eines Kleinwagens zu hören.

»Leute, bevor wir loslegen, schaut euch das bitte mal an.« Chefredakteur Philippe de Meudon verteilte die Blätter. »Nehmt euch bitte die fünf Minuten. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht mehr, was ich mit Marc noch machen soll.«

Die Männer und Frauen der Zehn-Uhr-Konferenz machten sich unverzüglich an die Lektüre. Stille erfüllte nun den Raum, während sich unten das Hupen in einen Dauerton verwandelt hatte. Jemand brüllte: »Casse-toi, connard!«

Schlachthof und Ordnungoder Mein letzter Tag als Journalist

Wir erreichen unser Ziel im Morgengrauen. Jean-Luc Béchamet, mein langjähriger Fotograf, stoppt den Wagen, macht noch hinter dem Steuer erste Aufnahmen. Vor uns erstreckt sich ein flaches Tal, darin eingebettet ein ausgedehnter Industrie- und Bürokomplex. Ich nehme eine der Broschüren aus dem Handschuhfach. Auf dem Cover das große Milaut-Zentrum für den Nordwesten, gut eine halbe Stunde nördlich von Nantes. Ein anderer Betrieb, doch exakt identische Komponenten. Ein Ensemble schneeweißer Bauklötze, aus der Ferne fotografiert. Das Milaut-Konzept: saubere, unverdächtig langweilige Gewerbeparkarchitektur, stets etwas abseits liegend, dennoch gut angeschlossen an das Fernstraßennetz. Seit den späten Achtzigerjahren sind in Frankreich insgesamt elf solcher Anlagen entstanden.

Ein neuer Tag erwacht über der sanften Landschaft der östlichen Gilotte. Die Luft ist feucht. Es riecht nach Thymian und Heu. Ein Eichenwäldchen, eine taubenetzte Weide, Rinder. Eine ganze Herde. Muskulös, tiefbraun, typisch für diese Region des Südwestens. Die Tiere grasen eng beieinander, manche schauen zu uns herüber. Atemdampf steigt in Schwaden auf, blassorange gefärbt von der über der Hügelkuppe aufgehenden Oktobersonne. »Die stehen da nicht umsonst«, murmelt Jean-Luc. »Die warten auf den Auslöser.« Ich frage mich: Wie viele ihrer Artgenossen haben die wohl schon beobachtet? Auf dem Weg hinunter ins Tal, mit rosa Zungen am Metallgestänge der Transporter, die – wie Milaut immer wieder betont – modernste Tierschutzstandards noch übertreffen. Milaut garantiert maximalen Komfort. Fünf-Sterne-Rinderreisebusse. Jean-Luc macht noch mehr Aufnahmen. Die Tiere rühren sich nicht. Irgendwann werden auch sie ins Tal fahren. Ich hatte erwartet, nervöser zu sein.

Anderthalb Stunden später (nach Croissants und Kaffee im nur wenige Kilometer vom Milaut-Fleischtempel entfernten Dörfchen Monéclair) sitzen wir in einem modern eingerichteten Tagungsraum. Auf dem mindestens fünf Meter langen Tisch hat man eine Auswahl nicht alkoholischer Getränke sowie weitere Milaut-Literatur platziert – säuberlich geschichtete Stapel mit Firmenprospekten, Dossiers, Pressemappen. Eines der Hefte, »Milaut pour la communauté«, informiert über die sozialen Aktivitäten des Unternehmens. Milaut richtet Bibliotheken und Jugendzentren ein, unterstützt Sportvereine, sogar regionale Naturschutzinitiativen. Einmal im Jahr veranstaltet man die französischen Zerlegemeisterschaften, und für die Aktion »Rêve d’enfant«, die sich um die Belange schwerstbehinderter Kinder kümmert, konnten zahlreiche prominente Schirmherren gewonnen werden. Ich lerne: Die 1,4 Millionen Rinder und gut 12 Millionen Schweine, die von Milaut jährlich in die Verwertungsprozesse eingespeist werden, bluten für einen guten Zweck aus.

Der Schlachtpädagoge

Die Tür öffnet sich, ein athletischer Mittvierziger in einem weißen Kittel mit dem dezenten Milaut-Logo kommt auf uns zu. Das muss Patrick Esnèr sein. Mit seinem sonnengegerbten Teint, dem starken Kinn und den fröhlichen Augen erinnert er an den früheren Tour-Sieger Bernard Hinault, und dieser starken, behaarten Hand, die nun nach uns greift, traut man eher Arbeit im Stall als das Begrüßen von Journalisten zu. Man hat mich eindringlich vor den Milaut-Öffentlichkeitsarbeitern gewarnt. Nach schlechten Erfahrungen mit Pariser PR-Spezialisten, so die Legende, setze das Unternehmen mittlerweile auf Männer aus der Praxis. Glaubwürdige Amateure, die ausdrücklich nicht auf jede Frage eine befriedigende, Schmutz abweisende Antwort parat haben sollen. Wahrscheinlich auch das die Idee von Pariser PR-Spezialisten. Der Mann vor uns ist ein Prototyp des neuen Milaut-Images. Er spricht mit dem kehligen Akzent der Region, sein Vater besaß, wie wir bald erfahren, tatsächlich einen Hof, kaum zwanzig Kilometer entfernt. »Bei uns zu Hause kam der Schlachter zweimal pro Jahr«, berichtet Esnèr, während wir uns aus einer Karaffe mit frisch gepresstem Orangensaft bedienen. »Das klingt vielleicht idyllisch, aber meinem alten Herrn standen jedes Mal die Tränen in den Augen.« Ich erwähne den Transport, den damit verbundenen Stress für die Tiere, gebe zu bedenken, dass zumindest der den Tieren seines Vaters erspart geblieben sei. Esnèr weist auf die extra für Milaut entworfenen Komfort-Lkws hin, die strikten Kontrollen der Spediteure. »Aber vermutlich haben Sie recht«, fügt er dann mit nachdenklichem Gesicht hinzu, »die Rinder meines Vaters hatten es besser.« Jean-Luc und ich schauen uns an. Einen Augenblick sind wir sprachlos. Unterhalten wir uns hier wirklich mit einem kritischen, unabhängig denkenden Angestellten?

Nach diesem ersten Höhepunkt vergeht eine Weile mit harmlosen Plaudereien. Patrick erkundigt sich, wie unsere Fahrt verlaufen ist. Er zeigt sich interessiert an Jean-Lucs Ausrüstung. Sein Ton ist jovial, der Raum ist behaglich, die Orangen für den Saft stammen aus biologischem Anbau. Ich stelle fest, dass ich mich wohlfühle. Praktisch gegen meinen Willen habe ich Vertrauen gefasst. Wir sind hier, um die Realität des maschinellen Tötens zu erleben. Wir wollen und wir werden heute das Sterben sehen. Doch es erscheint mir beinahe tröstlich, dies in Begleitung eines so sympathischen Mannes wie Patrick Esnèr zu tun. Apropos, unser Betreuer schaut jetzt auf die Uhr. »Meine Herren, sind Sie bereit?« Er klingt aufmunternd und fürsorglich zugleich. Wir sind bereit. Das hoffe ich zumindest. Nein, wir sind bereit.

Das behagliche Tor zur Hölle

Das Erste, was ich sehe, spüre, selbst rieche, ist ein überwältigendes Weiß. Wir sind weiß, alles ist weiß, Patrick Esnèr geht voran. Zu seinem Milaut-Kittel trägt er jetzt auch weiße Plastikhandschuhe, eine weiße Haube und weiße Schuhüberzüge. Er ist kaum noch von der Umgebung zu unterscheiden. Es ist, als würde allein sein Gesicht durch ein grelles Vakuum schweben, und unwillkürlich suchen meine Augen nach Kontrasten, entdecken am Boden kleine orange Markierungen und Pfeile. Wegweiser für die Tiere? Das Milaut-Schlachtvieh als autarker Verkehrsteilnehmer?

Wir gehen durch eine Art Forschungslabor, eine Weltraumstation; das Gefühl, dass die Dinge hier drinnen mit der Welt da draußen nichts zu tun haben, wird überwältigend. Aber natürlich gibt es Verbindungen. Die Laderampen zum Beispiel, oder der Wartepferch, den Patrick uns jetzt zeigen will. Wir steigen Treppen hinauf zu einer Galerie, einem verglasten Laubengang. Der Raum, den wir nun von oben inspizieren, sieht ganz anders aus, regelrecht freundlich: warme Töne, Holz, indirektes Licht. Milaut hat einen gemütlichen, sehr geräumigen, traditionellen Stall nachgebaut. Der Boden ist mit frischem Stroh ausgelegt. Patrick informiert uns über Experimente mit klassischer Musik, mit Vogelgezwitscher. Man sei ständig auf der Suche nach Möglichkeiten, die letzten Minuten, jene Augenblicke, in denen die Tiere bereits Gefahr wittern, so angenehm und stressfrei wie möglich zu gestalten. Und zwar ohne medikamentöse Unterstützung. Wieder Esnèrs entwaffnende Ehrlichkeit, als er einräumt, dass solche Experimente letztlich vor allem im Hinblick auf die Fleischqualität stattfänden. Stresshormone könne man schmecken, fügt er hinzu und deutet dann auf eine große, dennoch dezente, beinahe getarnte Öffnung in einer der Holzwände des Rinderwarteraums: »Da müssen sie durch.«

Ich starre die Luke an, möchte sie als Tor zur Hölle begreifen. Als Ansaugstutzen einer schrecklichen Maschine. Doch das gelingt nicht. Das heißt, es gelingt mir schon, nur erschreckt mich die Vorstellung kaum. Es geschieht etwas anderes mit mir, während Jean-Luc seine Bilder macht. Seine Nikon ist im Dauereinsatz. Immer wieder nimmt er eine Ecke des Pferchs auf, in der das Stroh eine Art Mulde gebildet hat. Dort hat etwas gelegen, das ist offensichtlich. Jean-Luc fragt, was geschieht, wenn ein Rind sich weigert aufzustehen. Falls ein Tier partout keine Lust hat, durch den Schacht ins Nirwana zu spazieren. Auf Patricks Gesicht ist dieses Bernard-Hinault-Lächeln (nach einem Sieg in Alpe d’Huez), die beinahe bubenhafte Fröhlichkeit verschwunden. Gerade deswegen erwarte ich jetzt irgendetwas besonders Ausgeklügeltes von ihm, eine Lösung, die dem letzten Schrei zeitgenössischer Schlachttierpädagogik entspricht. Stattdessen öffnet er einen Metallspind und holt einen schwarzen, gut achtzig Zentimeter langen Stock heraus. »Mit diesem Ding bekommen wir das relativ problemlos hin.« Er deutet auf einen Knopf am Knauf des Stocks. »Keine große Ladung, in etwa wie an einem Weidezaun. Auf keinen Fall schmerzvoll, aber eine deutliche … tja, wie nenne ich das … eine deutliche Aufforderung.«

Selbstversuche

»Machen Sie mal!« Ich halte ihm den Unterarm hin. Ich fühle mich sehr gut, mein Puls ist normal, der Orangensaft hat mir zusätzliche Entschlossenheit verliehen. Meine Gehirnströme murmeln friedlich durch ein schnurgerades Flussbett, das die beiden gestern Abend eingeworfenen R200 zuverlässig und immer weiter für mich ausbaggern, auch wenn nicht auszuschließen ist, dass dieses Zeug meine Fleischqualität beeinträchtigt.

Esnèr tippt mit dem Stock in meine Armbeuge und drückt auf den Knopf. Ups, ein kleiner Schlag.

»Noch mal!«, herrsche ich ihn spaßig an. »Ich bin eine widerborstige, eigensinnige französische Kuh. Ich bin in der CGT1.«

»Haha«, macht Esnèr, »genau wie ich. Na gut …« Er drückt erneut auf den Knopf. Das Gefühl gefällt mir ganz gut, obwohl ich das Wegzucken auch diesmal nicht unterdrücken kann. Im Hintergrund das Klicken von Jean-Lucs Kamera.

»Genossin Kuh, Schluss jetzt mit den Experimenten«, sagt Patrick aufmunternd. »Dürfte ich Sie nun zum Schlachtvorgang bitten.«

»Aber mit dem allergrößten Vergnügen, Maître Esnèr. Genau deswegen habe ich die lange Reise auf mich genommen.« Jean-Luc schaut von seiner Nikon auf. In seinem Blick liegt Befremden. Das ist gut. Meine Arbeit will genau das. Aufwühlen. Ich habe noch nicht aufgegeben.

Patrick geht voran, wir verlassen unsere Beobachtungsstation, stehen wieder inmitten dieser großen, wirklich blendend weißen Halle, gelangen dann in eine andere, gehen weiter. Gehäutete Rinderleichen hängen an Förderbändern, Männer hantieren mit langen Messern. Das Rot des Bluts bildet einen intensiven Kontrast zum Klinikweiß der Umgebung. Ich erwäge, Patrick auf die ästhetische Problemlage hinzuweisen, frage dann aber lediglich, wohin wir unterwegs sind.

»In die zentrale Videoüberwachung«, antwortet Patrick. Alle Stationen, die ein Tier bei Milaut durchlaufe, würden dokumentiert. Und zwar lückenlos. Auf diese Weise garantiere man optimale Sicherheit und Qualität. Irgendwelche Exzesse von Mitarbeitern gebe es bei Milaut nicht. Und wenn doch, dann … genau ein einziges Mal.«

»Exzesse?«, hakt Jean-Luc nach.

Es sei erwiesen, entgegnet Patrick, dass bei Menschen, die im Tötungsbereich arbeiten, im Laufe der Zeit eine gewisse Abstumpfung eintreten könne.

»Abstumpfung?« Jean-Lucs Stimme klingt hart und unerbittlich. Auch wenn sich etwas in mir mehr und mehr einen harmonischen Ablauf dieses Vormittags wünscht, bewundere ich seine Konsequenz und Professionalität.

Patricks Ausdruck ist klar und ernst. Ein Mann, der die Konfrontation nicht sucht, sie aber auch nicht scheut.

»Ich vermute, Sie haben das Buch dieses Amerikaners gelesen, der sich mit der amerikanischen Lebensmittelindustrie beschäftigt?«

»Fleischindustrie«, präzisiere ich.

»Genau. Und dort werden ja sehr detailliert … Vorfälle beschrieben, Grausamkeiten.«

»Sie meinen, wenn jemand einem Schwein einfach so den Rüssel abschneidet. Zum Spaß, als Unterhaltung für die Kollegen?« Jean-Luc erscheint mir jetzt ernsthaft gereizt. Offen gestanden, verstehe ich seine schlechte Laune nicht.

»Ja, derartige Vorfälle meine ich. Aber kommen Sie jetzt bitte mit, in der zentralen Videoüberwachung können Sie sich ein Bild machen, wie die Arbeitsprozesse bei Milaut organisiert sind. Und warum solche«, Patrick bleibt einen Moment stehen, »warum solche Perversionen bei uns nicht vorkommen können. Wir planen übrigens, die Schlachtungen in Echtzeit online zu stellen, sie praktisch live zu übertragen, im Sinne einer optimierten Transparenz. Unser Endziel ist es, den gesamten Lebensweg zum Beispiel eines Kalbs zu dokumentieren, von der Geburt bis zum …«

»Dahinscheiden?«, hilft Jean-Luc aus.

»Wenn Sie so wollen«, sagt Patrick mit resigniertem Ton. Wie aufrichtig, wie sympathisch mir dieser männliche Südwestfranzose vorkommt. Es müsste ein Vergnügen sein, von ihm höchstpersönlich entbeint zu werden. Hinter meiner Stirnplatte, rechts versetzt von der Nasenwurzel, spüre ich dieses leise, wohlige Marazepam-Gurgeln. Es ist alles gut. Glaube ich.

»Aber«, beginne ich daher eine neue, meine bisher vielleicht investigativste Frage, »fürchten Sie nicht, dass solche Live-Aufnahmen von manchen Leuten als Masturbationsvorlage missbraucht werden?«

Jean-Luc und Patrick schauen mich an. In ihrem Blick liegt … was liegt in ihrem Blick? Bin ich Psychiater?

Philippe de Meudon schaute in die Runde: »Leute, ich frage euch: Was ist das? ›Die südliche Gilotte‹? Hat jemand von euch schon mal von der Gilotte gehört? Wirklich jetzt: Was ist mit Marc los?«

Anne Girardoux vom Kultur-Ressort hob die Hand. De Meudon machte eine auffordernde Geste.

»Philippe, ich decke ja nur ungern deine Wissenslücken auf, aber die Gilotte ist wunderschön. Ich war letzten Sommer drei Wochen dort. Du weißt, für meine Entgiftung.«

»Soso, und wo soll dieses wunderschöne Stück Fantasie-Frankreich liegen?«

»Na ja, weißt du, mit Geografie habe ich es nicht so. Irgendwo im Südwesten, ich habe während der Fahrt geschlafen«, informierte die sehr attraktive Enddreißigerin Girardoux ihren Chefredakteur sowie ihre Kollegen, von denen jetzt einige zu grinsen begonnen hatten.

»Aha«, machte de Meudon, »danke, Anne. Möchte sonst noch jemand etwas dazu sagen? Ich meine, was soll das sein? Die Gebrüder Milaut? Ich kenne kein Unternehmen mit diesem Namen.«

»Ich schon«, meldete sich erneut Anne Girardoux zu Wort. »Milaut auf den Teller, und dein Tag leuchtet heller! Milaut – Wurst oder so! Die haben damals den Prix Superfi-CIEL für die beste Kampagne bekommen, falls ich mich recht entsinne.«

»Stimmt«, schaltete sich Christian Arnaut ein, seines Zeichens Ressortleiter Wirtschaft/Soziales. »Daran kann ich mich erinnern. Milaut, unsere Produkte lebten froh.«

De Meudon verdrehte die Augen.

»Die Kampagne war damals einen Riesenerfolg«, ergänzte Anne Girardoux. »Wartet mal, ich komme noch drauf, die hatten noch einen richtigen Knaller … wie ging der noch?«

»Milaut: das saftige Vielleicht?«, schlug Suzanne Rivaldez (Kultur) vor.

»Genau!«, rief Girardoux.

»Milaut – zivilisiert oder roh.« Das war Louis-Bertrand Berrichi von Politik/Gesellschaft.

»Nicht zivilisiert«, korrigierte Suzanne Rivaldez, »manieriert.«

»Leute, Leute«, stöhnte Philippe de Meudon und tippte dabei auf das kleine Fläschchen mit den in Cognac aufgelösten Marom R200 in seiner Hosentasche. Draußen hatte der Himmel wieder dieses unnachahmliche, konturenlos elegante Pariser Nachmittagsgrau angenommen. Es bestand, mit anderen Worten, keine Hoffnung mehr. Auf gar nichts.

2

Freitag, 14.04.2023, 20.11 Uhr, Bundesautobahn A2, zwei Kilometer nordöstlich der Anschlussstelle Bad Nenndorf

Dicht floss der Verkehr dahin. Die Leute waren unterwegs, bei Tag und Nacht, und die Armaturen des BMW2 leuchteten kühl und wärmend zugleich.

»Oh, mein großer Bruder hat mal wieder Geheimnisse? Okay, sag mir wenigstens, wo du bist. Was machst du?«

Die Frage war berechtigt. Was genau hatte er eigentlich vor? Seine Unsicherheit darüber, wie der Sache am effektivsten gedient sei, war in letzter Zeit gewachsen. Sollte er wirklich immer weiter und immer wieder im Osten aufräumen? Auf irgendwelchen Dorf-Feten oder Weihnachtsmärkten? In diesen durchrenovierten Städtchen in Sachsen-Anhalt oder Thüringen? Trefferrate garantiert über neunzig Prozent. Oder wäre es nicht langsam mal etwas klüger, sich subtilere Ziele zu suchen? Leute aus dem Zielspektrum der anderen Seite, fleißige Asiaten zum Beispiel. Wenn er von denen eine Anzahl fertigmachte, wenn er sich ausschließlich an Unschuldige hielt, würde das nicht einen Imageverlust für den Feind bedeuten? Produktive, integrierte Menschen. Eine abscheuliche Tat. Ein feiges Verbrechen. War es zielführender, absolut unbescholtene Mitbürger zu eliminieren? Er stand vor einer strategischen Weichenstellung.

»Ich höre doch Geräusche. Du sitzt im Auto, stimmts?«

»Ja.«

»Und wo solls hingehen?«

»Keine Ahnung.«

»Keine Ahnung? Du weißt nicht, wo du hinfährst?«

»Mensch, Nele …«

»Ehrlich jetzt, wie viel hast du drin?«

Thorsten Kray beendete das Gespräch mit seiner vier Jahre jüngeren Schwester und warf das Telefon hinter sich auf die Rückbank. Wenn er statt Nazis mal ein paar fleißige Asiatinnen im Massagestudio niedermähte, könnte das nicht einen ungleich größeren Propaganda-Erfolg generieren? Winzige, geschickte, steuerzahlende Gliedmaßen, zerdroschen von einem barbarischen, ewig gestrigen Wurstfinger am Abzug?

Er schaute in den Rückspiegel, beobachtete die Lichterkette, die sich von den schwarzen Hügeln des Weserberglandes hinabwand. Ein Fackelmarsch, ein leuchtender Pfad. Wenn er einmal wirklich präzise darüber nachdachte, wenn er einmal sämtliche Ressentiments und A.N.N.E.3-Direktiven beiseiteließ, war es Unsinn, das Projekt weiter ausschließlich im Osten durchzuziehen. Die Einheit hatte sich vollzogen, Unterschiede verschwammen zusehends, und der Osten hatte längst die ideologische Hegemonie übernommen. Also gleich die nächste Abfahrt nehmen und loslegen? Letztlich sprach nichts dagegen. Dennoch, das Pack in der Zone hatte es immer noch eine Spur mehr verdient. Außerdem war ihm der offene Angriff auf den Gegner einfach lieber. Action directe! Und bevor sie ihn kriegten, bevor er draufging, würde er Anne alles erklären. Damit wenigstens die Franzosen Bescheid wüssten.

Das Glimmen des BMW-Cockpits. Verführung durch Nazi-Ingenieurskunst. Er musste sich zwingen, wieder auf die Straße zu schauen. In ein, zwei Stunden würde er abfahren, sich in einem Autohof, in irgendeinem Vertreterhotel einmieten, ein Bett, ein Fernseher, die Abend-Marom, dann träumen, in Wattemeere fallen, über schimmernde Horizonte segeln. Am nächsten Morgen oder, wie er das Präparat kannte, am nächsten Nachmittag dann noch einmal zweihundert, dreihundert Kilometer, weit hinein in diese widerlichen Steppen. In gewisser Hinsicht widerstrebte es ihm, Menschenleben auszulöschen, doch bisher hatte ihm niemand eine gangbare Alternative aufgezeigt. Jemand musste es auf sich nehmen. Jemand musste Zeichen setzen.

3

Zweiter Brief der 28-jährigen Schwerstabhängigen Nele Hoffleit an die Firma Winston Pharmaceutics and Medical Care Deutschland Ltd. (undatiert)4

Liebe Hersteller von Marom R200,

ich möchte Ihnen nochmals von ganzem Herzen danken! Am liebsten würde ich jeden Einzelnen von Ihnen (besonders aber die Forscher und die lieben Versuchstiere) umarmen und herzen. Sie haben mir buchstäblich mein Leben gerettet, viel mehr, Sie haben mir mein Leben geschenkt, zurückgeschenkt. Endlich kann ich wieder atmen, die Augen öffnen und mich umschauen in der Welt, in unserer schönen, bunten, vielfältigen Welt, die für mich in den letzten Jahren, bevor ich mich mit Marom vermählte, nur noch Schmerz und Angst bedeutete. Beißende, zuschnappende Angst. Sie können sich nicht vorstellen, was es heißt, mit so einem Gefühl existieren und dann auch noch in einer Werbeagentur arbeiten zu müssen. Allein der Weg dorthin: Horror! Ich gehe auf dem Bürgersteig und sehe dort einen dünnen Ast, eher noch einen Zweig liegen, und sofort beginnt das Karussell sich zu drehen: Ich trete auf den Ast, rutsche irgendwie auf seiner glitschigen Rinde seitlich aus, gerate ins Straucheln, falle der Länge nach hin, lande auf dem Gehweg, wobei mein Kopf über den Rinnstein hinaus auf die Straße ragt, auf der Sekunden vorher ein Lkw-Fahrer in Sekundenschlaf gefallen ist. Sein Fahrzeug bricht aus, mein Kopf, Teile meines Gehirns landen in dem groben Reifenprofil, ich selber höre noch das Knacken meiner Schädeldecke, mein linkes Auge wird aus der Höhle gequetscht, landet irgendwo auf dem Asphalt und sieht, wie die Bremslichter des Lkw endlich aufleuchten, der Laster mit einem Ruck zum Stehen kommt. Verstehen Sie, liebe Erfinder von Marom R200, solche Vorstellungen begleiteten mich tagein, tagaus. Ich konnte kaum noch atmen. Permanent sah ich mich einen schrecklichen und dazu auch noch absolut lächerlichen Tod sterben.

Doch dann kam Marom. Meine Rettung! Sie sind meine Retter, wissen Sie das? Ich bin so glücklich. Ich kann wieder leben. Ich kann am Leben teilnehmen. Ich schlafe gut und fest, und ich träume ausschließlich von angenehmen Dingen. Meine Träume sind so schön, das kann ich gar nicht beschreiben.

Marom ist ein Wunder, eine Gabe Gottes. Ich möchte niemals mehr darauf verzichten. Außerdem habe ich gehört, was passiert, wenn man das tut.

Liebe Grüße aus Hamburg,

Nele Hoffleit

4

Gedicht

Die nachtschwarzen Gestalten, die Schatten.

Die verfließenden, anthrazitenen Tage.

Die bleiernen Grabplatten auf meinem Brustkorb.

Der schwarz-braun erstarrte Schlick in meinen Adern.

Es ist absolut sicher, die Sonne wird nie wieder aufgehen.

Es ist absolut nachgewiesen, ich werde nie wieder lachen.

Mein Kopf: ein schmieriger Nebel.

Meine Hände: Tentakel eines hysterischen Insekts.

Mein Schwanz: eine verrottete, geteerte Nacktschnecke.

Meine Füße: zitternde, schwitzende Klumpen.

Dann das Kriechen zum verbotenen Schränkchen, zur verheißenen Schachtel.

Der glitzernde Blister, das heitere Knistern.

Der Weg unter meine tänzelnde Zunge

Marazepam – meine ewige Liebe!

Ich will und werde dich heiraten.5

5

Freitag, 16.12.2022, 19.24 Uhr, Industriegebiet Avignacq-sous-bois, vier Kilometer nordöstlich von Monéclair, Departement Gilotte, Region Argogne

Patrick Esnèr hatte es eilig. Mit langen Schritten eilte der Dreiundvierzigjährige über den windigen Firmenparkplatz, ließ bereits aus zwanzig Metern Entfernung per Fernbedienung die Türschlösser aufspringen und warf sich kurz darauf mit einem energischen Schwung in den mattschwarzen, schon etwas angejahrten, jedoch weiterhin relativ zuverlässigen und zeitgemäßen sowie relativ bis völlig unerheblichen Citroën DXC E-Wavecross.

Esnèr betätigte die Zündung, doch statt umgehend loszufahren, hielt der Diplomvolkswirt (im zweiten Bildungsweg) plötzlich inne. Sämtliche professionelle Spannung, die ihn während der zurückliegenden zwölf Stunden aufrecht gehalten und vorangetrieben hatte, wich für einen Augenblick aus seinem immer noch sportlich sehnigen Körper. Der Tag bei Milaut war nervenaufreibend gewesen, hatte aber keinerlei positive Entwicklungen gebracht. Nach wie vor standen sich die beiden Fraktionen in der Geschäftsleitung Südwest unversöhnlich gegenüber, und sein neues, seiner Meinung nach brillantes, beinahe artistisches Vermittlungsangebot war ein weiteres Mal von allen Seiten zerpflückt worden. Es war tatsächlich zum Verzweifeln. Ein klassischer Milaut-Grabenkrieg. Verdächtigungen, Intrigen, Konterintrigen, halsstarrige Paranoismen. Überhaupt ein Witz, dass man ausgerechnet ihn, den Quereinsteiger, den Mann aus der Praxis, mit einer derart heiklen Mediatorenaufgabe betraut hatte. Andererseits, wenn er es schaffte, wenn er endlich einen Ausweg aus diesem endlosen Konflikt-Labyrinth fand, war er der Mann im Südwesten; ein Faktor, den Paris unmöglich länger übergehen konnte. Und außerdem, realistisch betrachtet, wer außer ihm sollte den Job erledigen? Himmel, waren das Idioten im vierten Stock! Esnèr schüttelte den Kopf mit dem vollen, seit einiger Zeit jedoch ansatzweise grau melierten Haupthaar und legte den Rückwärtsgang ein. Was die Gebrüder Milaut betraf, hatte er nun Feierabend. Im Moment hatte es wenig Sinn, weiter über die komplexen Frontlinien innerhalb der oberen und mittleren Managementebene der südwestlichen Filiale des größten französischen Fleischversorgers nachzugrübeln. Wie sein Doppelgänger und großes Vorbild Bernard »der Dachs« Hinault trainierte Esnèr die Fähigkeit, Probleme, Niederlagen, generell Vergangenes schlagartig hinter sich zu lassen, das Gehirn komplett und radikal auf kommende Aufgaben umzuprogrammieren. Er zuckte also demonstrativ mit den Schultern, ließ gleichzeitig sanft die Kupplung kommen, bewegte den Wagen zunächst aus der Parklücke, danach über den nur noch spärlich gefüllten Parkplatz 3a des Milaut-Geländes, bog dann auf die ebenfalls praktisch leere D332 Richtung Montoidon-les-bains ein, beschleunigte schließlich mit einem weiteren, diesmal jedoch beinahe wohligen Seufzer. Dieses Ortstreffen in Sautibe stand an, begann bereits in wenigen Minuten, und als frischgebackener Bezirkssekretär stand er nun einmal in der Pflicht, speziell wenn, wie heute, wieder irgendein alter Kämpfer – dreihundert Jahre dabei, mit Pétain noch höchstpersönlich kollaboriert – endgültig in die Umnachtung verabschiedet werden sollte. Das Programm dieser Veranstaltungen war immer gleich: seine zweiminütige Standardrede, der Dank der Partei, die Fundamente der Bewegung, die gemeinsamen Werte, die aufrechte Haltung im grausamen politischen Gegenwind und so weiter, dann eine halbe Stunde das Gejammer dieser Kretins, schließlich Käse und Schinken aus der Region. Oder, wie letzte Woche in Saint-Jacob de Serre, faseriges Kaninchen in glitschig brauner Soße. Auf jeden Fall literweise schwerer Médoc dazu. Esnèr wurde mulmig zumute, als er an die kommende, unweigerlich promillehaltige Heimfahrt dachte. Für den Fall eines Konfliktes mit den örtlichen Vertretern der Staatsmacht hatte er immer einige Pakete der Milaut-Premium-Linie im Kofferraum. Ausgesuchte Produkte, die nichts, wirklich gar nichts mit dem Zeug zu tun hatten, das sonst die Werkstore seines Arbeitgebers verließ. Was sich der französische Verbraucher, dieser angeblich so qualitätsbewusste Feinschmecker andrehen ließ – ein Traum! Sein Besuch in Bulgarien vor zwei Jahren, diese schauerlichen Milaut-Foie-Gras-Fabriken. Riesenställe, Folterlager auf ungeordnetem, balkanischem Land. Selbst ein Praktiker wie er hatte damals schlucken müssen: der Geruch, das Geschnatter, abends dann der Wodka, die Nutten. Drei geschlagene Wochen hatte er das mitgemacht, die mit Abstand anspruchsvollste Zeit seiner bisherigen Laufbahn. Auf ein paar sehnigen Kaninchenschenkeln herumzukauen und dabei den senilen Geschichten hundertjähriger Genossen zu lauschen, war nichts dagegen, der reinste Urlaub.

Esnèr glitt mit konstant einhundertzwanzig Stundenkilometern über die Landstraßen der ebenso malerischen wie strukturschwachen südlichen Gilotte. Er genoss das robuste Fahrwerk und das durchzugsstarke Aggregat des Citroën, dachte dabei an dies und das. Plötzlich fiel ihm dieser Marc wieder ein. Marc Toirsier vom Miroir. Esnèr musste lächeln. Wie war er bloß darauf gekommen, diesem Typen sein Strandhaus bei Saint-Catherine sur Melons anzubieten? Seine geliebte Villa Mersault? Was hatte er damit bezwecken wollen, wo doch feststand, dass es sich bei diesem Toirsier um einen harmlosen Irren handelte. Er hatte sich den Artikel extra vorlegen lassen, bevor alles nach Paris gegangen war. Geschreibsel, wirres Psychogefasel. Kunst. Undenkbar, dass ein Mann wie de Meudon so etwas schlucken würde. Eigentlich könnte er Toirsier jetzt langsam mal an die frische Luft befördern. Zumal Caroline und die Kinder bereits quengelig wurden. Andererseits, Caroline und die Kinder waren immer quengelig, und die Festtage würde man ohnehin wieder in Chamonix verbringen.

Die Ausläufer von Sautibe, die Zone der Supermärkte: Carrefour, Leclerc et cetera – alles treue, erpresserische Milaut-Kunden. Esnèr bog von der Umgehungsstraße in Richtung Ortskern ab, die Architektur wurde charmanter, die Straßen verwinkelter, bald schon umgab ihn die pittoreske Ursprünglichkeit eines französischen Landstädtchens. Esnèr passierte den kleinen Platz mit der Mairie, warf einen flüchtigen Blick in das Café de la Poste. Dort vorne lag die Rue Emile Gaymard, er sah bereits die Lichter der Auberge du Cheval Blanc, entdeckte sogar beinahe direkt vor dem traditionellen Versammlungslokal einen Parkplatz. Alles in allem lag er nicht schlecht in der Zeit, seine Verspätung betrug kaum mehr als eine Viertelstunde. Esnèr setzte seinen Citroën mit einem einzigen, gekonnten Rückwärtsschwung in die Parklücke, schaltete dann den Motor ab und seufzte zum dritten und letzten Mal an diesem milden, insgesamt meteorologisch unauffälligen Mittdezembertag. Für einen Moment versuchte er, sich zu sammeln. Es galt, sich zusammenzureißen und die Sache anzugehen, den Genossen ein paar aufmunternde, kämpferische Worte zuzurufen. Doch die erhoffte Fokussierung trat nicht ein. Stattdessen verfiel Esnèr wieder einmal in jene ärgerlichen Tagträumereien, die ihn seit vielen Jahren begleiteten, deren Häufigkeit und Intensität jedoch in den vergangenen Monaten deutlich zugenommen hatte. Kein Wunder! Schließlich hatte er zu nichts mehr Zeit. Caroline, die Kinder, die Geschäftsleitung, die Partei – alle wollten andauernd etwas von ihm. Wann hatte er zum letzten Mal in irgendeinem abgelegenen, noch nicht kameraüberwachten Milaut-Pferch Stress abbauen und ein paar verdattert dreinschauenden Schweinen einen standesgemäßen Besuch abstatten können? Wie er diese fragenden Blicke vermisste, wenn er den Tieren sein Tsukasa-Messer vor die (noch intakte) Nase hielt. Wie hieß noch dieser Fotograf, den Toirsier im Oktober dabeihatte? Béchamet? Ganz recht, Béchamet, solche Dinge passieren. Zum Glück! Ansonsten würde man noch vollkommen verrückt bei all der Arbeit.

Patrick Esnèr warf einen Blick in den Rückspiegel, überprüfte den Sitz seines perfekt frisierten Haars, dann stieg er aus, und die friedlich provinzielle Szenerie der Rue Lionel Jospin6, in die er nun direkt einzutauchen sich gezwungen sah, erfüllte ihn mit Schaudern, mit einem kaum noch beherrschbaren, beinahe existenziellen Ekel.

6

Aus den Entzugstagebüchern Marc Toirsier (vorläufiger Arbeitstitel: »Die Gesänge der Hölle«)

Tag 17

Der berühmte Tag 1. Mein Entschluss steht da wie ein bronzener Monolith in der schüchternen Dezembermorgensonne. Wie dieser Schiffskadaver draußen in der Brandung vor Cap Souvert. Stur liegt das Wrack auf Grund, Welle um Welle bricht sich an ihm. Ein Monument der Unbeirrbarkeit. Fortan soll es mir als Talisman und Vorbild dienen.

Denn es ist vollkommen klar: Die Aufgabe, die vor mir liegt, ist die anspruchsvollste meiner Karriere. Ich werde minutiös protokollieren, was vor sich geht, was in mir und mit mir geschieht. Keinerlei Recherche. Ich weiß weder, wie lange es dauern wird, bis die Sache überstanden ist, noch, ob es überhaupt ein Überstehen gibt. Naiv und ohne Vorbereitung gehe ich in dieses Abenteuer. Meine Augen werden die eines Kindes sein, das mitten in der Nacht an einem fremden Ort aufwacht, und weder Eltern noch Geschwister sind bei ihm; alles, was dieses Kind jemals gekannt und geliebt hat, ist nicht nur fort, es ist, als hätte es nie existiert. Im Gefühl totaler Verlassenheit werde ich in die Dunkelheit schauen und aufschreiben, was zu berichten ist.

Ich habe Luc Reymond kontaktiert. Er hat sofort geantwortet. Natürlich seien sie interessiert. Immer. Das wäre gut. Gallimard wäre perfekt. Dennoch gestern auch Lazynskyi angerufen, ihn jetzt endgültig beauftragt, zur Sicherheit noch weitere Verlage zu kontakten. Ich will einen Vertrag und einen ordentlichen Vorschuss. Keine Ahnung, wie lange ich hier festsitzen werde, aber die Sache muss sich auf jeden Fall lohnen. De Meudon, dieser Kretin. Nichts für den Miroir? Na warte, du Idiot. Und Anne? Was machst du gerade, Anne? Wieder in einer dieser stumpfen Redaktionssitzungen in der Gérard Arbre? Denkst du an mich? Denkst du so an mich, wie ich an dich denke?

Schluss!

Esnèr hat mir versichert, ich könne bis mindestens Mitte Januar bleiben. (Das Haus hier nennt er »Kapitänshaus« oder auch »Villa Mersault«. Angeblich war dieser Mersault ein berühmter Seemann. Überprüfen!) Er und seine Familie seien über die Weihnachtsfeiertage in den Bergen. Seine Frau will übermorgen mit Lebensmitteln und anderen Sachen vorbeikommen. Er selber habe leider keine Zeit. Klar, der muss weiter bei Milaut Tiere killen (lassen).

Mehrere Wochen also, die vollkommen freigeräumt sind. Zeit, in der nichts sein wird außer mir, dem Meer, dem Wind und den Dünen. Gestern habe ich groß eingekauft, die Tüten den ganzen Weg von Saint-Catherine sur Melons bis hierher geschleppt. Ich bin jetzt für mindestens eine Woche ausgestattet. Esnèrs Frau müsste gar nicht mehr vorbeikommen. Aber die will bestimmt kontrollieren, wer sich in ihrem Besitz eingenistet hat. Was hat er gesagt? Wie heißt sie? Caroline. Laut Esnèr befindet sich im Keller jede Menge Alkohol; ich könne mich, in Maßen natürlich, bedienen. Ich werde verzichten. Die Aufgabe lautet: alles klar und unverschleiert erleben. Ich möchte – wie sage ich das, ohne pathetisch zu klingen? – nahe sein am Schmerz, an meinem wirklichen Kern. Doch bisher: nichts. Die letzte Einnahme erfolgte gestern um achtzehn Uhr. Meine Apéro-Tablette. Das war vor vierzehn Stunden. Ich fühle mich frisch und stabil. Im Hintergrund, praktisch an der Rückseite meiner Gedanken, lauert eine kleine, schüchterne Angst, eine blässliche Beklommenheit, doch das ist nichts, das muss ich nicht einmal beherrschen. Ein kiebiges, zaghaft zuschnappendes Schoßhündchen, mehr nicht.

Das Haus hat auf dem Dach einen Ausguck. Ein fantastischer Überblick. See und Wolken von einem stählernen, amorphen Grau, das einen schwachen, aber attraktiven Kontrast zum blassen Gelb der Dünen und dem Grün des Strandhafers bildet. Die Farben sind dezent, wirken auf mich aber intensiv. Dazu weht dieser stetige, ruhige Wind. Links, Richtung Cap Souvert, liegt das Wrack in den Wellen. Der Tag wartet auf mich, und er ist vollkommen leer.

Tag 2

Gestern Abend stundenlang BFM TV geschaut. Das ist mir seit Jahren nicht mehr passiert. Die erste klar identifizierbare Veränderung. Heute erst gefrühstückt (Müsli mit Joghurt, Kaffee, Orangensaft, natürlich keine Tablette), dann einen langen Strandspaziergang gemacht. Bis hinter Cap Souvert. Wirklich schön: das Meer, das Wrack, die Dünen, der Himmel. Der Wind streichelte meine Haut, murmelte mir Sachen ins Ohr. Ich glaube, ich habe mich richtig gut gefühlt. Der Pariser Lärm, der sich in meine Gehörgänge gefressen hat, verflüchtigt sich allmählich.

Ich machte diesen Dreistundenspaziergang, dann kam ich nach Hause, aß wieder etwas (Käse, Brot, Oliven), dann saß ich im Wohnzimmer auf der Couch. Ich saß einfach da.

Das Handy funktioniert nur manchmal. Ich durchschaue nicht, was da los ist. Zudem kein WLAN. Insgesamt weiß ich nicht, ob das, also diese relative Abgeschnittenheit, gut ist oder schlecht. Vorläufig wahrscheinlich noch egal. Obwohl es schon besser wäre, nachschauen zu können, wie dieses oder jenes Symptom zu bewerten ist. Wann es an der Zeit ist, den Rettungshubschrauber zu bestellen. Das habe ich nämlich heute Nachmittag verstärkt denken müssen: Was ist, wenn es zu schlimm wird? Wenn ich es nicht aushalte? Wird jemand kommen und mich retten? Esnèr? Wohl kaum. Der sitzt bei Milaut und singt die Rinder in den sanftesten aller Tode. Anne? Lächerlich. Noch habe ich so etwas wie Würde. Wer also wird zur Stelle sein, wenn es mir wirklich schlecht geht? Es ist Abend, der Abend des zweiten Tages. Ich trinke von Esnèrs Wein (nicht schlecht, Herr Fleischkommissar), esse Spaghetti und schaue wieder BFM TV. Keine Ahnung, was ich mit diesem Sender habe. Schätzungsweise liebe ich ihn. Darüber hinaus spüre ich nichts. Ich weiß, während ich hier sitze, baut sich der Spiegel immer weiter ab. Ich nähere mich einer kritischen Schwelle, aber selbst diese kleine, hinterhältige Angst, die gestern aufgekommen war, diese winzige Panik, ist nicht wiedergekommen. Ich sitze hier und schaue fern, und ansonsten ist nichts. Die eine Tablette, die ich für den Fall, dass alles völlig außer Kontrolle gerät, irgendwo in die Außentasche des kleinen Handgepäck-Rollkoffers gesteckt habe, funkt unauffällige, kurze Signale. Ich möchte mir nichts vormachen, eventuell ist es allein sie, ihre Gegenwart, die mich das alles hier, speziell dieses dämliche BFM TV, ertragen lässt.

Esnèrs Wein? Gut. Ganz vorzüglich.

Laptop runterfahren, zuklappen, der Blick auf die Gemüse-Uhr. Was zeigen Karotte und Stangenbohne jetzt an? Viertel vor zehn – perfekt! Nichts geht über die Lektüre des eigenen Werks. Zeit souverän überbrückt. Zeit unschädlich gemacht. Der Zeit den Stachel nach Art eines Patrick Esnèr, also ohne dekadente Anästhesie, amputiert. Bunnemann ist um halb elf. Dreizehn Minuten mit dem Bus, dann drei oder vier zu Fuß, vorher zwei zur Haltestelle, macht grob gerechnet zwanzig Minuten. Der Bus kommt alle zehn Minuten, also vorsichtshalber um zehn aus dem Haus? Oder noch früher? Besser noch früher. Verflucht, der Busfahrplan. Den bräuchte man jetzt. Den Rechner wieder hochfahren? Das Ding jetzt noch mal anwerfen? Man müsste konzentrierter sein. Was fehlt, ist eindeutig Konzentration. Ich muss Entscheidungen treffen. Klar ist, beim alten Bunnemann wartet man immer. Omis, Sieche, andere Trauergestalten. Das Wartezimmer bei Tag und Nacht voll. Trotzdem: auf keinen Fall zu spät kommen. Methusalem auf keinen Fall verärgern. Die beiden Ziegen am Empfang. So ein Risiko einzugehen, wäre verrückt. Selbstmörderisch. Es sollte alles getan werden, um die Praxis Dr. Bunnemann in Gänze zufriedenzustellen, ihre Abläufe in keinster Weise zu stören. Die Praxis Bunnemann ist bei Laune zu halten, damit sie mich bei Laune hält. Apropos, bevor es losgeht, bevor ich mich unter das Zeugs dort draußen mische, erst mal die Morgenration. Wie lange habe ich es heute rausgezögert? Wie lange sind die Herzklappenscharniere ungeölt? Die Hirnkolben? Auch schon wieder anderthalb Stunden. Fortschritte. Ich mache eindeutig Fortschritte.

Zugegeben, ich gehe die Sache anders an als ein Marc Toirsier. Nicht ganz so wagemutig. Mitnichten bin ich ein französischer Hasardeur. Doch immerhin, ich mache etwas. Ich zeige guten Willen. Spuren von Motivation. Ein Hauch von Ausschleichen. Allerdings: Zum Ausschleichen braucht man etwas, woraus man ausschleichen kann. Verstehen Sie das, Herr Frontarzt mit den Russenbildern an der Praxiswand? Man braucht ein neues, frisches, optimistisch in der Morgensonne funkelndes Rezept. Ein kleines, bedeutungsschwangeres Zettelchen. Esspapier, wenn man so will. Und ich will so, Bunnemann. Geht das in Ihre pelzigen Weltkriegsohren hinein? Ich will und ich muss so. Außerdem hat das Ausschleichen eindeutig und zweifelsfrei begonnen. Es ist, warten Sie, was sagt das Gemüse? Es ist etwa dreizehn Minuten vor zehn, und ich habe weiterhin noch keine Tablette gefrühstückt. Was sagen Sie dazu, Herr Reichsarzt? Wie interpretieren Sie diese Geste? Als Spaß? Als launige kleine Morgenlaune? Oder glauben Sie, ich hätte die Dinger, von denen nun eines, das letzte, direkt vor mir liegt, einfach vergessen? Nun, ich kann Sie beruhigen: Mein Gedächtnis funktioniert tadellos. Mir sind weder die Nachnamen meiner Eltern noch die Vornamen sämtlicher unehelicher Nachkommen des Präfekten des Partial-Departements Haute Gilotte entfallen. Ich erinnere mich praktisch an alles, was ich nicht vergessen habe, und vor allem daran, dass mein Frühstück jetzt schon geschlagene, jahrelange, praktisch unendliche anderthalb Stunden überfällig ist. Ich erinnere mich lebhaft an die Tatsache, dass, wenn ich mich zu sehr erinnere, es ganz langsam unter der Haut zu kribbeln anfängt. Als würden die vielen kleinen Maden dort langsam erwachen, sich noch schlaftrunken unter der Hautbettdecke räkeln. Oh ja, Herr Professor, mein Erinnerungsvermögen ist trotz meines jahrelangen, nicht unbedingt und zu jeder Zeit zurückhaltenden Marazepam-Gebrauchs, den manche, Idioten hauptsächlich, sogar als Missbrauch bezeichnen würden, noch voll und ganz unangetastet. Das denke ich zumindest.

Das denke ich schon wieder zu lange, denn was zeigen Möhre und Bohne jetzt? 09.52 Uhr. Ich nehme das Wasserglas und die Tablette. Runter damit! Morgen warte ich bis Viertel nach zehn. Oder gleich bis halb elf. Falls ich morgen etwas habe, auf das sich zu warten lohnt. Die Mara sitzt in meinem Magen. Sie wird jetzt gleich zu arbeiten beginnen. Bunnemann und die ganzen anderen Sachen wegschmelzen. Ganz wichtig für den Auftritt bei Bunnemann: Bunnemann innerlich auflösen. Seine Bedeutung und Funktion runterschlucken. Noch nie war ich nüchtern bei Bunnemann. Bei Bunnemann nüchtern zu erscheinen, würde bedeuten, dass man nüchtern bleibt. Der Greis würde sich Sorgen machen. Der käme ins Grübeln. Die Bohne steht auf der Zehn, die Möhre gleich auf der Zwölf. Los! Jacke, Schlüssel, soll ich den Rechner mitnehmen? Fürs Wartezimmer? Warum nicht?! Andererseits: die Schlepperei. Will ich mit dem Ding die ganze Zeit durch die Gegend gondeln? Entschlüsse. Entschlüsselte Schlüssel-Entschlüsse. Ent… ich nehme ihn mit. Dafür wurde der konstruiert, nicht, um in der Bude zu hocken. Die Laptop-Tasche. Wo ist die verdammte Tragetasche? Möhre und Bohne wandern gnadenlos. Die stehen kurz vor ihrer eigenen Ernte. Dr. Bunnemann kocht Gemüsesuppe. Mittagstisch in der Praxis B.? Heute nur Légumes. Wo ist das Ding? Nicht in der Küche jedenfalls. Weiter in den großzügigen, komfortablen, lichtdurchfluteten Wohnschlafessfernsehfreizeitbereich. Neben dem Kleiderschrank? Bei dem Gerümpel? Treffer! Schnell zurück in die Küche geflitzt, Rechner verpackt, noch ein Glas Wasser. Wasser ist wichtig, gerade wenn alles andere, außer Marazepam, nicht mehr wichtig ist. Wasser bedeutet Leben. Leben bedeutet Wasser. Folgerichtig kriege ich die Dinger ohne Wasser nicht runter. Ich brauche den Schwung der Welle, ansonsten hängen sie mir im Schacht, worauf ich dann im Schacht hänge. Armseliges Bild. Eines Schreibers unwürdig. Und ich bin Schreiber, egal, was die anderen sagen. Bunnemann sagt, dass man viel trinken soll. »Die Zellen wässern, sonst trocknen die ein.« Zu Befehl! Ich trinke dieses Glas Wasser. Und dann, an der Spüle, gleich noch eins. Und jetzt los! Hinaus! Vorher noch pinkeln? Wichtig, um nicht im Bus einen Drang zu verspüren. Das will man nicht. Womöglich in der Praxis auf die Toilette? Niemals! Viren, Bakterien, ungutes Gewürm. Ärztetoiletten sind letaler als eine Pfanne, ein Eimer voll Marom. Schnell pinkeln, danach die Hände gründlich gewaschen, ein ganz klein wenig eingecremt. Die Zellen von innen bewässert, von außen befeuchtet, ganz wichtig, vor allem im Winter. Vor allem im Frühling, der sich wie ein Winter anfühlt. Im Winter klammt die Kleidung und schuppt die Haut, und zu jeder Jahreszeit lockt das Marazepam. Deswegen lockt es mich jetzt zu Bunnemann. Ich stehe an der Tür, ich habe alles. Schlüssel, Rechner, Telefon, Gehirn, Haut, Kassenkarte. Ich öffne die Tür. Putzmittelluft attackiert Fuchsbauluft. Generell ist Lüften wichtig. Abhärten. Deswegen auch nur das T-Shirt unter der dünnen Jacke. Bunnemann soll sehen, wie fit ich bin. Widerstandskräfte im Überangebot. Ein Naturbursche. Ein Patrick Esnèr. Täglich lange Spaziergänge. Läufe. Frühsport bei offenem Fenster, kalte Duschen, kalorienarme Nahrung, Ballaststoffe, Gemüseuhren. Ich bin sehr gesund, Herr Doktor Bunnemann, und keinesfalls eines dieser Pillenwracks. Gibt es bei mir nicht, so etwas. Heute erst um kurz vor zehn. Die Einnahme, meine ich. Alles andere schon vorher. Augen öffnen, aufstehen, aufhängen und so weiter. Aufhängen natürlich nicht. Ein Scherz. Ich bin topfit, körperlich und geistig. Hyperbelastbar.

Wenn da nur nicht diese Gefühle wären, verstehen Sie? Die kleinen, widerwärtigen Attacken, für die es aber dieses, wie Sie ja wissen, hervorragende Präparat gibt, das Sie mir seit einigen Jahren, wenn auch in letzter Zeit ein wenig widerwillig, seit Neuestem sogar ganz und gar widerborstig verschreiben. Ich trete hinaus in den Hausflur, ziehe die Wohnungstür ins Schloss, dann sofort: Panik. Der Schlüssel! Habe ich auch wirklich den Schlüssel? Anflüge eines möglichen Tagesablaufes. Schlüssel weg. Durchdrehen deswegen. Schlüsseldienst anrufen. Warten. Bunnemann verpassen. Erst recht durchdrehen. Pochende Gehirnmassen. Raumfordernde Kopfschmerzen. Ein Druck, der mir die Augen aus dem Schädel presst. Zwei Augäpfel in meiner Hand. Die Dinger starren mich von unten an, machen sich über meine Nasenhaare lustig. Augäpfel hatte ich schon bei Nele. Ein beliebtes Motiv. Meine Naseninnenbehaarung: seit Wochen nicht gestutzt. Seit Wochen wächst das Gestrüpp aus mir heraus – was soll da ein gepflegter Mann, ein Aristokrat des Gesundheitswesens wie zum Beispiel Dr. Bunnemann, denken? Ein Tablettengourmet mit meterlangen Nasenborsten? So einem verordnet man kein Premiummedikament. So einem verschreibt man den Abdecker. Hektische Fingerchen wühlen in der Jackentasche. Da sind sie. Ein Schlüsselerlebnis bleibt mir erspart. Ohnehin war die Panik nur gespielt. Die R500 ist ja schon in mir drin. Noch gewöhnt sie sich ein, findet sich zurecht. Doch gleich beginnt sie ihr Tagwerk. Ein paar Minuten noch. Die Schlüsselpanik war Inszenierung und Vergnügen. Regietheater. Generalprobe ohne Premiere. Wenn bei Bunnemann alles klargeht. Ein Schlüssel saust ins Schloss. Wenn die Sache bei Bunnemann läuft, ist die Aufführung vor Publikum bis auf Weiteres abgesagt. Wenn nicht, dann … Los, Abmarsch!

Sieh an, sieh an, sieh an, sieh an: Der Bus hat Verspätung. Mein Gemüsehandy sagt 10.04 Uhr, und der Fahrplan sagt 10.02 Uhr, und meine Augen, die momentan noch ruhig, relativ ruhig in ihren Löchern ausharren, sagen: kein Bus. Linie 26 trödelt herum, wie übrigens auch meine Frühstücks-Mara, was wiederum nicht schön, aber noch normal ist. Die Bunnemann-Aufregung, der Stress deswegen, dazu der brüchige, ganz leicht staksige Spaziergang zur Haltestelle. Das sind Faktoren, die es selbst einer allmächtigen R500 nicht einfacher machen. Die Morgen-Marom muss sich heute erst mal durchkämpfen. Durch die Bunnemann-Lianen, das bodennahe Angst- und Schlinggehölz. Zum Glück besitzt jede einzelne dieser Wundertabletten eine Machete, der nichts standhält. Die alles niedermäht, was meine Gehirngärtnereien als Sauggewächse aussäen. Die Mara wird kommen, und sie wird siegen, so wie sie jede einzelne ihrer unzähligen Kriegshandlungen gewonnen hat, und passend zu alldem biegt soeben ein Bus um die Ecke. Mein Telefon vermeldet drei volle Minuten Verspätung. Ich beruhige das Telefon. Toleranzrahmen, Zeitdifferenznormalverteilung, Fahrplaninterpretationsspielraum. Ich will dem Bus und seinen Insassen keinen Vorwurf machen, denn das Fahrzeug hält jetzt sogar, und zwar direkt vor mir. Einsteigen, Ausweis zeigen. Der Fahrer hat ein ausgesprochenes Marazepam-Gesicht. Dem wurde die Karosserie von innen geglättet, damit er nicht andere Karosserien verbeulen muss. Der sieht durch geschlossene Augenlider. Erkennt, erahnt Schulkinder, Omis, Polarfüchse. Vielleicht sogar ein Bunnemann-Kunde? Schulfreunde, Studienkollegen. Golfpartner. Der Bus fährt an, während ich durch den Gang nach hinten schwanke. Schwanken ausschließlich als Reaktion auf die Fahrzeugbewegung! Ich befinde mich nach wie vor im Mara-Schatten, während ich einen komfortablen und ansprechend gemusterten Sitzplatz möglichst weit weg von allen anderen Passagieren finde. Die Finsternis ist heute wirklich erstaunlich hartnäckig, auch wenn ich jetzt, wo ich sitze, einen ersten schüchternen Sonnenstrahl verspüre.

Kein Zweifel, ein zarter Wärmevorbote durchkriecht meinen Lungenlappen. Die Milzgrube. Die Kehlsenke. Oh Gott, wie ich das liebe. Dieses erste sanfte, jedoch schon eindringliche, irgendwie glühende Anklopfen. Ich habe sie alle durch; ich kenne die gesamte, weitverzweigte, über den ganzen Erdball verstreute Wirkstoff-Familie, sämtliche Vettern, Cousinen und Oheime, die verstockten Spießer, die Streber, die strahlenden Vorbilder, aber auch die zwielichtigen Gesellen, die schwarzen Schafe, die scheuen Rehe, die Haudrauf-Typen. Doch keiner, wirklich niemand ist wie Marazepam. Marazepam ist der Chef. Der Boss der Bosse, gleichzeitig der untertänigste Diener. Ein unglaubliches Medikament. Nichts und niemand kann ihm das Wasser reichen, wenn es mit ausreichend Wasser gereicht wird. Alleinstellungsmerkmal, singuläre Position, die Einsamkeit an der Spitze, und jetzt plötzlich stoppt der Bus? Der Bus hält an. Haltestelle Fritz-Erler-Weg: Niemand will einsteigen, niemand will aussteigen. Trotzdem öffnen sich die Türen, bleiben sogar irgendwie geöffnet. Interessant. Der Fahrer sieht Gespenster. Genau wie ich, wenn Bunnemann nicht spurt. Bei dem ich, wenn das hier so weitergeht, niemals ankomme. Guten Tag, Herr Professor Bunnemann. Bitte entschuldigen Sie die mehrstündige Verspätung, aber mein Busfahrer leidet an Trugbildern. So kann ich diesem Knochen unmöglich kommen. Der ist noch vom alten Schrot und Korn. Pünktlichkeit, Anstand, knallharte Schulmedizin. Unbändiger Glaube an die Chemie. Hass auf die Natur. Und recht hat er! Wer, wenn nicht der niedergelassene Allgemeinmediziner, wüsste besser, zu welchen Sachen, zu welch scheußlichen Bösartigkeiten die Natur in der Lage ist? Gott, was bin ich froh, dass es noch ein paar von diesen Dinosauriern gibt. Rezeptblock, krakelige Hieroglyphen, der Nächste, bitte