Schluss, Aus, Vorbei! - Rita Brockmann-Wiese - E-Book

Schluss, Aus, Vorbei! E-Book

Rita Brockmann-Wiese

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Beschreibung

Welche seltsamen Wege können Beziehungen gehen? Die Statistik ist eindeutig: In den letzten 20 Jahren wurde von zwei geschlossenen Ehen eine wieder geschieden. Aber was machen die Menschen mit ihrer einstigen Liebe? Welche bizarren Blüten treibt oft jahrelang aufgestauter Hass bis in juristische Auseinandersetzungen hinein? Davon weiß die bekannte Hamburger Scheidungsanwältin Rita Brockmann-Wiese zu berichten. Die erzählten Fälle sind – so bizarr sie anmuten mögen – häufige Realität in deutschen Familien. Dieses Buch handelt von erbitterten Rosenkriegen und oft von Leid in menschlich-allzumenschlichen Geschichten, die allgemeinverständlich juristisch kommentiert werden. Sie gehen auf wahre Begebenheiten zurück, wurden aber verfremdet, um die betroffenen Menschen zu schützen. Ob häusliche Gewalt oder Psychoterror mit Suizid-Drohungen, ob ungleiche Paare im Geflecht hemmungsloser Familieninteressen: Rita Brockmann-Wiese gelingen Schilderungen, die – mal tragisch, mal auch komisch – das Leben in scheiternden Partnerschaften und ihre gesellschaftlichen Umstände zeigen, wie sie tagtäglich vor deutschen Familiengerichten verhandelt werden.

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Seitenzahl: 250

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8012-7038-4 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8012-7038-4 (E-Book)

1. Auflage 2021

Copyright © 2021 by

Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH

Dreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn

Umschlag: Ute Lübbeke | Designbüro Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Satz: Rohtext, Bonn

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2021

Alle Rechte vorbehalten

Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de

Rita Brockmann-Wiese mit Gerhard Spörl

Schluss. Aus. Vorbei!

Wenn nur die Scheidung hilft

Erlebnisse einer Familienanwältin

Inhalt

Cover

Impressum

Titel

Vorwort

Kapitel 1Liebe im Dreieck

Kapitel 2Mein Kind, die Prinzessin

Kapitel 3Dann geh’ ich in den Rhein

Kapitel 4Höllenspiel

Kapitel 5Papa aua

Kapitel 6Zwei Herrchen für Gina

Kapitel 7Du bist schuld, immer

Kapitel 8Was soll’s

Kapitel 9Herr und Hund

Kapitel 10Mein Herzenskind, ich töte dich

Kapitel 11Die Milchmutter

Kapitel 12Dumm gelaufen

Kapitel 13Zweiter Versuch

Kapitel 14Ich will es aber anders

Kapitel 15Du bist nicht meine Mutter, du bist tot

Kapitel 16Der Vater, der eine Frau sein wollte

Kapitel 17Felix muss fliegen

Kapitel 18Schönes Doppelleben

Kapitel 19Schön sein will ich, nur für dich

Kapitel 20Wir sind modern

Über Autorin und Autor

Vorwort

Als ich Rechtsreferendarin war, fragte ich meinen Ausbilder, worauf ich achten sollte, wenn ich Anwältin für Familienrecht werden wollte. Er sagte, ich sei meinen Mandanten nicht von Nutzen, wenn ich mit ihnen über das Elend ihres Lebens weine. Na ja, antwortete ich, ganz ohne Empathie kommen wir ja wohl auch nicht aus. Schon richtig, meinte er, aber nur in Maßen, und unser Urteilsvermögen sollte darunter nicht leiden.

Dann fragte ich ihn, wie er sich denn gegen den Zynismus schütze, der ab und zu ja wohl in jedem aufsteige, der mit Juristerei befasst sei. Da gab er mir einen guten Rat: Bewahren Sie sich Ihr Interesse an den Menschen, denn es gibt in unserem Beruf nichts Menschliches, was es nicht gibt. Und womit Sie konfrontiert sind, das wird Sie prägen, ob Sie es wollen oder nicht.

Vierzig Jahre lang habe ich mich dem Familienrecht gewidmet. Dabei war ich nie nur Anwältin. Ich musste fast immer mehrere Rollen einnehmen, die weniger meine Wahl waren, sondern mit den jeweiligen Mandanten zusammenhingen und mir von ihnen zugeteilt wurden. Ich war Zuhörerin, wenn sie das Drama ihrer Ehe ausbreiteten. Ich war Seelsorgerin, wenn sie mir ihr Herz ausschütteten und so oft mehr preisgaben, als ihnen lieb war. Ich war Lotsin im Dickicht des Rechts, indem ich meine Mandanten über Höhe und Dauer des nachehelichen Unterhalts oder über das Sorgerecht für die Kinder informierte. Schließlich war ich Ratgeberin für das Leben nach der Scheidung, das meinen Mandanten oft genug wie ein Riesengebirge erschien, gefährlich und unbezwingbar – eine neue Wohnung und eine neue Umgebung, Rückkehr in den lange nicht ausgeübten Beruf mit neuen Kollegen, dazu die neue Situation, in der sie die Kinder womöglich nur an jedem zweiten Wochenende sehen würden.

Zu mir kamen Menschen, die um Fassung rangen und innerlich aufgewühlt waren. Sie waren irritiert, verzweifelt und konnten nicht fassen, was ihnen widerfuhr. Andere wiederum blieben kühl bis ans Herz, wollten genau wissen, womit sie rechnen mussten und worauf sie hoffen durften. Einige dürsteten nach Rache, andere brauchten Trost, wieder andere hofften auf die Einsicht ihres Partners oder gar auf Rückkehr in das zwangsverlassene Leben. Einige wenige schüttelten das Leid schnell ab und erfreuten sich der gewonnenen Freiheit.

Anwältinnen wie mir geht die Arbeit nie aus. Trennungen kommen immer wieder vor, und deshalb werden wir immer wieder gebraucht. Scheidungen sind schon lange nicht mehr geächtet, sie sind eine gesellschaftliche Normalität, nicht nur in größeren Städten, aber dort besonders.

Im Jahr 2019 wurden in Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 416.340 Ehen geschlossen. Zugleich wurden rund 149.000 Ehen geschieden. Daraus ergibt sich eine Scheidungsquote von 35,79 Prozent. Auf eine Eheschließung kamen rechnerisch also 0,36 Ehescheidungen. Die durchschnittliche Dauer einer Ehe beträgt in Deutschland fünfzehn Jahre, die meisten Ehen werden jedoch schon nach sechs Jahren geschieden.

Ostern und Weihnachten gelten als die Feste, an denen Ehepaare besonders oft beschließen, sich zu trennen. Warum? Weil sie sich in diesen Tagen nicht aus dem Weg gehen können. Weil sie Bilanz ziehen. Weil lange schwelende Konflikte aufbrechen. Nach aller Erfahrung dürfte auch die Zeit der Pandemie zu erhöhten Scheidungszahlen führen. Übrigens sind es in der Mehrzahl der Fälle die Frauen, die sich zu Konsequenzen aufraffen.

Wer sich trennen möchte, wer eine Ehe auflösen will, sucht sich gemeinhin einen Anwalt und sei es auch nur, um sich über Rechte und Pflichten zu informieren.

Das Recht unterliegt einem dynamischen Prozess, denn es spiegelt immer auch die jeweilige gesellschaftliche Wirklichkeit wider. Deshalb muss das Recht regelmäßig an die veränderte Moral und die neuen Lebensformen ihrer Bürger angepasst werden. Dafür sorgt der Gesetzgeber, das ist das Parlament.

Als ich 1978 in den Beruf einstieg, war gerade im Jahr zuvor das Schuldprinzip bei Scheidungen abgeschafft worden. Bis dahin hatte das Gericht festgestellt, wem von den Ehepartnern die Verantwortung für das Scheitern zufiel. Wer fremdgegangen war, wer Verfehlungen begangen hatte, wurde moralisch und praktisch schuldig gesprochen. Das Urteil hatte Konsequenzen für alle nachfolgenden Regelungen, vom Sorgerecht bis zum nachehelichen Unterhaltsanspruch.

Heute gilt das Zerrüttungsprinzip: Eine Ehe ist gescheitert, wenn sie zerrüttet ist – wenn ein Ehepartner nicht mehr mit dem anderen Partner leben will. Dann müssen er und sie ein Trennungsjahr durchhalten, in dem es »keine ehelichen Gemeinsamkeiten« mehr geben darf, wie Juristen sagen. Wenn sie zum Beispiel noch in der gemeinsamen Wohnung leben, heißt das, sie sollten nicht mehr im selben Bett schlafen, die Wäsche getrennt waschen und im Kühlschrank die Lebensmittel trennen. Gemeinsamkeiten dürfen sich nur noch auf die Kinder beziehen.

Eine Ausnahme von der Ein-Jahres-Trennungsregel gibt es für häusliche Gewalt. Dann kann das Opfer den Scheidungsantrag vorzeitig stellen. In diesem Fall kann das Familiengericht anordnen, dass derjenige, der Gewalt ausübte, aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen muss und sich dem Opfer und der Wohnung nicht mehr nähern darf. Wird diese Auflage missachtet, drohen eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr.

Die Abkehr vom Schuldprinzip bedeutete eine große Zäsur. Seither hat sich noch vieles andere geändert. Das Unterhaltsrecht wurde grundlegend reformiert, ebenso das Sorgerecht für Eltern, die nicht miteinander verheiratet sind. Neu ist auch die zunächst sehr umstrittene Einführung des Rechts auf Ehe für homosexuelle Paare, einschließlich der damit verbundenen erbrechtlichen, steuer- und sozialrechtlichen Folgen.

Reformen sollen für mehr Gerechtigkeit sorgen, lesen wir dann immer. Aber Gerechtigkeit ist ein großes Wort, das in der Moralphilosophie oder der Ethik besser aufgehoben ist als in unserem Leben. Jeder von Trennung betroffene Mensch fühlt sich im ersten Schock im Recht und setzt dieses Gefühl mit Gerechtigkeit gleich, die er durchgesetzt haben will. Aber auch der Partner oder die Partnerin fühlt sich im Recht und pocht auf seine oder ihre Gerechtigkeit.

Vor Gericht bekommen Sie keine Gerechtigkeit, sondern nur Regelungen, sagte einer meiner Lieblingsrichter in einem Verfahren. So ist es. Das wissen alle an einem Gerichtsverfahren Beteiligten. Den Mandanten müssen Anwälte oft erst erklären, dass es um pragmatische Lösungen geht, nicht um Gerechtigkeit. Um Technik, nicht um Moral. Um Zerrüttung, nicht um Schuld.

Wenn eine Liebe gescheitert ist und eine Ehe geschieden wird und darüber befunden werden muss, wo die Kinder künftig leben werden, bei Vater oder Mutter, im Wechselmodell oder im Nestmodell, dann sind viele Professionen damit befasst, angemessene Vereinbarungen zu treffen. Dazu gehören Anwälte und Richter in erster Instanz, manchmal auch das Oberlandesgericht in zweiter Instanz, dazu Mitarbeiter des Jugendamtes, psychologische Sachverständige und Verfahrensbeistände, die den Kindern vor Gericht zur Unterstützung beigegeben werden. Die Aufgabe aller Beteiligten liegt darin, einer auseinandergehenden Familie eine tragfähige und plausible Grundlage für das zukünftige Leben zu geben.

In unserem Metier befassen wir uns damit, was die Menschen mit der Liebe machen und was die Liebe mit den Menschen macht. Am Anfang einer Beziehung werden zwei Menschen von der Liebe wie auf Flügeln dahingetragen. Am Ende überwältigen sie die Gefühle wieder und können sie zerstören. Liebe schlägt dann nur zu oft in Hass um.

Wer zu uns kommt, befindet sich in einer Grenzsituation. Ein Lebensentwurf ist gescheitert. Ein Projekt hat sich erledigt. Ihm oder ihr kommt ein Mensch abhanden, mit dem er oder sie das ganze Leben teilen wollte. Jetzt muss er oder sie sich neu orientieren, neu justieren. Nicht mehr im wir wird nun gedacht, sondern im ich.

Wenn die Liebe erlischt, bricht sich oft Enttäuschung Bahn, im Wunsch nach Verletzung. Das muss nicht, kann aber lange anhalten. Hat das Paar Kinder, sind die Voraussetzungen zur Einsicht entweder besonders gut oder besonders schlecht. Besonders gut, weil Eltern ihren Kindern im Normalfall nicht noch mehr weh tun wollen, denn die Trennung ist schon schwer genug für sie. Daraus kann ein Friedensschluss mit der oder dem Ex entstehen. Besonders schlecht ist es, wenn Eltern ihre Kinder als Geiseln in ihrem Krieg gegeneinander missbrauchen und dabei vergessen oder gering schätzen, welches Leid und welchen Schmerz sie ihnen zufügen.

In diesem Buch werden Lebensgeschichten erzählt, die in Trennungen und Scheidungen münden. Dabei handelt es sich um Fälle, die uns Familienrechtlerinnen und Familienrechtlern öfters begegnen und die ich aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes fiktionalisiert und stark verfremdet habe. Die Geschichten machen deutlich, dass uns wirklich nichts Menschliches fremd bleibt. Wir wissen nur zu gut, dass es nichts gibt, was es nicht gibt.

Vermutlich kennen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, ähnliche Geschichten aus Ihrer Familie oder von Bekannten. Ja, genau darum geht es in diesem Buch: um das Leben, das sich um uns und manchmal auch in uns abspielt, das uns zugleich befremdet und fasziniert, über das wir miteinander reden, und zugleich hebt die Hoffnung ihren Finger, auf dass uns dieses Schicksal erspart bleiben möge, damit wir nicht um das Sorgerecht für unsere Kinder und um Geld streiten, nicht um den Hund, den Kühlschrank oder das Auto oder das Schließfach in der Schweiz.

Dieses Buch ist eine Gemeinschaftsarbeit von Gerhard Spörl und mir. Ein Journalist und eine Juristin stellen eine gelungene Kombination dar, haben wir festgestellt. Jeder von uns hat in seinem Beruf mit Menschen zu tun, die zu verstehen er sich bemüht. Beide wollen wir wissen, was sie antreibt und warum sie so handeln, wie sie handeln. Unsere Erfahrungen ähneln sich in der Substanz, denn sie drehen sich um Lebensentwürfe und Lebensveränderungen, um Anfang und Ende.

Unsere Haltung den menschlichen Verwicklungen gegenüber ist ähnlich, sonst wäre die Gemeinschaftsarbeit nicht möglich gewesen. In allen Lebensdingen ist Einsicht besser als Kompromisslosigkeit, Ausgleich besser als aufs Ganze zu gehen.

Kapitel 1

Liebe im Dreieck

Es waren einmal zwei Brüder, die ihre Eltern Jürgen und Jan getauft hatten. Sie waren knapp zwei Jahre auseinander, blond und groß gewachsen, spielten Tennis im richtigen Klub, sie waren verwöhnt und anspruchsvoll. In der Schule schlugen sie sich gerade so durch, es kam ja nicht darauf an, weder auf die Noten noch auf ein gutes Abitur noch auf ein Studium. Sie sorgten sich nicht um ihre Zukunft, sie waren wie die Vögel des Himmels: Sie säten nicht, sie ernteten nicht, sie sammelten nicht in Scheunen. Da waren ja immer Mama und Papa, die zu großer Form aufliefen, wenn ihre Sprösslinge in Schwierigkeiten steckten oder Mist gebaut hatten und deshalb Konsequenzen drohten. Die Eltern bügelten aus, was Jürgen und Jan verzapft hatten.

Für die Zukunft war vorgesorgt. Irgendwann würden Jan und Jürgen in das Familienunternehmen einsteigen und es führen, so war es ausgemacht, so würde es kommen. Wie auch sonst? Von klein auf wussten die Buben, dass sie für Großes bestimmt waren. Nicht gleich ganz oben würden sie einsteigen, nein, sie sollten von der Pike auf lernen, worum es in diesem großen Mischkonzern ging, den das elterliche Unternehmen bildete. Der Großvater hatte es gegründet, da war es noch eine kleine, oft an der Pleite entlangschrammende Klitsche. Der Vater dehnte es aus in andere Länder, sogar auf andere Kontinente. Die nächste Stufe sollten die Söhne zünden.

Jürgen, der ältere Sohn, leitete nun eine Firma in Buenos Aires. Jürgen sollte im Ausland Erfahrungen sammeln, Sprachen lernen und eine gewisse Weltläufigkeit entwickeln. Da er ungebunden war, konnte er sich dort gerne die Hörner abstoßen, das machte man ja so, das war schon in Ordnung. Frauen mochten seine weichen Züge, das lange blonde Haar, die erlesenen Sakkos mit Einstecktuch. Er sollte dort in Buenos Aires nur keine südländische Schönheit schwängern oder gar heiraten. Als Schwiegertochter wünschten sich seine Eltern eine Deutsche, die an der Seite ihres Sohnes bestehen würde, wie es ihre Mutter, eine ebenso elegante wie beinharte Frau, vorgemacht hatte.

Auf seiner Etappe in Argentinien landete Jürgen schneller, als es sein Vater eigentlich vorgesehen hatte. In Deutschland war nämlich das Finanzamt hinter ihm her und auch der Staatsanwalt. Mit Geschäftspartnern hatte Jürgen innerhalb der Europäischen Union Waren hin- und hergeschoben, um die Umsatzsteuer zu sparen. Sie waren keineswegs die Einzigen, aber sie ließen sich bei diesem Umsatzsteuer-Karussell erwischen. Der Vater handelte schnell und schickte den bedrohten Sohn auf Reisen. Sicherheitshalber bestieg Jürgen nicht etwa ein Flugzeug, sondern heuerte auf einem Containerschiff Richtung Buenos Aires an.

Für junge Menschen ist Buenos Aires eine herrliche Stadt. Bunt, wild, lebenslustig. Anarchisch. Unberechenbar. Die Nacht als Tag. Herrliche Architektur. Lässige Lebensart. Schlecht regiert, das schon, Wirtschaftskrisen sind dort ein Dauerzustand. Trotzdem gingen Jürgens Geschäfte fast gleichbleibend gut. Er importierte allerlei, von Maschinen für die Landwirtschaft über gehobene Möbel für die Mittelschicht bis hin zu optischen Geräten für Labore. Einheimische schmissen die Firma, so wollte es der Patriarch. Jürgen war der Sohn vom Chef, der ihnen auf die Finger schauen sollte. Kein schweißtreibender Job.

Mit der flirrenden, wirbelnden Stadt wurde Jürgen nicht warm. Er war ein deutscher Gewohnheitsmensch, der ungern weg von zu Hause war. Er vermisste seine Düsseldorfer Freunde, die alte Clique, mit der er um die Häuser zog, die blonden Schönheiten, die keine Umstände machten, die Ferien auf Mallorca und das Skifahren in Gstaad. Buenos Aires war für ihn Exil.

Doch die Rückkehr nach Deutschland blieb ihm bis auf Weiteres verwehrt. Steuerbetrug in Millionen-Höhe, wie er ihn begangen hatte, verjährt frühestens nach fünf, spätestens nach zehn Jahren. So lange musste er in der Fremde ausharren. Darüber jammerte er am Telefon seinen Düsseldorfer Freunden vor. Er beklagte sein Schicksal und sie machten keine Witzchen mehr, als sie merkten, dass er darüber gar nicht lachen konnte. Alles nur wegen eines Steuertricks, den nicht er erfunden hatte, sondern die Bank. War das gerecht?

Was Jürgen nicht vermisste, war Lina, seine Ex-Freundin. Mit ihr war er einige Monate zusammen gewesen, sie war nach landläufiger Meinung hübsch und handzahm. Als der Spaß nachließ, als sie anfing, Ansprüche zu erheben, verließ er sie. So hielt er es eigentlich immer. Von den Schönen der Nacht gab es so viele – warum sich da auf eine festlegen?

Zwischen Jürgen und Lina war es schon seit Wochen aus, da wollte sie ihn unbedingt sprechen. Sie war aufgeregt, sagte, sie müsse ihn sehen, möglichst schnell, es sei wichtig.

Er zögerte, was wollte sie? Was sollte schon so wichtig sein? Dreimal rief sie an, bis er schließlich nachgab.

Sie trafen sich in einem angesagten Café auf der Kö. Ohne Umschweife eröffnete ihm Lina, dass sie schwanger sei und er der Vater des Kindes. Er schaute sie verdattert an und fragte, ob er wirklich der Vater sei, und als sie ihn nur beleidigt anschaute, fragte er, was sie denn »damit« machen wollte. Er dachte, sie treibt es ab, was soll sie mit einem Kind. »Nein«, sagte sie, »spinnst du, ich treibe doch nicht ab.«

In Buenos Aires vergaß Jürgen das Problem fast völlig, im Verdrängen war er gut. Zu seiner Verblüffung stellte die Mutter seines ungeborenen Sohnes nicht einmal Ansprüche auf Unterhalt; sie verbannte ihn genauso aus ihrem Leben wie er sie. Dabei war sie weder großzügig noch so wohlhabend, dass sie ihn nicht zur Kasse bitten musste. Nein, es war einfach so, dass sie nicht lange solo blieb, das wusste Jürgen von seinen Düsseldorfer Spionen. Rasch hatte sie einen Nachfolger für ihn gefunden, einen neuen Liebhaber, der auch Geld für sie hatte.

»Und wisst ihr«, fragte Jürgen seine Freunde am Telefon, »wer ihr neuer Lover ist? Das erratet ihr nie! Es ist mein kleiner Bruder Jan. Ist das nicht komisch?«

Auch Jan, der kleine Bruder, steckte periodisch in Schwierigkeiten. Vor zwei Jahren war er mit einem ambitionierten Designergeschäft auf der Kö gescheitert. Seine Eltern mussten ihm aushelfen, sonst wäre er in die Insolvenz gerutscht. Sie halfen gerne, er war schließlich ihr Kind, aber sie redeten ihm auch ins Gewissen. Ja, ja, erwiderte er, ihr habt ja recht, doch jetzt ist es auch genug mit Vorwürfen und Ratschlägen.

Jan wollte hoch hinaus, beweisen, wie rasend gut er in Wirklichkeit war, er brauchte nur ein kleines bisschen Glück und das braucht schließlich jeder. Ihm würde etwas einfallen, ein bestechendes Projekt, eine zündende Idee. In der Zwischenzeit arbeitete er sich unter seinem Vater in die Geschäftsführung des Familienkonzerns ein.

Jetzt lebte also Jan mit Lina zusammen, die zuvor Jürgens Freundin gewesen war. Lina war schön, Typ üppige Kindsfrau, ungern auf sich allein gestellt. Immer hatte sich jemand gefunden, der sie liebte und umsorgte. Über das Verhältnis mit Jürgen redete man nicht in der Familie, und für Lina war es sowieso egal, dass sie zuerst mit dem einen Bruder zusammen gewesen war und jetzt mit dem anderen.

Jürgen war weg. Jan war da. Jan liebte Lina und meinte es ernst mit ihr. Er wollte sich binden und er wollte sie an sich binden. Ans Heiraten dachte er noch nicht, schloss es aber auch nicht aus. Stattdessen fiel ihm ein, dass er ja die Vaterschaft für den Jungen übernehmen könnte, obwohl der Jürgens leibliches Kind war. Jan wollte der rechtlich anerkannte Vater sein. Jan wollte Jürgen vergessen machen. So geschah es. Jan erkannte vor dem Jugendamt die Vaterschaft an. Er und Lina gaben eine sogenannte Sorgeerklärung ab, wonach sie künftig gemeinsam die elterliche Sorge für das Kind, das Jonas hieß, tragen würden.

Jan hing auch an Jonas, den er als seinen Sohn betrachtete, als wäre er der leibliche Vater. Eine kleine glückliche deutsche Familie.

Jan und Lina heirateten nicht. Wichtig war ihnen, dass sie zusammen waren und sich verbunden fühlten. Sie waren nicht so konservativ wie die Eltern-Generation, sie waren moderne Menschen. Wenige ihrer Freunde waren verheiratet, warum auch. So lebten sie miteinander, Jan und Lina und Jonas.

Jürgen blieb, wo er bleiben musste. Er mischte sich nicht ein, er war weit weg und am Düsseldorfer Dreierbund völlig desinteressiert. Er freute sich königlich, dass er noch nicht einmal Kindesunterhalt bezahlen musste. Fast wäre er Jan dankbar gewesen, dass er für ihn einsprang, aber im Grunde fand er ihn bescheuert. Der Kontakt zwischen den Brüdern war auf dem Nullpunkt angekommen.

Fünf Jahre vergingen. In dieser Zeit veränderte sich das Verhältnis zwischen Jan und Lina. Gleichgültigkeit schlich sich ein. Ungeduld über diese kleinen Eigenheiten, die vorher als charmant durchgegangen waren, die Art zu niesen oder die Lautstärke beim Telefonieren. Diese lauernde Bereitschaft, genervt zu sein, das Heben der Stimme, wenn eine Tasse zerbrach,

Sie gaben sich weniger Mühe miteinander. Das Schweigen nahm zu, die Freude am anderen ab. Darüber zu reden, war Jan und Lina nicht gegeben. Wenn sie sich stritten, und das passierte jetzt oft, schrien sie sich schnell an. Jan war jähzornig. Er rastete schon mal aus, vor allem wenn er zwei Gin Tonic zu viel getrunken hatte. Zu einem Eklat kam es, als sich Jan maßlos über Linas Flirt mit einem anderen Mann an der Bar ärgerte und sie deshalb wüst beschimpfte.

Lina war, wie sie war. Ihr Körper war ihr Kapital. Sie flirtete gerne, sie nannte das »meinen sexuellen Marktwert testen«. Mehr als Spielen wollte sie gar nicht. Sie war treu, solange ein Mann sie passabel behandelte und beschenkte. Auch diesmal war nichts passiert, ein bisschen in die Augen sehen, leichte Berührungen, anlächeln, das kleine Programm für das weibliche Selbstbewusstsein für Frauen vom Typ Lina.

Jan aber sah, wie die Männer Lina anstarrten, wie die Blicke lüstern von oben nach unten und von unten nach oben wanderten, von der vollen Brust hinab zu den langen Beinen unter dem kurzen Rock. Jan hatte sie selber so angesehen, als sein großer Bruder Jürgen mit ihr aufgekreuzt war, natürlich nur heimlich, aber nicht weniger gierig als jetzt der Mann an der Bar.

Lina, das Sexpaket. Er mochte ihre Flirtereien nicht. Er gab es ihr zu verstehen, und sie hörte damit jetzt erst recht nicht auf, weil sie sah, wie eifersüchtig er war. Er trank dann mehr, als ihm bekam. Warum brachte sie ihn auch soweit? Warum ließ sie das Flirten an der Bar nicht endlich sein, wo sie doch wusste, wie sehr er das hasste?

Angetrunken tobte er zu Hause herum, gefiel sich in der Pose des Beleidigten, steigerte sich genüsslich hinein in die hochwillkommene Wut, und als er das halb volle Tablett mit Gläsern und Tellern auf dem Couchtisch sah, fegte er es mit der Hand herunter. Lina schaute die auf dem Teppich verteilten Essensreste und Glasscherben an, die ganze Bescherung, schaute Jan an und schrie: »Sag mal, spinnst du, dich so aufzuführen? Warum machst du aus nichts so ein Drama? Wenn deine Mama wüsste, wie eifersüchtig ihr Söhnchen ist …« Weiter kam sie nicht.

Wer sich lange kennt, kennt jede wunde Stelle. Man muss sie nur leicht anbohren und schon ist die gewünschte Reaktion nahe, sofort spuckt der Krater wieder Feuer. Die Abhängigkeit von seiner Mama war eine wunde Stelle. Diesmal kam es, wie es immer kam, nur schlimmer. Jan versetzte Lina einen Stoß, sodass sie rückwärts über einen Sessel stolperte und im Fallen mit dem Kopf gegen den Couchtisch schlug. Benommen lag sie in den Scherben, blutete an Händen und Knie, hielt sich den Kopf und weinte bitterlich. Im Schluchzen sagte sie: »Geh weg! Ich will dich nicht mehr sehen.«

Jan erschrak, als sie stürzte. Froh war er, dass nicht mehr passiert war. Mit hängenden Schultern stand er über ihr und wusste nicht, was er sagen sollte. Er fühlte sich schlecht, es war ihm peinlich, aber sie hätte ihn ja nicht bis aufs Blut reizen müssen. Ja, schon wahr, wenn er sie weniger geschubst hätte, wäre sie nicht hingefallen, dann hätte sie ihm verziehen und sie hätten später miteinander geschlafen, wie sonst immer. Auch war ihm schon klar, dass er sich entschuldigen sollte, aber das brachte er nicht über sich, obwohl er wusste, dass sie ihm wahrscheinlich schnell wieder verzeihen würde, wie sie es immer getan hatte, sie war ja nicht nachtragend. Aber der Trotz war stärker als das schlechte Gewissen.

Wie in Zeitlupe nahm er alles wahr, den rechten Stiletto, der im Rückwärtsstolpern wegknickte, der Rock, der im Fallen hochrutschte. Was ihn sonst sexuell erregte, sah er jetzt mit Befremden. Dann das klägliche Weinen, wie von einem kleinen Mädchen, ganz merkwürdig klang es in seinen Ohren. Ihr Unglück rührte ihn von ferne, als schaute er einen mäßig interessanten Film. Sie war weit weg, viel zu weit. Sie erreichte ihn nicht wie sonst mit ihrem Jammer.

Aber war sie nicht selber schuld, weil sie ihn wegschickte? Sie würde schon sehen, wo sie blieb.

Und Jonas? Schade um ihn, er mochte den Jungen. Egal. Er würde schon klarkommen, er hatte ja eine Mutter. Jan musste hier weg. Er nahm die Zigaretten vom Tisch und die Autoschlüssel aus der Schale und ging. Leer fühlte er sich, hohl.

Lina war Sachbearbeiterin in der Finanzbehörde und verdiente 1.900 Euro netto im Monat. Es reichte knapp für sie und Jonas. Nach dem Gesetz musste Jan als rechtlicher Vater Unterhalt für das Kind bezahlen. Es steht uns zu, sagte sich Lina. Jan wollte es so, und nun hatte er es.

Jans Eltern übernahmen die Kontrolle, wie gewohnt. Sie mischten sich gerne ein. Sie waren die Hüter ihrer Söhne, im Guten sowieso, aber mehr noch im Schlechten. Sie organisierten die Trennung und regelten den Unterhalt für Mutter und Sohn, der sozusagen ihr doppelter Enkel war, als Jürgens leiblicher und Jans rechtlicher Sohn.

Lina und Jonas durften in der großen Wohnung bleiben, die Jan gehörte. Zusätzlich bekam Lina 1.000 Euro Unterhalt pro Monat für das Kind, mehr als Jan nach der »Düsseldorfer Tabelle« zahlen musste. Das Ganze gossen die Eltern in einen Vertrag, der von Jan und Lina vor einem Notar unterschrieben wurde. Die Eltern bürgten für Jan.

In den Augen der Eltern war es ein Glück, dass ihr Sohn diese Frau nicht auch noch geheiratet hatte, sonst hätte sie jetzt Anspruch auf einen Teil des Vermögens gehabt. Sie mochten Lina nicht, hatten sie nie gemocht. In ihren Augen war sie ein berechnendes Flittchen, das sich zuerst ihren älteren und dann ihren jüngeren Sohn gekrallt hatte. Auch an ihrem Enkel hatten sie wenig Freude, weil er nun einmal der Sohn dieser berechnenden Frau war.

Dann starb der Patriarch der Familie. Nun war seine Witwe, die immer die Familie zusammengehalten hatte, auch offiziell die entscheidende Instanz im Unternehmen. Wäre es mit rechten Dingen zugegangen, hätten Jürgen und Jan im nächsten Zug die Führung des Unternehmens übernommen. Sie waren um die Dreißig, im richtigen Alter, und besaßen einige Geschäftserfahrung. Aber keiner von beiden traute sich jetzt schon die Nachfolge zu. Sie überließen der Mutter das Regiment, was nicht ausschloss, dass sie sich hinter ihrem Rücken über sie lustig machten, so viel waren sie sich schuldig.

Zwei Jahre vergingen. Jürgen würde erst heimkehren, wenn seine Steuerstraftat verjährt war und ihm kein Strafverfahren mehr drohte. Jan arbeitete seiner Mutter zu, er war so etwas wie ihr Bürochef. Für Linas Lebensunterhalt sorgte das elterliche Arrangement.

Dann bekam Lina einen Brief von der Witwe, in dem zu lesen stand, dass sie, die Patriarchin, leider nicht länger imstande sei, den Unterhalt für das Kind aufzubringen. Sie leide an einer chronischen Krankheit, zudem liefen die Geschäfte in letzter Zeit schlecht, sodass sie den monatlichen Unterhalt von 1.000 Euro nicht mehr erübrigen könne.

Das waren epische Erklärungen für einen einfachen Tatbestand: Die Witwe wollte kein Geld mehr für die frühere Gespielin ihres Sohnes ausgeben, Enkel hin oder her. Dafür gab es einen Grund, den sie in ihrem Schreiben allerdings unerwähnt ließ, der aber jederzeit angeführt werden konnte, wenn es zu einer Gerichtsverhandlung kommen sollte. Die lebenserfahrene Lina hatte schon wieder einen neuen Freund, und die Frau Mama befand, der sollte jetzt gefälligst für Mutter und Sohn aufkommen.

Naturgemäß sah Lina den Fall anders. Der vertraglich vereinbarte Unterhalt war eine sichere Bank, ein Besitzstand, auf den sie keineswegs verzichten wollte. Ihr lag daran, die Regelung aus ihrem Verhältnis mit Jan aufrecht zu erhalten, weil sie ihr Unabhängigkeit bescherte. Von dem neuen Mann an ihrer Seite konnte sie ja nicht wissen, wie lange er bei ihr bleiben würde. Ihre bisherigen Erfahrungen waren wenig ermutigend gewesen. Sie suchte sich eine Anwältin und ließ sich einen Termin geben.

Für mich sah der Fall nach Routine aus. Ein wasserdichter Vertrag, aus dem die Witwe schwerlich aussteigen konnte. Eine begüterte Familie, für die 1.000 Euro Peanuts waren. Und eine junge Frau, die vor mir saß und ganz genau wusste, was sie wollte. Beste Voraussetzungen. Ich schrieb einen Brief an die Witwe und lehnte das Ansinnen unter Hinweis auf die Vereinbarung ab. Worauf ich nicht gefasst war, begann nun: einer der seltsamsten Rechtsstreite, die mir je unterkommen sollten.

Die Witwe reagierte nicht auf mein Schreiben. Stattdessen bekam Lina einen Brief vom Familiengericht, in dem stand, dass Jürgen, der leibliche Vater in Buenos Aires, den Antrag stelle, das Gericht möge feststellen, dass er der Vater von Jonas sei und nicht sein Bruder Jan. Der Antrag war unterschrieben von Jan, der seinerseits eine Vollmacht von Jürgen vorlegte, ausgestellt auf ihn, Jan.

Lina war fassungslos und fragte mich, was das sollte. Ich beruhigte sie und erklärte ihr, dass die Familie mit diesem Manöver versuche, die Unterhaltsansprüche von Jonas gegen Jan auszuhebeln.

Lina erzählte mir nun die ganze verwickelte Geschichte ihrer Beziehungen zu Jürgen und Jan: Wie sie zuerst mit Jürgen liiert gewesen und dann schwanger geworden sei. Wie kurz darauf Jan in ihr Leben trat. Dass Jan nach der Geburt unbedingt auch rechtlich die Vaterschaft für das Kind übernehmen wollte, sodass er, der nicht leibliche Vater, doch zum sozialen Vater wurde.

Sie sagte, jeder in der Familie habe gewusst, dass Jürgen der leibliche Vater von Jonas sei. Niemand habe Jan je dazu gezwungen, die Vaterschaft zu übernehmen, sie ganz bestimmt nicht. Es sei allein sein fester Wille und seine freiwillige Entscheidung gewesen. Natürlich habe er ihr damit imponiert, denn beide wollten gerne eine richtige Familie haben.

Die Rechtslage sah nun so aus: Nach Paragraf 1600 b, Absatz 1, Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches gibt es Fristen dafür, eine Vaterschaft zu bestimmen oder zu bestreiten. Jürgen hätte innerhalb von zwei Jahren den Antrag stellen müssen, festzustellen, dass er der Vater sei. Die Frist begann zu dem Zeitpunkt, da Jürgen von den Umständen erfuhr, die für seine Vaterschaft sprachen. Geklärt werden musste deswegen, wann Jürgen von seiner Vaterschaft erfahren hatte.

Drei Jahre lang zog sich der Rechtsstreit hin. Der Schriftverkehr der Parteien untereinander und mit dem Familiengericht schlug sich in drei Leitzordnern nieder. Am Ende beraumte das Gericht eine nicht öffentliche Verhandlung zur Beweisaufnahme an, bei der allerlei Zeugen darüber aussagen sollten, seit wann Jürgen wusste, dass er Vater geworden war.

Jonas war nun zehn Jahre alt und hatte einen leiblichen und einen sozialen Vater. Ziemlich verwirrend für ihn und auch für das Gericht.

Die entscheidende Person war nicht da: Jürgen, gebunden an Buenos Aires. Die Patriarchin sagte als erste Zeugin aus und konnte sich beim besten Willen nicht genau erinnern, wann sie erfahren haben sollte, dass Jürgen Jonas gezeugt hatte. Auch einige Freunde von Jan und Jürgen mochten sich nicht festlegen, wann ihnen wer die Wahrheit über den Kindsvater erzählt hatte.

Es gab aber auch Zeugen, die sich erinnern konnten, dass es ein offenes Geheimnis in der Familie war, wie Lina mit beiden ein Verhältnis gehabt hatte, nicht nebeneinander, sondern nacheinander. Ein Zeuge sagte unverblümt, Jürgen habe sogar darüber gelästert, wie blöde Jan doch sei, dass er die Vaterschaft anerkenne, wo er ja genau wisse, dass er nicht der Vater sei. Ihm, Jürgen, könne es ja nur recht sein, denn damit sei er raus aus dem Spiel.