Schlaf endlich ein! - Helen Walsh - E-Book

Schlaf endlich ein! E-Book

Helen Walsh

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Beschreibung

»So rührend, knallhart und realistisch ist über Geburt und Mutterschaft noch nie geschrieben worden. Ein grandioses Buch.« Charlotte Roche »Ich will schlafen!« ist ein mutiges, ein notwendiges Buch. Ein radikaler, ergreifender Roman über eine alleinerziehende, moderne junge Mutter, deren Traum vom Kind zum Albtraum wird. Umwerfend heutig, ist dies beste Literatur von einer der interessantesten Autorinnen Großbritanniens. Rachel steht vor dem größten Abenteuer ihres Lebens: Sie wird zum ersten Mal Mutter. Sie wünscht sich das Kind aus tiefstem Herzen und freut sich auf diese einschneidende Veränderung in ihrem Leben. Doch nach der Geburt ihres Sohnes Joseph scheint nichts zu sein, wie sie es sich vorgestellt hat. Der Grund: Schlafmangel, massiver Schlafmangel. Ihr Sohn scheint nie zu schlafen, schlimmer aber ist, dass sie keine Ruhe findet. Trotz überwältigender Liebesgefühle für ihr Kind gerät Rachel an den Rand des Wahnsinns. Stets vollkommen übernächtigt, verschwimmen teilweise die Grenzen von Realität und Fiktion, und es stellt sich die Frage, wie weit sie zu gehen bereit ist, um ihren kleinen Sohn in den Schlaf zubekommen. »Helen Walsh gehört zu den ungewöhnlichsten, bezwingendsten jungen Schriftstellern in Großbritannien, sie verkörpert geradezu das heutige Großbritannien. Voller Wagemut stürzt sie sich auf das Leben der Gegenwart. ›Ich will schlafen!‹ ist eine brandgefährliche Mischung aus roher Emotion und tiefstem Mitgefühl. Dies ist kein Roman über Schrecken, Schmerz oder Einsamkeit, sondern ein Buch über das Leben selbst.« (Independent on Sunday)

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Seitenzahl: 351

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Helen Walsh

Schlaf endlich ein!

Roman

Aus dem Englischen von Maria Hummitzsch

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Helen Walsh

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungMottoVorherKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10KapiteL 11Kapitel 12Big BangKapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Ich will schlafenKapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Sechs Monate späterDanksagung
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Für Leo, die Liebe meines Lebens

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Schlafe, nun der Schlaf dich rief;

Alle Schöpfung lächelnd schlief;

Schlafe, nun das Glück dir scheint

Und die Mutter bei dir weint.

William Blake

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Vorher

Kapitel 1

Da wären wir also, endlich. Da stehe ich, und ein letztes Mal lasse ich das träge Gluckern des Flusses auf mich wirken, eine letzte Reise als Rachel, als ich. Ich. Da stehe ich und atme den salzigen Dieselgestank, versuche, alles aufzusaugen und festzuhalten, jede noch so kleine Regung des frühen Morgens – die Windräder, die Seemöwen, die ablegende Fähre und, die Promenade weiter runter, die Horde wilder Schuljungen, die sich weit über das Geländer beugen, mit Blick aufs Wasser, wie drohende Galionsfiguren einer Armada. Ich möchte mich später an all das erinnern können – an jeden Wellenschlag, jeden Farbton des Himmels und an den leicht silbernen Schimmer auf dem Wasser.

Wenn ich das nächste Mal komme, wird alles anders sein.

Der Strom, der Schaum auf den Wellen und die Möwen auf dem Wasser werden an ferne Ufer getrieben worden sein. Der Himmel wird sich gewandelt haben, die Wolken werden davongezogen sein. Alles wird sich verändert haben.

Genau wie ich.

Ein leichter Regen. Ich stelle mich unter die Rosskastanie, deren Äste die Sandsteinwand unseres alten Hauses berühren. Bevor ich das Kind erwartete, bevor all das geschah, hatte ich lange Zeit kaum an diesen Ort gedacht. Trotzdem komme ich immer wieder hierher zurück, wie jetzt – zurück an den Fluss, zurück, um mir wieder die alte Bruchbude anzusehen: South Lodge. Eine Bruchbude, die wir trotz der windschiefen Wände und des penetranten Modergeruchs liebten, bewohnten; die sich nach Zuhause anfühlte. Aber South Lodge ist keine Bruchbude mehr. Die Holzschiebefenster, durch die man das Wasser und die Berge von Snowdonia in der Ferne erspähen konnte, die mal klapperten und mal klemmten, und die Scheiben, die meine tatkräftige Mutter inbrünstig putzte, wann immer das weiche Licht die Spuren und den Sprühnebel vom Fluss offenbarte, diese alten Fenster wurden durch haltbare aus Kunststoff ersetzt. Und das Grün ringsherum – Dads Urwald, in den wir die Samen und Setzlinge seiner Reisen gepflanzt hatten, dieses Feuerwerk wilder, geheimer Düfte und Ranken, Sträucher und Stämme –, all das haben die neuen Besitzer, wer immer sie sein mögen, abgehackt, gestutzt, neu angelegt und gepflegt. Als ich die ersten Male wieder hier runterkam, hoffte ich beinahe, sie zu Gesicht zu bekommen. Mittlerweile ist es mir egal. Manche Dinge sind, wie sie sind.

 

Ich bin froh, dass Mum nicht sieht, was aus dem alten Schuppen geworden ist. Meine Mutter war wirklich ein Snob. Und auch wenn sie das gut verbergen konnte, war sie tief im Inneren eine Tyrannin. Ihre Verachtung von allem Modischen – »Launen«, wie sie es nannte – war manchmal fast krankhaft. Als am Fluss die neuen Siedlungen entstanden, funkelten ihre Augen gehässig.

»Sieh dir doch nur diese abscheulichen, schäbigen Vorbauten an«, sagte sie dann. »Dorische Säulen, um Himmels willen. Was zum Teufel denken die sich!«

Aber die Lodge liebte sie. Unser Haus liebte sie wirklich sehr, solange sie lebte. Wenn ich jetzt an sie denke, bin ich beides, glücklich und traurig.

 

Der Regen geht in feines Nieseln über, kühlt Gesicht und Hände. Ich drücke mich auf dem Friedhof herum, bis der morgendliche Berufsverkehr nachlässt und ich rüber zur Lark Lane gehe. Ich werde gemütlich durch die Buchläden und Antiquariate bummeln, vielleicht noch einen Kaffee im Moon & Pea trinken, falls ich ein gutes Buch finde. Seit Wochen freue ich mich auf den Mutterschaftsurlaub, und jetzt, wo ich ihn genießen sollte, bin ich orientierungslos, zerknirscht, unfähig, abzuschalten und die Arbeit zu vergessen: Wie werden meine Kids zurechtkommen, wenn ich nicht da bin? Keeley Callaghan, heute schon wieder auf der Anklagebank; Milan, der Roma-Junge, gerade mal dreizehn und im Kampf ums nackte Überleben im kalten, hartherzigen Kirkdale völlig auf sich allein gestellt. Und dann ist da noch James. James McIver, meine bisher größte Herausforderung. Wie kommt er mit Siobhan aus? Wie meistert sie die Situation? Insgeheim hoffe ich, dass sie nicht zu gut zurechtkommt. Es versetzte mir wirklich einen Stich, als ich zur offiziellen Übergabe kam und sie, lässig auf der Kante meines Schreibtischs sitzend, mit Milan plauderte und scherzte. Obwohl ich ihn seit Juli betreue, habe ich ihn nie auch nur lächeln sehen. Es ist schwer genug, überhaupt an ihn ranzukommen – in seinem kurzen Leben existiert schon jetzt so viel Düsteres, so viel Hass. Aber es gab ja Shiv – »Du kannst Shiv zu mir sagen!« –, die den so winzigen Milan mit einem Witz zum Lachen brachte. Seine schönen dunklen Augen glänzten und in diesem Moment war er wieder der kleine Junge. Ein Kind. Mein Herz krampfte sich zusammen, und ja – ich war neidisch, weil meine junge Schwangerschaftsvertretung den Kids etwas entlockte, was ich nie geschafft hatte. Gut, meinetwegen – die Kids lieben Shiv. Sie ist von Natur aus rotblond, sieht gut aus, ein kleiner Wildfang, und mit ihren einundzwanzig Jahren findet sie einen ganz anderen Draht zu ihnen, als ich den in meinem Alter jemals finden könnte. Aber kann sie Milan einen Schulplatz verschaffen? Die Schule hat schon vor einer Woche wieder angefangen und es war eines unserer wichtigsten Ziele, ihn wieder unterzubringen. Hat sie daran gedacht, die Gutscheine für die Schuluniformen zu beantragen? Und ist James Mac zu diesem Stuckateur-Lehrgang gegangen? Ich fingere an meinem Diensthandy herum und seufze laut, bevor ich es wieder in der Tasche vergrabe. Die Hände auf dem Bauch, entschuldige ich mich lächelnd bei der Bohne. Ich werde diese Zeit genießen.

 

Während ich im Amorous Cat in aller Seelenruhe durch verschiedene Bücher blättere, ergründet Miles Davis im Hintergrund sein Leid. Unentschlossen schwanke ich zwischen den Büchern, die ich gelesen haben sollte, und denen, die ich lesen will. Letztendlich schummle ich und entscheide mich sowohl für Essays von Paul Bowles als auch für Lady Boss von Jackie Collins. Ich weiß, welch herrlicher Schmöker mich die nächsten Wochen und Monate begleiten wird. Ich sehe es ganz genau vor mir: ich, im Bett sitzend mit einem Buch in der Hand, an meiner Brust das nuckelnde Baby, sein Kopf ins warme Licht der späten Septembersonne getaucht. Die Bohne ist ein Junge, da bin ich mir absolut sicher, es fühlt sich einfach an wie ein Junge, und wenn ich recht behalte, weiß ich schon ganz genau, wie ich ihn nenne. Beim Gedanken an den Kleinen macht mein Herz einen Sprung – darüber, dass er bald da sein wird, auf meinem Arm, dass es jederzeit losgehen kann; aber das Geschrei der Schulkinder auf der anderen Straßenseite reißt mich jäh aus meinem Traum. Ohne nachzudenken, greife ich nach dem Diensthandy in der Handtasche. Ich hole es heraus, schalte es wieder ein und denke daran, wie Faye mir einen vielsagenden und mahnenden Blick zugeworfen und mich in ihrem Nord-Liverpool-Akzent angefahren hatte:

»Lass ja das verdammte Handy im Büro! Verstanden? Du nimmst dir eine Auszeit und genießt dieses wunderbare kleine Wesen.«

Das nenne ich einen Lady Boss.

Ich zahle, lehne die niedliche Einkaufstüte des Ladens ab und gehe runter zum Park.

 

Ich komme am Keith’s vorbei und sehe, dass sich der Laden schon jetzt mit den üblichen Gästen füllt: Studenten, pensionierten und nun noch eigensinnigeren Akademikern, professionellen Simulanten und aufstrebenden Musikern. Vielleicht sollte ich hineingehen und mich auf ein Glas Wein zu ihnen setzen? Nach einem kleinen Rioja hätte ich nicht mehr solchen Schiss und würde auch nicht mehr an die Arbeit denken.

Doch da, ein überraschender Angriff von innen, eine kleine Ferse oder Faust holt mich unsanft in die Wirklichkeit zurück. Ich gehe weiter, vorbei an der Weinbar, wehmütig, aber auch froh.

Wie ich diesen Teil meines Lebens geliebt habe – lange Samstagnachmittage im Keith’s, sich über Bücher oder Musik austauschen, obskure Gespräche mit Fremden am Nachbartisch, ein letztes Glas, eine letzte Flasche. Da hockte ich dann neben dem sich grundlos ereifernden indischen Professor. Professor in welchem Fach wusste keiner so genau. Eines Abends war er einfach aufgetaucht, und mit seiner durchdringenden und Respekt einflößenden Stimme und kultivierten Sprache hatte er in aller Seelenruhe Mitch Levins Darstellung der liberalen islamischen Staaten zerlegt. Ich hatte ihn auf Anhieb gemocht, hauptsächlich, weil ich diesen bärtigen Wichser Levin so zum Kotzen fand, der regelmäßig weibliche Singles mit seinem intellektuellen Geschwafel ausknockte, um sie dann auf eine ganz miese Art und Weise abzuschleppen. Aber der indische Professor hatte ihm die Tour vermasselt und nach kürzester Zeit war er einer von uns geworden, ein Stammgast. Bis vor Kurzem war das noch meine Welt, aber ich bin froh, sie jetzt hinter mir zu lassen. Ich fühle mich bereit für die Rolle als Mutter, bereit, eine Mum zu sein. Ich wünsche es mir so sehr, ich kann mir kaum vorstellen, dass jemals wieder etwas anderes wichtig sein könnte. Nichts, aber auch rein gar nichts zählt jemals mehr.

 

Ich muss über mich selbst lachen, denn genau genommen hatte ich vor einem Jahr aufgehört, über Kinder nachzudenken. Da war ich dreißig, genoss das Leben, genoss meine Arbeit. Ich wollte mich natürlich verlieben, und sosehr ich die kleinen Gauner auf der Arbeit mochte, wünschte ich mir doch auch sehnlichst eigene Kinder. Mit der Zeit wurde mir allerdings irgendwie klar, dass ich nicht noch einmal die große Liebe erleben würde, und ich fand mich damit ab. Ich hatte genug interessante Männer kennengelernt – na ja, zumindest einige, einen oder zwei. Da ich recht groß bin und mit meiner roten Mähne vermutlich als auf-gewisse-Weise-reizvoll durchgehe, habe ich Männer nie dazu bringen müssen, mich zu wollen; nur dass ich sie eben nicht wollte. Vielleicht bin ich in meinem Urteil zu streng, aber ich weiß nach wenigen Sekunden, ob ein Mann es schafft, dass ich für ihn brenne, und den meisten gelingt es einfach nicht. Aber genau das will ich. Und wenn es nicht geht, dann geht es eben nicht.

Genau an diesem Punkt war ich damals: Abgesehen von der abflauenden Beziehung zu meinem Vater – ich wusste, dass sich das mit ein bisschen gutem Willen von beiden Seiten wieder einrenken ließ – war meine Welt in Ordnung. Mein Leben plätscherte in einem Zustand völliger Zufriedenheit, wo alles am richtigen Platz war und meine Welt mir genau richtig vorkam, vor sich hin – und auf einmal war ich schwanger.

 

Das ist nicht wirklich überraschend: Durch spontanen ungeschützten Sex kann man nun mal schwanger werden. Ich war schockiert, als es klar war, später zutiefst verängstigt. Meine erste Reaktion war, dass ich mich noch nicht bereit fühlte, irgendwie ertappt, erwischt. So lange hatte ich mir ein Kind gewünscht, aber jetzt, da es so weit war, fühlte ich mich schutzlos und völlig unvorbereitet auf das, was vor mir lag. Das hatte vor allem damit zu tun, wie das Kind entstanden war – es war, ehrlich gesagt, nicht mal eine Affäre gewesen, sondern eine schnelle Nummer im Stehen mit einer alten Flamme. Und genau das war das Problem: Ruben war nur eine alte Flamme, und ich wollte ihm einfach nicht sagen, dass er Vater wurde. Ich schob jegliche Entscheidung immer wieder auf und wartete auf den richtigen Augenblick.

 

In der neunten Woche dann der Schreck, die Blutungen und die wilde Fahrt zum Krankenhaus. Der eigentliche Schock aber war – während sich das Taxi um die Bremsschwellen herummanövrierte, meine Nägel sich ins Fleisch der Handballen gruben und ich den Taxifahrer leise verfluchte, weil er nicht schneller fuhr –, dass mich die Idee von dem hier, dem Leben, plötzlich wie eine Erscheinung überkam. Ich musste sogar laut auflachen. Natürlich würde ich das alleine schaffen! Mein Baby und ich, nur wir zwei. Seit Mums Tod war das nun einmal so. Das war einfach meine Bestimmung. Wenn der Embryo überlebte, das schwor ich mir, würde ich ihn über alles lieben. Ich würde die beste Mutter der Welt werden.

 

Die Krankenschwester, die mich untersuchte, wirkte sachlich, kühl – aber plötzlich sah ich, wie sie schluckte, und wusste Bescheid. Das Baby war tot. Das Miniwesen war verkümmert und sie wusste nicht, wie sie es mir beibringen sollte. Ich stellte mir vor, wie winzig und schwach sein kleines Herz gewesen sein musste. Sie sah mich mitleidig an, schluckte heftig und ging hinaus; sie ließ mich mit dem Monitor verkabelt allein da liegen, damit ich es selbst herausfand. Wie Schüsse hallten ihre Schritte draußen auf dem Gang. Ich rührte mich nicht. Ich wollte es nicht wissen. Solange dieser Moment anhielt, keiner das Zimmer betrat, meine Hand ergriff, mir in die Augen sah und die Nachricht mit einem Seufzer einleitete, bestand noch Hoffnung.

Die Krankenschwester kam mit einem Arzt oder Chirurgen zurück, einem unrasierten Mann in weißem Kittel. Beide würdigten mich keines Blickes. Die Krankenschwester zeigte auf den Bildschirm und der Arzt nickte. Er murmelte etwas in ihre Richtung, nickte ihr wieder kurz zu, drehte sich ruckartig um und verließ so schnell er konnte das Zimmer. Er überließ es ihr.

Und plötzlich drehte sie den Bildschirm. Großer Gott! Sie drehte ihn so, dass ich etwas sehen konnte, und vor so viel Grausamkeit wurde ich fast ohnmächtig.

Ihre Stimme wurde freundlicher. »Also, was Sie hier sehen können …« Sie zeigte auf ein gräuliches, winziges Gebilde, das wie die Wolkenformation auf einem Satellitenbild im Wetterbericht aussah. »Darf ich vorstellen: Baby.«

Es nahm mir fast den Atem. Sie hatte zwar nicht gesagt, dass der Fötus noch lebte, aber sie würde ihn mir doch nicht zeigen, wenn …

»Lebt es?«

Sie lächelte. »Dem Baby geht es gut. Etwas klein, aber es ist ja auch erst …«

Von dem Moment an, als ich es sah, den schwachen Puls auf dem Bildschirm, die zuckende Masse, nicht viel größer als eine Kidneybohne, war es um mich geschehen. Da war es vorbei mit mir, ich war völlig hin und weg – erfüllt von einem Liebesgefühl, das heftiger war als alles, was ich je erlebt hatte. Auf einmal wusste ich, was ich wollte, was ich schon mein ganzes Leben lang gewollt hatte. Ich war mir so sicher, so sicher wie noch nie zuvor. Als ich schließlich wieder stehen konnte, wieder funktionierte, bedankte ich mich bei der Krankenschwester. Sie schaute ziemlich perplex, als ich sie umarmen wollte.

 

Mir schwirrte der Kopf vor Plänen, Ideen, Widersprüchen, als ich wie in Trance Richtung Liverpool Cathedral lief. Vielleicht würde ich dort etwas zur Ruhe kommen. Dort wäre ich in Mums Nähe. Ich setzte mich, als einzige Kundin an diesem kalten, aber schönen Februarnachmittag, auf die Terrasse des Cafés und genoss den atemberaubenden Ausblick. Bäume, Himmel, so weit das Auge reicht, stille Gräber darunter. Gambier Terrace genau gegenüber, wo alles angefangen hatte. Wo es zu Ende ging. Ich sollte es ihm sagen. Es war nur fair, ihn davon in Kenntnis zu setzen. Ich konnte ihn anrufen. Oder ich konnte jetzt einfach zu ihm rübergehen, an die Tür klopfen und ihn mit der Neuigkeit überfallen. Und genau so würde es sein, oder? Ich würde ihm etwas sagen, was er auf keinen Fall hören wollte. Zumindest damit hatte Dad recht – deshalb hatte er so gehandelt. Hatte ihn von mir ferngehalten. Mir vorenthalten. Und außerdem – was, wenn sie Ruben den Job angeboten hatten? Er war dabei, ein neues Leben anzufangen. Es würde ihm helfen. Nicht, dass sie einen Schwarzen aus Liverpool 8 in einem solchen Nobelschuppen wirklich arbeiten ließen, aber zumindest konnte ich meinen Teil dazu beitragen, dass es möglich sein könnte.

Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen, und ich umschloss die Tasse noch fester. Trotzdem hatte das überwältigende Gefühl des Schicksalhaften, das mich durchströmte, nichts Angstbesetztes oder Sentimentales. Ruhig und gefasst traf ich die große Entscheidung – und sie fiel mir leicht. Es gab keine Zweifel. Ich würde das Ganze allein durchziehen – bis zum Ende. Ich fröstelte und nippte lächelnd an meinem Kaffee.

Endlich im Park angekommen, schwitze ich wie verrückt. Das Baby tritt mit den Füßen nach oben, der kleine Kopf drückt auf meine Blase. Ich muss pinkeln, und zwar sofort. Verstohlen sehe ich mich um und verschwinde im Gebüsch. Ich sitze in einer unbequemen Hocke und habe das Gefühl, es würde gar nicht mehr aufhören – ein anhaltender Strahl übel riechendes Gelb, ein so scharfer Geruch, dass man sich damit betäuben könnte. In den letzten Wochen hatte ich das Gefühl, als hätte eine zweite Schwangerschaft meine Blase befallen, so eng und hinderlich ist sie geworden. Ein Schauer durchfährt mich und ich seufze laut vor Erleichterung. Das Baby entspannt sich, richtet sich in dem neu entstandenen Raum ein und der Druck auf meine Lunge lässt nach.

Als ich aus dem Gebüsch trete, sehe ich eine Gruppe indischer Jungen, die auf dem Gras ein Fußballtor für ein Fünf-gegen-fünf-Match aufstellen, auf der anderen Seite ihre somalischen Gegner. Ihr Torwart bellt Anweisungen, sein Kopf wirkt ein wenig zu groß für seinen schlanken Körper. Ich setze mich ins Gras und sehe eine Zeit lang dem Spiel zu. Die somalischen Spieler sind schnell und geschickt, aber die Inder kleben förmlich am Ball und lassen die Somalis ziemlich alt aussehen. Mit einem wahnwitzigen Schuss, den der somalische Torwart im Sprung verfehlt, gehen die Inder in Führung. Die Verteidiger grinsen sich schadenfroh an. Ihr Kapitän ist nicht sonderlich beliebt.

Man gewöhnt sich viel zu schnell an diese Gegend: den Park, die Stimmung, das Gewimmel von Liverpool 8. Es mag sein, dass Toxteth über die Jahre, in denen die alten georgianischen Reihenhäuser mit den abblätternden Fassaden durch neue Häuser ersetzt wurden, etwas von seinem schäbigen Glanz verloren hat, aber Princes Park hat nichts von seinem Charme eingebüßt, die pulsierende Mischung von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion gibt es nach wie vor. Ich verstehe nur zu gut, warum Dad dieser Gegend so verfallen konnte, warum er hierblieb, lange nachdem er die Uni verlassen hatte und auch nachdem das Stadtviertel durch die Unruhen und Rezessionen seine Vitalität eingebüßt hatte. Er kannte noch das frühere Toxteth – den Blues, die illegalen Kneipen und die Spelunken mit den exotischen Namen. Er hatte all das geliebt, mein Dad – frisch zugezogen aus Huddersfield, der Student der Tropenmedizin mit den strahlenden Augen, der eine völlig neue Welt entdeckte, genau dort in den Nebenstraßen und finsteren Seitengassen von Liverpool 8. Unser Umzug auf die andere Seite des Parks, in die sichere und saubere Enklave St Michaels, hatte ihm ein kleines Stück seiner Seele geraubt – das weiß ich heute ganz sicher. Mum, eine echte Liverpoolerin, hatte in der Egerton Street eine winzige Bude mit ihm geteilt, aber nie seine romantische Sicht auf ihre Heimatstadt. Mitten auf dem Boulevard saßen die lebhaften alten Typen aus Trinidad und spielten Schach, unzählige Hautschattierungen und Moden aus allen möglichen Ländern, der scharfe Klang verschiedener Akzente, die allabendlichen Ganjaschwaden in den Straßen – all das konnte sie nicht beeindrucken. Mum fand Toxteth gesetzlos, dort herrschten ihrer Meinung nach eigene Gesetze. Keine gute Gegend für eine Familie. Wir zogen um, und damit basta.

 

Wir zogen also in die Bruchbude auf dem großen Grundstück, die nach und nach zu unserer South Lodge wurde, unserem Zuhause. In den ersten Monaten bewohnten wir nur drei der Räume, während Dad emsig, aber ohne Aussicht auf Erfolg, ein Sanierungsprogramm startete, das selbst einen erfahrenen Fachmann an seine Grenzen gebracht hätte. Um dem Trümmerhaufen zu entfliehen, ging Mum zum Schwimmen, Stricken und irischen Volkstanz in die Stadt. Dann wurde der große Supermarkt eröffnet, Tesco, und sie war ganz in ihrem Element – Einkaufen direkt vor der Haustür, wann immer sie wollte.

»Ich geh nur mal schnell …« entlockte Dad und mir ein verschwörerisches Grinsen – und läutete die nächste Runde Dad-und-Rachel-Zeit ein. Gewöhnlich stand ich dann neben ihm, reichte ihm Sandpapier, Terpentin und Pinsel – ich liebte den Geruch von Terpentin –, während Dad von seiner Wahlheimat schwärmte.

Wie habe ich diese Zeit zu zweit geliebt. Ich fühlte mich irgendwie besonders. Dad und ich waren Partner, Kameraden, Verbündete. Er erzählte mir Geschichten, die nicht mal Mum kannte. Von der Stadt, von Liverpool 8. Davon, wie er im Somali Club Backgammon gespielt hatte, wie sich der Himmel nach den Unruhen eine Woche lang rot gefärbt hatte, dann, wie die Ruinen seiner geliebten Clubs und Kneipen direkt vor seinen Augen zu Staub zerfallen waren.

»Deine Mutter hat keines dieser Lokale je betreten, auch nicht mit mir«, erzählte er mir seufzend, als wäre es ihm ein unerklärliches Rätsel, wie eine Tochter dieser Stadt so unempfänglich für ihren Charme sein könne. Wenn er so wehmütig wurde, bekam er immer feuchte Augen.

»Gibt es denn gar keine mehr?«

»Eigentlich nicht, Liebling. The Somali ist zumindest noch im Geiste lebendig. Es gibt noch ein Somali-Zentrum gleich beim Kreisverkehr oben am Princes Park.«

»Spielst du da manchmal noch Backgammon?«

»Es wäre mal wieder Zeit für eine Partie. Weißt du was – irgendwann gehen wir zusammen hin.«

Das wurde dann auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Dad schien sich damit arrangiert zu haben, in Erinnerungen an seine Zeit als studentischer Bohemien zu schwelgen und sich aber dann einfach zu fügen, wenn Mum ihn mit noch mehr Regeln und Realismus zurück auf den Boden der Tatsachen holte.

»Du fährst kein Stück weiter als bis zur Schule, hast du das verstanden?«, schärfte sie mir ein, als ich mein erstes großes Fahrrad von ihnen geschenkt bekam. »Und lass dich ja nicht im Princes Park erwischen. Ist das klar?«

Dad ließ den Kopf hängen und biss sich auf die Lippe, und ich begriff, dass die Dinge in Wirklichkeit immer etwas anders waren als in seinen Erzählungen.

 

In den letzten Monaten, seit ich nur noch an die nahende Geburt der Bohne denke, habe ich überrascht festgestellt, dass ich Mums Einstellung in vielen Dingen zunehmend besser verstehe. Für mich ist das völlig neu – für jemand anderen als mich selbst zu denken. Keine Frage, ich habe mich in meine Wohnung – eine Maisonette, wie ich selbstgefällig sagen könnte – verliebt, als ich sie zum ersten Mal betrat. Das Dachgeschoss eines typisch herrschaftlichen Hauses in der Belvidere Road, zwei Ebenen verbunden durch einen schmalen Treppenaufgang zum Studio und ein herrlich großes Dachfenster, mit Blick auf die Sterne und den Park und den Fluss in der Ferne. Das war die Mansarde, von der ich seit meiner Teenagerzeit geträumt hatte. Noch an Ort und Stelle sagte ich Ja, akzeptierte den Preis und zog ein. Nach allem, was passiert war, hatte ich endlich ein Zuhause gefunden. Aber ob ich mein Kind hier großziehen will? Ich weiß nicht.

Für den Augenblick ist das der Stand der Dinge, der Punkt, an dem wir beginnen. Hier haben wir vor so vielen Jahren begonnen.

Kapitel 2

Es war der heißeste Tag des Jahres und Dad hatte Mum endlich überredet, dass er mich zum Karneval mitnehmen konnte.

»Herrgott noch mal, Rich, sie ist vierzehn!«

»Ja und? Soll das heißen, mit vierzehn ist meine Kleine zu jung, um mit mir auf einen Jahrmarkt zu gehen?«

»Das ist KEIN Jahrmarkt!«, fuhr sie ihn an.

»Ach nein? Was ist es dann?« Er funkelte sie selbstgerecht durch die Brillengläser an, provozierte sie, etwas Unangebrachtes zu sagen, das er begierig aufgreifen konnte.

»Du weißt genau, was ich meine, Richard.«

»Weiß ich nicht. Wirklich nicht. Steh doch zu deinen Ängsten.«

Ich seufzte und ging dazwischen.

»Wenn du Angst hast, dass ich als Ganja-Freak nach Hause komme, da kann ich dich beruhigen – ich habe es schon mal probiert und danach war mir kotzübel.« Ich zwinkerte Dad zu, damit er ja nicht glaubte, ich könnte es ernst meinen. »Das gehört zur Allgemeinbildung, Mum«, sagte ich. »Weißt du das nicht mehr?«

Das war ein Insider zwischen Mum und mir. Alles irgendwie Schräge, das Dad mir schmackhaft machen wollte, gehörte »zu meiner Allgemeinbildung«. Neben unseren regelmäßigen Ausflügen nach Manchester, wo auf polnische Kunstfilme im Cornerhouse superscharfes Curry in Rusholme folgte, hatte Dad mit einem gewissen sportlichen Ehrgeiz versucht, mir die Philosophie der Linken einzuimpfen. Ballett, experimentelles Theater am Unity (Mum nannte es abschätzig »Geschrei«) und ganze Nachmittage, an denen wir das Neuste im Probe Records durchforsteten. Dieser Ausflug zum Karneval nach Liverpool 8 – eigentlich nur die Straße hoch, aber dennoch eine Reise in eine völlig andere Welt – war nur ein weiterer Versuch, meinen Horizont zu erweitern. Aber er irrte sich, mein Dad – wie das für Dads so üblich ist. Während ihm über dem hervorragenden Curry in Rusholme das Wasser im Mund zusammenlief, beobachtete ich durch das Fenster die Gestrandeten eines Samstagabends in Banglatown; je mehr er versuchte, mich von King Tubby zu überzeugen, umso mehr gefiel mir Blur. Als Jugendlicher begeistert man sich für die Dinge, die man selbst entdeckt. Und so ging es mir mit Ruben.

 

Wir liefen durch die verzierten grünen Tore in den Park und ich war sofort verzaubert. Die Gerüche: Akipflaume, Kalbsfußcurry und, ja, süßer betörender Cannabisgeruch, mal schwach und mild, mal eigenartig beißend, jeder Schritt führte mich tiefer in eine unbekannte und wundersame Welt. Dazu die Klänge: ein wummernder Bass, ein Gospelchor, Steeldrums. In meinem Kopf drehte sich alles. Dann die Gesichter: all die unterschiedlichen Braun-, Schwarz- und Gelbtöne. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass es so viele wunderschöne Hautfarben geben könnte – Kupfer, Blauschwarz, Lehmbraun und Aubergine, das alles in den ersten Minuten unserer Ankunft, alle um die Essensstände gedrängt. Am meisten aber faszinierten mich die Jungs. Sie waren aus einer anderen Welt, unwirklich. Das waren Kids, die nur ein paar Busminuten von unserem Haus am Fluss wohnten, mir aber wie Außerirdische vorkamen. Selbst ihre Sprache war anders, unbekannt, sie unterschied sich vom Liverpooler Dialekt, der mir von der Schule vertraut war. Das hier hatte etwas Lyrisches, ein Trällern lag in ihrem Back-Slang, was sich anhörte, als kämen sie von ganz weit her, Millionen Meilen entfernt von zu Hause.

Und ihr Imponiergehabe! Ihre protzige Selbstsicherheit erregte mich. Als sich drei Jungs an uns vorbeidrängelten, kniff ich den Hintern zusammen, damit niemand merkte, wie heiß sie mich machten. Dad bekam von alledem nichts mit, ich bezweifle, dass er die Typen überhaupt registrierte. Er lief herum, blieb stehen, lief weiter, blieb stehen, stellte sich in seinen schicken Halbschuhen auf Zehenspitzen und suchte in der Menge nach bekannten Gesichtern. Wäre er nicht so abgelenkt gewesen, könnte er sich vielleicht an diese Szene erinnern, so wie ich sie jetzt im Kopf habe, wie in Zeitlupe von dem Moment an, als der letzte der Jungen vorbeiging und sich umdrehte und lächelte – ein breites und vielversprechendes und umwerfendes Lächeln. Ein umwerfend schöner Junge. Ruben.

Er machte einen Spruch und stellte sich zu ein paar Typen, die vor einem der Imbisswagen rauchten. Er trug die typische Arbeitshose eines Kochs und ein rotes T-Shirt mit dem Logo von Big Mamma’s, den Kessel in Rot, Gold und Grün. Das Café kannte ich gut, bevor die Studentenmeute den Imbiss entdeckt und in Beschlag genommen hatte, war Dad eine Zeit lang jede Woche mit uns hingegangen.

Die Bässe vibrierten mit jedem Schritt, den wir auf die Jungen zumachten, immer stärker und zu meinem Entsetzen legte mein Vater mit einer extrem peinlichen Skank-Nummer los: Er zog den Kopf immer wieder zwischen die Schultern und schob ihn dann jedes Mal ruckartig vor, dazu machte er irgendwelche Schritte auf dem Rasen und schnipste mit den Fingern. Die Typen stupsten sich an und feixten, nur Ruben schien das nicht zu interessieren. Ruben starrte mich an.

Ich war ein unsicheres Mädchen, blass und mit nicht zu bändigendem Haar, zu dunkel, um als rotblond durchzugehen, und nicht annähernd dunkel genug für rotbraun. Ich hatte ganz gewöhnliches rotes Haar. Mir war aber klar, welche Macht ich trotz meines gewöhnlichen Aussehens hatte, einfach nur, weil ich weiblich und jung war, Titten und lange Beine hatte. Ich wusste es, auch wenn ich noch nichts damit anfangen konnte. Als ich Brüste und die Regel bekam, reifte in mir die Ahnung, dass die Jugend, trotz aller Schmerzen und Sehnsüchte, die damit einhergingen, eine gewaltige Kraft war. Und obwohl in Rubens Blick etwas Kühles und Abschätzendes lag, war nichts Spöttisches darin; genau genommen öffnete er mir mit seinem Blick gerade die Lippen, riss meine eng geschnittene Bluse auf, fuhr mit den Fingern über den Rand meines BHs und streifte ihn sanft über die festen Hügel meiner Brüste nach unten. Wir standen da, schauten uns an, und der Moment verselbstständigte sich und schwebte über uns, elegisch, im Hintergrund die blasse Sonne über dem Mersey, Sinsemilla-Schwaden und ein erregender Sub-Bass in der Ferne.

Und plötzlich riss er uns aus diesem Moment, mit einem erneuten Lächeln, eindeutiger als das erste, er holte uns zurück in die Realität, und in diesem Augenblick wusste ich, dass ich wollte, was er wollte. Ich musste ihn haben.

 

Den ganzen Nachmittag scharwenzelten wir umeinander herum – ich wartete auf eine Gelegenheit, meinen Vater abzuschütteln, er wartete darauf, heimlich von der Arbeit und seinem Anhang schmarotzender Freunde wegzukommen. Als sich die Sonne davonstahl, wurde der Himmel weiter und blasser, er färbte sich in einem zarten Ton aus Rosa und Violett und ging schließlich in ein tiefes Blau mit Silber über, das sich wie ein Perserteppich über der Stadt entrollte. Auch die Stimmung veränderte sich – war jetzt angespannter, etwas Böses lag in der Luft, Gedränge und Geschiebe, planlos umhertorkelnde Jungen- und Mädchengangs, manche von ihnen lachten, manche schienen angriffslustig, auf Streit aus. In mir kribbelte es, ich war total aufgedreht, und ich merkte, dass auch Dad anders drauf war. Mit der Dämmerung verflog seine Leichtigkeit, sein ständiges Umherschauen war jetzt eher ein Zeichen von Beunruhigung als einem Überangebot geschuldet. Mit Schrecken stellte ich fest, dass er nicht auf die Essensbuden zusteuerte, nicht auf das Ziegen-Curry, von dem er ständig schwärmte, sondern auf den Ausgang.

Mit einem Mal die Rettung – eine Stimme rief: »Richard. Richard!«

Wir blieben stehen, drehten uns um und spähten durch die vorbeiziehenden Silhouetten. Eine Frau winkte – eine große, sehr beleibte Dame, das Haar als Bob, in einem absurden, traditionellen Massai-Gewand, erhitzt und angeheitert. Wir liefen in ihre Richtung und ich sah, dass sie eine flüchtige Kollegin von Dad war – Maxine Da Souza von der School of Cultures. Wie sie da mit ihren enormen Ausmaßen umringt von vier oder fünf schmächtigen Indern stand, war schon beeindruckend. Damit Dad sie auch ja nicht übersah, winkte sie gleich noch einmal.

»Mist«, zischte er durch die Zähne. Er zwang sich zu einem Lächeln, legte mir die Hände auf die Schultern und flüsterte: »Warte hier, Rache, sonst kommen wir verdammt noch mal nie wieder weg. Hau nicht ab. Du musst mich retten! Abgemacht? Bleib schön hier stehen.«

Schön hier stehen bleiben? Das fehlte noch. Amüsiert beobachtete ich, wie die überschwängliche Maxine meinen Dad an ihren Busen drückte, die Hüften bewegten sich im Takt der Musik, und schon hatte sie ihn in ihren lasziven Tanz verwickelt. Ich behielt die beiden im Auge, während ich mich zentimeterweise entfernte. Als ich endlich außer Sichtweite war, drehte ich mich um und rannte so schnell ich konnte zurück zu Big Mamma’s mobiler Kantine. Ich war wie berauscht. Für mich gab es nur ein einziges Ziel, Ruben, und allein ihn aufzuspüren, war an sich schon berauschend. Ich hätte die ganze Nacht bleiben wollen, auf der Jagd nach den Versuchungen dieser verzauberten fremden Welt, den Park durchstreifend, alles aufsaugend, den Krach und das Gelächter und das gleichförmige Wummern des Sub-Basses. Und diese Menschenmasse, die jungen Männer, all diese Grüppchen und diese geballte Kraft gut aussehender, gefährlicher Youngsters, ihre attraktiven Väter und Onkel, die alle jamaikanisches Red Stripe aus ungewöhnlich langen Dosen tranken. Und die Mädchen, die zu fünft nebeneinanderliefen, eingehakt, mit wackelnden Hintern, kichernd und sich zierend, obwohl ihre Augen verräterische Zeichen gaben. In ihren Augen funkelte die gleiche Lebenskraft, die auch durch meine Adern rauschte.

Schon tief im Gewühl lief ich langsamer, versuchte, locker und selbstsicher zu wirken, aber das gleißende Licht der improvisierten Beleuchtung in den Bäumen wurde schwächer, bis der Weg zu einem Nichts zusammenschrumpfte und alles vor mir im Dunkeln lag. Ich kniff die Augen zusammen, um besser zu erkennen, was das undeutliche Huschen zwischen den Bäumen zu bedeuten hatte – Geld wechselte den Besitzer. Geradeaus sah ich ein Männergrüppchen und hin und wieder glimmende Zigaretten und Joints, die sich im Dunkeln ruckartig bewegten. Bissige, aufgescheuchte Hunde knurrten – ich war weit genug gegangen. So lässig wie möglich, jetzt aber doch ängstlich, drehte ich um und machte mich mit entschlossenen Schritten zurück auf den Weg zum Festplatz innerhalb der eisernen Tore.

Jetzt sah ich auch Dad wieder. Er lachte gerade, den Kopf in den Nacken geworfen. Es ging ihm gut. Er hatte mich vergessen. Ich wollte ihn schon rufen, da stand Ruben plötzlich neben mir.

Mir war, als würde der Karneval mit einem Mal verschwinden, die Musik auf ein entferntes Summen abebben. Ich hörte nur noch das pulsierende Bumm-Bumm-Bumm meines Blutes, blanke Panik stieg in mir auf, ihr Geschmack metallisch.

»Du willst doch nicht etwa schon gehen?«, fragte er. »Es geht doch erst richtig los.«

Er trug jetzt Jeans und ein frisches T-Shirt, aber seine Haut verströmte ganz leicht den Geruch nach getrocknetem Schweiß, nach Öl und Gewürzen, irgendetwas Süßem. Ich drehte den Kopf leicht zur Seite und überlegte fieberhaft, was ich Schlaues von mir geben konnte.

»Ich muss den alten Mann nach Hause bringen«, sagte ich und machte mit dem Kopf eine Bewegung in Dads Richtung, der gerade ungeniert mit Maxine tanzte. »Er müsste schon längst zu Hause sein.« Ruben schaute verunsichert zu Dad, dann wieder zu mir. Ich errötete. »Ja, ja, ich weiß«, sagte ich lachend, hin- und hergerissen, weil ich Dad liebte, mich aber jetzt für ihn schämte: sein Anzug, wie er tanzte, seine viel zu blanken gepflegten Schuhe.

Ruben sah Dad noch etwas länger beim Tanzen zu, bevor er sichtlich belustigt den Kopf schüttelte. Dann drehte er sich zu mir und sah mir in die Augen.

»Lust, woanders hinzugehen?«

»Was? Jetzt?«

»Yeah. Jetzt.«

Mein Schweigen bedeutete Ja. Ja. Bring mich irgendwohin – jetzt sofort. Und er führte mich weg von den Toren, weg von dem beschwingten Sound der Steeldrums. Wir kämpften uns durch Hecken und Stechpalmen, weg vom Lärm und Geschrei des Karnevals, bis runter zum See.

»Warte. Gib mir deine Hand.« Und, o Gott, was war das? Ich hatte nur kurz seine Haut berührt und schon traf mich wie aus dem Nichts ein Blitzschlag, meine kleine Hand verschwand in seiner großen, sanften.

Vor uns lag das Ufer des Sees, darin die klitzekleine Insel mit dem Hügel, der aus dem Gewirr aus Nesseln und Schlingpflanzen herausragte.

Er ging voraus, balancierte beherzt über die Holzbretter eines Steges, der leicht überschwemmt war.

»Schau auf meine Füße, okay? Du darfst nicht geradeaus gucken, lauf einfach meinen Füßen hinterher.«

»Ist das denn nicht gefährlich?«

Er lachte in sich hinein, als sei diese Frage – oder Gefahr an sich – nichts, womit er sich viel beschäftigte.

»Du musst nur wissen, wo du hintrittst, das ist alles.«

Geschickt lief er einfach weiter, und mit einem letzten langen Satz waren wir auf der Insel, hinter uns die Klänge und Lichter des Karnevals – und sahen uns in die Augen. Auf einmal hatte ich Angst. War es jetzt so weit? Würden wir es machen? Würde er mich hier auf dem Boden nehmen, einfach so? Er spürte, dass ich zögerte, nahm ganz sanft meine Hand und zog mich herunter. Eine Ewigkeit saßen wir da und schauten aufs Wasser. Wir trauten uns kaum zu atmen. Ich schlang die Arme fest um die Beine, entschlossen, mich nicht herzugeben – trotzdem wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass er seinen Kopf zu mir runterbeugte und mich küsste.

Und dann passierte es, aus heiterem Himmel – er küsste mich leidenschaftlich und intensiv, und seine saugenden und forschenden Lippen und die tanzenden Sepiaschatten um uns herum brachten mich um den Verstand. Während die Nacht sich wie eine Decke über unsere glühenden Körper legte, küssten wir uns weiter, immer heftiger. Irgendwie wusste ich, wie es ging. Durch seine Sachen hindurch konnte ich ihn fühlen, er stöhnte. Ich wollte sein Ding sehen und berühren, aber ich kam mit der Hand nicht in die Jeans, bekam ihn nicht heraus. Er berührte mich überall, seine großen Hände auf meinen Oberschenkeln, unter dem Saum meiner Shorts. Der Wunsch, mich ihm hinzugeben, alles zuzulassen, war stark und beschämend, und ich wusste, wir sollten aufhören, aber ich würde niemals aufhören.

Doch plötzlich waren aufgebrachte, nervöse Stimmen, Rufe von der anderen Seite des Sees zu hören.

»Ray-chul! Rache!«

Mein Dad, Dad und seine Freunde, sie alle riefen meinen Namen – noch freundlich. Ich konnte es bis hierher hören – er wollte nicht an das Schlimmste denken. Er wollte darauf vertrauen, dass alles in dieser besten aller möglichen Welten gut war. Ich sah Ruben an.

»Scheiße. Tut mir leid.«

»Kein Problem.«

»Doch!«

Ich wollte, dass er mir glaubte, dass ich alles getan hätte, alles, was er wollte. Er stand auf, rückte seinen Schwanz in der Jeans zurecht. Ich ließ den Kopf hängen und seufzte.

»Soll ich auf Abstand gehen und so?«

Ich sprang entsetzt auf.

»Nein!« Ich starrte ihn an und überlegte, was ich sagen sollte – was ihn am ehesten beschwichtigen könnte. »Sag nicht so was.«

»Sicher?«

»Ja!«

»Das wird deinem Alten nicht gefallen.«

Ich nahm seine Hand. Ich, die erfahrene Vierzehnjährige.

»Wir gehen zusammen. Okay?«

In Rubens Blick lag etwas Spöttisches, Überlegenes. Er schaute nicht boshaft oder hinterhältig, aber er wusste es einfach besser. Und er behielt recht. Wir sausten über den morschen Steg, durch das Gestrüpp auf die Tore zu. Als wir im grellen Licht der Laternen am Parkeingang auftauchten, war nicht zu übersehen, wie entsetzt und voller Sorge Dad war. Beim Näherkommen wirkte er einen Augenblick lang erleichtert, doch gleich darauf war klar, dass er sich schrecklich verraten fühlte.

»Rachel!« Völlig verwirrt sagte er meinen Namen und versuchte dabei, Ruben anzulächeln, denn er wusste, dass er keine falschen Schlüsse ziehen durfte, gar keine. »Verdammt noch mal, wo warst du? Ich habe dir doch ausdrücklich gesagt …«

Ruben spielte sofort mit. Er lächelte in sich hinein, aber er war gekränkt.

»Bitte, da haben Sie sie zurück.« Er gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange, warf Dad einen Blick zu. »Gesund und munter.«

Und damit war er verschwunden. Dad und ich liefen nach Hause, keiner sprach ein Wort, bis wir das untere Ende unserer Straße erreichten. Dann konnte Dad die Ungewissheit nicht länger ertragen.

»Dieser Junge …«

»Was soll mit ihm sein?«

»Habt ihr …?« Ihm versagte die Stimme. Ich wusste genau, was er fragen wollte. Dad holte tief Luft, sichtlich angespannt, und setzte erneut an. »Hast du ihn heute Abend erst kennengelernt?«

Wütend drohte ich ihm mit dem Finger.

»Ausgerechnet du, Dad. Wie kannst du nur?«

Dad fasste mich an der Schulter, versuchte, irgendwie witzig zu klingen, mich zu besänftigen.

»Rachel, du kannst nicht einfach so abhauen.« Aber es brachte ihn fast um. Er musste es loswerden. »Du kannst das nicht einfach mit irgendwem machen.«

Ich grinste. Mein Dad, der Reggae-Fan, der Medizinmann, der Afrikareisende, der diese Kultur lebte und atmete, als wäre es seine eigene – er liebte sie, aber mit dem nötigen Abstand.

»Dann lass uns mal Klartext reden, Dad. Steh zu deinen Ängsten.«

Da wurde er wütend.

»Eines Tages, wenn du selbst Kinder hast, wirst du mich verstehen.«

Ich hatte nur einen einzigen Gedanken: Das würde ich ihm nie verzeihen, niemals.

Kapitel 3

Die somalischen Spieler erzielen den Ausgleichstreffer. Schmunzelnd lege ich die Hand auf den Bauch. Dunkle Wolken ziehen auf und es wird Zeit, nach Hause zu gehen. Bald schon regnet es stark, aber irgendwie sanft – typischer Septemberregen. Als ich in die Belvidere einbiege, entdecke ich Vicky aus dem Schwangerschaftskurs beim National Childbirth Trust. Sie hat als Erste ihr Kind bekommen, ich werde die Letzte sein. Sie beugt sich über einen dieser übertrieben gepolsterten Kinderwagen und kämpft mit dem Regenschutz. Ich rufe sie, fuchtele mit dem Arm in der Luft herum, aber sie hört mich nicht. Noch schneller kann ich nicht. Ich rufe noch einmal, um sie zu warnen, aber da ist es schon zu spät – ein Lastwagen rauscht vorbei und spritzt sie von oben bis unten nass. Während sie sich noch fluchend das Wasser abstreift, lenken ein paar junge Kerle ihr Auto absichtlich in die Pfütze, sodass sie noch eine volle Ladung Regenwasser abbekommt. Plötzlich fühle ich mich unbehaglich und flüchte hinter einen Baum. Vicky schimpft den jugendlichen Rasern hinterher, löst dann die Bremse des Kinderwagens und zerrt ihn von der Straße weg.

Ich weiß, ich sollte hinübergehen und ihr anbieten, mit zu mir hochzukommen, sich abzutrocknen und zu stillen. Aber gleichzeitig weiß ich, was mich davon abhält. Es ist blöd, es ist egoistisch, aber auch wichtig – für mich jedenfalls. Vicky wird mich fragen, ob ich ihr Kind halten will, weil sie nett sein möchte. Ich müsste dann ganz entzückt tun und die Arme ausstrecken. Es ist nicht so, dass ich ihr Baby nicht halten will, sondern dass ich kein Baby halten will. Noch nicht. Ehrlich gesagt hatte ich noch nie einen Säugling auf dem Arm. Einmal habe ich das Kind einer meiner Teenager-Mütter gewindelt – obwohl es längst alt genug fürs Töpfchen war –, aber mit Säuglingen hatte ich noch nie zu tun. Gegen Ende der Geburtsvorbereitung war eine frischgebackene Mutter aus einem früheren Kurs bei uns zu Gast und wir durften ihr Kind auf den Arm nehmen. Ich machte mich unter einem Vorwand aus dem Staub. Seit ich die Kidneybohne auf dem Monitor gesehen habe, habe ich irgendwie die fixe Idee, dass der Augenblick, in dem sie mir mein Kind auf den Bauch legen, wirklich einzigartig sein soll. Ich will sozusagen meine Unschuld bewahren, so naiv und kindisch das klingen mag. Für mich. Für das Baby. Der Moment soll etwas vollkommen Neues sein, er soll perfekt sein. Ich bin so kurz davor.

Ich gehe einfach und kümmere mich nicht weiter um Vicky.

 

Der NCT