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In Hamburg gibt der Schnee zwei Frauenleichen frei - Hände und Füße sind durchbohrt. Beide tragen eine Uhr anstelle des Herzens. Der aus Schweden stammende Ermittler Jan Nygård stößt auf den zurückliegenden Fall des Puppenmachers, der auf bestialische Art aus seinen weiblichen Opfern Marionetten zu erschaffen versuchte. Schnell wird Nygård und seiner neuen Partnerin Anna Wasmuth klar, dass sie es nicht mit einem einfachen Trittbrettfahrer zu tun haben. Hier ist ein Schüler am Werk, der seinen Meister übertreffen will - und er hat bereits eine neue Puppe am Faden ...
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Seitenzahl: 398
Veröffentlichungsjahr: 2022
In Hamburg gibt der Schnee zwei Frauenleichen frei – Hände und Füße sind durchbohrt. Beide tragen eine Uhr anstelle des Herzens. Der aus Schweden stammende Ermittler Jan Nygård stößt auf den zurückliegenden Fall des Puppenmachers, der auf bestialische Art aus seinen weiblichen Opfern Marionetten zu erschaffen versuchte. Schnell wird Nygård und seiner neuen Partnerin Anna Wasmuth klar, dass sie es nicht mit einem einfachen Trittbrettfahrer zu tun haben. Hier ist ein Schüler am Werk, der seinen Meister übertreffen will – und er hat bereits eine neue Puppe am Faden …
Aaron Sander, 1973 geboren, studierte Film- und Fernsehdramaturgie. Er wuchs im Norden Deutschlands auf. Schon in jungen Jahren lernte er das Meer, die Hansestadt Hamburg und die Wälder Schwedens lieben. Auf langen Wanderungen durch die Natur ersinnt er seine Thriller. Oft nimmt er seinen Laptop mit und schreibt tief im Wald.
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch dieLiterarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Angela Kuepper
Titelillustration: © The Reading Room /Alamy Stock Photo; © Finpic, München
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-2110-3
luebbe.de
lesejury.de
Wir dünken uns frei,und der Zufall führt allgewaltigan tausend fein gesponnenen Fäden fort.
Heinrich von Kleist (1777–1811)
Mühelos schob sich die Fähre auf ihrem Weg zum anderen Elbufer durch die dünnen Eisschollen.
»Sei mal nicht so schüchtern. Mir kannst du es erzählen, Süße.« Sybille blies sich in die Hände. »Du hast doch ’n Date. Komm, sag schon … Kino, hab ich recht?«
»Ich …?«
»Nee, der Yeti hinter dir. Klar du!«
Mareike zog sich die bunte Wollmütze tiefer über die lockigen Haare. Sie musste schmunzeln und spürte die Winterkälte angenehm auf ihren Wangen prickeln. Sie trat neben ihre Freundin ans Geländer des Oberdecks und atmete die schneidend kalte Luft ein.
An Deck der Fähre 62 war es eisig, trotzdem konnte sie nicht anders und musste den Ausblick genießen. Die ersten Dezembertage hatten Schnee gebracht, der sogar liegen geblieben war.
Mareike wusste, dass sie Sybille nichts vormachen konnte, doch sie ließ ihre Freundin noch ein bisschen zappeln. Die beiden arbeiteten zusammen in den Airbus-Werken bei Finkenwerder, und seit dem ersten Tag vor nunmehr fünf Jahren, als Mareike dort angefangen hatte, waren sie sich sympathisch.
»Nun sag schon … Mareike!«
»Na ja …«
Weiter kam sie nicht, denn Sybilles Lachen unterbrach sie. »Ich wusste es! Ich hab recht … Und, hat er?«
»Was?«
»Gefragt, mein ich? Hat er dich endlich gefragt? Unser Blondie, Mr. A320! Ding-Dong, ich sag nur Rumpfmontage.« Sybille streifte ihre Strickhandschuhe über. »Junge, Junge, bei dem würde ich auch gern mal den Rumpf kontrollieren.«
»Sybille!«, tadelte Mareike sie spaßend.
»Mareike!«, tadelte Sybille lachend zurück. »Ihr saht beide so komisch verschmitzt aus, heute. In der Kantine. Und dann hast du zwei Kinokarten vorbestellt.«
»Tja, was soll ich sagen? Dir entgeht eben nichts.«
»Ha!« Sibylle kiekste vor Begeisterung. So laut, dass sich einige Touristen zu ihnen umdrehten.
Mareike lächelte nachsichtig, dabei war sie selbst unglaublich gespannt auf das Date. Vielleicht würde es ja diesmal etwas werden. Vielleicht wäre er der Richtige. Einer, der blieb, um gemeinsam etwas aufzubauen.
Die Sonne war bereits untergegangen, doch die Lichter der Großstadt ließen die bleigrauen Wolken eigentümlich leuchten. Mit einem Mal spürte Mareike ein unangenehmes Gefühl im Nacken, so als ob jemand sie beobachtete. Abrupt wandte sie sich um, aber da war nur eine Frau mit zwei Kindern, die ungeduldig an ihr zerrten.
Während Sybille ihr ganz aufgeregt eine Frage nach der anderen über das bevorstehende Date stellte, legte die Fähre an.
Die Touristen, die sich bei diesem Wetter nach Hamburg getraut hatten, verließen das Deck. Wie immer warteten Mareike und Sybille, bis das größte Gedränge sich gelöst hatte.
Kaum auf den Steg getreten, verabschiedeten sie sich. Während Sybille zur Bushaltestelle ging, machte sich Mareike auf zu ihrem Wagen. Sie parkte den in die Jahre gekommenen roten Golf gern ein Stück entfernt, um noch ein paar Schritte laufen zu können. Manchmal fuhr sie mit dem Bus vom Anleger Teufelsbrück eine Haltestelle stadteinwärts und ging dann die Seitenstraßen der Elbchaussee hinauf zum Klein Flottbeker Weg, wo sie so gut wie immer einen Parkplatz fand.
Heute jedoch entschloss sie sich, die ganze Strecke bis zum Wagen zu Fuß zu gehen. Es waren lediglich zwanzig Minuten, wenn sie die Abkürzung durch den Jenischpark nahm.
Mareike freute sich auf den Spaziergang durch die verschneite Parkanlage. Beim Laufen ließ es sich wunderbar tagträumen. Im Dämmerlicht konnte sie ein ganzes Stück entfernt drei Jugendliche bei einer Schneeballschlacht sehen, doch ihr Lachen drang kaum zu ihr. Mit einem Mal bemerkte sie die Stille um sich herum. Sogar das Verkehrsdröhnen der Elbchaussee wurde von den schneebedeckten Büschen und Bäumen geschluckt. Jeder Ton, jeder Schritt, selbst ihr Atmen klangen gedämpft. Es war fast ein bisschen mystisch, aber auch unheimlich. Mit einem Mal stellte sie fest, wie allein sie hier auf den gewundenen Pfaden zwischen den verschneiten Grünanlagen war. Sie hatte angenommen, sehr viel mehr Spaziergänger anzutreffen, doch der Park war verwaist.
Wieso bist du nicht mit dem Bus gefahren und die Straße hochgegangen?,schimpfte sie sich.
Sie blies in ihre Handschuhe und sah sich um. Das Gelände stieg vom Ufer her an, sodass sie von hier aus einen schönen Blick auf die Elbe hatte. Die Fähre war längst weitergefahren und der Platz vor dem Anleger bis auf ein paar Wartende verwaist.
Sie wollte schon weitergehen, als sie im Augenwinkel meinte, einen Schatten zwischen den Büschen huschen zu sehen. Ihr Herz begann sofort zu hämmern.
»Hallo?«, rief sie leise und spähte in die von wenigen Laternen durchbrochene Dunkelheit.
Keine Bewegung.
Vielleicht nur ein Vogel? Eine Täuschung?
Sieh zu, dass du aus dem Park kommst!
Sie rückte ihre Tasche zurecht und ging entschlossen weiter.
Schnurstracks hielt sie auf den Ausgang zu und ermahnte sich, nicht zurückzublicken. Sie beschleunigte ihren Schritt, kürzte über eine Wiese ab, während ihre Hand nervös in ihrer Jackentasche mit dem Smartphone spielte. Ihr Blick ging geradeaus, wo eben noch die Jugendlichen Schneebälle geworfen hatten. Sie schienen wie vom Erdboden verschluckt. Was, wenn …
Hör auf! Hör auf mit diesem Kopfkino! Da ist niemand.
Wenige Minuten später erreichte sie die hell beleuchtete Straße und konnte nicht anders, als sich in der vermeintlichen Sicherheit der Laternen umzusehen …
Doch da war niemand. Keiner verfolgte sie.
In ihrem VW Golf war es eisig kalt. Mareike nahm einen Eiskratzer und stieg noch mal aus. So gut es ging, kratzte sie die Windschutzscheibe frei. Die eisige Feuchtigkeit drang sofort durch die Handschuhe, und ihre Finger fühlten sich taub an.
Den Zündschlüssel konnte sie kaum spüren, als sie wieder im Auto saß. Sie wollte starten, aber da nahm sie im Augenwinkel etwas Merkwürdiges wahr.
Die Scheibe an der Fahrerseite war beschlagen, und sie meinte, eine Fingerzeichnung zu erkennen. Keine zwanzig Zentimeter neben ihrem Kopf prangte ein Kreuz, an dem ein Strichmännchen hing. Ein Galgenmann?
Sie lehnte sich vor, sah genauer hin … Es war kein Galgenmann, eher eine Marionette.
Behutsam streckte sie ihre vor Kälte und Nässe zitternden Finger nach der Zeichnung aus. Ungläubig, geradezu behutsam – als könnte sie etwas für immer zerstören. Als sie mit der Fingerkuppe über die feuchte Scheibe fuhr, lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter.
Sie konnte die Linien verwischen.
Die krakeligen Striche waren nicht von außen, sondern von innen auf die Scheibe gemalt worden …
Steif vor Angst saß Mareike da. Ihr Herz schlug wild, und sie hörte das Blut in ihren Ohren rauschen. Augenblicklich war ihr Mund trocken.
Trau dich! Dreh dich um! Schau auf der Rückbank nach!
Bevor sie den Kopf umgewandt hatte, spürte sie feucht-warmen Atem in ihrem Nacken.
Jan Nygård saß allein im Zivilwagen und strich sich Jodsalbe auf die aufgeplatzte Haut seiner Fingerknöchel. Er wartete auf das Brennen, aber es kam nicht. Früher hatte die Salbe immer höllisch gezwiebelt. Beim Spielen in den Steinhügeln bei Slätterna, ein Stück nördlich von Göteborg, hatte er sich oft die Knie aufgeschlagen. Dann hatte seine Mutter die braune Salbe aus dem Badezimmerschrank geholt und dick auf die Schürfwunden geschmiert. Was hatte er gejammert. Aber das Brennen gehörte irgendwie zur Heilung dazu, gehörte zu einem geglückten Sommer, zu einem Stückchen Mut.
Er drehte die Tube zu und steckte sie zurück in seinen Parka. Heutzutage war von dem Brennen allerdings nichts mehr zu spüren.
Alles weg, dachte Jan. Nun war die Salbe so harmlos, dass man nicht einmal wusste, ob sie überhaupt half.
ImRückspiegel musterte er seine Schrammen auf der linken Wange. Der dickere der beiden Burschen hatte ganz schön zugelangt. Seufzend entschied er sich, sie einfach so zu belassen.
»Wo bleibst du denn?« Riya Midani, seine indischstämmige Partnerin beim LKA, klopfte mit ihrer Taschenlampe gegen die Autotür. »Jan?«
»Komme.«
»Die Hunde haben angeschlagen.«
»Wirklich? Bin gleich bei dir … Der Chef?«
»Dieck kommt erst, wenn wir definitiv etwas haben.«
Jan nickte und sah zu Riya, die durch den Schnee einen schmalen Trampelpfad zu einem Wäldchen hinaufstapfte. In ihrer pinken Steppjacke aus Polyester sah sie fülliger aus als sonst. Im Kegel der Autoscheinwerfer konnte er ihre Silhouette zwischen den Bäumen erkennen, dann hatte sie der Wald verschluckt.
Die Nacht hatte neuen Schnee gebracht. Weiß, rein. So unberührt.
Jan warf einen letzten Blick in den Spiegel. Der Mann, der ihm entgegenblickte, war nicht in bester Verfassung. Augenringe und Krähenfüße, kaum Schlaf, nachdem der Anruf vom Revier ihn in aller Herrgottsfrühe geweckt hatte.
Eine Meldung war eingegangen. Die Stimme eines Unbekannten, durch eine Software verfälscht. Er hatte nur wenige Worte gesagt.
Ihre Lebensfäden zerschnitten.
Sie ruhen beim Grenzhaus im Wald.
Die Frau in der Telefonzentrale hatte nachhaken wollen, doch da hatte der Anrufer bereits aufgelegt.
Seufzend öffnete Jan die Fahrertür und zog die in die Jahre gekommene, reichlich klobige Fellmütze über den Kopf – noch so eine Erinnerung aus Schweden und an seinen Vater, der sie einst getragen hatte.
Dann folgte er seiner Kollegin von der schmalen Straße aus in das Waldstück. Von Weitem konnte er die Bundesstraße 432 hören. Der frühmorgendliche Berufsverkehr würde bald seinen Höhepunkt erreichen.
»Was habt ihr?«
Jan schloss zu Riya auf, die ihm zeigen wollte, was die beiden Blut- und Leichenspürhunde ungefähr fünfzig Meter von der Straße entfernt gefunden hatten. Sie drückte mehrere Birkenäste beiseite.
Neugierig verfolgten die beiden belgischen Schäferhunde, was vor sich ging. Obwohl sie aufs Wort gehorchten, war ihnen anzumerken, wie aufgeregt sie waren. Jan zückte seine Stablampe und leuchtete.
Im Schatten der Birken war eine Blutspur zu erkennen. Der von den Hundenasen aufgewühlte Schnee sah aus wie aufgeplatzte frische Innereien.
»Ziemlich viel Blut«, stellte Jan fest. »Weiter unten haben sie keine Spur gefunden?« Er drehte sich zu den beiden Hundeführern um, die dicht neben ihren Tieren standen und sie an der kurzen Leine hielten.
»Nein«, sagten sie unisono.
»Gut. Folgen wir der Spur. Sagst du Dieck Bescheid, Riya?« Er ließ die Hand über die Birkenäste gleiten. Einige waren eindeutig abgeknickt worden. Ob von den Hunden, von Riya oder dem Täter, ließ sich nicht genau sagen.
Durch die Birken, die starr und eisgefroren dastanden, konnte er den zerfetzten Himmel erkennen. Die Sonne war im Begriff aufzugehen, aber noch drang kaum ein Schimmer durch die schweren Wolken. Bald würde es wieder schneien.
Riya winkte den beiden Hundeführern und funkte ihren Dezernatsleiter an.
»Dieck soll sich beeilen. Wir brauchen das volle Programm«, wies Jan sie an und sah zu, wie die Hunde die Fährte aufnahmen. Im tanzenden Licht der Taschenlampen folgte Jan ihnen tiefer in das Wäldchen.
Nach gut hundert Metern blieben die Hunde vor einem flachen, schneebedeckten Hügel stehen. Die Muskeln angespannt, starrten sie auf den Schneehaufen, schnüffelten und wären am liebsten losgeschossen. Doch dazu waren sie zu gut ausgebildet. Winselnd rissen sie an ihren Leinen und scharwenzelten um die Hundeführer, die beruhigend auf sie einredeten.
Nachdem Jan ein paar Schritte näher gekommen war, konnte auch er den Leichengeruch wahrnehmen. Der süßliche Gestank der Verwesung drang durch die klare, eiskalte Luft. Es war wahrscheinlich bloß der Kälte zu verdanken, dass es nicht allzu bestialisch roch.
Behutsam trat er noch näher heran. Der Hügel entpuppte sich als von Schnee bedecktes Grüngut. Ein paar Äste und abgesägte Stämme waren hier irgendwann einmal abgelegt worden. Nichts Ungewöhnliches.
Der Strahl seiner Taschenlampe leckte über den Schnee, dann über eine fahle Hand, einen Arm … Schließlich erhellte der Lichtkegel dunkle Haare, ein Gesicht … oder das, was davon übrig war. Nahezu sanft hatte sich der Schnee auf Blut und gesprengte Knochen gelegt. Gefasst trat Jan einen weiteren Schritt um den Hügel herum und leuchtete.
Vor ihm saßen zwei Frauen.
Nur der Schnee der letzten Nacht bedeckte ihre Haut.
Die beiden lehnten mit dem Rücken an den abgesägten Stämmen, saßen im Schnee, als hätten sie sich nach einer langen Wanderung dort niedergelassen, um sich ein wenig auszuruhen.
Um für die Ewigkeit innezuhalten, dachte Jan und ließ den Strahl seiner Taschenlampe über das gleiten, was einst ihre Gesichter gewesen waren.
Der Schwarzhaarigen hatte man ins Gesicht geschossen oder geschlagen. Die linke Wange und ein Auge fehlten. Kieferknochen ragten gesplittert aus dem pudrigen Schnee. Sie zeigte Spuren der Verwesung.
Die Blonde hatte die Augen geöffnet und starrte mit gebrochenem Blick in die Ferne. Im Gegensatz zur anderen Frau war ihr Hals – wahrscheinlich durch ein Projektil – aufgerissen, ihr Antlitz jedoch nahezu unversehrt. Sie hatte den rechten Arm um die Schulter der anderen gelegt, während sie den linken auf ihr hochgezogenes Knie stützte. Die linke Hand streckte sie aus, als wollte sie, dass Jan etwas hineinlegte. Oder stand der Zeigefinger ab? Zeigte sie auf etwas?
Unwillkürlich wandte Jan den Kopf, um zu sehen, auf was die Tote deuten mochte. Dort hinten im Dunkeln standen die Birken schlank und gerade. Sonst war nichts zu erkennen.
Riya, die Jan gefolgt war, hatte seinen suchenden Blick bemerkt. »Ich geh nachgucken.«
»Sei vorsichtig. Geh von der Seite ran«, sagte Jan, der Sorge hatte, sie würden wichtige Spuren zertrampeln.
Riya schlug einen großen Kreis, während er abermals den Schein seiner Lampe über die beiden nackten Frauen gleiten ließ. Erst jetzt fiel ihm auf, wie rosig ihre Wangen unter der hauchdünnen Schneedecke wirkten. Sie waren geschminkt. Ihre Wangen waren mit Rouge bestrichen oder gepudert worden, was ihnen einen gesunden Teint gab. Außerdem trugen sie Lidschatten und Wimperntusche. Die Haut ihrer Lippen war aufgeplatzt, doch sie leuchtete vom Lippenstift in einem warmen Rot.
Aufgehübscht, grübelte Jan. Hübsch gemacht für den Tod oder für …
Im nächsten Moment sah er unter den Schneeflocken das Metall in der Handfläche der Zeigenden. Er richtete den Strahl der Taschenlampe darauf. Es handelte sich um eine schwere Sechskantmutter mitsamt einer großen Unterlegscheibe. Jan musste schlucken. Dann ging er in die Knie und warf einen Blick auf den Handrücken.
Säure stieg aus seinem Magen empor, er atmete dagegen an.
Aus ihrer Hand ragte eine Öse, eine wuchtige Ringschraube.
Im nächsten Moment hatte er sich so weit gefangen, dass er ihre andere Hand ableuchtete, die sie über die Schulter der zweiten Leiche gelegt hatte. Hier war ebenfalls eine Öse zu sehen. Er ließ den Lichtkegel über die Hände der zweiten Frau wandern. Auch sie war nicht verschont worden. Er rieb sich das Gesicht. Beiden Frauen waren Schrauben durch die Hand getrieben und Ösen am Handrücken angebracht worden.
Die Rufe einiger Krähen verirrten sich zu ihm. Der Lärm der nahen B 432 war zu einem steten Rauschen angeschwollen.
Jan atmete durch. Dann trat er einen weiteren Schritt vor. Etwas Schnee rutschte von der Brust der dunkelhaarigen Toten. Der Anblick ließ ihn erschaudern. Auf Höhe ihres Herzens war ein Stück herausgeschnitten worden. Im vernarbten Loch saß eine matte, runde Metallplatte. Zumindest nahm er an, dass es Metall war. Sie war etwa so groß wie der Boden eines Wasserglases.
Jan widerstand dem Drang, näher zu treten oder gar die Wunde auszuwischen, auf deren Rand sich die Flocken so sanft und geradezu anmutig niedergelassen hatten. In einem verborgenen Winkel seines Geistes spürte er eine gewisse Faszination, wie er sie bei Morden schon des Öfteren erlebt hatte. Was immer die Opfer durchlitten hatten – so etwas wie das hier hatte er noch nie gesehen. Und er begann sich zu fragen, welcher kriminelle Geist so etwas Abartiges ersann.
»Da hinten ist nichts«, riss ihn Riya aus seinen Gedanken.
»Hm«, brummte er. »Wir brauchen die ganze Truppe. Und Licht. Jede Menge Licht hier im Wald.«
Während er Riya noch einmal funken hörte, streifte sein Blick erneut das teils zerfetzte Gesicht der Schwarzhaarigen. Der Anblick ließ ihn schwer seufzen. Er wandte sich lieber der zweiten Frau zu, deren geschminkte Wangen sie so frisch aussehen ließen. So lebendig. Doch auch sie war ein Opfer der Krankheit Gewalt geworden. Gewalt …
Unwillkürlich tastete er nach seiner verletzten Hand. Die verdammte Salbe brannte immer noch nicht. Er hatte keine Ahnung, ob sie wirkte.
Jan spürte keine Schmerzen.
Zwei Stunden später hielten Jan und Riya vor einem Spätkauf im Schanzenviertel. Die Scheiben des Ladens waren über und über mit Plakaten beklebt, selbst die Eingangstür war mit Ankündigungen von Bands und billigen Telefontarifen zugekleistert.
Die Spurensicherung hatte das Wäldchen abgesperrt, und eine ganze Horde Beamter hatte alles akribisch abgesucht und jede noch so winzige Spur vermessen. Tausende Proben waren eingetütet worden und warteten auf die Untersuchung. Die beiden Leichen befanden sich auf dem Weg zur Rechtsmedizin im Uniklinikum Eppendorf.
»Der Anruf kam eindeutig von hier. Die haben die IP gecheckt und ihn zurückverfolgt.« Riya zog die Tür auf. »Kommst du?«
Jan zog seine altmodische Mütze zurecht und blieb auf dem verschneiten Bürgersteig einen Moment stehen. Die Reklame für einen Callshop blinkte tapfer gegen das Schneetreiben an.
»Dass es solche Läden noch gibt.«
»Ich wunder mich auch jedes Mal, wenn ich die sehe.« Riya hielt ihm geduldig die Tür auf. Die beiden traten ein. »Der Besitzer heißt Naim Yilmaz. Er war heute früh hier, als telefoniert wurde.«
Ein schmaler Gang, nicht breiter als anderthalb Meter, führte von der Tür am Tresen vorbei, hinter dem ein durchtrainierter Mann mit Vollbart stand. Aufwendige Tattoos zierten seine muskulösen Arme. Als er Jan sah, musste er lächeln.
»Ach, nein. Unser Clint Eastwood.«
»Nur nicht so alt. Komm her, du«, begrüßte Jan den Besitzer und tätschelte ihm brüderlich die Wange.
»Ihr kennt euch?«, fragte Riya überrascht.
»Aus dem Boxkeller«, erklärte Jan und wandte sich an Naim. »Dein Laden? Nicht schlecht. Dachte, du klaust Autos oder machst in Drogen oder so.«
»Oder so. Genau, Alter. Für so ’n Rassismus-Scheiß solltest du …« Er deutete einen Schlag an. »Boom! Uppercut und ab auf die Bretter.«
»Ach.« Jan winkte ab. »Du triffst doch nicht mal den Sandsack, mein Großer.« Die beiden klatschten sich ab, und Jan wurde schlagartig ernst. »Was ist passiert?«
»Das war ziemlich schräg. Da war einer hier. Kurz nachdem ich meine Schicht angefangen habe. Da drüben …« Naim kam um den Tresen herum und führte die beiden in den »Telefonsaal«, wie er das Kabuff nannte, einen schlichten quadratischen Raum mit kalter Neonbeleuchtung und drei Reihen von Computer-PCs, mit denen man im Internet surfen konnte. »Die meisten kommen her, um preiswert mit ihren Familien im Ausland zu telefonieren oder zu skypen. Nach Libyen, Angola, Laos …«, erklärte Naim.
»Macht man das heute nicht vom Laptop oder Handy aus?«, fragte Jan, während er seinem Boxkumpel zu einem der Plätze folgte.
»Du würdest dich wundern, wie viele noch einfache Handys ohne Internet haben. Es kommen auch Leute her, um was auszudrucken. Drucker sind noch seltener.«
»Aha.«
»Okay, stimmt schon.« Naim zuckte die Schultern. »Meine Branche ist am Aussterben. Ist halt so.«
Jan blickte sich um und sah, was er meinte. Nur ein einziger Kunde hockte in der letzten Reihe, hatte die Kapuze seines Pullis übergezogen und chattete im Internet. Ansonsten war der Shop leer.
»Ich mach meinen Schnitt vorne mit Bier und Chips. Ach ja, und mit Heroin, Koks, Crack, Speed. Das Übliche halt. Weißt du ja.« Naim lachte schräg und wollte einen Stuhl von einem der Computertische ziehen.
»Halt! Fass bitte nichts an, okay?«, stoppte Jan ihn.
»Alles easy.« Naim hob die Hände. »Ihr macht ja ein Ding draus … Also passt auf. Hier drüben hat er gesessen. Und das war ziemlich strange.«
»Strange?« Riya zückte ihr Handy. »Wieso?«
»Weil der Typ wie aus ’nem S.W.A.T-Team aussah.«
»S.W.A.T?«
»Er hatte ’n roten Kapuzenpulli an und so ’ne Sturmhaube über Kinn und Mund gezogen. Könnte auch ’ne Skimaske gewesen sein. Außerdem trug er ’ne Sonnenbrille. So ’n Pornoding. So ’ne verspiegelte.«
»Marke Highway-Cop?«, fügte Jan an.
Naim lachte. »Ja, Mann. Ich dachte, der will mich ausrauben. Er ist reingekommen, ich sag Hallo, aber der sagt nichts. Legt nur Geld auf den Tresen und zeigt, dass er zum Computer will. Telefonieren.«
»Zeigt?« Jan führte die Hand ans Ohr, als telefonierte er. »So?«
»Ja, genau. Der hat kein Wort gesagt. Dann ist er hierher. Zu dem Platz da. Er hat sich das Headset unter den Kapuzenpulli geschoben. So wie der da.« Naim nickte zu seinem einzigen Kunden. »Aber sein Pulli war knallrot. Na ja, er setzt sich’s Headset auf, und das war’s.«
»Wie, das war’s?«
»Ich hab ein paar Sachen sortiert, da seh ich ihn schon wieder am Tresen vorbeigehen und raus. Der war nicht mal drei Minuten hier drin.«
Riya hatte bereits das LKA in der Leitung. »Wir brauchen hier die Spusi … Was? Ja, ist mir klar, dass die alle noch im Wald sind. Schickt ein kleines Team. Wir sperren hier ab.«
Naim sah Jan fragend an.
»Du musst für heute dichtmachen, wahrscheinlich auch morgen. Die Spurensicherung kommt her, sie nehmen Fingerabdrücke und Faserspuren. Nur zur Sicherheit.«
»Was ist denn überhaupt passiert? Die haben gesagt, dass ihr kommt, weil der Typ euch heute Nacht angerufen hat.«
»Darf ich dir leider nicht sagen.« Jan wandte sich dem Kunden zu. »Kommen Sie bitte zum Schluss und gehen Sie. Der Laden wird geschlossen.«
Der Gast hielt lässig die Hand hoch, um zu signalisieren, dass er Jan verstanden hatte.
»Auch wenn der Mann von heute Morgen eine Sturmmaske trug«, sagte Jan zu Naim. »Kannst du ihn beschreiben?«
»Beschreiben? Bin ich Goethe? … Ich hab was Besseres für euch.«
Mit einem zufriedenen Lächeln zog Naim einen Tablet-PC unter seinem Tresen hervor. Er nickte zur Wand hinter dem Ladentisch, wo Jan eine Kamera erkennen konnte.
»Die Festplatten sind im Büro. Wir speichern alles ab. Warte, ich scroll mal.« Er drehte das Tablet, sodass Riya und Jan einen guten Blick darauf hatten.
Nach wenigen Clicks war er an der richtigen Stelle angelangt und startete die Wiedergabe. »So. Hier kommt er in den Laden«, erklärte Naim.
Jan lehnte sich an den Tresen und beugte sich neugierig über das Tablet.
Die Aufzeichnung zeigte den schmalen Eingang des Spätkaufs. Im Hintergrund konnte Jan die Tische mit den PCs erkennen, es waren keine Kunden da. An der Seite des Bilds stand der Tresen mit der Kasse und den üblichen Süßigkeiten und Zigaretten. Die Aufnahme war gestochen scharf, kein Vergleich zu Jans ersten Jahren bei der Polizei, als noch vieles auf VHS aufgezeichnet worden war und die Verbrecher auf den Tapes wie Gespenster ausgesehen hatten.
Jan verengte die Augen. Das Gesicht des Mannes war nicht zu erkennen, weil er die Kapuze seines roten Pullis tief in die Stirn gezogen hatte, eine verspiegelte Sonnenbrille trug und die Skimaske den Rest verdeckte.
»Wie einer von euch. SEK oder so«, meinte Naim. »Spooky.«
Der Typ deutete an, dass er telefonieren wolle, und ging dann an den PC-Platz, den Naim ihnen gezeigt hatte. Nichts geschah, sodass Naim vorspulte.
»Stopp, geh noch mal zurück«, bat Jan.
Hinten bei den PCs löste sich ein Schatten, der Mann stand auf und tauchte aus dem Bild. Kaum drei Sekunden später erschien sein Schemen erneut. Er hielt den Kopf gesenkt und ging ein paar Schritte vor bis zum Tresen, über dem die Kamera angebracht war.
»Viel ist nicht zu erkennen«, meinte Jan und sah den Mann aus dem Bild verschwinden und den Laden verlassen. Doch plötzlich blieb der Unbekannte stehen.
Er hob den Kopf.
Ganz langsam – wie in Zeitlupe – sah er auf.
Er blickte nicht etwa zum Tresen, sondern sah höher und höher …
Die Kamera spiegelte sich in seinen Brillengläsern.
Dann griff der Unbekannte ganz behutsam nach seiner Brille und nahm sie ab. Im nächsten Moment starrte er unverhohlen in die Kamera. Direkt hinein.
Jan lief es kalt den Rücken hinunter.
Dieser Fremde fixierte ihn, starrte ihm direkt in die Augen. Sein Blick war kalt. Er blinzelte nicht, er bewegte sich nicht. Er starrte ihm bloß mit seinen dunklen, beinahe schwarzen Augen entgegen … Wie eine Raubkatze, die ihr Opfer anpeilt.
»Der sieht uns an, als wüsste er, dass wir zuschauen«, flüsterte Riya, die ebenfalls gebannt vom Anblick dieses Mannes war.
Jan bekam ein extrem ungutes Gefühl. Mit seinem harten Blick schien dieser Mann seine Seele aufsaugen zu wollen …
Naim tippte auf Stopp, und der Blick gefror.
»Glaubst du, der ist unser Täter?«, fragte Riya und rieb sich fröstelnd den Oberarm.
»Weiß nicht.« Neugierig beugte Jan sich noch weiter vor und sah sich jeden Zentimeter Haut, die Iris, die Augen genauestens an.
»Er lacht uns aus«, sagte er dann.
Tatsächlich war unter der Skimaske ein Grinsen zu erahnen.
»Er weiß auf jeden Fall, dass es die Kamera gibt. Und er weiß auch, dass wir uns die Aufnahme ansehen werden«, warf Riya ein. »So kalt, wie der schaut. Unheimlich.«
»Wenn er unser Täter ist, dann spielt er mit uns. Er weiß, dass wir hier sind. Er weiß, dass wir ihm in die Augen sehen werden. Und er scheint es zu genießen. Er … Hey!« Jan fuhr herum. Der Kunde hatte den Telefonsaal verlassen, sich an ihm vorbeigedrückt und ihm dabei in Wildwest-Manier in die Seite gestoßen. Jan roch kalten Zigarettenqualm, vermischt mit dem unangenehm süßlichen Duft von Desinfektionsmittel. Ohne sich umzudrehen, zog der Mann die Tür auf und trat hinaus in den Schnee.
»Herr Yilmaz, wir brauchen die Festplatte. Vielleicht war er vorher schon mal hier. Wie weit reichen die Aufnahmen zurück?«, wollte Riya wissen.
»Achtundvierzig Stunden. Es ist ja nur dafür da, falls hier jemand einbricht oder was klaut.«
Jan nickte und sah durch die beklebten Schaufensterscheiben, wie der Mann – den Kopf eingezogen, die Hände in den Taschen seiner Jeans – zwischen den geparkten und zugeschneiten Wagen verschwand.
Etwas klauen …, hallte es in seinem Kopf nach.
Jan klopfte seinen Parka ab.
»Verdammt!« Blitzartig riss er die Tür auf und rannte los.
»Was ist denn?«, rief Riya ihm nach, aber Jan hörte sie nicht mehr, er war bereits auf dem Gehweg.
»Hey!«, brüllte er, wischte zwischen zwei geparkten Wagen hindurch und lief auf die Straße. Ein Hupen ertönte. Jan fuhr herum. Ein Lieferwagen legte eine Vollbremsung hin, aber er achtete nicht weiter drauf, sondern rannte weiter. Er hatte nur den Dieb im Blick. Mittlerweile hatte der Mann ebenfalls zu rennen begonnen, war gut hundert Meter vor ihm.
Da verschwand der Kerl durch einen Torbogen.
Jan setzte ihm nach. Endlich erreichte er das Tor und lief durch die Einfahrt bis auf den Hof.
Ein typischer Hamburger Hinterhof. Er war menschenleer. Keine zufallende Tür, alles lag ruhig da. Zu ruhig.
Jan hielt inne. Tief holte er Luft. Sie schnitt eiskalt in seine Lungen.
Keine Spur von dem Mann zu sehen.
Alle Türen waren geschlossen und der Schnee von zu vielen Schritten aufgewühlt. Unmöglich, hier Fußspuren zu folgen.
Irgendwo in einem Nebeneingang? Oder in den zweiten Hinterhof gelaufen? Mist. Hier gibt’s tausend Verstecke.
Nahezu lautlos ging Jan tiefer in den Hinterhof und sah sich um. Nach Luft ringend, schloss Riya zu ihm auf. Obwohl sie wesentlich jünger war als er, war sie nicht gerade in Topform.
»Was ist denn passiert?« Sie musterte ebenfalls die Ausgänge. »Was ist mit dem Typen?«
»Dieser Typ hat mich beklaut. Er hat meine Brieftasche.«
»Ganz schön dreist, einen Polizisten zu beklauen.«
Scheiß drauf, dachte Jan. Er hatte Besseres zu tun, als einem Taschendieb hinterherzulaufen, der sicherlich über alle Berge war. Das Ärgerliche waren nicht die siebzig Euro, die noch drin waren, sondern die ganzen Scherereien wegen seiner Ausweise und Karten.
»Vergiss es«, schimpfte Jan. »Der kann hier überall sein. Keller, Seitenflügel. Vielleicht wohnt er hier oder …«
»Da!« Riya hatte etwas gesehen, und Jan riss den Kopf herum.
Ein Schatten! Dritter Stock. Hinter dem Fenster zum Treppenhaus.
Sofort spurtete Jan los. Er stieß die Tür zum Seitenflügel auf, Treppe hoch, seine Motorradstiefel polterten auf den Holzstufen. »Ich weiß, dass du hier bist! Komm raus!«
Zweiter Stock. Er überlegte, ob er seine Waffe ziehen sollte.
Er hatte schon oft erlebt, was passierte, wenn sich Menschen in die Ecke gedrängt fühlten. Wenn sie keinen Ausweg mehr sahen, wurde es meistens unangenehm.
Er entschied sich trotzdem gegen die Waffe, nahm aber sehr behutsam und leise die Stufen in den dritten Stock. Unter ihm hörte er, wie jemand eine Wohnungstür öffnete und mit Riya sprach.
Vorsichtig schob er sich weiter vor, bekam Sicht auf die dritte Etage. Drei Türen gingen von dort ab. Über ihm führte die Treppe weiter hinauf zum Dachboden.
Er horchte … Keine Schritte, kein Keuchen, kein Rascheln.
Jan spähte um das Geländer herum.
Die grobe Holztür zum Speicher war nur angelehnt.
»Polizei. Ich bin von der Polizei«, rief er und zog die Tür langsam auf.
Ein paar Tauben stoben auf und flatterten panisch umher. Der Dachboden war nicht ausgebaut, sondern so, wie er vor gut hundert Jahren errichtet worden war. Wäscheleinen spannten sich über die gesamte Breite. Mehrere Parteien hatten Laken und Kleider aufgehängt.
»Ich bin bewaffnet.« Nun zog Jan doch seine Waffe. Die Wäsche und das Gebälk nahmen ihm die Sicht, und er hatte keine Lust, gegen jemanden kämpfen zu müssen, der womöglich ein Messer zog. Messerstechereien waren das Schlimmste. Da halfen auch die ganze Boxerei und das Nahkampftraining wenig, das er zusammen mit Riya regelmäßig absolvierte.
Entschlossen trat er durch die Laken.
Eines der alten Dachfenster war zerschlagen. Wahrscheinlich schon vor Jahren. Jemand hatte dicke Plastikplanen draufgeklebt, aber auch die waren zerrissen. Und das bereits sehr lange, wie Jan anhand der Schicht Vogelscheiße vermutete.
Ohne zu zögern trat Jan vor und blickte hinaus. Im Südosten konnte er den Turm von St. Michaelis erkennen und ein Stück vom geschwungenen Dach der Elbphilharmonie erahnen. Der bleierne Himmel ließ die schneebedeckten Dächer Hamburgs zu einem grauen Wellenmeer werden. Eine sanfte Brise trieb ihm Schnee von den Schindeln ins Gesicht. Die Spuren auf den Dachpfannen waren unübersehbar. Sie führten schräg hoch zum First und verschwanden auf der anderen Seite.
Kurzerhand zog Jan sich hoch, drückte sich durchs Fenster. Weiteres Glas splitterte, aber noch immer spürte er nichts. Nach zwei Atemzügen war er draußen, stand gebückt auf den Schindeln.
Unter ihm der Hof, verdammt tief – aber was dieses flinke kleine Aas konnte, konnte er schon lange.
Jan fixierte die Spuren, den First … Schön langsam, Schritt um Schritt, schräg hinauf. Das musste zu schaffen sein …
»Jan!«, drang Riyas besorgter Ruf zu ihm. »Du hast sie ja nicht mehr alle! Komm rein! Ey! Jan!« Sie versuchte, nach seinem Parka zu greifen. »Verdammt! Komm schon! Ich hab sie. Ich hab sie gefunden.«
»Was? Wen?«
»Du bist doch bescheuert! Komm rein, du sturer Idiot! Deine Brieftasche. Das gammelige Ding.« Sie hielt ihm die abgewetzte Brieftasche hin. »Lag auf dem Treppenabsatz.«
Verwirrt kletterte Jan durch das Fenster zurück auf den Dachboden, woraufhin Riya ihm einen leichten Hieb gegen die Schulter verpasste. »Wegen so was brichst du dir das Genick. Echt jetzt. Manchmal bin ich direkt froh, dass aus uns nichts geworden ist.« Kopfschüttelnd reichte sie ihm die Brieftasche.
»Der hat mich beklaut«, meinte er trocken. »Das Geld is’ weg.«
»Ach«, entgegnete sie nur.
»Sonst ist noch alles da. Führerschein, Perso, Kreditkarten … Geht übers Dach und riskiert sein Leben für siebzig Euro.«
»Geht aufs Dach und riskiert sein Leben für einen, der sein Leben für siebzig Euro riskiert!«, schnaufte sie und wandte sich ab.
»Riya?« Einen Moment lang wusste er nicht, was er sagen sollte. Dann legte er den Arm um sie und zog sie in eine versöhnliche Umarmung. »Danke«, meinte er endlich und lächelte. Er mochte seine jüngere Kollegin, die ihn so oft mit Süßigkeiten nach dem Rezept ihrer Großmutter überraschte. Einmal im Monat lud sie ihn zum Curry oder zu Scholle mit Speck und Bratkartoffeln ein, ihrer Leibspeise.
»Jaja. Schon gut.« Brummend winkte Riya ab. Sie war immer noch sauer vor Sorge. »Wenn du dich umbringst, bring ich dich um! Klar?«, frotzelte sie und verschwand ins Treppenhaus.
Jan sah ihr stumm nach. Sie hatte es nicht leicht mit ihm. Das hatte wohl keiner, der Freundschaft mit ihm schloss. Seit nunmehr drei Jahren nicht mehr.
Mareike erwachte. Sie tauchte aus der Schwärze, als schwämme sie durch einen finsteren, brackigen See. Zug um Zug. Beinahe schwebend gelangte sie an die Oberfläche und trieb weiter dahin.
Vergeblich versuchte sie, die Augen zu öffnen. Hatte sie überhaupt noch Augen? Sie spürte so wenig. Der Schmerz war ein dumpfes Pochen.
Sie hatte das Gefühl, gar nicht richtig denken zu können.
Alles fiel ihr so schwer.
Reglos starrte sie mit geschlossenen Lidern in die Schwärze und versuchte, sich auf das Pochen zu konzentrieren. Sie lauschte ihrem Atem, wie sie es sonst jeden Donnerstagabend beim Yoga tat. Einatmen, ausatmen …
Finde deine Mitte, komm zu dir, lass den See hinter dir. Die Finsternis … Tauche auf, Mareike. Du schaffst das.
Irgendwann vor Stunden – oder war es Tage her? – hatte sie ihr Bewusstsein verloren.
Mit dem nächsten Atemzug kamen die Bilder. Ihr VW Golf, die Zeichnung auf der Scheibe, der Kampf. Schlagartig kehrte ihre Erinnerung zurück. Da war der Schatten. Er hatte sie gepackt, hatte sie brutal gegen die Scheibe gedrückt, gegen die Zeichnung der Marionette. Blut war ihr aus der Nase und dann aus dem Mund gelaufen, so fest hatte er zugegriffen.
Endlich schmeckte sie etwas.
Der metallene Geschmack ihres Blutes. Sie hatte sich ein Stück ihrer Zunge abgebissen!
Ungläubig tastete sie mit der Zunge in ihrem Gaumen umher und zuckte vor Schmerzen zusammen. Sie wollte das Stück ausspucken, aber sie konnte den Mund nicht öffnen.
Immerhin spürte sie jetzt ihren Rücken, spürte kaltes Metall, an dem sie offenbar lehnte.
Öffne die Augen. Mareike. Du schaffst es. Du öffnest jetzt die Augen.
Sie waren zugeschwollen, und es gelang ihr lediglich, sie einen winzigen Schlitz weit zu öffnen. Grelles Licht strahlte sie direkt an. Geblendet kniff sie die Augen zusammen.
Mareike blinzelte und versuchte es ein zweites Mal. Sie strengte sich an …
Los! Mach!
… endlich mehr zu erkennen, aber ihre Augen begannen zu tränen.
Der Boden war betoniert, rissig und durch die Jahre fleckig, sie spürte ihn jetzt unter den Händen. Endlich konnte sie die Lippen ein wenig öffnen und das tote Stück Zungenspitze hinausschieben. Sie spürte, wie ihr das Blut aus dem Mundwinkel lief, genau wie damals, als sie die Weisheitszähne gezogen bekommen und noch mit der örtlichen Betäubung in der U-Bahn nach Winterhude gesessen hatte. Sie hatte geblutet, ohne es zu merken, und die ganzen Pendler und Schüler hatten sie wie eine Aussätzige angestarrt, als ihr das Gemisch aus Spucke und Blut aus dem Mund geronnen war.
Abermals öffnete sie die Lider.
Allmählich gewöhnte sie sich an das blendende Licht. War es ein Strahler, den jemand – den er – direkt auf sie gerichtet hatte?
Im Auto … das war doch ein Er gewesen? … Ja, da war sie sich sicher.
Ihr Blick wurde klarer. Eine in die Jahre gekommene Lagerhalle. Strahler wie auf einer Baustelle standen herum. Rechts und links eine Reihe Oberlichter. Spinnenweben, verrostete Eisenträger. Ein Schiff, halb zugedeckt, und eine lange Werkbank, deren Regale und Fächer jedoch so gut wie geplündert waren. Lange milchige Plastikplanen hingen von der Decke und trennten den hinteren Teil der Halle ab.
Sie sah hinauf zum Dach. Es war sicher zehn Meter hoch und bestand aus Hunderten uralten Glasscheiben. Sie waren matt und mit Moos und Grünspan besetzt. Auf den meisten lag Schnee, ein paar waren gesplittert.
Ein massiver Haken baumelte von einem Kran, dessen Schienen an der Decke entlangführten. Das alles war unerreichbar hoch. Wahrscheinlich waren hier einmal Maschinenteile gefertigt worden.
Mit einem Mal setzte ein Tosen ein. Etwas jagte auf sie zu, aber sie konnte nicht schnell genug den Kopf herumdrehen. Etwas griff sie an und …
Das Getöse wurde zu einem Flattern, einem Gurren. Erleichtert stellte sie fest, dass es nur ein Dutzend Tauben war, die aufgeregt über sie hinwegzogen, um sich dann irgendwo in der Stahlkonstruktion des Hallendachs niederzulassen.
Mareike sah an sich hinab. Ihre Jeans war an den Knien aufgescheuert, doch der Knopf saß fest, der Reißverschluss war geschlossen. Alles noch an seinem Platz. Zum Glück. Ihre Bluse starrte vor Dreck, doch sie hatte sie noch an – Gott sei Dank. Nur ihre Jacke war fort. Ihre Füße steckten noch immer in ihren Winterstiefeln.
Metall knallte.
Erschrocken fuhr sie zusammen.
Irgendwo wurde eine Schiebetür aufgezogen.
Mareike wollte rufen, aber ihre Stimme versagte. Sie bekam kaum Luft und brach hustend zusammen.
Streng dich an!
Endlich gelang es ihr, den Arm zu heben. Jedoch nur ein Stückchen. Zu ihrem Entsetzen wurden ihre Handgelenke von dicken Metallringen umschlossen. Sie war gefesselt. Irgendwo hinter sich am Boden. Sie riss die Hände vor. Nichts zu machen. Panik erfasste sie. Ihr Herz begann zu rasen, der Schweiß brach ihr aus. Er tropfte von den Brauen in ihre Augen, die sofort brannten. Unwillkürlich wollte sie darüberwischen, doch es ging nicht! Ihr Atem ging nur noch stoßweise, ihr Blickfeld schien kleiner und immer kleiner zu werden … Als die Ohnmacht nach ihr griff, zwang Mareike sich, dagegen anzuatmen.
Nach einiger Zeit, die ihr unendlich lang vorkam, hatte sie sich wieder im Griff. Als sie den Kopf neigte, konnte sie erkennen, dass ein fingerdickes Seil von den Metallringen ihrer Handgelenke zu einer Öse im Boden führte. Blankes Eisen, das mit dicken Schrauben an den Betonboden fixiert worden war. Sie zog daran, doch das Metall war stabil. Irgendwie musste sie ihre Fesseln zerschneiden.
Immerhin gelang es ihr nach zwei Anläufen, sich hinzuknien. Erschöpft hielt sie inne. Sie wusste nicht, wie sie hierhergelangt war. Im Auto hatte sie geschrien und um sich geschlagen. Sie meinte sich noch daran zu erinnern, dass er ihr im Auto eine Spritze in den Hals gerammt hatte. Sicher war sie sich nicht, doch das würde ihre Benommenheit erklären.
Mareike nahm all ihre Kraft zusammen und zerrte am Seil, aber es war aussichtslos. Es saß einfach zu fest.
Angespannt sah sie sich um.
Neben ihr, aber gut zwei Meter entfernt, standen ein paar Stative an der Wand. Auf ihnen steckten die klobigen Strahler.
Verzweifelt versuchte sie, sich hinzulegen und mit den Füßen eines der Dreibeine umzustoßen. Wenn sie es erwischte, würde der Scheinwerfer vielleicht umfallen, und das Glas würde zersplittern. Vielleicht könnte sie dann mit einer Scherbe das Seil …
Würde … könnte …
Da hörte sie ein feines Quietschen, rhythmisch, wie von einem bockigen Einkaufswagen. Es drang ihr durch Mark und Bein. Verzweifelt versuchte sie auszumachen, von wo es kam.
Schritte knirschten auf dem rauen Betonboden.
Das Quietschen wurde lauter, und ein Klirren und Rappeln gesellten sich hinzu.
Da! Eine Bewegung hinten in der Halle, in einer der schattigen Ecken. Ein hagerer Mann im weißen Kittel trat ins Tageslicht. Seine leichten Turnschuhe waren ausgetreten und rissig. Er schob einen metallenen Wagen und kam seelenruhig auf sie zu.
»Du bist wach. Das ist gut«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Ich habe schon auf dich gewartet.« Sein Timbre wirkte seltsam angenehm. Die Stimme eines sympathischen, gerechten Lehrers. Dann hatte er sie erreicht und baute sich vor ihr auf.
Mareike begann zu zittern.
Unter seinem Mund-Nasen-Schutz meinte sie, ihn lächeln zu sehen.
Sie riss an ihren Fesseln. »Bitte! Was wollen Sie? Ich …!« Ihre Stimme überschlug sich.
»Schhhht. Wenn du nicht still bist, muss ich dir die Zunge rausschneiden. Und ich glaube, du weißt bereits, wie es sich anfühlt, wenn man ein Stück davon verliert. Du hättest ersticken können.«
Abermals schien er zu lächeln. Dann schob er den Wagen neben sie. Sie konnte nicht anders, als einen Blick darauf zu werfen.
»Was …?« Mehr brachte sie nicht hervor.
Auf einem Stapel Lappen lagen verschiedene Bohrer. In ihrem Kopf wirbelte alles. Was hatte er damit vor?
Die Angst peitschte sie und raubte ihr den Atem. Sie rang nach Luft, spürte, wie ihr Brustkorb immer enger wurde.
Sein Kittel raschelte leise, als er mit ruhiger Hand einen Akkuschrauber nahm. Seine Finger drehten das Futter auf und ließen einen Holzbohrer hineingleiten.
Mareike begann zu wimmern.
Mit einem Knacken zog er den Bohrer fest. Die scharfe Schneide blitzte im Licht.
Als Jan das Großraumbüro am Bruno-Georges-Platz betrat, sahen zwei seiner Kollegen auf und musterten ihn.
»Na, mal wieder einen miesen Abend gehabt?«, feixte Sadik Pehlivan. Jans gestrige Schlägerei hatte sich offenbar schon unter den Kollegen herumgesprochen.
Ralf Frahnsdorf deutete auf seine verschrammte Wange. »Sieht ja übel aus.« Er machte sich nicht die Mühe, sein schadenfrohes Grinsen zu verbergen.
Sadik und Ralf waren aus der Abteilung Sexualdelikte, gute Ermittler, mit denen Jan schon oft erfolgreich zusammengearbeitet hatte. Trotzdem konnten ihn die beiden nicht wirklich leiden. Jetzt musterten sie ihn unverhohlen, als er mit Riya zu seinem Arbeitsplatz ging. Früher hätte er ihnen mit einem dummen Spruch Paroli geboten, aber dazu fehlte ihm spätestens seit Hannahs Tod die Energie – und eigentlich auch der Humor.
Jochen Gerber, ein weiterer Kollege aus der Abteilung Sexualdelikte, trat zu ihm. »Sag mal, Jan … Passt es dir heute Abend? Oder wird’s zu knapp? Hab schon von den zwei Leichen gehört …«
Jochen war in Ordnung, aber Jan war nicht nach Gesellschaft. »Besser ein andermal. Wird `n langer Tag.«
»Klar, kein Thema.«
Jan warf ihm einen dankbaren Blick zu. Dankbar vor allem, weil Jochen einen tadelnden Blick auf seine inzwischen verpflasterten Knöchel vermied.
Er trat an seinen Schreibtisch und registrierte, dass ihm ein paar Scherzbolde Boxhandschuhe hingelegt hatten. Ralf und Sadik grinsten sich eins.
Jan schob die Boxhandschuhe kommentarlos beiseite, nahm seine Mütze vom Kopf und legte sie auf die Heizung. Dann widmete er sich dem Papierchaos, das von seinem letzten Fall übrig war. Den Parka auszuziehen kam ihm gar nicht in den Sinn. Als er den Computer startete, bemerkte er eine Nachricht seines Chefs Michael Dieck. Er hatte die Worte mit dickem Edding auf einen Stick-it geschrieben und an Jans PC geklebt.
12 UHRHEUTE110 – DRINGEND
Darunter hatte er ein unpassendes »Erschein da!« gesetzt. Stirnrunzelnd musterte Jan die Notiz.
Riya ließ einen Stapel Akten auf seinen Tisch fallen und las die Notiz.
»Na, da wünsch ich dir viel Spaß«, sagte sie trocken.
»Kannst du vergessen, zu dem Psycho-Zeugs geh ich nicht hin.«
Sie rollte die Augen. »Da bleibt dir wohl nichts anderes übrig. Hier, ich hab eine Liste mit Vermissten für dich.«
»Danke. Hat der Chef schon gesagt, wen er in der Soko haben will?«
»Ich denke, das wird am Mittag besprochen. Er hat zu einer Lagebesprechung geladen, bevor er sich an die Presse wendet.« Ihre dunklen Augen leuchteten schelmisch. »Mach dir mal keine Sorgen, du bist sicher dabei. Trotz dem da …« Sie deutete einen Fausthieb an, zwinkerte ihm zu und ging hinüber zu ihrem Schreibtisch.
»Jan!«, ertönte der strenge Ruf seines Chefs quer durch den Raum. Dieck stand, einen Kaffeepott in der Hand, in der Tür seines Glasbüros, das alle scherzhaft »das Aquarium« nannten. Das bügelfreie Hemd spannte über seinem Bauch. Schon von Weitem konnte Jan erkennen, dass Dieck schlechte Laune hatte. Brummelnd kratzte er sich die Halbglatze, dann winkte er Jan zu sich.
»Vergiss es. Das ist doch Unsinn, Michael!« Jan klebte den Notizzettel, den Dieck ihm an den Computer geheftet hatte, an die Glastür des Aquariums.
»Du gehst dahin, Jan.« Dieck nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und trank einen großen Schluck Kaffee. »Gefällt mir auch nicht, kannst du mir glauben.« Er wollte sich wieder seinen Unterlagen zuwenden, bemerkte aber, dass Jan keine Anstalten machte, aufzubrechen. »Das ist ein Befehl. Die erste Sitzung fängt gleich an. Also. Beeil dich lieber!«
»Micha! Ich hab für so ’n Scheiß keine Zeit. Ich muss in die Rechtsmedizin und einen Stapel Akten durchsehen. Riya hat schon Material gebracht. So eine Sitzung bringt doch nichts.«
»Mir ehrlich gesagt egal, was du davon hältst. Ich bin dein Vorgesetzter, ich ordne das an. Fertig, aus!«
»Wenn ich dir sage, dass es nichts bringt, zu der alten Psychologin …«
Dieck unterbrach ihn, indem er noch einmal seufzend aufstand. »Ich glaube, Jan, du hast den Ernst der Lage nicht verstanden. Irgendwie will das nicht in deinen schwedischen Sturschädel, oder?«
Jan brummte.
»Wenn du deinen Job behalten willst, dann suchst du unsere Psychologin auf. Jetzt! Verflucht noch mal! Bevor die Presse und die Staatsanwaltschaft hier aufkreuzen. Die Roger sitzt mir im Nacken. Und ich will ihr sagen können, dass du bereits freiwillig in Therapie bist.«
»Therapie? Ach, jetzt ist es schon so weit?«
»Therapie … Behandlung … Nenn es, wie du willst. Ist mir doch egal!« Dieck hielt inne, räusperte sich. »Egal ist es mir nicht, Jan. Ich hoffe, das weißt du. Ich … ich frag mich nur manchmal, ob du dir egal bist.«
Jan schnaufte, anstatt zu antworten.
Nach dem Tod seiner Frau hatte Dieck ihm schon einmal die Dienste dieser Schreckschraube aufgedrückt. Mathilda Mathis, ja, doppelt im Namen. Eine gefühlt achtzigjährige Dame mit Warze im Mundwinkel und einer goldumrandeten Brille. Mathi-Mathi, wie alle sie nannten, starrte einen selbst dann noch milde an, wenn man ihr die letzte Abscheulichkeit erzählte oder beharrlich schwieg. Angeblich fand das Dezernat keine Nachfolgerin, weswegen Mathi-Mathi auf ihrem futuristischen Drehstuhl vermutlich noch das Zeitliche segnen würde. Aber selbst wenn sie tot wäre – da war sich Jan sicher –, würde sie noch unbekümmert lächeln und dämliche Fragen nach der Kindheit und irgendwelchen Befindlichkeiten stellen.
Reine Zeitverschwendung.
»Die haben Leonie abgefüllt und ihr Koks gegeben, Michael! Die wollten sie gefügig machen!« Jan war lauter geworden. Er kannte Dieck seit sechzehn Jahren, und nie war er mit ihm aneinandergeraten. Vielleicht war es jetzt an der Zeit? »Die waren drauf und dran, mit ihr rauszufahren und sonst was mit ihr anzustellen. Das lass ich nicht zu, sie ist meine Tochter, und sie …«
»Deine Tochter hat den Kollegen aber gesagt, sie wollte freiwillig mit aufs Boot. Das weißt du.«
Jan schnaufte. Das wusste er in der Tat nur zu gut.
»Was hast du denn mit siebzehn gemacht, Jan?«, fragte Dieck. »Hast du da die Mädels um neun nach Hause gebracht und dich mit ’nem Wangenküsschen verabschiedet?« Er schüttelte den Kopf. »Klar, wenn ich eine Tochter hätte, würde ich auch ausrasten, glaub mir. Aber nur hier.« Er tippte sich an den Kopf.
»Willst du mir sagen, wie ich auf meine Tochter aufpassen soll?«, fuhr Jan seinen Chef an, der ihn unbeeindruckt musterte. Zornig wandte Jan sich ab und sah aus dem großen Bürofenster. Noch immer fiel Schnee, die Flocken wirkten zierlich. Vor dem sternförmigen Gebäude des LKA parkte eine Reihe Polizeiwagen. Riya lud soeben mit zwei Kollegen Kartons aus einem Lieferwagen, wahrscheinlich Anschauungsmaterial aus dem Wald, damit die Presse was zum Fotografieren bekam.
»Jan?«
Er drehte sich nicht um.
»Jan! Sieh mich an!«
Endlich wandte er sich wieder seinem Chef zu. Einen Moment schien es, als würde der umschwenken und lieber den Kumpel geben, aber dann ging ein Ruck durch Dieck.
»Wenn ich der Roger sagen kann, dass du bereits in Thera… dass du bereits ein paar Sitzungen hattest … Dann sieht sie womöglich von einem Disziplinarverfahren ab.«
»Und wenn nicht?«
»Bin ich der Erste, der dich rauswirft. Und dich vermisst.«
»Das ist schizophren oder wie immer das heißt. Vielleicht solltest du mal zu Mathi-Mathi gehen.«