Schmerz - Henriette Clara Herborn - E-Book

Schmerz E-Book

Henriette Clara Herborn

4,8

Beschreibung

Am 15. Januar 2017 wird eine grausam entstellte, nackte Frauenleiche auf dem Gelände der Alten Ziegelei in Mainz-Bretzenheim gefunden. Kriminalhauptkommissar Ernst-August Malminger erkennt sofort, dass die Täter genau siebzig Jahre später einen der größten Mordfälle der Kriminalgeschichte kopiert haben: Elizabeth Short, Los Angeles 1947, die Schwarze Dahlie. Kann das Zufall sein? Schließlich ist er Deutschlands führender Schwarze Dahlie-Experte. Malminger begibt sich bei seinen Ermittlungen auf eine Reise in den Abgrund der menschlichen Seele - auch seiner eigenen … Kriminaloberkommissar Botho Lübke hat währenddessen nur ein Ziel: Er muss verhindern, dass Malminger die Täter ermittelt, damit er selbst in der Kripo aufsteigen kann. Für die junge Halbjapanerin Namiko Umura vom Sittendezernat hingegen ist Malminger eine Koryphäe, der zu folgen sich lohnt - als ihr Schatten. Ungeachtet all dessen sind ein Mörder und sein Komplize weiterhin auf freiem Fuß. Die beste Freundin des Mordopfers ist gefangen in einem Strudel aus Drogen, Prostitution, SM und Gewalt. Dann sind da noch Lou und Castro, zwei Gangster, die scheinbar nichts und niemand aufhalten kann. Und über allem schwebt die Frage: Wer war die Tote und was ist wirklich mit ihr geschehen? Henriette Clara Herborn verwebt in ihrem Krimi kunstfertig Realität und Fiktion. Elizabeth Shorts Lebensgeschichte, die Tatsache, dass der Mörder der Schwarzen Dahlie nie gefasst wurde und nicht zuletzt die Intrigen bei den Ermittlungen der Polizeibehörde von Los Angeles 1947 bilden die Ausgangspunkte für eine Mörderjagd im düsteren Mainz der Zukunft von 2017.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 437

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (16 Bewertungen)
12
4
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Schmerz

Malmingers letzter Fall

Für Lukas.Und nicht zuletzt: Für Beth.

Henriette Clara Herborn

Schmerz

Malmingers letzter Fall

Krimi

Alle handelnden Personen sind frei erfunden;Ähnlichkeiten mit lebenden Personen wären rein zufällig.

© Leinpfad Verlag

Sommer 2014

Alle Rechte, auch diejenigen der Übersetzung, vorbehalten.Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilmoder ein anderes Verfahren) ohne die schriftliche Genehmigung des LeinpfadVerlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: kosa-design, IngelheimLayout: Leinpfad Verlag, IngelheimDruck: wolf print, Ingelheim

Baby’s On Fire (S. 236)M&T: Anri Du Toit, Justin de Nobrega, Watkin Jones© Sony Music Entertainment (South Africa) Pty Ltd / North Park PublishingMit freundlicher Genehmigung von Sony/ATV Music Publishing (Germany) GmbH.

Leinpfad Verlag, Leinpfad 5, 55218 IngelheimTel. 06132/8369, Fax: 896951E-Mail: [email protected]

eISBN 978-3-942291-69-9

Inhalt

I.

Déjà-vu

II.

Der Pakt

III.

Feuer

IV.

Boom Boom

V.

Tag fünf

VI.

Libera me

VII.

Schmerz

VIII.

Nagano wakare – Abschied für immer

IX.

Tod

X.

Karma

 

Nachwort: Das kurze Leben der Elizabeth Short

 

Dank

I. Déjà-vu

 

Sonntag, 15. Januar 2017, Alte Ziegelei

Als Kriminalhauptkommissar Ernst-August Malminger am Morgen des 15. Januars 2017 das Gelände der Alten Ziegelei in Mainz-Bretzenheim betrat, überkam ihn ein seltsames Gefühl. Er kannte es. Er hatte es genau dreimal in seinem Leben gehabt: Als er seine Ex-Frau Anita zum ersten Mal sah, als man ihm im Krankenhaus direkt nach der Geburt seine Tochter Nadia in den Arm legte und als ihm der True Crime Award verliehen wurde.

Er schaute auf seine Armbanduhr, 9 Uhr 53. Vor genau 53 Minuten war ein anonymer Anruf in der Zentrale der Mainzer Polizei eingegangen – leider zu kurz, um ihn zurückzuverfolgen. Die Schupo war wenig später vor Ort und hatte sofort die Kripo eingeschaltet.

Malminger hatte ein ungutes Gefühl in der Herzgegend und Magenschmerzen. Er dachte dabei an den Anruf von Kriminaloberkommissar Botho Lübke, der bereits am Fundort war: eine übel zugerichtete Leiche …

Das Gelände der Alten Ziegelei lag verlassen am äußeren Rand des Mainzer Vororts, unweit der Autobahn. Malminger war schon mal hier gewesen, auf einem Grillfest, vor Jahren. Und er erinnerte sich an die Zeitungsartikel über den Verkauf des Geländes durch die Stadt an die ECE-Gruppe vor ein oder zwei Jahren, ein deutsches Mammutunternehmen, das riesige Einkaufszentren errichtete. Das Ziegeleigelände war ein Denkmal und es hatte hitzige Debatten gegeben. Irgendwann kam es zum Baustopp, weshalb genau, wusste er nicht mehr. Als Malminger den Eingang passierte, fiel sein Blick auf ein paar verlassene Gebäude. Er parkte den Wagen und stieg aus. Alles hier wirkte verwildert und verlassen. Während Malminger auf den von Lübke am Telefon beschriebenen Fundort zusteuerte, hatte er ein Déjà-vu: Nebel waberte über das grün bewachsene Gelände. Zu seiner Linken lag ein verfallener Spielplatz. Malminger war, als verlangsame sich die Zeit, als bewege er sich in Zeitlupe auf etwas zu, von dem er nicht genau wusste, was es war. Aber er spürte es kommen.

Hinter dem Spielplatz lag das moosbewachsene Gebäude, aus dessen Richtung Donald Brück vom Erkennungsdienst kam: Die Spurensicherung lief also schon. Langsam ging er an Malminger vorbei; sein akkurater Bürstenschnitt und das zurechtgestutzte und anscheinend schwarz gefärbte Bärtchen bildeten wie immer einen leuchtenden Kontrast zu seiner ungesunden Gesichtsfarbe. Malminger nickte ihm grüßend zu, Brück nickte nur stumm zurück. Auf dem Grillplatz vor dem flachen Gebäude standen Kriminalhauptkommissar Simon Dahlberg und Kriminalkommissarin Tanja Paffert und redeten mit einem Mann, der eine rote Mainz 05-Mütze auf dem Kopf trug. Aus den Eingängen zum Gebäude kam ein Blitzlichtgewitter. Das war Arne Mudsen, der hünenhafte, weißblonde Tatortfotograf mit schwedischen Wurzeln. Zeitgleich erschien Botho Lübke gebückt in einer der runden Öffnungen, die ins Innere des Hauses führten und blieb davor stehen. Malminger wusste, was hinter dem Eingang lag: der Tunnel. Er hob grüßend die Hand, aber Lübke ignorierte ihn und starrte vor sich hin. Erst jetzt bemerkte Malminger, dass Lübke unnatürlich blass war und leicht schwankte. Plötzlich würgte Lübke, beugte sich ruckartig vornüber und kotzte einen braunen Strahl vor sich auf den Boden. Malminger ging wie ferngesteuert zu ihm, griff in die Tasche seines abgenutzten Mantels, zog die Papierserviette einer Fast-Food-Kette hervor und reichte sie Lübke. Lübke nahm die Serviette entgegen, ohne sie oder Malminger anzusehen, und wischte sich damit den Mund ab. Malminger war plötzlich, als sehe er alles von oben: Wie er dastand, fett und breitbeinig in seinem grauen Mantel, auf der Halbglatze den schwarzen Hut, neben ihm Lübke, unrasiert und in seiner abgewetzten Lederjacke, mit fettigen halblangen dunkelblonden Haaren, einem goldenen Ring im linken Ohr und diesen geschmacklosen rotbraunen Cowboystiefeln – wie zwei Bullen aus „Tatort“. Und Malminger kapierte unterbewusst, dass dies der letzte Moment war, in dem die Welt noch in Ordnung zu sein schien. Er tätschelte Lübkes Schulter, wandte sich ab, dem Eingang zum Tunnel zu und betrat gebückt einen Ort, der ihn zukünftig in Albträumen heimsuchen würde.

Sonntag, 15. Januar 2017, Miras Wohnung

Sie stand jetzt schon zum siebten Mal vor Miras Wohnungstür in dem schäbigen Hochhaus in der Münsterstraße 8, von den Mainzern nur ‚das Selbstmörderhochhaus’ genannt: Alle paar Jahre sprang hier jemand runter. Lou hatte sie die ganze Nacht lang wach gehalten und sie schon ganz früh losgeschickt. Trix Blick fiel durch die Glastür am Ende des Hausflurs auf den Gemeinschaftsbalkon, dahinter lag die Stadt. Der Himmel über Mainz war grau.

„Mira!“, rief sie und klopfte erneut.

Dann legte sie das Ohr an das kalte Holz der Tür und lauschte. Mira war jetzt seit über einer Woche nicht mehr erreichbar. Oder waren es schon 10 Tage? Trix hatte jegliches Zeitgefühl verloren, nur eine Frage interessierte sie noch: Mira war doch nicht mit ihrem Stoff abgehauen? Wenn es um Koks ging, gab es keine Freundschaft mehr. Das wusste doch jeder.

Sie hatte unendlich oft auf Miras Handy angerufen, genauso wie Lou. Aber immer ging nur die Mailbox dran. Auch jetzt holte Trix ihr Handy aus der Jackentasche und wählte Miras Nummer. Es tutete, einmal, zweimal – Trix horchte an der Tür, aber im Inneren der Wohnung blieb es still – dreimal, dann ging die Mailbox an und Miras tiefe, kühle Stimme sagte: „Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht.“ Aber Nachrichten hatte sie Mira jetzt schon genug hinterlassen. Trix legte auf und steckte das Handy wieder ein.

Verdammt! Sie brauchte dringend was. Sehr dringend sogar. Sonst würde sie doch nicht so früh morgens schon an Miras Tür kratzen. Lou hatte völlig recht: So ging es nicht weiter. Trix rieb ihre schwitzigen Handflächen aneinander, trat von einem Fuß auf den anderen und dachte an das Kokain, weißes Pulver, den muffigen Geruch, das kühle und erleichternde Gefühl, wenn sie es hochzog … Trix schüttelte den Kopf. Nie mehr würde sie ihren Stoff bei Mira bunkern. Und das alles nur, weil Lou so paranoid war und den Stoff nicht selbst aufbewahren wollte. Aber irgendwie verständlich, er war ja dieses Jahr erst auf Bewährung aus dem Knast entlassen worden.

Trix griff in ihre Handtasche, zog ihr Portemonnaie hervor und nahm die EC-Karte der Mainzer Volksbank heraus: Leider war das Konto schon seit Längerem völlig überzogen. Dann schob sie sie mit zitternden Fingern zwischen Türrahmen und Tür und dann, langsam, nach unten: Mira hatte hoffentlich nicht abgeschlossen. Beim ersten Versuch hakte die Karte. Beim zweiten machte es leise ‚klick’. Wenigstens dazu war die EC-Karte noch gut. Trix sah sich vorsichtig um, öffnete langsam die Tür und sagte leise: „Hallo?“

Wie erwartet blieb es still im Inneren der Wohnung. Trix schlüpfte durch den Türspalt hinein und schloss die Tür leise hinter sich. Verbrauchte, staubige Luft schlug ihr entgegen, kalter Zigarettenrauch und, ganz entfernt, der Geruch von Miras Patschuliöl. Ganz so, als sei seit Langem niemand mehr hier gewesen. Sie schlich über den fleckigen grauen Linoleumboden und blickte dabei auf Miras übliches Chaos in der winzigen Einzimmerwohnung: Links neben einer Matratze mit zerwühltem Bettzeug am Boden stand eine umgedrehte Apfelsinenkiste mit ein paar runtergebrannten Kerzen drauf und halb leeren Bierflaschen, in denen Kippenstummel schwammen. Auf dem Fensterbrett des gardinenlosen und trübe gewordenen Fensters standen mehr leere Flaschen, Schnaps, Bier und Sekt. Auf dem Boden lagen dreckige Klamotten und Schuhe. Rechts neben dem Bett, unter dem Fenster, stand eine große Holzkiste mit offenem Deckel, aus der noch mehr Klamotten quollen. In der rechten Zimmerecke befanden sich ein Kühlschrank mit zwei Kochplatten drauf, die Mira nie benutzte, und daneben ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen, alles vom Sperrmüll. Auf dem Tisch stand Miras billiger Laptop. Und über allem prangte, frontal über die Matratze geheftet, ein riesiges Poster der Sängerin von Miras Lieblingsband Die Antwoord: Ein dürres, kleines, weiß gekleidetes Mädchen mit halb abrasierten weißen Haaren, in den Händen hielt sie ein blutiges, herausgerissenes Herz und ihre Augen waren komplett schwarz – und die sah, dachte Trix, nur halb so krank aus, wie die Mucke klang, die sie machte, irgend so ein düsterer Crossover von Elektro und Rap aus Südafrika. Für Trix klang der Scheiß einfach nur ätzend, sie hasste diese Art von Mucke. Trix hörte am liebsten Rap, Hip-Hop und R’n’B und bekam immer voll die Gänsehaut von diesem gruseligen Kram, den Mira anschmiss, wenn sie sich morgens nach der Arbeit runterkifften.

Sie drehte sich zur Seite und erstarrte: Vor ihr stand jemand! Dann atmete sie erleichtert aus, es war nur ihr Spiegelbild, stumpf und trübe wie ein Geist, gerahmt von dem Spiegel auf einer alten Schranktür, die hinter der geschlossenen Wohnungstür an der Wand lehnte. Sie schaute zu dem verblichenen Sessel neben der Truhe unter dem Fenster, auf den Mira immer ihre schwarze Lederhandtasche – ein Geschenk von einem Kunden, Trix selber bekam nie solche Geschenke – und ihre schwarze Kunstlederjacke warf. Aber er war leer und die Handtasche auch sonst nirgends zu sehen. Wo könnte das Koks nur sein? Das Verschwinden des Stoffs gefährdete ihren gesamten scheiß Plan! Und dafür hatte Trix nicht wenig riskiert, denn wenn Lou das rauskriegte – sie wollte gar nicht dran denken! Der Plan war ihre einzige Chance hier rauszukommen. Wäre sie doch nur in Mannheim geblieben, bei ihrer Familie, und einen Job als Kellnerin hatte sie dort auch gehabt … Trix war damals einfach abgehauen, nach Mainz, weil sie gedacht hatte, hier sei alles besser. War es aber nicht, nur eben anders. Trix ging zur Matratze und hob sie hoch: Der säuerliche Geruch der fleckigen Laken ließ sie das Gesicht verziehen. Nichts. Unter der Matratze lag nicht mal ein Lattenrost. Trix kickte ein paar getragene Unterhosen zur Seite und dachte daran, wie oft ihr schon aufgefallen war, dass Mira sich bereits aufgegeben hatte. Deshalb war sie ja bei den Kunden auch so beliebt. Besonders bei dem einen, den Mira immer George nannte. Trix öffnete die Kaffeedose und schüttete das braune Pulver auf den Tisch, durchwühlte die ranzigen Klamotten in der Kiste, richtete sich auf und sagte laut: „Scheiße!“

Sie stand vor dem Foto, das Mira über den zwei Herdplatten auf dem Kühlschrank an die Wand gepinnt hatte: Es zeigte sie und Mira hinter der Bar, damals, als sie sich kennengelernt hatten. Sie waren beide Bedienungen in der Oben-ohne-Bar Casablanca in der Altstadt gewesen. Auf dem Bild standen sie und Mira Arm in Arm hinter der Bar. Miras Titten wirkten neben denen von Trix noch winziger – obwohl, Trix hätte statt Größe C lieber Doppel-D, weil damit konnte man mehr Kohle machen. Aber Lou meinte, das sei zu teuer. Trix seufzte. Damals war alles noch so unkompliziert gewesen. Doch dann war das Kokain in Trix’ Leben getreten und der Job hinter der Bar im Casablanca hatte nicht mehr genug abgeworfen und dann hatte Mira ihr den Job in der Tabledance-Bar Tor zur Hölle am Bahnhof klargemacht. Am Anfang war Trix skeptisch gewesen – schließlich musste sie sich dort ganz ausziehen. Aber nach ein paar Wochen war das schon normal.

Im Tor zur Hölle hatten sie Lou kennengelernt. Genau genommen hatte er Mira angesprochen und Mira hatte Trix irgendwann mit ins Boot geholt. Und Lou hatte ihnen einen Vorschlag gemacht, wie sie schnell an noch mehr Geld kommen könnten. Es hatte verrückt geklungen und irgendwie gefährlich – aber auch gut. So hatten Mira und Trix mit dem Tabledance aufgehört und waren bei Lous Idee mit eingestiegen. Und so waren sie dann in einer ganz anderen Art von Club gelandet: Fat Freddys Club. Trix dachte mit einem unguten Gefühl an den düsteren Gewölbekeller. Voll der bescheuerte Name für einen Club, ihn einfach nur Der Club zu nennen. Aber egal. Am Ende war es jedenfalls so weit gekommen, dass Mira Lou rausgeworfen hatte – er hatte gemeint, Mira hätte Ärger mit dem Vermieter gehabt wegen ihm, weil es ja eine Wohnung vom Amt war und er war nicht angemeldet, aber so ganz glaubte Trix das nicht. Und dann war Lou bei ihr eingezogen und alles war gekommen, wie es kommen musste: Zwischen Mira und Lou war es aus. Und zwischen Trix und Lou, na ja, das Übliche eben. Und seitdem musste Trix nur noch zwei, höchstens dreimal die Woche in Fat Freddys Club arbeiten. Sie hatte genug Scheine für haufenweise Koks. Und es war guter Stoff, den Lou ranschaffte, nicht so eine verschnittene Scheiße wie üblich. Trotz der Kohle, die sie an Lou abdrücken, und dem, was Lou Freddy zahlen musste – die Arbeit im Club lohnte sich und was wollte man mehr.

Trix musterte Miras Gesicht auf dem alten, verknickten Foto: die hohen, markanten Wangenknochen, die graublauen Katzenaugen, die vollen Lippen und die wilde schwarze Lockenmähne. Trix trat vor den stumpfen Spiegel auf der alten Schranktür, die an der Wand lehnte. Sie sah sich an: Die langen, blondierten Haare, die strohigen Haarverlängerungen, das runde apfelbäckig geschminkte Puppengesicht, die etwas zu kleinen, etwas zu weit auseinanderstehenden veilchenblauen Augen. Sie war jetzt 23 Jahre alt. Trix drehte sich zur Seite, zog die beigefarbene Kunstlederjacke und den Pulli hoch und musterte ihren Bauch: Man sah nicht, dass sie schon zwei Kinder bekommen hatte. Sie aß ja nicht viel und war damals auch noch sehr jung gewesen, bei Kevins Geburt gerade mal fünfzehn und zwei Jahre später kam schon Dustin. Gut, ihre Titten hingen vielleicht ein wenig seitdem, obwohl sie extra nicht gestillt hatte. Und hätte sie nicht abgetrieben, dann hätte sie jetzt vier Kinder! Vier, das musste man sich mal vorstellen. Dann wäre sie jetzt fett wie eine Tonne. Und vier Bälger hätte ihre Mutter auch bestimmt nicht bei sich aufgenommen. Aber so konnte Trix ihre Jungs sehen, so oft sie wollte. Dumm nur, dass sie die letzten drei Treffen verpennt hatte, und jetzt ging ihre Mutter nicht mehr ans Telefon. Aber vielleicht war es ja auch besser so. Kurz streifte Trix’ Blick die Narben auf und über der Brust, von denen hatte sie noch mehr, auf dem Rücken und den Oberschenkeln. Sie lebte jetzt eben in einer anderen Welt. Trix ließ Jacke und Pulli los. Viele von den Perversen, mit denen sie ihr Geld verdiente, standen ja auf Blut, Messer und Narben. Aber bis auf den fehlenden zweiten Schneidezahn oben rechts, den ihr ein Kunde mal ausgeschlagen hatte, war sie immer noch Topqualität, sagte Lou, und das brachte was ein. Aber, und das war ihr von vornherein klar gewesen, so eine Schönheit wie Mira war sie nicht und würde sie niemals sein. Und ganz so jung wie Mira war sie auch nicht mehr. Und Jugend war schließlich Kapital. Du bist Durchschnitt, sagte Lou immer, aber guter Durchschnitt. Trix hielt inne, griff hinter die Schranktür mit dem Spiegel und tastete, bis ihre Finger etwas berührten: Auf der Rückseite klebte ein Papierbriefchen. Trix grinste.

Sonntag, 15. Januar 2017, Alte Ziegelei

Als Malminger durch eine runde, niedrige Öffnung das Gebäude betrat, tat sich ein dunkler, von mattem Tageslicht, das durch die runden Eingänge fiel, durchbrochener Tunnel vor ihm auf. Die Deckenhöhe betrug in etwa dreieinhalb Meter. Der Tunnel führte, Malminger wandte sich nach rechts und machte ein paar Schritte, kreisförmig durch das ganze Gebäude hindurch und bildete so eine Art Tunnelrundgang. Alle eineinhalb bis zwei Meter befanden sich runde Eingäng im Mauerwerk. An den Grillplatz draußen hatte er sich kaum erinnern können. An den Tunnel jedoch deutlich.

Malminger wandte sich nach links. Ihm war, als ob alle Geräusche schlagartig verstummten. Von einer unnatürlichen Stille umgeben wie von einem Vakuum, ging er im hellen Scheinwerferlicht der vom Erkennungsdienst aufgebauten Lichtquellen auf die in der ersten Tunnelbiegung am staubigen Boden liegende Leiche zu: Ihre Haut leuchtete weiß und ihre Haare schwarz, und es sah nicht so aus, als ob sie nur schliefe. Malminger erstarrte.

Das Gefühl von Déjà-vu traf ihn hart und er spürte Schwäche in den Beinen: Er hatte die Tote und die Anordnung ihrer Verletzungen schon Tausende Male gesehen. Auf Fotos. Und in Albträumen. Aber das hier war kein Albtraum. Das hier war echt. Malminger war, als wache er plötzlich auf: Er erkannte die Leiche wieder. Und ihm wurde eiskalt.

Der Kopf der Toten war ihm zugewandt, ihre Augen standen offen. Der oder die Täter hatten den Mund des Mädchens eingeschnitten. Bis zu den Wangenknochen. Zu Lebzeiten durchgeführt war dies eine grausame Foltermethode, das sogenannte Glasgow Smile. Malmingers Blick wanderte an ihrem verstümmelten Körper hinab zu der Stelle, an der Rumpf und Unterleib zerteilt worden waren. Ein Blitzlicht blendete ihn für Sekunden und er tat die letzten Schritte blind, sodass es ihm vorkam, als stünde er plötzlich und übergangslos vor der nackten, zerstückelten Frauenleiche. Sein Sehvermögen kehrte nur langsam wieder zurück, wie bei einem Foto, dass sich entwickelt: die Konturen des toten Körpers, jetzt schärfer an den blutigen Rändern seiner Verletzungen, aufklaffendes Fleisch und die inneren Organe. Unter der Leiche fanden sich dunkle Flecken angetrockneten Blutes. Er schaute zum nächsten, rechts liegenden Eingang. „Lichter aus!“, befahl er.

Er spürte die fragenden Blicke der Kollegen vom Erkennungsdienst, dann schalteten sie die Scheinwerfer aus, einen nach dem anderen. Es wurde dunkler. Das einfallende, grau wirkende Tageslicht legte sich über das tote Mädchen und enthob es der Realität in die Unwirklichkeit einer alten Schwarzweißaufnahme. Gleich einer künstlerischen Komposition bot sich Malmingers Auge der Anblick der Leiche, platziert in den Mittelpunkt des einfallenden Lichtes dar - die Reinszenierung einer anderen Tat: Los Angeles, 1947. Elizabeth Short. Beth. Am 15. Januar vor genau 70 Jahren. Die Schwarze Dahlie.

Malminger stand da, versunken in ihren Anblick. Die Schwarze Dahlie, dachte er, aber er glaubte es nicht. Seit wann setzten sich seine Gedanken in der Realität fort? Ort und Zeit schienen ihm zu entgleiten, gefangen in dem leblosen Bild aus der Vergangenheit, das sich ihm öffnete, ihn aufnahm …

In diesem Moment fuhr ein eisiger Wind in den Tunnel und die Geräusche und Stimmen seiner Kollegen wurden wieder hörbar und sie schienen Malminger viel zu laut. Dies war ein Ort der Stille. Aber sie ließen ihn, graduell, zu sich kommen. Das hier ist nicht die Schwarze Dahlie, dachte er langsam. Sie konnte es nicht sein. Das hier war ein fremdes Mädchen. Grausam ermordet. Der Leichnam geschändet und genauso hinterlassen, wie der einer anderen, vor langer Zeit. Und noch etwas war geschehen. Es konnte kein Zufall sein, dass sie hier lag, dass er hier vor ihr stand. Ausgerechnet er!

Malminger war schlagartig klar, dass er vom unbeteiligten Polizisten zum Empfänger einer Nachricht gemacht wurde, die sich ausschließlich an ihn richtete. Malminger atmete durch und heftete seinen Blick auf das entstellte Gesicht der Toten, das dem der anderen so sehr glich, dass es seinen Glauben an das Raumzeitkontinuum erneut zu erschüttern drohte. „Lichter wieder an“, murmelte er schnell.

Nachdem die Scheinwerfer wieder eingeschaltet waren, zwang er sich, sich umzusehen. Jede seiner Bewegungen fiel ihm schwer und er bemerkte erst jetzt, dass er zitterte. Nicht jetzt, dachte Malminger, später. Später. Jetzt hatte er anderes zu tun.

Der Fundort war nicht der Tatort, Malminger konnte nur wenig Blut auf dem Boden um die Leiche herum entdecken. Trotz dieses Gedankens schien seine Wahrnehmung eingeschränkt zu sein und anstatt zu analysieren, wie der oder die Täter sich bewegt hatten, als sie die Leiche hier ablegten, sah er nur Fußabdrücke im Staub. Überall Fußabdrücke. Sie hatten ihm den ganzen Fundort zertrampelt.

Malminger musterte wieder die Mädchenleiche. Sie war in der Mitte zerteilt worden. Blut war nach dem Ablegen weiterhin aus der Toten herausgeflossen. Aber ansonsten wirkte sie sauber, frei von Blut auf der Haut und Exkrementen. Ihre Haut leuchtete marmorweiß, kontrastiert durch ihre Hämatome und Verletzungen in verschiedenen farblichen Abstufungen von schwarz bis violett und dunkelrot.

Der Anblick von Torso und Unterleib, die in unmittelbarer Nähe voneinander dalagen, war allerdings nicht das, was Malminger augenblicklich am meisten zusetzte. Diese Verletzung war höchstwahrscheinlich post mortem erfolgt. Langsam wanderte sein Blick über das im Unterleib klaffende Loch und die durch die gespreizten Beine entblößte Scham, mit der für die heutige Zeit untypisch starken Intimbehaarung. Was Malminger vielmehr sofort ins Auge sprang und ihn in seinem Menschsein zu erschüttern drohte, während er sich vergebens an den letzten schwindenden Zipfel irgendeiner vagen Professionalität klammerte, waren die Verletzungen, die dem Opfer wahrscheinlich ante mortem zugefügt worden waren – wie das Glasgow Smile … Das Mädchen war gefoltert worden. Der zur linken Seite gedrehte Kopf war ihm zugewandt, die Arme nach oben abgewinkelt und im rechten Winkel zu den Schultern platziert. Der zu einem grotesken Grinsen eingeschnittene Mund klaffte weit auf. Die herausgeschnittenen Fleischstücke der rechten und linken Brust und des linken Oberschenkels, das aufklaffende Loch im Unterleib und die herausquellenden Gedärme der Leiche, er hatte das alles schon zu oft gesehen. Die milchig überzogenen, jedoch deutlich blassblauen Augen des Opfers starrten ins Leere und schienen doch irgendetwas in der Ferne zu fokussieren: ihn. Sie starrte ihn mit ihren toten Augen an und etwas in der Art, wie sie dalag, richtete sich direkt an Malminger, sprach zu ihm, deutlich wie eine Stimme, jedoch zu leise, um die Worte zu verstehen. Sie sahen sich an, er und sie, während Malminger glaubte, sich durch einen Traum zu bewegen, der – fernab der Realität – immer da gewesen war: ein Albtraum. Und die Stimme flüsterte plötzlich deutlich: Eeeeeeeeeeernsssssssssssssssst …

Etwas berührte ihn am Rücken. Malminger fuhr zusammen, ließ die Hand sinken und richtete sich auf.

„Guck dir die kranke Scheiße hier an“, sagte Brück, der inzwischen in einem weißen Papieranzug steckte, „es ist Sonntag! Nichtmal da hat man seine Ruhe.“

Brück nahm seine latexbehandschuhte Hand von Malmingers Rücken und bückte sich nach etwas.

„Sorry, dass ich zu spät bin, aber mein Auto ist nicht angesprungen und dann – oh mein Gott“, stammelte da eine heisere Stimme neben Malminger.

Malminger warf einen Seitenblick auf den alten Mann mit dem zerzausten weißen Haar. Gerichtsmediziner Dr. Heribert Wemmels, bereits etwas senil, jedoch ehemals eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Wemmels wurde genau in diesem Moment aschfahl, rückte aber sofort, wie um es zu vertuschen, seine dicke Brille zurecht und zupfte an seinem Papieranzug. Dann wandte Malminger sich wieder den Leichenteilen zu. Um ihn herum geschahen Dinge, aber er nahm sie nur undeutlich wahr. Völlig übergangslos erschien Wemmels erneut in seinem Blickfeld, diesmal hatte auch er Latexhandschuhe an und wirkte irgendwie verzerrt, kaum wirklich. Er schaute Malminger an, sein Gesicht mehr eiförmig als rund. Brück beugte sich über die Leiche und hob mit einer viel zu groß wirkenden Pinzette etwas auf. Arne Mudsens Kamera klickte. Malminger blinzelte, fokussierte die Tote und dachte: das zerteilte Mädchen.

„Abgefahren“, murmelte Brück, „wie sauber sie daliegt, keine sichtbaren Blutrückstände auf der Haut. Als ob jemand sie gewaschen hat.“

Malminger stand da wie ein Requisit, sein Kopf war leer, auch Gefühle hatte er keine. Er musterte die dunklen, zerzausten Haare der Leiche. Er blickte in ihre leeren Augen. Er beobachtete, wie ein paar namenlos mit dem Hintergrund verschmelzende Kollegen vom Erkennungsdienst Fundstücke oder Spuren am Tatort nummerierten und abfotografieren ließen und hörte, ohne zu verstehen, den üblichen Informationen, die Brück und Wemmels unemotional herunterleierten, wobei ihre Stimmen immer mehr zu einer einzigen körperlosen Stimme verschmolzen: keine Kleidung, keine Handtasche, keine Identifikation der Leiche. Etwa seit zwölf Stunden tot, schwer zu sagen, da rigor mortis zwar nach etwa acht Stunden einsetzte, aber die Temperaturen nachts unter dem Nullpunkt lagen, Leiche kältesteif, aber nicht lange genug vor Ort, um eingefroren zu sein. Vergangene Nacht hier abgelegt worden. Ein paar wenige, schwache Leichenflecken an der Unterseite, kaum zu unterscheiden von den zahlreichen Hämatomen, Verbrennungen an Hand- und Fußgelenken und an Hals und Rücken, soweit sichtbar keine Bildung einer Leichenfauna wie beispielsweise durch Madenbefall, aber das war sowieso kein Indiz im Winter. Keine Bildung von Leichengasen, sprich: Die Kälte hat den Körper der Toten konserviert. Den Körper der Toten konserviert, echote es in Malmingers Gedanken. Und ihm war klar, dass diese Worte für ihn noch eine andere Bedeutung hatten. Tatort nicht hier, fuhr die leiser werdende Stimme fort, womöglich verpackt transportiert. Da die Leiche nicht mit Blut verschmiert war, wahrscheinlich nicht in Plastiksäcken, sondern Textil, wie etwa Stoff. Die Stimme ging in der Ferne verloren. Irgendwo, tief in den Windungen von Malmingers Gehirn, regte sich etwas, etwas Dunkles, Böses. Er hatte schon viele Male an diesem Tatort gestanden. Schon unzählige Male auf diese grausam entstellte Mädchenleiche geblickt. Schon endlos oft die finstere und jeden Glauben an das Gute im Menschen abtötende Ahnung dessen gespürt, was bei der Obduktion des geschundenen Körpers noch ans Licht kommen würde, über seine letzten Stunden als lebendiges Mädchen. Er blickte in einen schwarzen, bodenlosen Abgrund.

Sonntag, 15. Januar 2017, Miras Wohnung

Das Geheimnisvolle am Kokain war, dass es anders wirkte, als die meisten dachten. Vor allem Leute, die es nur gelegentlich als Partydroge nutzten, eierten mehr einer Legende hinterher als dem tatsächlichen Turn. Um zu erkennen, was Koks wirklich war, und wozu es einen beflügeln konnte, musste man davon abhängig sein – und somit am Arsch. Entweder man hatte welches oder man hatte den Kokablues und schob ’nen Affen: Schweißausbrüche, Schlaflosigkeit, Depressionen, keine Lust mehr zu leben. Weil es ohne Koks irgendwie keinen Sinn machte. Man konnte nie genug davon bekommen.

Trix zog die dicke weiße Line, die sie sich auf ihrem Taschenspiegel auf der Apfelsinenkiste neben Miras Bett gelegt hatte, durch einen zusammengerollten Geldschein hoch. Sie rieb sich mit dem rechten Zeigefinger noch etwas Pulver aufs Zahnfleisch und legte den Kopf in den Nacken. Das Koks begann, bitter und kalt durch den hinteren Rachenraum zu laufen, und betäubte hier alles. Trix Herz schlug schnell, sie schwitzte und hatte gleichzeitig Gänsehaut auf den Oberarmen. Sie ließ sich erleichtert ausatmend rückwärts auf Miras Matratze sinken und schloss die Augen. Ein kaltes, betäubendes Gefühl fraß sich allmählich durch ihre Gesichtshaut, die Muskeln und Nerven erstarrten. Es wurde ihr, allmählich, warm ums Herz. Der Kummer, die Düsternis, die Angst, die bösen Erinnerungen, alles löste sich in weißem Nebel auf, der samtig ihr Gehirn umwaberte. Kleine Schauer liefen über Trix’ Hinterkopf und Rücken. Was blieb, war ein sanftes, weißglühendes Licht, das hinter den geschlossenen Augenlidern flackerte, und wohltuende Dumpfheit legte sich wie Schnee auf die Welt.

Trix öffnete die Augen, setzte sich auf und sah sich mit großen, dunkel geweiteten Pupillen um. Ihr Blick glitt über Miras Zimmer und sie erkannte jetzt, dass es nicht so lieblos und unwohnlich war, wie sie gedacht hatte. Sie entdeckte Kleinigkeiten, die sie zuvor übersehen haben musste: Ein angebissener Schokoriegel auf der Apfelsinenkiste neben dem Bett, ein altes Milchkännchen mit einer künstlichen Rose drin, die Lou ihr mal auf dem Johannisfest geschossen hatte, und eine Postkarte auf der Fensterbank. Trix stand auf, nahm die Postkarte in die Hand und betrachtete sie. Es war die Karte, die sie Mira aus Amsterdam geschickt hatte. Sie und Lou hatten dort Elton, einen von Lous Kumpels aus dem Knast, für ein Wochenende besucht. Trix lächelte und legte die Postkarte zurück. Daneben lagen lauter komische silberne Klammern, sahen aus wie irgendwelche Haarspangen, nur in hässlich. Trix hatte Mira nie so was tragen sehen.

Irgendeinen Hinweis darauf, dass Mira abgehauen war, und vor allem, wo sie jetzt war, musste es doch geben! Gut, ihre Handtasche war weg. Was fehlte noch? Trix drehte sich langsam um die eigene Achse und musterte das Zimmer noch mal ganz genau. Sie hielt inne und schaute auf die leere Stelle am Boden neben dem Spiegel, wo sonst immer Miras roter Lederkoffer gestanden hatte: Der Koffer war weg. Also hatte sie doch etwas mitgenommen, schoss es Trix durch den Kopf. Einmal, als Mira schon gepennt hatte, hatte sie ihn aufgemacht und reingeschaut. Aber nur, weil der Koffer so teuer aussah und gar nicht hierher passte, das hatte sie neugierig gemacht. In dem Koffer hatte sie aber nur langweiligen Scheiß gefunden: Schwarze, lange, durchgeknöpfte Kleider, Perlonstrümpfe mit einer hässlichen Naht auf der Rückseite und schnörkellose Strumpfhalter, total langweilig alles und gar keine richtige Reizwäsche irgendwie. Und gar nicht Miras Style, so wie die nuttigen, gothicpunkmäßigen und nach Patschuli stinkenden Outfits, die Mira sonst immer trug, und die in der großen Truhe zusammengeknüllt vor sich hinrotteten. Trix kratzte sich mit beiden Händen den Kopf. Natürlich wusste sie, wozu der Koffer gut war: Das war irgend so ein ekliger Fetisch von einem von Miras Kunden. Bestimmt von diesem Spezialfreier, den Mira hatte. George hieß der. Das sprach man amerikanisch aus. Aber der hatte sich doch in letzter Zeit gar nicht mehr bei Mira gemeldet. Zumindest hatte sie nichts davon erzählt und Lou hätte sie es doch sagen müssen. Wegen der Kohlen. Und Georgiboy hatte immer ordentlich abgedrückt. Aber was, Trix Mund öffnete sich, wenn dieser George sich doch noch mal mit Mira getroffen hatte? Und Mira hatte den Koffer mitgenommen und war nicht mehr wiedergekommen? Trix legte selbstvergessen eine Hand über ihren offenen Mund. War Mira etwa mit George abgehauen?

Trix eilte ins Bad und starrte auf die Konsole über dem Waschbecken: Der Parfumflakon war auch weg! Und der war definitiv ein Geschenk von diesem George gewesen, das hatte Mira Trix noch erzählt. Und auch, wie teuer der gewesen war. Trix hatte zwar nicht gerafft, wie man sich über so ein komisches Omadings mit Gummipumpteil dran freuen konnte, wenn das Zeug auch noch roch wie von ihrer Oma und Mira hatte sich eh immer nur mit diesem penetranten Patschuliöl eingeschmiert.

Trix ging zurück ins Zimmer. Egal, ob Mira mit diesem Typen abgehauen war oder nicht – sie war weg. Und jetzt gab es nur noch eine Frage zu beantworten, dachte Trix und zog laut die Nase hoch: Wo zur Hölle war das restliche Koks? Natürlich da, wo Mira war. Mira hatte es hundertpro mitgenommen. Bloß wohin?

Das Bisschen hier würde auf keinen Fall lange reichen. Sonst war es ja immer Castro, von dem sie und Lou das Koks bekamen, und mit dem sie zuerst in der Kiste, wenn nicht sogar ein bisschen zusammen gewesen war … Mann, sie hatte doch schon an der Quelle gehockt, wieso war sie so dumm gewesen? Wäre bloß nicht diese alberne Schwärmerei für Lou dazwischengekommen. Dabei fiel ihr ein: Castro hatte ihr immer noch nicht ihren Wohnungsschlüssel zurückgegeben. Sie hatte Lou einen nachmachen müssen und Castro sagte immer: „Hab ihn nicht dabei.“ Aber egal.

Eigentlich hatte Trix Lou am Anfang ziemlich komisch gefunden. Allein schon der Name, Louis. Irgendwie hätte man jetzt einen riesigen Schwarzen erwartet. Dann kam da dieser kleine, gedrungene, blasse Typ mit dem rasierten Schädel rein, Oberarme hatte der und erst die Tätowierungen! Zwei Tränen unter einem Auge und Sachen auf den Händen und gekreuzte Knarren am Hals, megacool. Lou sah echt gefährlich aus, voll männlich und dafür hatte sie ja eine scheiß Schwäche, voll der Fluch. Und die dunklen Augen erst! Wenn Lou einen damit ansah, dann war das, als ob sie sich in einen reinbrannten, bis auf den Grund. Ohne Mira hätte sie Lou nie kennengelernt. Sie schaute rüber zu dem Foto von sich und Mira hinter der Theke im Casablanca. Trix Leben war langweilig gewesen vorher, normal eben. Doch dann kam Mira.

Eines Abends, als Trix mal wieder zu spät zu ihrer Schicht erschienen war, stand Mira hinter der Theke. Ihr Gesicht leuchtete weiß unter den schulterlangen schwarzen Locken. Mira war schmächtig wie ein Kind, hatte kleine Brüste und ein außergewöhnlich schönes, ernstes Gesicht. Ganz im Kontrast zu den schrillen Klamotten, die sie immer trug: Extrem kurze schwarze Kunstlederhotpants, zerrissene Netzstrümpfe, abgeschnittene, bauchfreie T-Shirts mit beknackten Slogans drauf oder Namen von Bands, die keine Sau kannte, wie diese bescheuerten Die Antwoord. Trix erinnerte sich noch genau an die ersten Sekunden mit Mira: „Hallo, ich bin Trixi, aber alle nennen mich Trix.“ Sie gaben sich die Hand. Miras Hand war kalt. „Freut mich, Trixi,“ sagte Mira mit unerwartet tiefer Stimme, „ich bin Mira.“ Und es war Trix damals seltsam vorgekommen, aber sie sahen sich dabei in die Augen und irgendwie kribbelte es, als ihre Hände sich berührten, irgendwie war der Moment total magic …

Als es im Casablanca morgens ruhiger wurde, fragte sie Mira, was sie sonst so machte. „Nichts,“ antwortete Mira gleichgültig. Später dann erfuhr Trix, was dieses Nichts war, mit dem Mira ihre ganze Zeit verbrachte. Aber sonst sagte Mira damals nicht viel. Mira redete an sich wenig. Und da Trix viel redete, passte das ja irgendwie. Wer hätte gedacht, dass das der Anfang einer ganz besonderen Freundschaft war?

Trix legte sich mit ihrer EC-Karte wendig zwei weitere Lines. Monatelang hatten sie und Mira Spaß zusammen gehabt, auf der Arbeit und auch an ihren freien Abenden in der Mainzer Clubszene, besonders in ihrem Lieblingsladen, dem Boom Boom Club im obersten Stockwerk des Staatstheaters Mainz. Die Location war megageil, ein Glasbau, oben auf dem Dach, von dem aus man über die ganze Stadt schauen konnte. Auf der Terrasse standen weiße Pavillons mit Liegewiesen. Sie hatten gemeinsam Typen aufgerissen. Wobei Trix die Fuzzis immer anquatschten musste, Mira war sich dafür ja zu fein oder was auch immer und stand nur stumm und geheimnisvoll nebendran. Wahrscheinlich bekam Mira deshalb immer die besseren Typen ab. Immer. Na ja, sie sah halt auch einfach geiler aus als Trix. Oft machten sie nach Feierabend noch Party, hier bei Mira, mit Tequila und Speed und Ecstasy und Jungs und es hätte von Trix aus ewig so weitergehen können. Trix hatte die beste Zeit ihres Lebens mit Mira, davon war sie heute überzeugt, während sie sich erneut mit dem zusammengerollten Zehneuroschein in der rechten Hand über das Koks beugte und es hochzog. Doch dann, irgendwann, hatte Mira ihr – natürlich nur, nachdem Trix mal wieder gebettelt hatte – doch was von dem geheimnisvollen Kokain abgegeben, das Miras ständiger Begleiter war. Und so war das Koks in Trix’ Leben getreten und hatte es in seine eisigen Klauen genommen.

Und dann brachte der Job im Casablanca einfach nicht mehr genug ein, weil Trix war sofort so hammerhart süchtig, so geil auf das Zeug, so was hatte sie noch nie erlebt. Und am Anfang waren die Turns ja auch noch hammermäßig gewesen, voll intensiv. Dass man das Zeug brauchte, um einfach nur noch normal zu sein, so was kam ja erst später – und da saß Trix schon in der Falle. Trix fragte sich damals natürlich, wie Mira das hinkriegte. Und irgendwann erzählte Mira ihr dann von ihrem anderen Job, der mehr Geld brachte. Davon hatte Trix nix mitbekommen, also nur, dass Mira öfter für ein paar Stunden weg war und dass es danach immer fett schneite. So kam es zu dem von Mira für sie arrangierten Vortanzen im Tabledance-Club, aber das Wort war irgendwie zu edel für die miese Kaschemme, voll der üble dreckige Stripschuppen war das, eben dieses runtergekommene Ding am Mainzer Hauptbahnhof, das jeder kannte: Tor zur Hölle hieß der Laden und gehörte einem einäugigen Typen namens Howie die Ratte. Und der Schuppen hielt, was er versprach. Aber mit was hatte Trix hier gerechnet, der Laden war nicht das Ritz und Trix war nicht „Pretty Woman“, so ’ne Scheiße gabs nur im Film, nie in echt. Trix würde nie einen coolen Typen kennenlernen, sie traf immer nur Arschlöcher. Und falls doch, würde Lou ihn sofort zu Brei schlagen. Und überhaupt, wer wollte sie denn schon, bei dem, was sie machte? Sie könnte lügen, Ausreden erfinden, wenn sie nachts für ein paar Stunden im Club verschwand. Aber wie die blauen Flecken erklären, wie die roten Striemen? Und so schlecht hatte sie es doch gar nicht bei Lou, sie hatte Geld und Stoff und was konnte man mehr wollen?

Bald hörten sie und Mira also ganz auf, im Casablanca zu arbeiten. Im Tor zur Hölle kam einfach die nötige Kohle rein und so schwer war das Ganze nun auch wieder nicht. Man traf dort zwar auch fast nur alte Bappsäcke wie im Casablanca. Aber der Schuppen hatte auch sein Gutes: Wenn man genug ‚Separee machte’, wie das genannt wurde, dann stimmte auch die Kohle – und die brauchte sie dringend. Separee machen fand Trix ziemlich eklig, aber es war ja ohne Anfassen, irgendwie ging das schon. Und irgendwann war es ganz normal. Auf Koks konnte man eben alles irgendwie besser. Und dann, eines Abends, als Trix im Tor zur Hölle erschien, saß Mira mit einem breit gebauten, zutätowierten Typen an der Bar. Das musste er sein, dachte Trix, der Kunde, von dem Mira ihr erzählt hatte, der immer nur zu Mira wollte und immer mit ihr ins Separee ging. Sie sah ihn nur von hinten, seinen muskulösen Rücken, über dem sich das T-Shirt spannte, und seine dicken, tätowierten Oberarme und irgendwas lag in der Luft. Dann beobachtete sie, wie Mira den Kopf in den Nacken legte und lachte. Trix hatte Mira noch nie so gesehen. So unbeschwert. Mira war sonst immer so still, irgendwie in sich gekehrt und zurückgenommen. Was ja auch kein Wunder war, wenn man so ein übles Leben hinter sich hatte wie Mira. Mira hatte es ihr mal erzählt, als sie morgens, nach der Arbeit hier in Miras Bude zusammen im Bett gelegen und ein paar Joints geraucht hatten.

Jedenfalls, Trix zog die Nase hoch, hatte der Typ sich umgedreht und sie angeschaut. Und Trix hatte zum ersten Mal in jene dunkelbraunen, fast schwarzen Augen geblickt und sie hatte sofort Schwäche in sich aufsteigen gefühlt: zuerst in den Kniekehlen, dann im Magen und schließlich im Herzen. „Das ist Trixi“, hatte Mira mit ihrer tiefen, kalten Stimme gesagt. Sie hatte sie immer Trixi genannt, nie Trix. „Und das ist Louis.“

Und Lou hatte sie mit seinen düsteren, gefährlichen Augen angefunkelt wie ein Raubtier, das seine Beute taxiert – das Wort hatte sie aus den Tiersendungen im Dritten Programm, die sie beim Runterkiffen oft stundenlang geglotzt hatte, bevor Lou ihren Fernseher verscherbelt hatte. Trix hatte zu Mira geschaut, während Lous Blicke über ihren halb nackten Körper gewandert waren. Und so hatte alles angefangen, mit ihr, Mira und Lou …

Trix schaute auf die Uhr: Scheiße, sie hatte voll die Zeit vergessen! Lou wartete bestimmt schon auf sie, weil er wissen wollte, wo das Koks war. Und Lou konnte mächtig sauer werden. Trix sprang auf und sah sich um. Am besten nahm sie Miras Laptop mit und schaute sich die Mails an, wenn sie da überhaupt irgendwie rankam, wegen Passwort und so. Vielleicht fand sie ja raus, wohin Mira sich abgesetzt hatte. Vielleicht kam sie ja so an das Koks ran und konnte ihren geheimen Plan doch noch retten. Trix steckte das Notebook in ihre große Handtasche und packte den Taschenspiegel, den Geldschein, die EC-Karte und das restliche Koks ein – davon musste Lou ja nichts wissen. Trix eilte zur Tür, blieb stehen und sah sich noch mal um: Mira konnte doch nicht ohne ihre ganzen Sachen abgehauen sein – wenn sie wirklich abgehauen war. Niemand haute ohne Klamotten ab. Trix hatte plötzlich das Gefühl, als sei sie zum allerletzten Mal hier. Sie wandte sich ab und warf die Wohnungstür hinter sich ins Schloss.

Sonntag, 15. Januar 2017, Alte Ziegelei

Dr. Herribert Wemmels war neben dem Unterleib der Leiche in die Hocke gegangen.

„Einige der Verletzungen“, sagte er, ohne Malminger anzusehen und deutete auf das Gesicht der Toten, „wurden ante mortem vorgenommen.“

Er runzelte die Stirn und rieb sich das Kinn mit der rechten Hand, die immer noch in einem Latexhandschuh steckte.

„Und die Schnittstellen sind sauber, keine Risse und völlig präzise. Skalpell, wenn du mich fragst. Und ziemlich professionell das Ganze, die genaue Durchtrennung der Eingeweide, keine Entnahme der Fortpflanzungsorgane aus dem Unterleib, soweit ich sehen kann …“

„An irgendwas erinnert mich das hier“, murmelte Arne Mudsen, die Kamera auf halber Höhe haltend, „nur: an was?“

Bitte nicht, dachte Malminger. Nicht jetzt. Er musste erst realisieren, erst nachdenken, alleine. Er ballte die Hände in den Manteltaschen zu Fäusten und hoffte mit aller Kraft, dass Mudsen, der sich mit Tatortfotografie ja bestens auskennen musste, nicht weitersprechen würde.

„Na“, antwortete Lübke hinter ihm, „natürlich an Jack the Ripper. Der war doch auch präzise wie ein Arzt. Und wurde nie gefasst.“

Er legte eine Hand auf Malmingers Schulter. Malminger, den Blick wieder starr auf das entstellte Gesicht der Frauenleiche gerichtet, zuckte zusammen. Lübke wusste es.

„Hast du Ecke schon angerufen?“, flüsterte Lübke.

Norbert Eckerhard. Malmingers ältester Konkurrent aus Polizeischulen-, Schupo- und Kripo-Zeiten, hatte jeweils vor Malminger den Kriminalmeister, Obermeister, dann den Hauptmeister und schließlich den Kriminalkommissar, Kriminaloberkommissar und Kriminalhauptkommissar gemacht. Das hatte Malminger derbe gefuchst! Jahrelang ging das so. Und dann hatten sie sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen um die Dezernatsleitung geliefert – das Ecke gewann. Ihn anzurufen, war das Letzte, was Malminger jetzt wollte. Ecke, mit seinen hässlichen dunkelbraunen Anzügen, den aufgepumpten Muckis, dem bescheuerten Hipster-Haarschnitt, der randlosen Designerbrille und immer frisch rasiert wie ein Bubi – auf keinen Fall. Das hier war sein Fall! Es war mehr sein Fall, als irgendein anderer Fall es jemals sein würde. Es musste reichen, wenn er seinen Vorgesetzten später durch ein unpersönliches Protokoll in Kenntnis setzte.

Malmingers Gedanken kamen, endlich wieder, träge in Gang: Zeit, das Kommando zu übernehmen.

„Schnaps“, sagte Malminger laut – aber es kam nur als heiseres Krächzen heraus.

Lübke, der in weiser Voraussicht bereits den silbernen Flachmann aus dem Handschuhfach von Malmingers altem moosgrünen Volvo 240GL geholt hatte, reichte ihn seinem Vorgesetzten. Den Flachmann hatte Anita ihm, vor vielen Jahren, zum Geburtstag geschenkt – wahrscheinlich, als sie eingesehen hatte, dass sie gegen den Alkohol verlieren würde und zum allerletzten Mal verzweifelt versucht hatte, sich mit Malmingers ständigen Saufeskapaden auszusöhnen. Malminger schraubte die Flasche auf, wünschte sich, er hätte sich was von der Pulle Irish Single Malt abgefüllt, die er noch zu Hause hatte, aber so was machte er immer nur an Tankstellen und da gab es keinen richtigen Whiskey. Malminger stürzte den Jack Daniel‘s gierig hinab.

Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, dass seine Kollegen sich Blicke zuwarfen. „Nicht schon wieder!“, murmelte Brück leise, er dachte wohl, Malminger höre es nicht.

Aber das war ihm egal, solange sich keiner querstellte – nur Ecke hatte sich diese Frechheit irgendwann mal erlaubt, bei einem Mitarbeitergespräch. Dabei war doch ganz klar, dass er nur nach einem Grund suchte, Malminger endlich loszuwerden. Aber so einfach konnte er Malminger nicht suspendieren. Danach hatte er eine kurze Zeit lang weniger getrunken und so, dass sie es nicht merkten. Und das hier war natürlich nur eine Ausnahme, ein Notschluck sozusagen. Malminger leerte den Flachmann, schraubte ihn zu und steckte ihn ein. Ruhe überkam ihn und tilgte jegliche Schwäche. Zusammen mit seinem Mantel und seinem Glückshut hatte der silberne Flachmann Malminger immer die nötige Sicherheit verliehen, auch der krudesten menschlichen Scheiße entgegenzutreten: Und sie auszumerzen. Er war Malminger, er konnte alles ertragen! Auch das hier. Oder? Okay, es überkam ihn doch keine Ruhe. Das hatte nur gut geklungen, in seiner besoffenen, ständig kriminalromanmäßige Slogans formulierenden Birne. Und er hatte wieder dieses Stechen in der Herzgegend, so eine erdrückende Enge im Brustkorb. Er durfte es auf keinen Fall jemanden merken lassen. Malminger zückte das schwarze Notizbuch aus der Innentasche seines Mantels und tat so, als ob er etwas notierte.

Kurz dachte er daran, wie er nach der Preisverleihung des True Crime Awards ins Büro gekommen war und alle seine Kollegen hatten vor ihren Büros Spalier gestanden und applaudiert hatten, als die Aufzugtüren sich öffneten. Er war an ihnen vorbeigegangen, während jeder seine Glückwünsche murmelte und ihm auf die Schulter klopfte. Ecke hatte ihn damals sogar umarmt. Ganz am Ende des Büroflurs stand der alte Dezernatsleiter Dr. Burkhardt „Bully“ Pompitz, der ihm dann das schwarze, in Leder eingebundene Notizbuch überreichte: ein Geschenk vom gesamten Dezernat. Malminger hielt den Kugelschreiber über dem linierten Papier, das er extra klein beschrieb, damit es länger hielt. Er musste sich sammeln. Sobald er im Büro am Valenciaplatz war, musste er nur noch routinemäßig vorgehen: Er würde die Vermisstenanzeigen der Umgebung, die aktenkundigen Prostituierten und natürlich die Kartei der Drogenkriminellen anhand des Fotos und der Fingerabdrücke der Leiche durchgehen und so hoffentlich die Identität des Opfers feststellen können. Dann das Protokoll schreiben und an Ecke weiterleiten. Und dann endlich: Nach Hause fahren, sich in seiner Einzimmerwohnung im Münchfeld einschließen und trinken so viel er wollte und was er wollte …

Das Einzige, was er im Moment fürchtete, war Wemmels Obduktionsbericht. Seit Jahren schon deckte er den senilen Penner. Und warum? Weil er ihn so verdammt lange kannte. Weil er damals, als er vor achtzehn Jahren zur Kripo gewechselt hatte, froh gewesen war, einen anderen Außenseiter zu kennen. Und weil er vor fast fünfzehn Jahren, als er und Wemmels noch gemeinsam Vorträge über die Zusammenarbeit von Polizei und Rechtsmedizin an Universitäten und Polizeischulen in Rheinland-Pfalz und Hessen hielten, beschlossen hatte, dass er ihn mochte. Sie waren quasi so etwas wie Freunde geworden. Er hatte sich an Herribert eben gewöhnt – und das war doch Freundschaft, oder? Aber Wemmels senile Stümperei nahm seit vergangenem Jahr derart Überhand und bei diesem Fall hier durfte er sich keine Patzer erlauben.

Na endlich, Kriminalhauptkommissar Simon Dahlberg und Kriminalkommissarin Tanja Paffert betraten durch die Tunnelöffnung den Fundort. Tanja Paffert hatte ihn schon ein paarmal durch kluge Kommentare zu seinen meisterlichen Ausführungen überrascht, denn obwohl die kleine Blondine geile Titten und den perfekten Arsch hatte – wäre da nur nicht der Silberblick! – hatte sie trotzdem ein bisschen was in der Birne. Respekt. Vielleicht würde aus ihr eines Tages eine gute Polizistin werden, das wäre die Rettung des Dezernats. Simon Dahlberg hingegen, eigentlich keine Konkurrenz für Malminger, war so ziemlich der ätzendste Nerd, den er je gesehen hatte. Der verbrachte mehr Zeit mit PC- und Konsolespielen und, Malminger war sich sicher, mit Internetpornos, als mit seiner Arbeit. Und so sah er auch aus: mittelgroß, dürr, aber mit Bierbauch, mit mausgrauen Haaren, unbestimmter Frisur, abstehenden Ohren, Überbiss und Oberlippenbart. Genau die Art von Typ, die früher auf dem Pausenhof Prügel bezogen hatte.

Dahlberg kam gleich zu Malminger rüber, während Paffert wie angewurzelt stehen blieb.

„Wo ist der Auffindezeuge?“, knurrte Malminger zur Begrüßung in Dahlbergs Richtung.

„Draußen“, erwiderte Dahlberg irritiert, aber prompt.

„Name und Adresse!“, befahl Malminger und notierte, während Dahlberg antwortete.

Er warf einen letzten Blick auf die Leiche, wandte sich langsam ab und spürte dankbar, wie die volle Wirkung des Whiskeys einschlug.

Sonntag, 15. Januar 2017, Universitätsmedizin Mainz, Unfallchirurgie

Er vermisste sie. Er vermisste sie so sehr, wie man nur eine Geliebte vermissen konnte. Schmerzlich.

Er hatte sich in den vergangenen Wochen und vor allem in ihrer letzten Woche so sehr an sie gewöhnt, dass ein Leben ohne sie bereits unvorstellbar schien. Obwohl: Er musste ja nie mehr ohne sie sein. In seinen Gedanken würde sie ihn auf ewig begleiten. Sie gehörte ihm, gehörte ihm nun ganz. Sie hatte ihm das letzte, große Geschenk gemacht. Sie war unsterblich geworden und er hatte sie zu dem gemacht, was sie nun war: Er hatte sie vom ewigen Tod befreit, er hatte ihr Unsterblichkeit verliehen und sie ihrer wahren Bestimmung zugeführt.

Dennoch fehlte ihm ihre tiefe, kühle Stimme, ihr herber Duft, ihre geheimnisvolle Präsenz. Jede Woche, wenn sie sich in Fat Freddys Club – dem Club ohne Namen – und später heimlich im Hotel getroffen hatten, hatte er Erfüllung gefunden. Die gesamte Zeit bis dahin hatte er in Gedanken ausschließlich mit der Planung ihres nächsten Treffens verbracht. Er liebte Präzision. In jenem Moment, als er ihr die Kleider angezogen, sie geschminkt und frisiert hatte, war sie sein geworden. Und mit dem Auslöschen ihrer jämmerlichen weltlichen Identität hatte er das aus ihr gemacht, was sie in Wirklichkeit war.

Er schaute auf die zwei Fotos, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen, eines davon war alt und schwarz-weiß, das andere erst vor Kurzem aufgenommen: Beide zeigten dieselbe Frau. Sie trug ein schwarzes Kleid und ihre dunklen Locken umrankten ihr bleiches, ernstes Gesicht. Transparent wirkende, blassblaue Augen bohrten sich traurig in den Betrachter und ihn überkam erneut das Gefühl, das er immer hatte, wenn er die Fotos von Mordopfern betrachtete. In ihren Augen lag das Wissen um die Wahrheit; sie hatten gewusst, dass sie gewaltsam sterben würden. Sanft strichen seine Finger über die Bilder. Er lächelte leicht und dachte an seine Lieblingszeile aus dem Responsorium der Liturgie der römisch-katholischen Begräbnisfeier, das er in der Vertonung von Elliot Goldenthal zum ersten Mal auf Beatrice‘ Beerdigung gehört hatte: Libera me, Domine, de morte aeterna. Befreie mich, Herr, vom ewigen Tod ...

Seine Vorliebe für Latein hatte er während seines Medizinstudiums entdeckt, lange nach seiner Vorliebe für den Tod. Und er hatte nur eins mehr geliebt, als die kryptische Melodie der Fachbegriffe – Leichen.

Er öffnete die oberste verschließbare Schublade seines Dienstschreibtischs, legte die Fotos hinein – zu den anderen Bildern und Gegenständen – und verschloss sie behutsam. Die Kette mit dem Schlüssel hängte er sich um den Hals und verbarg sie unter seinem Hemd. Dann zog er sich Latexhandschuhe an, holte das Päckchen aus der Plastiktüte und beschriftete es mit krakeligen, seiner eigenen Handschrift kaum ähnelnden Buchstaben:

An Kriminalhauptkommissar Ernst-August Malminger

Polizeipräsidium Mainz

Valenciaplatz 2

55118 Mainz

Er wickelte das Päckchen wieder in die Tüte und schob es unter seinen Schreibtisch. Danach zog er die Latexhandschuhe aus, warf sie in den Papierkorb und drückte eine Taste an der Gegensprechanlage.

„Der Nächste bitte, Moni“, sagte er freundlich.

Dann setzte er sich wieder und richtete seine Aufmerksamkeit auf die vor ihm liegende Patientenakte. Er hasste die Sprechstunde. Am liebsten stand er im OP.

Er schaute noch einmal zu dem Päckchen. Er folgte einem vorgegebenen Ablauf, einem Muster, das ein anderer entworfen hatte. Allerdings hatte er sich erlaubt, eine Kleinigkeit hinzuzufügen: seine eigene Spur. Er musste nur warten, bis der Obduktionsbericht eintraf und Malminger seinen Hinweis entdecken und ihm folgen würde. Doch das Päckchen war Teil der alten Geschichte, die er neu schrieb.

Heute noch würde er es abschicken.

Sonntag, 15. Januar 2017, Alte Ziegelei

Lübke bot Malminger eine Camel ohne Filter an, aber Malminger schüttelte unwirsch den Kopf und zündete sich eine Roth-Händle an. Stumm standen sie vor dem Eingang zum Tunnel und rauchten, während er von drinnen die gedämpften Stimmen seiner Kollegen hörte.

„Das ist die härteste Scheiße, die ich je gesehen hab“, kommentierte Lübke unnötigerweise.

„Mh“, machte Malminger.

„Unglaublich! Haargenau wie bei – “

„Nicht jetzt!“, unterbrach Malminger und sah Lübke drohend an. Er konnte jetzt nicht darüber reden. Auch nicht kurz. Malminger war vollkommen darauf konzentriert, konzentriert zu sein. Er durfte jetzt nicht nachdenken. Das hier war weder der Zeitpunkt noch der Ort, um zu reflektieren. Zu verstehen. Das würde er später versuchen, alleine, zu Hause.

Kurz darauf führten sie den Auffindezeugen, dem Kriminalkommissarin Tanja Paffert eine Decke um die Schultern gelegt hatte, zu dem verfallenen Spielplatz. Das Schaukelgerüst hatte keine Schaukeln mehr. Ein dünner Baum war umgestürzt und lag quer über einem mit verrottendem Laub gefüllten Sandkasten. Malmingers Blick fiel auf ein selbst gemaltes Schild mit fröhlichen bunten Buchstaben, das halb abgerissen an einem Gebäudeteil baumelte: Kindergarten Ziegelei e.V. Dieser Ort erinnerte an eine Geisterstadt. Malminger zog seinen Mantel fester um sich. Er und Lübke setzten sich links und rechts neben den dünnen, blassen Mann mit seiner roten Mainz 05-Mütze auf eine runde Bank, die um einen Baum herum gebaut worden war. Der Baum war kahl. Ein Rabe rief. Malminger zwang sich, nicht nach oben zu schauen. Er räusperte sich, denn er befürchtete, dass er kein Wort herausbekommen würde.

„Also, Herr“, begann Malminger angestrengt und warf einen schnellen Blick in sein Notizbuch, „Albert Kohlstrunk.“

Malminger war überrascht, wie verzerrt seine Stimme schon nach nur einem Flachmann klang. Na gut: Er hatte den Flachmann auf nüchternen Magen geleert. Und dann war da noch der Schock. Er hatte schon einige Leichen gesehen. Auch verstümmelte. Aber das hier … Malminger fokussierte sein Notizbuch. Dann blickte er auf. Er musste sich jetzt auf den Zeugen konzentrieren. Der Mann knetete seine Hände und hielt den Blick starr vor sich auf den Boden gerichtet.

„Zigarette?“, fragte Lübke.