Totenlichter - Aaron Sander - E-Book

Totenlichter E-Book

Aaron Sander

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Beschreibung

Eine Reihe mysteriöser Todesfälle beschäftigt den aus Schweden stammenden LKA-Ermittler Jan Nygård und die Polizeipsychologin Anna Wasmuth. Die Fälle wurden als Selbstmorde zu den Akten gelegt, doch Botschaften in den Leichen, mit Lammblut geschrieben, lassen nur einen Schluss zu: In Hamburg treibt ein perfider Serienmörder sein Unwesen. Die Opfer haben alle einen grauenvollen Busunfall im Elbtunnel überlebt. Doch wieso müssen sie jetzt sterben? Als Nygård und Wasmuth hinter die entsetzliche Wahrheit kommen, ist es zu spät. Denn auch ihr Totenlicht brennt bereits ...

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Seitenzahl: 375

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhalt

Cover

Inhalt

Über das Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

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Danksagung

Über das Buch

Eine Reihe mysteriöser Todesfälle beschäftigt den aus Schweden stammenden LKA-Ermittler Jan Nygård und die Polizeipsychologin Anna Wasmuth. Die Fälle wurden als Selbstmorde zu den Akten gelegt, doch Botschaften in den Leichen, mit Lammblut geschrieben, lassen nur einen Schluss zu: In Hamburg treibt ein perfider Serienmörder sein Unwesen. Die Opfer haben alle einen grauenvollen Busunfall im Elbtunnel überlebt. Doch wieso müssen sie jetzt sterben? Als Nygård und Wasmuth hinter die entsetzliche Wahrheit kommen, ist es zu spät. Denn auch ihr Totenlicht brennt bereits …

Über den Autor

Aaron Sander, 1973 geboren, studierte Film- und Fernsehdramaturgie. Er wuchs im Norden Deutschlands auf. Schon in jungen Jahren lernte er das Meer, die Hansestadt Hamburg und die Wälder Schwedens lieben. Auf langen Wanderungen durch die Natur ersinnt er seine Thriller. Oft nimmt er seinen Laptop mit und schreibt tief im Wald.

Weitere Titel des Autors:

Schmerzwinter

AARON SANDER

TOTEN- LICHTER

Thriller

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe: Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln Textredaktion: Angela Kuepper, München Covergestaltung: zero-media.net, München Covermotiv: © Finepic, München E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-7517-4198-9

Sie finden uns im Internet unter luebbe.de Bitte beachten Sie auch: lesejury.de

… Tod,Das unentdeckte Land, von des BezirkKein Wandrer wiederkehrt …

William ShakespeareAus „Hamlet“

1

»Denk einfach daran, wie friedlich es war, Evelin«, sagte er mit seiner ruhigen Stimme. »Und wie zufrieden du warst … Du schaffst das. Es war so still …«

Tränen liefen Evelin über das Gesicht und verschmierten ihren Eyeliner, den sie extra für diesen Tag aufgetragen hatte.

Er sog das Bild in sich auf: Evelins weißes, mit farbenfrohen Blumen betupftes Sommerkleid. Das hochgesteckte Haar, die Ohrringe, die im spärlichen, aber bunten Licht der Kirche glitzerten.

Lächelnd folgte er ihrem scheuen Blick, der hinabfiel. Von hier oben, von der Empore mit der Orgel, waren es gut sieben Meter bis zum rauen Steinboden. Er hatte ihr ein wenig helfen müssen, weil ihr das linke Bein noch immer höllische Schmerzen bereitete.

Er musste immer allen helfen.

Das war wohl seine Bestimmung.

»Denk an das Glück, als du es das erste Mal gesehen hast …«

Evelins Hände klammerten sich an das hundert Jahre alte Holz des Geländers. Ihr ganzer Körper zitterte. Das Innere der St.-Thaddäus-Kirche, eines imposanten Backsteinbaus am Rande von Hamburg, lag in vollkommener Stille da. Der Kirchenchor würde erst in drei Stunden proben, und er hatte die Türen abgeschlossen. Niemand konnte sie stören.

Durch das glanzvolle Buntglasfenster hinter dem Altar hörte er Kinder rufen, das gleichmäßige Piepen eines ­rangierenden Lastwagens. Das Leben Hamburgs drang gedämpft zu ihnen herein.

»Evelin, sieh mich an. Du weißt, wie stolz ich auf dich bin. Du weißt, wie sehr ich dir die Erlösung wünsche.«

Evelins Hand glitt zu ihrem Kettchen, das sie um den Hals trug, und weiter zu ihrem Anhänger. Eine Sonne aus blankem Metall. Sie war kaum größer als ein Kronkorken, aber er wusste, wie sehr das Symbol sie alle vereinte und stärkte.

»Wirst du jemals frei sein? Stell dir diese Frage, Evelin. Und ich bin mir sicher, du hast sie dir bereits gestellt und weißt die Antwort. Wirst du jemals glücklich werden? Ja. Wenn du diesen Schritt gehst.«

Evelin schien ihn nicht zu hören. Abermals glitt ihr Blick hinab in die Tiefe.

Wieso wehrt sie sich?, fragte er sich. Wieso sträubt sie sich, das Geschenk anzunehmen? Er spürte, wie es in ihr arbeitete, trotzdem zögerte er, näher zu treten. Mehr Druck war in diesem Moment nicht gut. Aber er wusste auch, dass es jetzt schnell gehen musste. Die Erfahrung hatte es ihm gezeigt. Wenn sie noch länger hier oben standen, würde Evelin trotz des LSD zu lange grübeln und Angst bekommen. Angst vor dem Finalen. Angst vor der Entscheidung.

»Sieh mich an, Evelin«, flüsterte er und schaute ihr lächelnd in die Augen, wusste, was sein offener, trostspendender Blick bei anderen bewirken konnte. »So ist gut. Sieh mir in die Augen, und jetzt sprich mir nach: Ich will die Schmerzen hinter mir lassen. Ich habe mich entschlossen. Das Licht wird mich leiten.«

Evelin hob zitternd das Sonnenamulett und küsste es. Lautlos formten ihre Lippen die Worte. Schließlich nickte sie. Ihre Pupillen waren vor Angst und der Droge geweitet.

Es faszinierte ihn, wie anders jeder mit dem Tod umging. Wie sich alle auf ihre ganz eigene Art darauf vorbereiteten. Auf den wunderbaren Neuanfang. Auf die Erlösung von dieser Hülle und der Auferstehung zu jemand Vollkommenem.

Jeder zog sein eigenes Los für den Übergang ins Licht. Weinend oder lächelnd.

Sie wischte sich die Tränen weg und hob mit aller Anstrengung ihr verletztes Bein über das Geländer.

Es geht doch. Sehr gut.

Sein Herz begann zu rasen.

Für einen Moment meinte er, Weihrauch zu riechen, aber dann ging ihm auf, dass wahrscheinlich Evelins Parfüm zu ihm schwebte.

»Du hast dich für das Richtige entschieden. Es wird besser, Evelin. Vertrau mir. Ich bin dein Freund.« Er unterdrückte den Drang, ihr zu helfen.

So ist es gut, dachte er, als sie das andere Bein ebenfalls über das Geländer schwang. Komm, du schaffst es.

Evelin hielt sich am Geländer fest, die Füße auf dem schmalen Streifen vor den Streben.

Die Sonne fiel durch die Buntglasfenster und zeichnete strahlende Farben auf ihre Wangen.

Komm! … Jetzt! … Los, Evelin …

Ihr Atem ging ruhig.

Das Gefühl von unendlicher Macht schickte wohlige Schauer über seinen Rücken. Es war unbeschreiblich, zu wissen, dass man etwas Gutes tat, dass man Menschen wirklich half.

Sie hatte zu schluchzen aufgehört und atmete gefasst ein und aus, sah dabei auf das bunte Licht.

Lass los … Einfach loslassen.

Eigentlich war dies immer der schönste Moment. Der Moment, wenn sie sich vollkommen entkrampften, noch ein letztes Mal die Lungen mit dieser Welt füllten und ­ihrem vertrauten Herzschlag nachhorchten.

Er lächelte.

Evelin ließ los.

2

Anna öffnete die Augen und lauschte in die Stille ihrer neuen Wohnung. Irgendwo knackte ein Heizungsrohr. Von der Straße drang das Quietschen eines Busses zu ihr, Stimmen aus einer Kneipe an der Ecke. Es war halb zwei Uhr nachts, und das Ticken des Weckers war im Moment das Einzige, was ihr in diesen vier Wänden vertraut war. Es roch so neu, nach Farbe und Silikon, aber vor allem nach Freiheit und einem Neuanfang.

Ihr Vater hatte darauf bestanden, ihr eine Wohnung zu kaufen und sie zu sanieren, anstatt dass sie sich eine am Rand von Hamburg gemietet hätte.

Immerhin hatte sie ihn überzeugen können – wenn er schon so viel Geld ausgeben wollte –, eine im Schanzenviertel zu erstehen. Nur unter Protest und murrend, weil dem alten Hanseaten das Viertel viel zu hipp und alternativ war, hatte er schließlich nachgegeben.

Seit zwei Stunden dämmerte sie vor sich hin, ohne wirklich zu schlafen. Sie ließ den Blick durch das winzige Schlafzimmer schweifen, an den halb ausgepackten Umzugskartons entlang zur Tür, die in den Flur führte, und von dort hinab in den unteren Bereich der Maisonettewohnung.

Da! Da war es wieder. Ein schlürfendes Geräusch, als liefe jemand leise unten umher. Vielleicht in der Küche?

Angestrengt horchte sie.

Du bildest dir das ein, Anna, ermahnte sie sich. Das ist dein erster Tag in der Wohnung. Natürlich gibt’s ungewohnte Geräusche …

Sie zog die leichte Decke zu sich, die sie wegen der sommerlichen Nachthitze beiseitegeschoben hatte, und roch daran.

Der vertraute Geruch beruhigte sie sofort, und sie schloss die Augen. Sicher würde sie nun bald einschlafen, sie hatte vorhin bereits gespürt, wie sie langsam in diese andere Welt hinübergedriftet war. Auf ein rostiges Schiff, einen riesigen Kahn, der im Hamburger Hafen vor Anker lag und auf dem ihr Kollege Jan Nygård …

Da war es wieder. Abermals schreckte sie hoch. Das Geräusch, es …

Als schlurfte jemand über Fliesen!

Eindeutig.

Das war kein Fernseher von nebenan … Irgendjemand war in dieser Wohnung …

Diesmal richtete sie sich auf und lauschte noch angespannter. Sie spürte ihren Herzschlag rasen und versuchte, Ruhe zu bewahren.

Hör auf, dich wild zu machen. Da ist nichts. Da kann niemand sein.

Sie horchte. Ihr Puls ließ ihre Ohren rauschen …

Alles war still. Kein Mucks war von unten zu hören. Nur die Straße, die Geräusche der Nacht …

Siehst du, du hast dir das nur eingebildet, du blöde Kuh. Schlaf endlich. Es ist alles neu hier. Verflucht noch mal, Anna. Morgen wird ’n harter Tag.

Seufzend schlug sie ihr Kissen auf und wollte gerade wieder nach der Decke …

Gedämpftes Husten!

Anna war jetzt hellwach. Eiskalt lief es ihr den Rücken runter.

Das muss aus der anderen Wohnung kommen. Muss! … Ich bilde mir das ein, ich …

Da. Noch einmal!

Es ist jemand hier. Hier in deiner verfluchten Wohnung! Anna … Steh auf, tu was!

Sofort sah sie sich nach ihrem Handy um, griff ins Dunkel zum Nachttisch, aber da war es nicht. Normalerweise lag es immer neben dem Bett, aber sie hatte heute Abend Kisten in der Küche …

Scheiße! Du hast dein Handy da unten liegen lassen. In der Küche! Na toll!

Sie versuchte, möglichst leise zu atmen, starrte auf die Tür und hoffte, dass ihre Augen sich besser an die Dunkelheit gewöhnten – doch alles blieb in diffuses Schummerlicht getaucht.

Bleib liegen. Tu so, als wärst du nicht da!

Anna! Steh auf. Schau nach!

Versteck dich lieber. Versteck dich einfach und warte, bis er weg ist! Wer immer das ist, warte einfach ab!

Wenn er hochkommt, Anna, dann … Er wird dich finden, wenn er es drauf anlegt! Du bist hier nicht sicher. Überrasch ihn. Denk an deine Ausbildung. Du hast mit Jan Selbstverteidigung geübt.

Sie stand lautlos auf und schlich zur Tür. Ihre Dienstwaffe lag im LKA. Sie hatte keine Genehmigung, sie mit nach Hause zu nehmen. Außerdem hatte sie bisher nicht eine Sekunde den Drang gehabt, eine Waffe zu führen.

Shit.

Schnell sah sie sich nach etwas zum Schlagen um … Die Schreibtischlampe mit dem massiven Fuß. Eisen. Ein, zwei Kilo schwer. Immerhin.

Möglichst geräuschlos zog sie das schwere Ding aus dem Umzugskarton.

Nachdem sie allen Mut gesammelt hatte, schob sie sich in den Flur. Der Holzboden fühlte sich eiskalt unter ihren nackten Füßen an. Von unten drang kein Licht herauf. Wer immer da in der Küche war, er nutzte keine Taschenlampe.

Abermals hörte sie jemanden herumtapsen. Kam es wirklich nicht aus der Nachbarwohnung …?

Red dir nur ein, dass da keiner ist, Süße …

Hatte sie die Tür etwa nicht abgeschlossen? War es der Spinner von gegenüber? Dieser faltige Musikproduzent, der sie wie eine Aussätzige angestarrt hatte, weil sie mit stinknormalen Tüten vom Discounter heimgekommen war?

»Hallo!?«, rief sie extra laut. »Ich hab die Polizei gerufen! Hören Sie mich? Die Polizei ist unterwegs!«

Sofort war Ruhe.

Sie versuchte zu schlucken, aber ihr Hals war zu trocken. Während sie lauschte, spürte sie ihr Herz, und obwohl es raste, wollte sie sich an dem gewohnten Rhythmus festhalten. Wie ein Schiffbrüchiger an einer kippeligen Planke.

Ihre Hand begann zu schmerzen, so fest umklammerte sie die Lampe. Bereit zuzuschlagen. Die langen Haare kribbelten ihr unangenehm im Gesicht.

Etwas tat sich da unten.

»Ich bin bewaffnet! Ich bin Polizistin und bewaffnet!« Mit einem Mal lief jemand los, riss einen Stuhl in der Küche um, polternd fiel er zu Boden. Anna hörte, wie die Wohnungstür aufgezogen wurde, dann Schritte im Treppenhaus …

Sollte sie hinterher? Oder lieber …?

»Komm schon.« Sie traute sich nicht, loszurennen, griff stattdessen die Lampe noch fester und schlich tapfer die Treppe hinunter. Was, wenn es mehr als einer war?

Sie können dich einfach packen, dich festhalten. Sie können dir den Mund zuhalten und dann …

Vorsichtig inspizierte sie den offenen Wohnbereich. Alles war ruhig. Die Küchentür stand offen, aber sie konnte aus dem Winkel nicht hineinsehen.

Ihre Wohnungstür stand ebenfalls offen. Fluchend rannte sie los und trat in den Hausflur. Sofort schaltete sie das Licht an. Auf dem Treppenabsatz vor ihrer Tür stapelten sich weitere Umzugskartons, Werkzeug, Farbeimer und eine Klappleiter.

Sie horchte.

Seltsamerweise war es vollkommen still. Da war kein Geräusch. Da war einfach nichts … und als das Rauschen in ihren Ohren verebbte, wurde die Stille des Treppenhauses geradezu drückend.

Sie wandte sich um und fixierte den mannshohen Stapel aus Umzugskartons vor sich. Er war so hoch, dass sich jemand problemlos dahinter verstecken konnte. Wenn er sich an die Wand presste und reglos dastand …

Wartete er dahinter?

Schau nicht nach.

Doch! Schau nach. Da ist niemand.

Geh rein! Wenn er tatsächlich hier ist, keinen Schritt von dir entfernt … Was willst du mit der lächerlichen Lampe? Hol endlich dein Handy! Hol Hilfe.

Sie meinte jetzt, ein Atmen zu hören. Oder war sie es selbst?

Schwitzend umgriff sie die Lampe und trat langsam um den Stapel. Zentimeter für Zentimeter. Die Lampe wog schwer. Sie hob sie an, bereit … Ein Schatten. An der Wand! Eine Hand, die …

Ihr Herzschlag setzte aus.

Nein. Fehlalarm.

Niemand. Es war niemand da.

Keiner stand hinter den Kartons.

Nur nächtliche Stille. Kein Mensch auf der Treppe zu hören, niemand hier bei ihr oben. Hatte sie sich die Geräusche nur eingebildet?

Hatte sie etwa doch geschlafen?

Als Psychologin wusste sie, wie filigran die Membran zwischen Realität und Einbildung sein konnte. Zwischen Wirklichkeit und Wahn.

Klack. Das Licht ging aus. Anna schrie auf, wich zurück, spürte die angelehnte Wohnungstür im Rücken. Sie riss sie auf und knallte sie sofort hinter sich zu.

Keuchend holte sie Luft und musste leise lachen, als die Anspannung von ihr wich. Alles gut.

Du bist sicher.

Wahrscheinlich hast du es dir wirklich nur eingebildet. Doch warum hatte die Wohnungstür offen gestanden?

Zögernd näherte sie sich dem Türgucker und musste noch einen Blick riskieren. Sie schob die langen blonden Haare zurück und spähte nach draußen.

Eine Fratze!

Jemand stand direkt vor der Optik! Er starrte sie an!

Sie fuhr zurück.

»Alles okay da drin? Hallo? Was ist denn mit Ihnen?«

Ihr Herz beruhigte sich nur langsam. Der Musikproduzent von gegenüber. Idiot!

»Alles gut. Alles okay. Danke«, sagte sie mit gebrochener Stimme und sah durch den Türspion, wie der Mann sich kopfschüttelnd umdrehte und zurück zu seiner Wohnung ging. Er hatte bloß einen Pyjama an, und die spärlichen Haare standen wie Eisenwolle zu allen Seiten ab.

Sie sah noch zu, wie er die Tür hinter sich schloss, dann löste sie sich mit weichen Knien, aber erleichtert von der eigenen Tür.

Was für ein Albtraum. Über sich selbst schimpfend, ging sie zur Küche, um sich ein Wasser zu holen, als sie wie angewurzelt stehen blieb.

Einer der beiden Stühle war umgekippt.

Sofort war wieder die Angst da, hämmerte in ihrem Kopf. Sie schluckte, wusste einen Moment nicht, was sie tun sollte. Dann sprang sie rüber zum Licht und schaltete es an, huschte zum Fenster. Sie starrte hinaus, musste das Küchenlicht mit den Händen abschirmen.

»Komm schon«, flüsterte sie. »Komm!«

Aber es rannte niemand über die Straße. Obwohl es beinahe zwei Uhr war, zogen noch immer Touristen durchs Viertel. Eine Gruppe Betrunkener grölte, zwei Typen unterhielten sich neben einem nagelneuen SUV. Aber niemand flüchtete, kein Schatten huschte unter den Laternen hinweg.

Sicher war der Einbrecher längst über alle Berge.

Endlich holte Anna tief Luft und schloss die Augen. Langsam zählte sie bis zehn, dann bis zwanzig und versuchte, ihren Puls zu beruhigen.

Es ist vorbei, beschwor sie sich. Wer immer das war, er war weg und hatte anscheinend nichts geklaut. Der Schreck saß dennoch tief. Sie sah sich nach ihrem Handy um. Besser, sie alarmierte ihre Kollegen und …

Auf dem Küchentisch lag etwas.

Sie musste schlucken.

Was zum Teufel …?

Im Schein der nackten Glühlampe, die sie zum Renovieren aufgehängt hatte, lag ein simpler weißer Umschlag.

Sie trat näher und beugte sich unsicher vor, so als könnte das Kuvert beißen.

Es war nicht beschriftet.

Sie musste den Impuls unterdrücken, einfach hinzulangen und es zu nehmen.

Die Spuren, denk an Spuren, ermahnte sie sich und nahm endlich das Handy. Ihr Blick fiel noch einmal auf den blanken Tisch unter der nackten Glühbirne, ihre erst halb fertig eingerichtete Küche … Der Brief. Lauernd. Einfach so hingelegt, geradezu drapiert unter dem Licht.

Sie wählte Jan Nygårds Nummer. Seit der letzten Mordserie, die sie zusammen gelöst hatten, waren der LKA-Kommissar und sie Freunde geworden.

Während sie darauf wartete, dass Jan dranging, und dem endlosen Klingeln horchte, kam sie sich mit einem Mal ungeheuer verletzlich vor. Als hätte sie jemand ohne Grund aus heiterem Himmel geschlagen.

Ein Fremder war hier gewesen, direkt hier. In diesem Raum. In ihrem neuen Heim. Bildete sie sich das ein, oder konnte sie seinen Schweiß riechen?

Ihr wurde schlecht.

»Nygård! Telefon!«

Jan Nygård hörte den Ruf bloß verschwommen. Irgendwo aus der Ferne drangen die Worte zu ihm, dann krachte Dejans Rechte gegen seine Schläfe und schleuderte seinen Kopf zur Seite. Für einen Lidschlag wusste er nicht, wo oben und unten war, taumelte zurück und hielt sich verzweifelt an den Seilen fest.

»Komm, das reicht!« Dejan versuchte ein Grinsen. Durch sein Mundstück sah es erschreckend aus. »Gib auf, Mann!«

Blut lief Jan aus einem Cut die Nase runter und in den Mundwinkel. Er schmeckte das Eisen. Seine Rechte pochte im Handschuh. Irgendwie hatte er sich das Gelenk verknackst.

»Nygård! Dein Telefon.« Die wenigen Boxer, die noch im Keller trainierten und dem Spektakel zugesehen hatten, machten Tonia Platz. Die hübsche Russin und Besitzerin des Boxkellers trat an den Ring. »Hört mal auf. Hier ist deine Kollegin. Anna Wasgut oder so.«

»Wasmuth«, stöhnte Jan und zog sich den Kopfschutz runter. Er hielt Dejan die Hände hin, damit er einschlagen konnte, spuckte dann seinen Mundschutz in die Handschuhe. Er kam zu Tonia, die sich mit gekonntem Schwung durch die Seile zu ihm in den Ring schob.

»Er ist gleich dran. Sekunde.«

Tonia half ihm, die Handschuhe abzuziehen, dann bekam er das Handy gereicht. Er musste erst mal Luft kriegen.

»Ja? Anna?«

Er hörte sofort, wie verstört sie war, als sie ihm erzählte, dass jemand bei ihr eingebrochen hatte.

»Pass auf! Fass nichts an. Ich bin gleich bei dir.« Das Sprechen fiel ihm schwer. Dejan hatte ihn auch an der Lippe erwischt. Der verfluchte Serbe war nicht nur sehr viel leichtfüßiger als er, er war auch zwanzig Jahre jünger. Da half es wenig, so viel Kraft und Wut zu spüren. Dejan schlug wie eine zornige Wespe zu, während Jan wie ein Bär versuchte, mit einem einzigen mächtigen Hieb zu gewinnen.

Hoffentlich schwoll die Lippe nicht zu sehr an. Er drückte sich unter den Seilen hindurch.

»Hab ich gewonnen?«, rief Dejan ihm nach.

»Jaja«, hörte Jan Tonia sagen. »Lass ihn mal. Du hast gewonnen.«

»Und sein Einsatz? … Ey! Nygård!«

Jan drehte sich nicht um, sondern war bereits durch den mit alten Blechschildern und Neonschriften aufgepeppten Keller zu seinem Spind gegangen, das Handy noch am Ohr.

»Den zahl ich. Ich regel das für Jan«, beruhigte Tonia den jungen Mann. »Mach dir keinen Kopf. Und ihr, Jungs«, rief sie. »In einer halben Stunde will dieser Luxuskörper hier ins Bettchen. Allein! Also macht die Schotten dicht.«

Anna atmete bebend. Jan konnte förmlich hören, wie verstört sie war. »Wenn er weg ist, kommt er nicht wieder«, sagte er beruhigend, zog sein Hemd aus dem Schrank und streifte es über. Die Dusche musste warten. »Anna. Es ist alles okay. Ich bin sofort da. Zehn Minuten. Ich rufe im Revier an. Die sollen wen von der Spurensicherung schicken. Okay?«

»Ja.«

»Hast du ihn gesehen?« Jan zog sich die Shorts aus.

»Nein. Ich … Nein. Vielleicht hab ich die Tür aufgelassen, weil … Mit der ganzen Renovierung bin ich bestimmt zweihundertmal raus und rein heute.«

»Verstehe.« Er zog sich die Jeans hoch und knöpfte sie zu. »Das ist nicht dein Fehler, Anna. Ich bin unterwegs. Soll ich dranbleiben?«

»Ja«, antwortete sie ohne Zögern.

»Okay. Ich bleib dran. Warte.« Er aktivierte seinen Messenger und schickte eine kurze Nachricht an einen Kollegen, von dem er wusste, dass er Nachtschicht hatte. Das LKA war wahrscheinlich nicht zuständig, aber der Mitarbeiter würde die Spurensicherung informieren und alles einleiten. »So. Bin wieder da. Ich möchte, dass du zur Tür gehst und abschließt. Und dann machst du überall Licht und wartest einfach … Anna?«

»Ja?«

»Okay?«

»Okay.«

»Braucht Frau Polizeipsychologin ’ne Psychologin?«, versuchte er sie aufzuheitern, während er bereits aus Tonias Boxkeller in die warme Sommernacht trat und auf sein Motorrad zuging.

»Sehr witzig.«

»Na, immerhin hörst du dich nicht mehr ganz so zittrig an.« Sein Handy plingte, der Kollege fragte seine Kennung ab, und Jan bestätigte, dass er zu Anna fuhr.

»Die schicken wen. Ich stell dich auf Kopfhörer. Wenn ich rausfliege, ruf ich dich wieder an. Okay?«

»Ja … Danke.«

Er zog den Helm über. Das Futter schmerzte auf der aufgeplatzten und geschundenen Haut. Dann aktivierte er die Freisprechfunktion und wartete, bis das Handy sich gekoppelt hatte. Ohne zu zögern, ließ er dann die Harley an, schwenkte auf die nächtliche Straße und gab Gas.

»Nichts gestohlen? … Hmm … Hast du irgendwelche Drohungen erhalten?«, fragte Jan ein paar Minuten später und hielt sich einen kühlen Waschlappen an die Lippe. Er hatte die ganze Fahrt über mit Anna gesprochen und sie ein wenig auf andere Gedanken gebracht. Normalerweise lief es andersherum, wenn er bei ihr im Keller des LKA in seine Sitzung musste. Da redete er, und sie hörte zu. Sein Chef Dieck hatte ihm wegen seiner Aggressionen Stunden bei Anna verpasst, die für die Einsatzkräfte zur psychologischen Betreuung zuständig war. Anfänglich hatte er es gehasst, sich vor ihr mental auszuziehen, aber mittlerweile wollte er die Gespräche mit der sehr viel jüngeren Kollegin nicht missen. Sie war ihm die letzten Monate, nachdem seine Tochter Leonie von einem Serientäter beinahe ermordet worden wäre, eine große Hilfe gewesen und hatte sich auch in anderen Fällen als versierte psychologische Beraterin profiliert.

Mittlerweile hatten die beiden sich vor den Beamten der Kriminaltechnik in den Flur zurückgezogen. Hier lehnten sie an Annas Umzugskartons und sahen dem Treiben in der Küche und an der Haustür zu. Zwei Männer und drei Frauen schossen Fotos und strichen den Tisch, den Umschlag, die Türklinken und alles, was der Einbrecher angefasst haben könnte, mit Doppelkontrast-Pulver ein, das, auf hellen Oberflächen schwarz und auf dunklen silbern, sämtliche Abdrücke zum Vorschein brachte.

An der Wohnungstür hatten sie keine Anzeichen von gewaltsamem Eindringen festgestellt. Wahrscheinlich hatte Anna tatsächlich vergessen, sie abzuschließen. Die Tür war anscheinend nicht mal ins Schloss gezogen worden.

»Was?« Anna trank einen Schluck Wasser.

»Ob du in letzter Zeit bedroht wurdest?«

Sie schüttelte den Kopf. »Der war hier. Hier in der Wohnung. Ich mein, ich hab da oben geschlafen und …«

»Denk nicht drüber nach, okay? Ist ’n doofer Tipp – ich weiß«, meinte er beruhigend. »Es ist nichts passiert. Das ist die Hauptsache.«

Seufzend atmete sie durch. »Nicht so einfach, sich nicht vorzustellen, was alles hätte passieren können …«

»Hätte können. Wer immer es war, er ist weg. Und er hat nur einen Brief hiergelassen. Apropos. Willst du gar nicht wissen, was im Umschlag ist?«

»Nein«, lautete ihre prompte Antwort.

»Nein?«

»Nein«, meinte sie, jetzt zögernder. »Ich … doch … vielleicht.«

Er musste lächeln. »Klar willst du. Und ich auch. Ist ja schon merkwürdig.« Er löste sich von den Kartons, legte den Waschlappen ins Bad und ging zur Küche. Zufrieden stellte er fest, dass Anna ihm folgte.

»Ich schlage vor, wir öffnen ihn«, sagte er zu Lyn Petermann, der Einsatzleiterin der Spurensicherung.

Sie sah auf. »Ist freigegeben. Aber wir sollten ihn erst in die KTU mitnehmen.«

»Lyn, ich hab mit Dieck telefoniert«, log Jan.

»Glaub ich dir nicht.« Sie seufzte. »Aber wenn du die Verantwortung übernimmst, Jan …« Sie holte den Aktenkoffer hervor, in dem sie diverses Werkzeug und unter ­anderem Pinzetten und Skalpelle hatte. Behutsam hielt sie den Umschlag mit der Pinzette fest und setzte das Seziermesser an, schnitt ihn dann noch behutsamer auf. Schließlich zog sie mit einer zweiten Pinzette ein gefaltetes Papier heraus.

»Et voilà!«

Neugierig beugten sich Jan und Anna über den Tisch und sahen sich an, was Lyn da mit der Pinzette hielt.

Es war eine gewöhnliche Todesanzeige aus einer Tageszeitung, schnörkellos und dick schwarz umrahmt.

»Viel zu früh gingst du von uns. Ohne ein Wort …«, las Jan. »Evelin Meyers – 21. Februar 1991, gestorben … Hm, vor sieben Tagen.«

»Da ist noch was drin.« Anna nickte zum Umschlag. Nachdem Lyn die Anzeige in ein Plastikbeutelchen geschoben hatte, zog sie vorsichtig ein zweites Stück Papier heraus.

Es war bloß ein Fetzen – nicht größer als ein Streichholzblatt –, und es sah aus, als hätte jemand eine Seite zerrissen und ein Stück davon in den Umschlag geschoben. Schweres, dreckiges Papier. »Sekunde.« Lyn faltete den Fetzen auseinander, und sofort stutzte Jan. Darauf war etwas mit gekritzelter Handschrift verewigt worden. Die Schrift war durch Feuchtigkeit verwischt, teilweise aufgelöst und an einigen Stellen durchgestrichen. Aber das Merkwürdigste war die Tinte … Sie war nicht schwarz, sondern in einem extrem dunklen Rot.

»Ist das … ist das … Blut?«, hauchte Anna.

»Gut möglich. Checken wir.«

Jan nahm vorsichtig Lyns Hand und schob den Fetzen so weiter ins Licht. »Sieht aus, als hätte da jemand was ausprobiert und weggeworfen.« Er begann, die Kritzelei zu entziffern. »Alle … wendet Euch … dem Tor …«, las er. »Oder Tür? Und hier steht …«

Bevor er es vorlesen konnte, hatte Anna bereits ent­ziffert, was dort mit Blut geschrieben stand:

Auch du wirst das Licht sehen!

3

Jan konnte Annas Griff an den Hüften spüren, als er ein wenig mehr Gas gab und die Elbchaussee hinunterfuhr. Er hatte den Helm ihr überlassen und fuhr – gegen jede Vernunft und Vorschrift – einfach ohne. Erst hinter dem Elbpark wurde er langsamer und sah sich nach Annas Elternhaus um.

Er war schon einmal hier in Othmarschen bei ihr gewesen, hatte sich die Hausnummer aber nicht gemerkt. Allerdings erkannte er das Haus sofort, als er die Spitzen der Türme über die Hecke ragen sah.

Jan musste am zweiflügeligen Eisentor halten, das automatisch aufschwang, nachdem Anna einen Code eingegeben hatte. Kameras bewachten die Einfahrt.

Er fuhr den Wendehammer aus Schotter bis zum Anwesen hinauf, wo er direkt vor dem Eingang der weißen Trutzburg hielt. Ehrwürdige Architektur aus Erkern und Säulen verband sich mit modernem Glas.

Jedes Fenster der imposanten zweistöckigen Gründerzeitvilla, deren Garten bis zur Elbe reichte, war dunkel. Er half Anna vom Bock und ließ den Blick über die Säulen und den modernen Glasanbau gleiten.

»Weiß auch nicht.« Sie zückte ihr Handy und sah drauf. »Sag mal heute …? Ach, Mist.«

»Was?«

»Die sind noch auf den Seychellen.«

»Du kannst auch bei mir übernachten«, meinte Jan wie schon zuvor in ihrer Wohnung, bekam aber von ihr den Helm gereicht. »Ich hab noch ’ne durchgelegene Couch und einen echt unbequemen Küchenboden.«

Sie lachte. Immerhin. Seit dem Einbruch vorhin war es das erste Mal.

»Nein. Schon gut.« Sie nahm ihren Designer-Rucksack ab, in den sie das Nötigste zum Übernachten gepackt hatte, und ging die Stufen zum Eingang hinauf.

»Im Ernst. Du kannst auch in Leonies Zimmer schlafen.«

Anna schloss die Tür auf. »Ist sie immer noch in der Reha?«

»Chiemsee. Ja. Noch zwei Wochen.« Er blieb in der Tür stehen und sah ihr zu, wie sie den Sicherheitscode eingab, um die Alarmanlage zu entschärfen. »Die haben den Aufenthalt noch mal verlängert. Aber es gefällt ihr da.«

»Schön.« Seufzend sah sich Anna in der dunklen Villa um.

Der aufdringliche Geruch von Geld strömte Jan entgegen. Alles roch nach Holzpolitur, Reinlichkeit und hanseatischer Strenge. »Letzte Gelegenheit«, meinte er.

»Es ist wirklich nett von dir. Aber hier gibt’s ’ne Alarmanlage und ’ne extrem gut bestückte Bar.«

»Klingt perfekt.« Aufmunternd lächelte er ihr zu und spürte, wie die vielen Schrammen in seinem Gesicht sich spannten. Die Fahrt über hatte er über die Nachricht nachgedacht. Wer immer ihr den Brief hingelegt hatte, wusste, dass sie umgezogen war. Vielleicht hatte er Anna schon länger beobachtet. Sollte er ihr reinen Wein einschenken? Oder sie lieber nicht beunruhigen? Er entschied, ihr seine Überlegungen vorerst nicht auf die Nase zu binden, um sie nicht noch mehr aufzuwühlen.

»Was ist?«, fragte sie, weil sie anscheinend sein besorgtes Gesicht bemerkt hatte.

»Du solltest die Schlösser der Wohnung morgen austauschen lassen. Und bleib am besten wirklich erst mal hier, bis wir geklärt haben, was dahintersteckt. Ich hol dich morgen ab.«

»Ist gut.« Sie lächelte tapfer, aber er sah genau, dass ihr der Schreck noch in den Knochen saß.

»Wer immer das war, wir kriegen den schon.«

»Ich kenne diese Evelin nicht. Wirklich, Jan. Ich schwör’s.«

Während Anna ihre Sachen gepackt hatte, waren sie Studienkolleginnen durchgegangen, LKA-Beamtinnen, die sie psychologisch betreut hatte, ihre Freunde und den Bekanntenkreis … Fehlanzeige.

»Ich hab schon veranlasst, nachzusehen, was es mit Evelin Meyers auf sich hat. Morgen. Jetzt inspizier du erst mal die Bar und entspann dich. Soll ich noch bleiben?«

»Ist nett, aber … nein. Fahr ruhig.«

Es fiel ihm schwer, Anna allein zu lassen. Als er wieder aufstieg und den Helm aufsetzte, sah er noch einmal zu ihr. Sie stand in der Tür und hob die Hand zum Abschied. Im angeberisch prunkvollen, mit Stuck überladenen Eingang wirkte sie schmal und verletzlich.

»Ich komm klar!«, rief sie ihm zu, bevor er die Maschine startete.

Schweren Herzens fuhr er zurück durchs Tor und bog auf die Chaussee ab. Er hatte kaum Gas gegeben, als sich sein Freund Doktor Brandt meldete.

»Hast du das mit der Staatsanwältin abgesprochen?« ­Harald Brandts braun gebranntes Gesicht erschien hinter der Edelstahltür eines Schranks voller medizinischer Geräte. Der Rechtsmediziner am Universitätsklinikum Eppendorf zog sich eine Einweghaube über die schlohweißen Haare, die er zum Zopf gebunden hatte, und gähnte. Als er Jan, der sich wie Brandt einen Einweganzug übergezogen hatte, eine Haube reichte, bemerkte der, wie fertig sein alter Freund aussah. Es tat ihm unendlich leid, ihn so spät in der Nacht aus dem Bett geklingelt zu haben. Die Augen des Achtundsechzigjährigen wirkten eingefallen, und auf seinen Lidern zeichneten sich deutlich Äderchen ab.

»Schlecht geschlafen?«, frotzelte Jan.

»Wirst es nicht glauben. Mich hat so ’n übereifriger Kommissar angerufen … Komm grad nicht auf den Namen.« Brandt winkte ab und schloss den Schrank. »Außerdem schlafen, pah. In meinem Alter … Ich schlaf bald lang genug.«

»Sag das nich’«, warf Jan ein.

»Wieso nich’? Schau mal so vielen Toten ins Gesicht wie ich – da musst du dich mit der Endlichkeit auseinandersetzen.«

Wirst lachen, dachte Jan, das tue ich schon jeden Tag. Doch er nickte nett.

Während Brandt sich die Handschuhe überzog, ging er am Obduktionssaal vorbei und zur Wand mit dem Regal für die Leichen.

Jan folgte ihm und kämpfte wie immer mit dem Gestank des Desinfektionsmittels. Er hasste diesen Geruch, er brachte Erinnerungen. Nicht nur an seine Mutter und seinen schlagenden Vater, sondern neuerdings auch an Leonie. Durch die regelmäßigen Nachuntersuchungen seiner Tochter war Jan notgedrungen ein Stammgast im UKE geworden. Manchmal kam er sich bei seinen Krankenhaus­besuchen wie ein verfluchter Geist vor, dazu verdammt, für immer rastlos in den endlosen Fluren und Etagen dieses stadtteilgroßen Komplexes zu wandeln, stets begleitet vom Gestank der Desinfektion.

Die Hand schon am Knauf, um die Edelstahltür eines der Leichenfächer zu öffnen, hakte Brandt noch einmal nach: »Du warst bei der Roger, ja?«

Jan zog eine Augenbraue hoch.

»Verstehe. Also nein … Und bei Dieck?«

»Der gibt sicher grünes Licht.«

»Also auch nein. Staatsanwältin nein, Chef nein … Da is aber was fällig, mein Guter.«

»Hab noch einen aus Schweden.«

»Hm. Schweden. Ist das nicht dieses kruckelige Land mit diesen Sperrholzmöbeln?«

»Nein, wirklich. Der is ’n Guter, Harald.«

»Rauchig?«

»Torfmalz. Feinster Single Malt. Passt zu deinem zerknitterten Gesicht.«

»Du bist immer so charmant.« Lächelnd zog Brandt die Bahre heraus, auf der eine mit grünem Tuch bedeckte Leiche lag. Er zögerte dann jedoch. »Zwei Whisky.«

»Was?«

»Zwei. Ich will zwei.«

»Nu’ werd mal auf deine alten Tage nicht gierig.« Jan musste lachen. »Na gut. Weil du es bist. Bekommst auch zwei Flaschen. Für dich nur der edelste Tropfen. Und jetzt lass sehen.«

Brandt verstellte ihm den Weg. »Seeeeeekunde. Der Whisky ist eine Sache, aber du musst mich mal wieder besuchen kommen.«

Jan seufzte.

»Du lässt dich ja nicht mehr draußen blicken, seit das mit Leonie passiert ist.«

»Ich geb mir Mühe, okay.« Das tat er wirklich, aber es fiel Jan noch schwerer als sonst, Small Talk bei Kaffee und Kuchen zu halten. Die letzten Monate hatte er entweder im LKA verbracht, war im Krankenhaus bei Leonie oder zu Hause mit ihr gewesen, bevor sie in die Reha gekommen war. Bestenfalls hatte er ein bisschen an seinem ­Motorrad geschraubt, um auf andere Gedanken zu kommen.

Brandt rollte die Bahre heran. »Pack mal mit an.«

Gemeinsam betteten sie die Leiche um und fuhren sie in den Sektionssaal, wo sich Brandt den Bericht schnappte und ihn überflog. »Hast Glück, dass sie noch hier ist. Evelin Meyers. Sie sollte eigentlich gestern vom Bestatter abgeholt werden. Hmmm … Ja, am letzten Freitag eingeliefert. Mein Kollege …«

»Friedrichs?«

»Ja. Der hat sie vor Ort untersucht.« Er nahm sich ein Klemmbrett zur Hand und blätterte die Unterlagen durch. »Keine Sektion durchgeführt. Laut Unterlagen soll sie in einer Kirche von einer Balustrade gesprungen sein, keine Einwirkungen Dritter. Suizid.«

»Todesursache?«

»Laut Friedrichs Genickbruch. Er hat natürliche Todesursache angekreuzt. Bisschen widersprüchlich. Wusstest du, dass sechs Prozent aller Ärzte ohne zu überlegen natürliche Todesursache ankreuzen? Ich meine, selbst wenn einer auf dem OP-Tisch verstorben ist?«

»Nein.« Neugierig warf Jan einen Blick in die Akten. Ein paar Fundortfotos zeigten sie mit gebrochenen Knochen auf den kalten Steinen einer Kirche – direkt zwischen den Bänken. Sie trug ein buntes Sommerkleid. Auf weiteren Fotos waren Ringe, ein Haarband, eine goldene Armbanduhr und ein kleines Amulett in Form einer Sonne zu sehen. Nichts Ungewöhnliches.

»Du willst wirklich eine Sektion?«

»Ich möchte eine komplette Leichenschau, ja. Dass du noch mal nachsiehst.« Jan wollte sich nicht groß erklären, aber sein Freund sah ihn eindringlich an. Seufzend berichtete er vom Einbruch und der Drohung gegenüber Anna.

»Gut«, meinte Brandt schließlich und holte zwei Atemmasken. »Sehen wir nach.«

Die beiden hoben Evelins Leiche auf den Sektionstisch, und Brandt nahm sich erneut den Bericht vor. »Ihr linkes Bein ist infolge mehrerer Frakturen deformiert. Wahrscheinlich ein Unfall. Schon länger her.« Er schlug die Decke beiseite und zeigte Jan, was er meinte: Die Frau hatte starke Narben, und ihr linkes Bein sah leicht verkrüppelt aus.

Brandt zog Röntgenaufnahmen aus der Akte. »Das linke Bein hat gut was abbekommen. Man kann die Schrauben noch sehen, zwei Platten. Partielle Reduktion der Muskulatur. Mehrere Knochenfrakturen. Hm. Das dürfte sehr schmerzhaft gewesen sein. Vielleicht wollte sie sich tatsächlich vom Schmerz erlösen.«

»Erlösen?«

Was für ein seltsames Wort, dachte Jan.

Erlöst werden. Erlösung finden … Von was wird man erlöst? Vom Leben? Weil es einen so sehr festhält, dass man schreien möchte und es wegstoßen will, dass man von ihm loskommen möchte …?

Brandt begann, die Leiche mit einer Taschenlampe abzuleuchten und jeden Zentimeter Haut genau anzusehen. »Friedrichs hat keine Einwirkung Dritter gefunden.« Er untersuchte ihr Haar und den Schädel genauer. »Der Leichnam weist multiple Hämatome auf, die vom Sturz stammen.« Er nickte zu den Röntgenaufnahmen. »Wirbel T4 und T5 gebrochen. Linksseitiger Riss des Scheitelbeins. Alles infolge des Sturzes. Außerdem Fraktur des Atlas, C1. Genickbruch. Keine Anzeichen für Schuss- oder Stichwunden.«

»Gut. Und innen?«

Brandt hielt noch mal inne. »Du willst wirklich, dass ich sie öffne?«

»Eine volle Obduktion, ja.«

»Das muss ich Dieck und Roger melden. Wenn wir nichts finden, dann …«

»Sind wir am Arsch, ich weiß …« Jan kratzte sich die Stirn. »Ich mach das für Anna.«

Brandt nickte, zog seine Atemmaske zurecht und hängte das Diktiergerät an die Lampe. Er schaltete es wieder ein. »Gut. Dann wollen wir mal. Obduktion Evelin Meyers.« Er nannte Uhrzeit, Datum und die Anwesenden. Dann griff er sich ein Skalpell, schnitt mit geübtem Schwung die Haut am Schädel auf und zog sie beiseite, danach eröffnete er mit einer Knochensäge den Schädel.

»Gut. Hier ist der Riss der Os parietale. Scheitelbein. Starker Impact … Hm. Blutung zwischen Dura mater und Arachnoidea. Nicht sehr viel Volumen. Infolge des Genickbruchs war sie wahrscheinlich sofort tot.«

Er setzte das Skalpell auf Evelins Brust an, öffnete die Leiche mit einem sauberen, tiefen Y-Schnitt und klappte die Hautlappen zurück. Er griff abermals nach der Knochensäge und öffnete das Brustbein, setzte schließlich den Rippenspreizer an und untersuchte den Brustkorb.

»Zusammengefallene Lungen … das Herz. Quer läuft das Zwerchfell. Speiseröhre … So weit nichts ungewöhnlich. Es besteht bisher keine pathologische Abweichung.« Er wandte sich der Untersuchung ihres Bauchraums zu. »Der Blinddarm ist nicht mehr vorhanden. Die Einblutungen sind als posttraumatisch im Zusammenhang mit dem Sturz einzustufen. Leber …« Er hob sie in eine Schüssel. »Normale Färbung und Größe.«

Jan schob ihm die Waage hin.

»Eintausenddreihundertzwanzig Gramm. Bisschen Unterdurchschnitt. So weit sieht alles den Umständen entsprechend aus.«

Sofort reichte Jan Brandt eine weitere Schale.

»Und der Magen.« Er entfernte und wog ihn. »So weit keine pathologischen Befunde. Ich hab’s Blut schon ins Labor geschickt. Da kommen morgen früh die Befunde.«

»Danke.«

»Dann evaluieren wir mal, was sie zum Mittag hatte.«

»Zum Frühstück«, warf Jan ein, der auch einen Blick in die Akten geworfen hatte. Das Atmen unter der Maske fiel ihm schwer. »Die Kollegen haben sie wohl gegen elf Uhr gefunden.«

Brandt setzte das Messer an und öffnete behutsam den Magen, zog das Gewebe auseinander und fixierte die Lappen mit einer Klammer. »Ich entnehme eine Probe. Hier haben wir etwas Unverdautes. Hm … Das ist interessant …«

»Was?« Neugierig beugte sich Jan über den Tisch und sah in die Schüssel mit dem geöffneten Magen. Er konnte nicht viel erkennen, bloß ein bisschen Brei, recht verdautes Zeug.

»Da ist etwas Hartes. Warte mal.« Brandt schabte etwas Mageninhalt beiseite …

Jetzt sah es Jan auch.

Unter den Essensresten schimmerte etwas Metallenes.

Seltsam.

»Es ist ein Festkörper. Sekunde.« Routiniert nahm Brandt vom Beistellwagen eine Pinzette. Er stocherte kurz im Magen herum und zog das Ding vorsichtig heraus.

»Das ist seltsam. Das gehört hier nicht hin. Definitiv nicht.«

»Helvetes jävla skit …«, fluchend starrte Jan auf das Metall, das Brandt ins Licht hielt.

Es war kleiner als eine Stiftkappe. Eindeutig aus Metall.

»Eine Patrone?«, fragte er und zog die Lupenlampe heran.

»Nein. Eher … Das sieht aus wie eine …«

»Wie eine Kapsel. Halt mal still.« Jan beugte sich vor. Was sie gefunden hatten, sah tatsächlich wie eine übergroße Pille aus. Er konnte eine Rille erkennen, wo das Metall zusammengesteckt worden war.

»Lass es uns öffnen«, sagte er zu Brandt.

4

An Schlaf war diese Nacht nicht zu denken. Anna hatte es gar nicht erst versucht. Sie hatte im ganzen Haus Licht angeknipst, einen der sündteuren französischen Weine aufgemacht und sich ins Wohnzimmer zurückgezogen. Unter ihrer Lieblingsdecke aus Kindertagen zappte sie sich durchs Nachtprogramm und blieb bei einer harmlosen Biografie über Max Ernst hängen. Während sie dem Sprecher lauschte, der über das Leben des Künstlers referierte, und dabei einige seiner Bilder betrachtete, schweiften ihre Gedanken ab.

Eine Todesanzeige und ein – wahrscheinlich mit Blut geschriebener – Fetzen. Auch wenn Jan es nicht ausgesprochen hatte, sie wusste, was er dachte, und sie sah es genauso: Das alles klang nach einer eindeutigen Drohung.

Aber wer sollte ihr drohen? Und warum?

Mit einem Mal stellte sie sich vor, wie der Mann die Treppe ihrer neuen Maisonettewohnung hinaufschlich und sie beobachtete. Sie lag im Dunkeln da, konnte nicht einschlafen, und dieser Schatten starrte sie an, beobachtete sie beim Atmen.

Ich hatte die ganze Zeit die Augen zu. Was, wenn er direkt am Bett stand? Das hätte ich gar nicht bemerkt.

Bei dem Gedanken schnürte es ihr die Kehle zu. Schnell nahm sie noch einen Schluck, um sich zu entspannen. Als sie wieder zum Fernseher sah, wurde ein stampfendes, aus Farbfragmenten zusammengesetztes Monster mit einer Art Knochenkopf gezeigt, und Anna schaltete lieber auf einen anderen Kanal.

Mit einem Mal kam sie sich sehr allein und verlassen vor. Das riesige Haus hatte sie nie als Bedrohung empfunden, aber genau das war es jetzt. Seine Leere war so unglaublich einschüchternd, und die vielen Ecken und Flure waren beängstigend.

Auch du wirst das Licht sehen!

Anna spürte, wie sich bei dem Gedanken, hier im elterlichen Anwesen ganz allein zu sein, ihr die Nackenhaare aufstellten.

Du bist echt zu blöd. Warum hast du Jans Angebot ausgeschlagen? Weil er dein Kollege ist? Dein Klient? Weil es dir zu nah war, einfach bei ihm zu schlafen?

Sie trank ihr Glas aus und zog die Weinflasche aus der Sofaritze. Während sie sich nachschenkte, musste sie wieder an den Einbruch denken.

Der Typ ist in dein neues Nest eingedrungen. Hm, Anna? Fühlt sich beängstigend an, oder? So als hätte er dich angegrabscht.

Sie hatte als Psychologin bei der Polizei mit Dutzenden Einbruchsopfern gesprochen, die nicht damit klargekommen waren, dass jemand in ihre Intimsphäre eingedrungen war. Schmuck, Kameras, Laptops, Bargeld … All das konnte man ersetzen, aber das Gefühl, sicher zu sein, nicht. Anna hatte Patienten erlebt, die von einem Einbruch traumatisiert worden waren, die auch nach Monaten oder Jahren das Gefühl nicht loswurden, in den eigenen vier Wänden ungeschützt zu sein. Von Lebensqualität in einem wohligen Heim konnte man dann überhaupt nicht mehr sprechen, und viele Betroffene waren schließlich weggezogen, hatten sich ein anderes Zuhause gesucht.

Aber nicht alle. Einige waren stark. Sie hielt sich an diejenigen, die ihre Angst überwunden hatten. Diesen schwarzen Wolf, diesen geisterhaften Schatten, der durch die Flure und Räume zog und den man hinausjagen, dem man die Tür vor der Nase zuschlagen musste.

Sie würde stark sein. Kein Opfer.

Es war nur ein Einbruch, versuchte sie, sich einzureden.

Du ahnst, dass er dich schon länger verfolgt. Dass er genau weiß, dass du umgezogen bist … Das ist mehr als ein Einbruch! Diese ganzen Einbruchsopfer haben keine kryptische Nachricht erhalten, Anna.

Sie zappte weiter, nahm seufzend einen gehörigen Schluck. Jan hatte verdammt noch mal recht: Die Psychologin braucht eine Psychologin.

Sie musste so schnell wie möglich mit ihrem Supervisor sprechen, musste verarbeiten, bevor sich die Angst festbiss.

Der Wein schlug an. Anna stand auf, um in der Küche nach etwas zum Knabbern zu suchen. Da fiel ihr Blick aus dem Fenster.

Sofort stellten sich all ihre Härchen wieder auf, und sie starrte wie elektrisiert hinaus in die Nacht.

Da unten, im Licht der Straßenlaterne, stand jemand.

Ein Schatten.

Der Anblick traf sie wie ein Schlag, und sie wich instinktiv vom Fenster zurück.

Da war eindeutig ein Mann. Er stand vor dem gusseisernen Tor zur Elbchaussee und sah unverhohlen zu ihr hinauf. Er blickte das Haus an. Gespenstisch reglos.

»Was zum …«

Sie atmete durch.

Beruhig dich. Vielleicht nur ein Betrunkener auf dem Weg zur nächsten Party …

Anna lehnte sich vor, spähte am Samtvorhang vorbei. Er stand immer noch da, breitbeinig und wie erstarrt. Der Schatten trug eine Basecap, eine knielange Hose, wahrscheinlich eine Cargohose, und auch wenn sie sein ­Gesicht nicht sehen konnte, war es offensichtlich, dass er zu ihr hinaufstarrte.

Ihr Herz begann erneut wild zu schlagen. Sofort wurde ihr Mund trocken.

Wer war der Typ nur? Was wollte er von ihr?

Sie blickte zum Sofa, auf dem ihr Handy lag.

»Okay, reiß dich zusammen«, ermahnte sie sich leise. »Du zählst bis zehn. Und wenn er nicht weg ist, dann rufst du die Polizei!« Sie eilte hinüber zum Sofa, griff sich das Handy, hielt aber die Zählerei nicht aus, sondern rief gleich bei Jan an.

Der hatte das Handy ausgeschaltet.

Fluchend sah sie aus dem Fenster. Der Typ stand immer noch da, war er näher ans Tor getreten?

»Was zum Henker willst du?!«, zischte sie. Da fielen ihr die Überwachungskameras ein. Der Kontrollmonitor war unten im Erdgeschoss an der Haustür.

Während sie im LKA anrief, lief sie durch den erleuchteten Flur und die geschwungene Treppe nach unten. Als sie auf die Eingangstür zuschlich, ertappte sie sich dabei, dass sie den Blick wie paralysiert auf die Tür richtete. Vor ihrem inneren Auge sah sie, wie sich der Knauf drehte, meinte, die Tür einen Spalt aufgehen und …

Quatsch. Du hast abgeschlossen. Und die Alarmanlage ist an.

Sie riss sich zusammen, huschte zum Monitor. Während sie mit einem Beamten aus der Nachtschicht sprach, aktivierte sie den Touchscreen.

Über ein Dutzend Kacheln mit Kamerabildern öffneten sich. Alle möglichen Winkel des Hauses, die Elbe, die Einfahrt … Da, das Tor. Sie tippte sofort darauf, und das Bild vergrößerte sich.

Das Licht der Straßenlaternen kämpfte gegen die ein­setzende Dämmerung. Die Hecke, durch das Fischauge gebogen, der Platz vor dem Eisentor, das Tor selbst … Nichts. Niemand war in der Sommernacht zu sehen.

Ungläubig starrte sie auf das Kamerabild.

Der Schatten war fort.

Anna konnte es nicht glauben. Sie fixierte das Bild auf dem Display und lauschte angespannt, wie so oft in dieser Nacht.

In ihrem Kopf begann sich wieder das Karussell zu drehen: War er über das Tor geklettert? Hatte er irgendwie die Alarmanlage ausgetrickst? Stand er etwa keine vier Schritte entfernt hinter der Haustür? Schlich er ums Haus, um ein Fenster …

Ein Schrei. Anna zuckte zusammen. Mit rasendem Herzen wurde ihr bewusst: nur der verfluchte Fernseher!

Trotzdem verharrte sie wie festgefroren.

Da war nichts.