Ein mallorquinischer Sommer - Helen Walsh - E-Book
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Ein mallorquinischer Sommer E-Book

Helen Walsh

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Beschreibung

»Ein mallorquinischer Sommer« ist die perfekte Urlaubslektüre. Vor der Kulisse des malerischen Künstlerdorfs Deià entspinnt sich eine verbotene Liebesgeschichte, in deren Zentrum Jenn steht, eine Frau Mitte 40, die überrollt wird von ihren eigenen Gefühlen. Ein kluger, sinnlicher Roman über weibliches Begehren – dies- und jenseits gesellschaftlicher Normen. Jedes Jahr fahren Jenn und Greg in die Villa Ana nach Deià, Mallorca. Das sonnige Künstlerdorf ist für das britische Ehepaar fast ein zweites Zuhause geworden. In diesem Jahr jedoch sind sie nicht allein: Gregs Tochter Emma kommt mit ihrem ersten festen Freund zu Besuch auf die Insel. Jenn fürchtet, dass die Idylle durch die beiden Teenager getrübt werden wird, doch sie will ihrer Stieftochter nicht den Spaß verderben. Als Emma und Nathan eintreffen, ist nichts so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Nathan entpuppt sich als gut aussehender, braun gebrannter 17-Jähriger und Jenn muss sich eingestehen, dass sie sich zu dem Freund ihrer Stieftochter hingezogen fühlt. Was folgt, ist ein erotisches Kammerspiel in den verstecktesten Winkeln von Deià. Wird die Affäre geheim bleiben? Ahnen Emma und Greg bereits etwas? Kann Jenn sich noch im Spiegel angucken oder überwiegt die Scham? »Ein mallorquinischer Sommer« zeigt eine Frau im Zwiespalt zwischen Lust und Vernunft. Ein offenherziger, aufregender Roman über eine Frau in der Midlife-Crisis, für die ihr Verlangen nach diesem jungen Mann so unerträglich wie erfüllend ist.

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Seitenzahl: 289

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Helen Walsh

Ein mallorquinischer Sommer

Roman

Aus dem Englischen von Maria Hummitzsch und Michael Schickenberg

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Helen Walsh

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Motto

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

Danksagung

Inhaltsverzeichnis

Für meine Familie,

ganz besonders für L.S.

Inhaltsverzeichnis

Auf diese heiteren Nächte folgte unvermittelt die Sintflut.

– George Sand –

Inhaltsverzeichnis

1

Am Horizont geht allmählich die Sonne unter, und damit setzt das lebendige Gewusel in der Ferne wieder ein. Vom Strand aus stapfen Familien und Paare schwer bepackt mit Sonnenschirmen und bunt gemusterten Taschen den Hügel hinauf. Hier und da schlängeln sich Mopeds durch den trägen Menschenstrom.

Jenn bleibt reglos sitzen, als der Strom ermatteter Strandbesucher an der Villa vorbeizieht. Auf der niedrigen Steinbrüstung der Terrasse, verborgen in den immer länger werdenden Schatten des Zitronenhains, ist sie kaum zu sehen. Die Gesichter der Vorbeilaufenden erkennt man nicht, aber wie sie so hinter den Bäumen entlangziehen, leuchten ihre Sarongs im warmen Abendlicht auf. Nur ein kleiner Junge, der sein Schlauchboot über die staubige Straße schleift und hinter seinen Eltern zurückfällt, entdeckt Jenn. Sie winkt ihm mit dem kleinen Finger. Scharrend kommt das gelbe Schlauchboot am Seil zum Stillstand, nur der Wind bewegt es noch leicht hin und her. Die obere Zahnreihe des Kindes blitzt auf, dann aber merkt es, wie weit voraus seine Eltern schon sind, und sprintet ihnen hinterher.

Jenn legt das Buch zur Seite, den Kopf in den Nacken und schließt die Augen. Sie kann die Wanderer oben auf den kiefernbewachsenen Klippen hören. Obwohl sie deutsch sprechen, kann sie anhand des besorgten Tonfalls einige Worte verstehen: Beeil dich, sagt eine Frau zur anderen, wir müssen unten sein, bevor es dunkel wird. Der Wanderweg entlang der Steilküste ist Jenn sehr vertraut, von hier aus sind es circa zwei Stunden bis Sóller. Zwei Stunden voll atemberaubender Ausblicke und steiler Abhänge über felsigen Buchten.

Weitere Mopeds und Autos fahren vorbei. Jetzt kann sie die Wanderer sehen: eine Gruppe korpulenter Frauen mittleren Alters in robuster Wanderkleidung, die die ausgetretenen Stufen zur Straße herabsteigen und unten stehen bleiben, um eine Wasserflasche kreisen zu lassen. Sie witzeln, doch man hört ihnen die Erleichterung deutlich an. Erfrischt und mit neuer Tatkraft machen sie sich auf den Weg ins Dorf. Keine von ihnen bemerkt sie: die Frau in dem weißen Baumwollkleid. Würden sie sich umdrehen, könnten sie vielleicht sehen, wie Jenn die Knie bis zum Kinn ranzieht, die Arme um die Beine schlingt und den Kopf weit in den Nacken legt, um die letzten Sonnenstrahlen und diesen Augenblick voll auszukosten. Sie mag das Gefühl, da, aber unsichtbar zu sein.

Als sie die Augen öffnet, fällt ihr Blick auf den Steinbalkon ihres Schlafzimmers in der oberen Etage: Die Holzfensterläden stehen weit offen, und der Schein der Zimmerlampe betont, dass auf einmal Abend geworden ist. Es wird merklich kühler. Sicher fliegen jetzt die Mücken rein und belagern die kalten weißen Wände, aber das stört sie gerade nicht. Sie möchte jetzt einfach nur so sitzen bleiben. Bestimmt schläft Greg da oben – oder er liest oder duscht. Für den Moment ist Jenn glücklich allein hier unten. Noch ein Kapitel und dann geht sie rein.

Sie nimmt das Buch wieder auf: Reprisal, ein skandinavischer Krimi. Alle ihre jungen Mitarbeiterinnen im Pflegeheim haben davon geschwärmt. Greg hat recht behalten mit seiner Feststellung, dass der Autor alles andere als ein Pelecanos ist, doch genau dafür ist sie dankbar. Für den Urlaub wünscht sie sich leichte Lesekost, nichts, was sie zu sehr anstrengt. Hübsche Blondinen, die von einem Serienmörder gejagt werden – das ist gerade genau das Richtige für sie. Aber es ist schon zu dunkel, die Schrift kaum noch zu erkennen, darum klappt sie das Buch wieder zu. Sie steht auf und streckt sich. Inzwischen ist der Strand fast menschenleer; in der Stille hört man das Knistern und Knacken eines Lagerfeuers. Sie stellt sich die Hippie-Kids unten am Strand vor, wie sie ihre Sachen trocknen und sich ihr Abendessen kochen. Früh am Morgen hat sie beobachtet, wie die Jungen vom Felsen aus die Angeln ausgeworfen und immer wieder zappelnde silbrige Fische eingeholt haben. Jungen mit wild wuchernden Bärten, braun gebrannt von einem langen Sommer im Freien.

In der Morgendämmerung war sie runter zur Bucht gejoggt, der Mond stand noch blass über den Bergen. Das Knirschen ihrer Schuhe im Kies hatte zwei der Strandkids aus der Höhle gelockt. Anfangs hatten sie versucht, sie mit einem bösen Blick fernzuhalten. Dann war noch ein Junge rausgekommen, splitternackt. Er hatte sich gähnend gereckt, eine Zigarette angezündet und sich dann ganz bewusst in ihre Richtung gedreht und sie angestarrt. Sein Schwanz hing zwischen seinen Beinen, spottend und überlegen, leicht erigiert, fast wie eine Drohung. Eine Welle der Entrüstung hatte sie erfasst. Warum mussten die Kids sich ausgerechnet diesen Strand aussuchen, wenn sie ihre Ruhe wollten? Entschlossen zog sie ihr Shirt aus, streifte die Shorts ab und stürzte sich ins Meer. Das Wasser war kalt, ein schmutziger grauer Spiegel im frühen Morgenlicht. Während der ersten Schwimmzüge hatte sie kaum Luft bekommen, aber je kräftiger sie durchzog, desto befreiter fühlte sie sich, fand nach und nach ihren Rhythmus. Immer weiter war sie rausgeschwommen, bis die ersten Sonnenstrahlen ihre Stirn berührten.

Später auf der Terrasse der Villa Ana, als die Sonne schon sehr hoch stand und der Strand überfüllt war, hatte sie die Kids noch einmal aus ihrem Höhlenversteck herauskommen sehen. Diesmal waren noch zwei Mädchen dabei gewesen, die von Weitem aussahen, als hätten sie sich mit Goldstaub besprüht. Sie hatten die um die Hüften gewickelten Tücher abgenommen und ihre nackten ranken Körper auf einem ebenen Felsvorsprung ausgestreckt. Dabei hatten sie so ungeniert und natürlich gewirkt, als wären sie alleine zu Hause in ihrem Schlafzimmer. Jenn beobachtete, wie ihr Mann einen kurzen verstohlenen Blick hinüberwarf, so beiläufig und unauffällig, dass man hätte glauben können, er habe die Mädchen gar nicht bemerkt. Aber Jenn kannte ihn zu gut, und auch jetzt noch musste sie schmunzeln, wenn sie an diesen zaghaften Anflug von Lüsternheit dachte. Sie hatte eine Augenbraue hochgezogen, nicht vorwurfsvoll, sondern um ihm zu zeigen, dass sie derselben Meinung war: Ja, die Mädchen waren eine Augenweide – so schlank, gebräunt und jung, wie sie waren. Verlegen, als fühlte er sich ertappt, hatte Greg weggeschaut.

Obwohl es längst dunkel ist, bleibt sie noch draußen. In der Ferne meckern Ziegen, und hier und da leuchten an den oberen Berghängen die riesigen Glasfassaden anderer Villen auf. Überall im Tal erweckt Licht die Fenster kleiner Steinfincas zum Leben. Die Häuser, die sich tagsüber inmitten der Olivenbäume verstecken, zeigen sich erst jetzt, da ihre Augen aufleuchten, bereit, die Nachtwache über die Serra de Tramuntana anzutreten.

Nichts rührt sich. Das Dunkel wird tiefer. Jenn erschaudert, eingenommen von der Magie des Augenblicks. Die Straße ist nicht mehr zu erkennen. Die ersten Sterne stehen am Himmel. Wind kommt auf und trägt die Geräusche vom geschäftigen Treiben aus den Restaurants oben im Dorf heran, das Klirren von Besteck, das auf den Tischen verteilt wird, um auf einen weiteren Abend mit Hochbetrieb vorbereitet zu sein. Sie reibt sich den Bauch dort, wo es knurrt. Das ist ein gutes Hungergefühl, denkt sie, eins, das sie zu Hause selten erlebt; ein gewaltiger Hunger vom Schwimmen im Meer und dem vielen Herumspazieren in der Sonne. Das waren ihre Hauptbeschäftigungen in der vergangenen Woche, und viel getrunken haben sie auch: Wein, Bier, Cognac, Liköre. Beide hatten sie das Gefühl, es sich verdient zu haben. Und gestern, als Greg schon schlafen gegangen war, hatte sie noch am Pool gesessen und sich eine der Camel Lights angezündet, die sie in einer Schublade in der Küche gefunden hatte. Der Kick, dreckig und bitter, versetzte sie in Hochstimmung, machte sie angenehm benommen.

Die Luft kühlt ab und feuchte Kälte dringt in ihre Lunge. Meeresfeuchte: salzig und klar, gewürzt mit einem Hauch von Kiefer. Widerwillig sieht Jenn ein, dass es höchste Zeit wird, und geht ins Haus, um ihr Asthmaspray zu suchen und Greg ein wenig anzutreiben. Sie findet ihn am Telefon draußen auf dem Balkon, in der Hand ein Glas Cognac. Er ist frisch geduscht und fertig angezogen, riecht gut, und sein dunkler, leicht grau durchzogener Bart ist gestutzt. Er trägt den cremefarbenen Leinenanzug, den er jedes Jahr mit auf die Insel bringt; das einzige Mal im Jahr, dass er sein »Gentleman im Ausland«-Outfit je trägt. Auch wenn der Anzug mittlerweile an den Schultern leicht spannt, steht er ihm gut – verleiht ihm etwas Erhabenes, auch wenn er eigentlich ein wenig zu steif wirkt für das mondäne Deià. Sie beobachtet ihn weiter von der Schiebetür aus. Offensichtlich redet er mit Emma. Jenn spürt ein leichtes Ziehen im Bauch, als sie hört, wie er ihre Stieftochter bezirzt. Sie tritt raus auf den Balkon und tippt mit zwei Fingern auf ihr Handgelenk, signalisiert, dass sie bald los müssen. Dann nimmt sie ihm den Cognac aus der Hand und leert das Glas in einem Zug. Er wirft ihr einen bewundernden Blick zu und grinst.

»Kannst du Emma bitten, Zahnseide mitzubringen?«, fragt sie. »Die mit echter Seide. Die gibt es hier nicht.«

Greg hebt einen Finger und schüttelt den Kopf, weniger als Zurückweisung ihrer Bitte, denn als Bitte um Ruhe. Emma bearbeitet ihn wegen irgendwas, und er versucht wie immer, sich zu drücken, wählt den Weg des geringsten Widerstands. Jenn stellt das leere Glas ab, streckt die Hände gen Himmel und verdreht die Augen. Dann geht sie wieder ins Haus, um ihr Spray zu suchen. Drei hat sie mitgebracht – jetzt ist keines mehr da. Ganz bestimmt hat sie eins neben ihrem Bett liegen lassen. Sie zieht jede einzelne der Schubladen ihres Nachttischs aus massivem Holz heraus, kniet sich hin, um auch unter dem Bett zu suchen. Der nackte Boden aus Keramikfliesen ist hart und unangenehm kalt. Genervt steht sie wieder auf und kippt geräuschvoll ihr Kosmetiktäschchen aus.

Greg zischelt ihr zu: »Unter deinem Kissen!«

Nicht nur eins, sondern alle drei Sprays liegen dort hübsch aufgereiht nebeneinander.

»Oh Mann!«, sagt sie. Ein, zwei Sprühstöße; dann geht es ihr besser.

Er hebt die Hand, damit sie still ist, und spricht lauter. »Also Em, gehen wir mal vom Schlimmsten aus, Jenn und ich sind unterwegs …«

Das tut weh. Auch nach so vielen Jahren lässt er, wann immer es ihm passt, wann immer er Streit wittert, das »Mum« einfach wegfallen.

»… dann nimmst du ein Taxi ins Dorf und versuchst es in der Bar Luna. Benni ist auf jeden Fall da. Er hat den Schlüssel.«

Polternd schließt sie die Fensterläden und zieht sich die Jacke an. Sie beobachtet sich dabei im Spiegel des Kleiderschranks und schnaubt kräftig. Das weiße Baumwollkleid hat sie sich gestern Morgen in dem kleinen Laden im Dorf gekauft. Ein reiner Impulskauf, etwas, das sie zu Hause sicher nie anziehen würde. Aber es ist die Art luftiges, klassisches Kleid mit Lochstickerei, in dem sie sich immer durch Deià hat schlendern sehen, wenn sie sich ausgemalt hat, sie würden ganz auf die Insel ziehen. Im Laden hatte sie sich im Spiegel gefallen. Elegant hatte sie ausgesehen, aber auch geheimnisvoll und, ja, durchaus sexy; ein Eindruck, der zweifellos vom Kerzenschein im Innenraum verstärkt worden war, der ihrer Haut einen Kupferton verliehen hatte, ebenso wie von den Weihrauchstäbchen, der gedämpften Flamenco-Musik und dem süßen schwulen Verkäufer, der hinter ihr gestanden, ihr das Haar hochgehalten und in den Nacken geflüstert hatte: »Que bonita … Ihre Augen sehen aus wie zwei Bernsteine.« Aber jetzt hat sie das Gefühl, reingelegt worden zu sein. Sie zerrt das Kleid wieder über den Kopf, wobei sich die locker hochgesteckten Haare lösen und ihr über die Schultern fallen. Zum Glück ist das Etikett noch dran, denkt sie, hängt das Kleid in den Schrank und streicht die Falten glatt. Dann betrachtet sie sich wieder im Spiegel – ihr schönes Dekolleté, das von ihrem Teint angenehm betont wird, das frische Mahagonibraun ihrer Haare, erst heute Morgen gefärbt – und beschließt, was soll’s, heute Abend geht sie mal trashig. Gregory mag das vielleicht daneben finden und sich auf die Lippe beißen, aber sie ist im Urlaub und wird verdammt noch mal zeigen, was sie zu bieten hat, und zwar in engen schwarzen Jeans und tief ausgeschnittenem Glitzershirt.

Beim Anziehen sieht sie, dass Greg sich auf dem Stuhl zu ihr umgedreht hat und sie beobachtet. Er bedeutet ihr mit Gesten, dass ihm das Kleid und die hochgesteckten Haare besser gefallen haben. Die Jeans schon halb über die Oberschenkel gezogen tippelt sie noch mal zum Schrank und nimmt das Kleid wieder raus, um es ein letztes Mal zu begutachten. Selbst um die Hälfte reduziert war es für fünfundsiebzig Euro alles andere als ein Schnäppchen gewesen; und auch wenn das Etikett noch dran ist, wird sie wohl darum kämpfen müssen, das Geld von dem tuntigen Verkäufer zurückzubekommen. Sie kann sich nur allzu gut ausmalen, wie seine charmante Art in zickige Herablassung umschlägt. Sie hält sich das Kleid noch mal vor dem Spiegel an. Elegant. Als Frau im mittleren Alter wäre sie damit definitiv auf der sicheren Seite. Zu Hause wird sie es allerdings nie wieder aus dem Schrank holen; sie sollte es wirklich jetzt anziehen, ihm zuliebe.

Er beobachtet sie noch immer. Deutlich hört sie, wie Emma am Telefon langsam der Geduldsfaden reißt.

»Ach Kleines, alles ist gut«, sagt er besänftigend und wendet den Blick von seiner Frau ab. »Ich bin sicher, Jenn kommt auch ein oder zwei Wochen ohne Zahnseide aus.«

Sie hängt das Kleid demonstrativ zurück in den Schrank und quetscht sich weiter in die Jeans. War sie als Teenager auch so? Wahrscheinlich wäre sie es gewesen, wenn sie auch nur annähernd die Möglichkeit dazu gehabt hätte – aber in Emmas Alter hatte sie arg unter Akne gelitten und war bei Weitem nicht hübsch genug gewesen, um damit durchzukommen. Etwas zu laut schließt sie die Schranktür und lässt ihn verdutzt stehen, trampelt dann die Treppe runter. Mittlerweile sind sie ohnehin zu spät dran.

Sie schnappt sich die letzte Zigarette aus der Küchenschublade, nimmt den Herdanzünder vom Haken an der getünchten Wand und geht nach draußen in den Zitronenhain. Die schneeweißen Blüten herabhängender Ranken schimmern in der Dunkelheit. Ihre nachtblinden Augen gaukeln ihr Dinge vor: Sie meint, zwischen den Bäumen grasende Ziegen zu entdecken, die sich bei näherer Betrachtung als Baumstümpfe und Büsche herausstellen. Gestern Nacht hatte Jenn, beschwipst vom Apfelschnaps, der mit der Rechnung kam, Greg überredet, den Pfad am Fluss zu nehmen. Obwohl der Mond so hell geleuchtet hatte, waren sie bald doch lieber auf der Straße weitergegangen, da der holprige Weg mit seinen vielen losen Steinen und hervorspringenden Wurzeln eine einzige Katastrophe gewesen war. Heute Nacht werden sie sich zurückhalten. Egal wie überschwänglich man sie willkommen heißt oder wie hartnäckig man ihnen nach dem Essen ein paar Absacker aufs Haus anbietet – sie müssen morgen einen klaren Kopf haben. Morgen beginnt ein völlig anderer Urlaub.

Sie setzt sich ins harte trockene Gras und zündet die Zigarette an, nimmt einen tiefen Zug und behält beim Ausstoßen noch etwas Rauch zurück, lässt damit dann Rauchringe aufsteigen. Wie wird es wohl sein, fragt sie sich, für ein Teenagerpärchen den Anstandswauwau zu spielen? Und was ist das überhaupt für einer, dieser Nathan? Nate. Die Art, wie Emma den Namen ausspricht, ärgert sie; barsch, besitzergreifend und ach so wichtigtuerisch, als wäre Nate eine ganz eigene Spezies, eine, die sie entdeckt hat.

Vor ein paar Wochen ist Jenn ihm mal begegnet, wenn man bei der peinlichen Aktion überhaupt von einer Begegnung sprechen kann. Bis zu dem Tag hatte Emma Nathan zwar oft erwähnt, die Vorschläge ihrer Eltern, ihn doch mal zum Kaffee, Abend- oder Mittagessen einzuladen, aber immer abgelehnt. Irgendwann war Jenn dann vom Spätdienst nach Hause gekommen, als Gregory den Wagen gerade rückwärts aus der Einfahrt setzte. Überrascht hatte sie auf der Rückbank einen Jungen sitzen sehen. Das war dann wohl Nate. Er saß gekrümmt da, trug eine tief ins Gesicht gezogene Beanie-Mütze und hatte den Reißverschluss der Jacke bis unters Kinn nach oben gezogen. Es war dunkel gewesen, und er hatte auf die Rückenlehne des Beifahrersitzes vor sich gestarrt, sodass sie sein Gesicht kaum hatte sehen können. Sie klopfte an die Scheibe und machte eine unbeholfene Handbewegung, die so etwas Ähnliches bedeuten sollte wie »komm doch demnächst mal wieder«. Selbst neben dem Auto hatte sie gespürt, wie genervt Emma von dem peinlichen Auftritt ihrer Mutter war. Der Junge lächelte höflich zurück, Emma aber starrte stur geradeaus und stupste ihren Vater an, endlich weiterzufahren. Später am selben Abend, als sie zurückkamen, hatte sie kein Wort mit Jenn gesprochen; sie hatte zwischen den Beinen ihres Vaters gesessen und mit ihm Eis aus einer großen Packung gelöffelt – als würde es nur sie beide auf der Welt geben. Schließlich hatte sich Jenn ins Bett verabschiedet, schmerzlich enttäuscht von Greg, der es einfach so zuließ, dass Emma sie ausschloss. Trotzdem hatte sich Emma an sie gewandt, als sie wenig später eine Verbündete gebraucht hatte. Natürlich ging es um den Urlaub. »Du musst mit Dad reden. Er hat Nein gesagt; er versteht das nicht … Nate muss mit nach Deià kommen. Alle meine Freundinnen dürfen ihre Freunde mit in den Urlaub nehmen. Dad lebt voll im Mittelalter. Du hast ihn doch gesehen, Mum! Jungen wie Nate warten nicht auf ein Mädchen. Es ist quasi vorprogrammiert, dass er jemand anders kennenlernt, wenn ich weg bin.« Bei »alle meine Freundinnen« hatte Jenn sich stark zusammenreißen müssen; denn die Familien dieser anderen Freundinnen verbrachten ihren Urlaub höchstens theoretisch gemeinsam. Sie fuhren mit Verwandten, Freunden, Kollegen, Nachbarn und Au-Pairs weg, weil sie sich, wie Jenn vermutete, eigentlich nicht ausstehen konnten. Aber das hatte sie Emma nicht gesagt. Stattdessen konzentrierte sie sich auf Nathan, das mürrische Riesenbaby, das sie auf der Rückbank des Wagens gesehen hatte. Er sah nicht wie ein Typ aus, der sich sofort nach der Nächstbesten umsah, sobald seine Freundin ihm den Rücken zuwandte. »Ach was, Em. Du bist doch die, die wegfährt. Für ihn ist es doppelt schwer. Und im Gegensatz zu den Eltern deiner Freundinnen finde ich es etwas früh dafür, dass er mit uns in den Urlaub fährt. Das mit euch geht doch gerade mal seit ein paar Monaten.«

Emma war untröstlich. Es hatte vorher schon andere Jungs gegeben, aber im Vergleich zu diesem war das alles nichts gewesen. Das hier war anders. Das hier war GROSS – die Beziehung, an der sie alle künftigen messen würde. Jenn hatte mit ihr gefühlt; ihr war es in dem Alter ganz ähnlich gegangen. Sie war mit dem Sänger einer kläglichen Shoegazing-Band zusammen gewesen, mit dem der Sex genauso einfallslos und improvisiert gewesen war wie seine Musik. Rückblickend sah sie zwar ganz deutlich, was für ein manipulatives kleines Arschloch er gewesen war, aber trotzdem erinnerte sie sich an jedes Detail. Dan Matthews. Für ihn wäre sie damals durchs Feuer gegangen.

»Ach, bitte! Kannst du Dad nicht überreden?«

»Ich weiß nicht, Emma … Und überhaupt sollten wir erst mal Nathans Eltern kennenlernen.«

»Ich sag seiner Mum gleich Bescheid, dass sie dich anrufen soll!«

»Ich habe noch nicht Ja gesagt.«

»Oh Mum! Du bist die Beste, das weißt du, oder?«

»Mum« nannte sie Jenn mittlerweile nur noch, wenn sie etwas wollte. Irgendwie war das verletzender als der langsame, unaufhaltbare Entzug des Wortes an sich.

Jetzt bereut sie, so schnell eingeknickt zu sein; bereut, Greg bearbeitet zu haben, bis er schließlich nachgegeben hatte. Die beiden hatten so hart dafür gearbeitet, sich diesen Urlaub leisten zu können, obwohl Benni, der Besitzer der Villa, den Mietpreis Jahr für Jahr nach oben trieb. Benni wusste, was für ein Juwel von Haus er da besaß. Er wusste auch, dass sie genau das brauchten. Und mit dem neuen Dekan, der im September kommen sollte, musste man auch Gregs Position an der Uni infrage stellen. Würde er weiter Leiter der Englischabteilung sein? Das ehemalige städtische College hatte erst vor fünf Jahren den Universitäts-Status erlangt, aber seit Kurzem gab es ein neues Rektorat, das sich anscheinend eher als Management einer Firma verstand. Auf Greg lastete ein Druck, den es vorher so nicht gegeben hatte; er musste mehr unterrichten, mehr administrative Aufgaben übernehmen, Doktoranden betreuen und man erwartete von ihm, dass er sich stärker engagierte, die Zahl der jährlichen Studienanfänger anzuheben. Sie brauchten ihre jährliche Dosis in der von ihnen geliebten Villa Ana also unbedingt. Jenn hatte sich in den Kopf gesetzt, dass der Urlaub in diesem Jahr etwas ganz Besonderes werden sollte; hatte sich ausgemalt, wie sie die ganze Länge der Serra de Tramuntana von Deià bis nach Pollença abfahren würden. Emma war jetzt alt genug, dass ihr die Hippie-Märkte in Estellencs und Fornalutx gefallen würden, vielleicht auch das Picasso-Museum in Sóller. Sie würden unter den beeindruckenden alten Orangenbäumen auf dem Marktplatz zu Mittag essen, und anschließend könnten Emma und sie dann durch die Boutiquen der Altstadt bummeln. Sie wollte ihr gern etwas Symbolisches schenken – vielleicht einen Anhänger oder ein Armband. Sie wollte etwas, das für ihre Reise miteinander stand, ihre ungewöhnliche und sehr besondere Verbindung. Aber es sollte gleichzeitig etwas sein, das auch typisch für Mallorca war, damit es Emma an die hier verbrachte Zeit und die gemeinsamen Erlebnisse erinnerte.

Also hatten sie die Sache beschlossen. Greg und sie würden eine Woche früher fliegen, und Emma würde so lange bei Gregs Mutter wohnen. So würden sie ihre langweiligen Erwachsenensachen zusammen machen können – versteckte Buchten entdecken und sich nach endlos hinziehenden Mittagsmahlzeiten einfach mal hinlegen –, und dann würde Emma nachkommen, um sich von ihnen wie eine Prinzessin verwöhnen zu lassen. Aber dann war es plötzlich nicht mehr nur Emma gewesen, die nachkommen würde. Morgen werden sie einem Fremden die Tür zu ihrem Urlaub öffnen, und auch wenn sie sich noch so oft sagt, das Richtige getan zu haben, kann sie ihre Bedenken einfach nicht zur Seite schieben. Sie hätte Emma gegenüber hart bleiben sollen. Sie hätte Nein sagen sollen.

Inzwischen ist es kalt. Den Himmel über ihr zieren mehr und mehr Sterne. Eine Fledermaus huscht vorbei, da, genau vor ihr, dann ist sie weg. Wenn sie das Haus so von außen betrachtet, erleuchtet, mit den massiven blauen Fensterläden, die sanft im Licht des Mondes zu strahlen scheinen, wünscht sie sich schon jetzt die vergangenen Tage zurück. Schon jetzt hat sie das Gefühl, etwas zu verlieren. Diese Woche – ihre Woche zu zweit – ist nur so verflogen. Sie ist so gut wie vorbei.

Sie parken am Ortsrand von Deià, ganz in der Nähe der Robert Graves School, und laufen dann den sanft ansteigenden Hang hinauf ins Dorf. Auf der Hauptflaniermeile wimmelt es bereits von Menschen, die von Café zu Café bummeln, die Speisekarten studieren oder vor den Schaufenstern von Immobilienbüros stehen bleiben, um sich atemberaubend schöne Villen mit Infinity-Pool anzusehen; Villen, die sie sich nie leisten könnten. Auf den Terrassen der Tapas-Bars werden Kerzen angezündet, überall entlang der gewundenen Straße stehen schwere Holztüren in Steinwänden offen und geben den Blick auf kleine elegante Restaurants mit schwindelerregenden Panoramaaussichten frei. Von ihrem Tisch auf der Terrasse des Jaume werden sie heute Abend direkt auf die Schlucht, an der Villa Ana vorbei bis zum Meer sehen können.

Sie kommen an dem kleinen Lebensmittelladen vorbei, wo sie jeden Morgen frisches Brot kaufen. Bald ist Ladenschluß und dunkelhäutige Männer tragen Kisten mit pelzigen, dicken Pfirsichen von der Straße hinein. Jenn bleibt auf dem Bürgersteig stehen und kramt alles Mögliche aus ihrer alten Lederhandtasche – Schminkpinsel, Lippenstifte ohne Kappe, ungeöffnete Post –, um Platz für ein paar Pfirsiche für das Frühstück am nächsten Morgen zu machen. Greg legt den Arm um sie und streicht ihr mit dem Daumen über die Rippen, damit sie weitergeht.

»Los, schnell«, sagt er.

»Was?«

Zu spät: Der ungepflegt wirkende, rotbäckige Herr an der Eingangstür zur Bar Luna hat sie längst entdeckt. Er grüßt sie und eilt mit der Pfeife im Mund die Stufen hinunter. Greg läuft weiter, aber Jenn sitzt in der Falle.

»Benni. Hallo.«

Die Pfeife fest zwischen die schmalen zuckenden Lippen geklemmt, nickt er langsam, während er sie mit den Augen taxiert, als hätte er Greg und sie auf frischer Tat beim Lügen ertappt. Er sieht aus, als würde er seit dem Mittag schon trinken. Der Wind weht ihm eine fettige graue Haarsträhne ins Gesicht.

»Schon wieder! Ihr geht schon wieder essen?«

Er gluckst, als Zeichen, dass es nur ein Spaß war, aber an der Art, wie er an seiner Pfeife pafft und auf den Fußballen vor und zurück wippt, merkt man ihm an, dass er leicht verstimmt ist.

Jenn ringt sich ein Lächeln ab.

»Benni, das ist unser letzter friedlicher Abend. Morgen kommt Emma.«

Widerwillig bleibt Greg ein paar Meter weiter die Straße runter stehen. Er legt den Kopf in den Nacken und schaut in den Himmel, unfähig oder nicht gewillt, seine Ungeduld zu verbergen, während er darauf wartet, dass Jenn dieser Farce endlich ein Ende bereitet. Benni tritt noch näher an sie heran, die gelben Zähne gebleckt wie ein Esel.

»Ist die Party schon vorbei? So schnell?« Sein säuerlicher Atem weht ihm die Strähne aus dem Gesicht. Unwillkürlich macht sie einen Schritt zurück. Er wackelt mit dem erhobenen Zeigefinger. »Na, dann müsst ihr ab jetzt schön artig sein, hm? Hab ich recht?«

Er zeigt sein breites gelbes Grinsen und taumelt rückwärts auf die Straße, ohne Jenn dabei aus den Augen zu lassen. Sie wittert ihre Chance und geht an ihm vorbei. Benni ruft ihr über die Straße nach:

»Aber warum esst ihr im Restaurant, wenn ihr al fresco auf eurer eigenen Terrasse essen könnt?«

Aber da hat sie ihren Mann schon eingeholt, der stinksauer ist.

»Ich kapier einfach nicht, warum du so nett zu dem Typen bist, Jenn!«

Benni steht jetzt mit ausgebreiteten Armen mitten auf der Straße.

»Wenn ich’s euch doch sage! Maria kommt und kocht für euch. Für den halben Preis. Und unter euren eigenen Sternen.« Endlich erreichen sie das Restaurant. »Dann müsst ihr auch nicht rumlaufen wie die Leute in einem Fitzgerald-Roman!« Er gackert laut und muss husten.

Der letzte Satz zielt eindeutig auf Greg, und Jenn spürt, wie er sich anspannt. Sie verkneift sich ein Grinsen und schiebt ihn schnell ins Jaume.

»Scheißclown«, murmelt Greg, und die gesamte Familie vor ihnen, die auf einen Tisch wartet, dreht sich empört um. Gregs Wangen sind rot vor Wut. Jenn hält sich die Hand vor den Mund und senkt den Kopf. Aber dann muss sie doch losprusten. Sie streckt sich zu ihm hoch und gibt ihm einen Kuss.

»Wollen wir essen?«

Das Restaurant besteht aus zwei Teilen: einem luftigen Innenraum mit gigantischen Pflanzen und großen Terrakottafliesen und einer kleinen, von Ranken gezierten Außenterrasse. Miki, der baskische Oberkellner, kommt mit offenen Armen auf sie zu. Er gibt Jenn ein Küsschen auf beide Wangen und tritt dann erstaunt einen Schritt zurück.

»Meine Freunde! Meine Freunde!« Er hält einen Arm in Bauchhöhe, wobei die Handfläche zum Boden zeigt, und verzieht halb enttäuscht, halb überrascht das Gesicht. »Was ist denn hier los? Kein kleines Mädchen?«

Gregory gluckst.

»Emma? Klein? Warte nur, bis du sie siehst! Kommt morgen – nicht mehr ganz so klein.«

Alle drei lachen, als Miki sie auf die Terrasse zu ihrem Tisch führt. Im Handumdrehen ist der Zwischenfall mit Benni vergessen, nur Jenns Heiterkeit bleibt gedämpft. Wieder wird ihr bewusst, dass dieser Teil des Urlaubs – ihr Teil – in ein paar Stunden vorbei ist.

»Ihr sagen, beste Grüße von Mikel.«

»Vielleicht Emma kommt hier in Restaurant.« Greg schmunzelt. »Kommt nach Deià – mit Freund.«

»Mit Freund? Kleine Emma? Geht nicht! Nein!«

Greg grinst breit.

»Ja, Miki. Emma ist großes Mädchen jetzt.«

»Wie traurig. Aber jetzt gute Zeit kommen, nicht? Sehr heiß nächste Tage.«

Miki zeigt raus aufs Meer, während er für Jenn die Serviette aufschlägt.

»Letztes Jahr ganz verrückt«, sagt Greg lächelnd. »Viele Stürme. Dieses Jahr viel besser.«

Die Kellnerin am Nachbartisch wirft Greg einen verdutzten Blick zu. Jenn lacht. Sie findet den Ausländer-Sprech, den Greg immer benutzt, wenn sie reisen, herrlich; umso mehr, weil ihm das völlig unbewusst passiert. Mikel hat sie nebeneinander platziert, damit sie gemeinsam die Aussicht genießen können, aber bis auf die mächtige schwarze Silhouette des Tramuntana-Gebirges gibt es nur noch wenig zu bestaunen. Massiv und gedrungen ragen die Berge rings ums Dorf auf, wie ein Bollwerk gegen den Rest der Insel.

Miki serviert ihnen zwei Kir Royal und einen kleinen Teller mit Horsd’œuvres: eine Scheibe Carpaccio mit Foie gras und eine kleine Spinat-Anchovis-Tarte. Der Teig ist hauchdünn, tiefbraun und noch ganz heiß. Liebevoll kommentiert er jedes Gericht, das er vor ihnen auf den Tisch stellt, und von Jenn fällt alle Anspannung ab.

»Und das?« Feierlich serviert er zwei Schälchen grellgrüner Bouillon. »Herrlicher Geschmack aus Garten. Wie sagen zu aspárragos?«

»Spargel!«, platzt es aus Gregory heraus.

»Ach ja, genau. Spargel. Kleine Suppe. Sehr feine …«

Er küsst sich die Fingerspitzen, und Jenn möchte am liebsten seine Hand nehmen und sie drücken. Sie ist überwältigt vom Gefühl der Einzigartigkeit dieses Moments; Augenblicke wie dieser sind so selten, sind etwas ganz Besonderes; dafür macht man Urlaub. Sie würde Miki am liebsten umarmen, und er scheint das zu verstehen. Seine Augen sind weit aufgerissen und sein Blick ist ehrlich, als er tief Luft holt und das Tagesangebot vorträgt. Jenn ist hin- und hergerissen zwischen gebratenem Spargel mit Birne und einfachen gegrillten gambas al ajillo als Vorspeise, als Miki ihr ins Ohr flüstert.

»Jennifer, bitte, Hasenleber. Herrliche Geschmack zum Anfang. Muss ich empfehlen. Wirst du lieben.«

Er wendet sich nun an Greg.

»Und für Hauptspeise ich muss euch zwei großartige Menschen zu Bergziege überreden. Fantastisch. Ganz frisch, langsam geröstet und mit herrliche Rosmarin …« Miki zieht das »i« in die Länge – herrliehsch. »Serviert mit eine kleine Geschmacksnote vom Meer, unsere besonders salzige grüne Algen.« Er tritt einen Schritt zurück und verbeugt sich leicht, ganz so, als würde er ein Kammerorchester vorstellen. »Perfekt.«

Jenn möchte Mikis Darbietung am liebsten applaudieren. Eigentlich hatten sie beide heute Abend Fisch essen wollen – Woche zwei hatte die gesunde Woche sein sollen –, aber in diesem Restaurant versteht und pflegt man die Bedeutung von Fett; Fett als Quelle allen Geschmacks. Greg lässt seine Speisekarte auf den Tisch sinken und streckt ergeben die Arme aus.

»Gekauft, Señor. Dann also Hasenleber und Bergziege.« Und bevor Jenn es sich anders überlegen kann, fügt er hinzu: »Zweimal.«

Greg sieht sie strahlend an. Sie bemerkt das zögernde Flackern in Mikis Blick, weshalb sie ihm zuzwinkert. Alles gut. Heute Abend geht das in Ordnung.

Sie überlassen Miki die Auswahl eines Rioja, der wie versprochen vollmundig und würzig ist, und gleich nach dem ersten Schluck lehnt Jenn sich im Stuhl zurück und lässt alle Sorgen und Probleme von sich abfallen. Die Nacht und die Milliarden Sterne am Himmel gehören noch immer ihnen. Ihr. Zum Teufel damit, sich heute zurückzuhalten, denkt sie und nimmt einen kräftigen Schluck. Morgen ist morgen.

Es ist fast zwei Uhr nachts, als sie wieder in der Villa sind. Keiner von beiden will schon ins Bett. Greg trägt Decken und Kerzen hinaus zum Pool, außerdem zwei kalte Flaschen San Miguel. Jenn sitzt am Poolrand und taucht ihren großen Zeh in den Mond auf dem Wasser, der sich dabei kräuselt. Greg sitzt hinter ihr, die kräftigen Knie an ihren Rippen, die Arme locker um ihre Taille gelegt. Vom Strand dringt Gelächter herauf, und Jenn muss an die nackten Hippie-Mädchen denken, schlank und makellos und sich der Aufmerksamkeit, die sie von allen Seiten auf sich ziehen, voll bewusst. Sie dreht sich halb zu Greg um und schmiegt sich mit der Wange an seine Brust.

»Welche hat dir besser gefallen?«

»Beide.«

Sie schlägt ihm aufs Handgelenk.

»Wer hat noch mal gesagt, die Jugend wird an die Jungen verschwendet?«

»George Bernard Shaw.«

»Nein – das war ganz bestimmt Robbie Williams.«

Greg lacht und küsst ihren Nacken. Seine Hand gleitet unter ihr Top. Einen Augenblick hängt die Verheißung von Sex in der Luft, aber Jenn fühlt sich schwer von dem vielen Essen und Trinken und entfernt seine Hand sanft. Es scheint ihn nicht zu hart zu treffen; er streichelt ihr den Nacken, massiert ihr die Kopfhaut. Sie nippen an ihrem Bier und schauen in die Sterne, dann gibt sie ihm einen festen Kuss auf den Mund; einen Kuss, der sagt: »Zeit fürs Bett«.

Sie schläft. Im Halbschlaf hört sie ein Insekt summen. Steht Greg auf? War das eben ein Buch, das an die Wand geknallt wurde? Zumindest surrt die Mücke nicht mehr. Ihr nächster Gedanke: Es ist schon Morgen. Gregs Seite des Betts ist leer. Grelles Sonnenlicht dringt durch die Schlitze der Fensterläden.

Bald sind sie da.

Inhaltsverzeichnis

2

»Hast du uns denn nicht kommen hören?«

Jenn liegt am Pool, das Buch mit geknicktem Rücken auf ihrem Gesicht, die Seiten kleben ihr auf der Haut. Die Stimme – gekränkt und verärgert – lässt sie hochfahren. Sie setzt sich auf. Wie lange hat sie geschlafen? Sie wollte doch gar nicht wegnicken. Das sollte nur eine kurze Oben-ohne-Session werden, um die weißen Streifen der Bikiniträger zu bräunen, solange die Sonne noch erträglich ist. Und selbst als sie das Buch aufgeklappt, es sich übers Gesicht gelegt und die Augen geschlossen hatte, wollte sie nur kurz dösen und ihren Gedanken nachhängen, ihr Bewusstsein etwas zur Ruhe kommen lassen, aber definitiv nicht einschlafen. Das Kratzen des kaputten Tors über den Kies hatte sie noch wahrgenommen, auch noch, wie Berta, das Dienstmädchen, ihr von der Treppe aus Hola zugerufen hatte. Sie hatte noch den Arm gehoben und zum Gruß leicht mit den mittleren Fingern gewackelt; sie hatte sich gesagt, nur noch eine Minute, dann stehe ich auf und mache uns beiden ein Glas Limonade. Aber stattdessen hatte sie sich eine Weile dem Brummen der Autos hingegeben, die sich zum Strand schlängelten, und sich vorgestellt, was all die Insassen von diesem Tag erwarteten. Aber dieses letzte Auto, nämlich ihres, das auf den langen unbefestigten Zufahrtsweg eingebogen war und sich knirschend auf die Villa Ana zubewegt hatte? Das hatte sie überhaupt nicht mitbekommen.