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Nausicaa Marbe

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  • Herausgeber: Eichborn
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Stadtarchitekt Job wohnt mit seiner Ehefrau Gaby, den pubertierenden Zwillingen und einem Hund in einem geschmackvollen Haus in Haarlem. Seit er seine Stelle verloren hat, dreht die Familie jeden Cent um. Niemand soll merken, dass es finanzielle Probleme gibt. Da kommt die neue hilfsbereite Nachbarin Judith gerade recht, die mit Gaby eine enge Freundschaft aufbaut und finanziell aushilft. Doch Judith spielt ein undurchdringliches Spiel, und selbst die Nachbarschaft ist nach einem Mord nicht mehr die, die sie einmal war.

Ein Gesellschaftsroman über Integrität, Korruption, und darüber was es braucht, reich zu werden und zu bleiben.

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EPUB

Seitenzahl: 556

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Inhalt

CoverTitelImpressumPrologTeil 1   Nach dem Fall12345678910111213141516Teil 2   Im Schlafzimmer123456789101112Teil 3   Eine Mauer aus Fremden123456789Teil 4   Auftragskiller12345678Epilog

NAUSICAA MARBE

Aus dem Niederländischenvon Heike Baryga

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der niederländischen Originalausgabe:

»Smeergeld«

 

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2014 by Nausicaa Marbe

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2016 by Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Jan Wielpütz, Köln

Umschlaggestaltung: Christiane Hahn, www.christianehahn.de unter Verwendung von Motiven von © shutterstock: Victor Metelskiy | Mascha Tace

E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

 

ISBN 978-3-7325-2973-5

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Prolog

In der Dordogne hatte uns die Polizei rausgewunken. Neunhundert Kilometer von unserem Zuhause und einen Steinwurf von dem Ort entfernt, wo uns niemand finden durfte. Die späte Nachmittagssonne verblasste bereits, im Auto schliefen alle. Neben mir auf dem Beifahrersitz saß Gaby, den Kopf gegen die Fensterscheibe gelehnt, und hinten auf der Rückbank schlummerten die Zwillinge, die Arme und Beine leicht angezogen. In den Händen hielten sie die verstummten iPhones. Für eine Weile war alles so friedlich, dass auch mir immer wieder die Augen zufielen.

Nachdem wir Limoges passiert hatten, wies mir die Müdigkeit den Weg. Ich lauschte einem schlaftrunkenen Navi, das Abfahrten missachtete, Abstände falsch einschätzte und mir im Verteilerkreis verkehrte Abzweigungen einflüsterte. Nach fünfzig – oder waren es fünfhundert? – Metern links abbiegen, folgen Sie dem Verlauf der Straße, halten Sie sich rechts, Augen zu, Kinn auf die Brust und gute Nacht. Das Auto wird von alleine auf der höchsten Hügelkuppe von Saint-Jory-las-Bloux anhalten, vor der hohen Grundstücksmauer mit dem schwarzen Eisentor. Vor sich sehen Sie dann poröses Mauerwerk, übersät mit gelber Moosflechte und zahlreichen nutzlosen, dem Rost überlassenen Kettenschlössern. Sie haben Ihr Ziel erreicht.

Offenbar war ich für ein paar Sekunden eingenickt. Zum Glück nicht lange genug, um die Kontrolle über das Fahrzeug zu verlieren. Deswegen geriet das Auto auch nicht ins Schleudern, als ich aus dem Schlaf aufschreckte. Und erst in diesem Moment erblickte ich die Ausfahrt, die ich hätte nehmen müssen. Gerade rechtzeitig, um die Route nationale zu verlassen. Endlich Landstraßen in der französischen Campagne ohne Starenkästen und Kameras, auf denen man schnell das Auto verschwinden lassen konnte, am Ende eines gewundenen Weges, der hinter einem Weiler versandete.

An einem Ort ohne Nachbarn.

Doch es kam alles anders. Bereits an der ersten Kreuzung sprangen zwei Uniformierte aus einem Polizeibus auf die Straße. Der eine ein Riese, der uns mit wütenden Gebärden an den Straßenrand dirigierte. Neben ihm ein kleinerer mit Schnurrbart und verschränkten Armen.

Jetzt schon. Und das auch noch im Beisein von Gaby und den Kindern. Vor ihnen schämte ich mich am meisten. Mein Gesicht glühte, als sei mein Scheitern darin eingebrannt. Die anderen kamen immer davon. Mich schnappten sie bereits bei meinem ersten Versuch, mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen – um mir zurückzuholen, was mir gehörte, mein Familienleben zu retten.

Mann, ich hätte zu gern einfach aufs Gas gedrückt, anstatt zu bremsen. Vollgas. Im Bogen um die Bullen herum und mit quietschenden Reifen auf und davon. Doch ich lenkte den Wagen an die Seite. Möglichst nah an eine hohe Hecke heran, als könnte sie mich vor dem beschützen, was mir nun drohte. Gaby schlief noch immer. Als sich der riesige Polizist näherte, bemerkte ich, dass er eine Frau war. Auf ihren Schultern thronte ein Hals, der breiter als ihr Unterkiefer war. Sie hatten einen Henker geschickt, ein Muskelpaket, das, ohne mit der Wimper zu zucken, kurzen Prozess mit dem Mann machen würde, der sich sehr wahrscheinlich zur Wehr setzen, dessen Frau wild um sich schlagen und dessen Kinder sich strampelnd weigern würden mitzukommen.

Sie kam auf mich zugewatschelt, ihre Uniformhose aus Polyester schabte hörbar an ihren Beinen. Ich ließ das Fenster herunter. Mit meinem passablen Französisch, das ich seit dem Gymnasium fleißig trainiert hatte, würde ich sie vielleicht für mich einnehmen können.

»Bonsoir, madame.«

Mehr an Konversation war mir nicht gegönnt, grußlos ergriff sie das Wort.

»Bleiben Sie im Wagen, fahren Sie im Schritttempo neben mir her, biegen Sie ein Stück weiter auf den Parkplatz ein, parken Sie mit der Rückseite zum Eingang, parallel zu unserem Fahrzeug. Verlassen Sie Ihr Fahrzeug nicht.« Erst dann:

»Me comprenez-vous?«

»Mais oui.«

Der Parkplatz war leer und grenzte an Baracken, die verlassen wirkten. Zu meinem Erstaunen war auch der Polizeibus leer. Dort, wo ich ein Sonderkommando der Polizei zur Verhaftung von gefährlichen Verdächtigen erwartet hatte, das sofort bereit war, unser Auto zu stürmen, wehten silbergraue Vorhänge durchs geöffnete Fenster. Als ich den Motor abstellte, wachte Gaby auf.

»Sind wir da?«

Noch bevor ich antworten konnte, schaute sie aus dem Fenster, und zwar direkt ins Gesicht des Zwergpolypen, der seine spitze Nase an die Scheibe drückte. Schweiß lief ihm die lilafarbenen Wangen hinunter. Gaby schrie auf. Jetzt waren auch die Kinder wach. Kerzengerade, sofort in Alarmbereitschaft wie Antilopen, die bei der kleinsten Regung in der Savanne das Unheil mit bebenden Nasenflügeln schon von Weitem wittern. Jugendliche.

»Cool, wir werden verhaftet!«, rief mein Sohn.

»Von Hitler und Hulk«, kicherte meine Tochter.

Durchs geöffnete Fenster schob sich eine Pratze in der Form einer aufgerollten Rinderroulade. Ich legte die Autopapiere hinein, danach meinen Führerschein und den Ausweis, so, wie mir befohlen: »Alle Ausweise, die Sie bei sich führen, auch die Wagenschlüssel, alles, allez vite! Und sorgen Sie dafür, dass die Kinder im Wagen bleiben. Pendant toute la procédure, compris?«

»Was ist denn überhaupt los?«, flüsterte Gaby, als wollte sie heimlich mit mir die Lage besprechen. Meine Frau besaß ein außergewöhnliches Talent. Sie konnte während unangenehmen oder heiklen Situationen würdevoll den Kopf neigen und dabei beneidenswert gelassen bleiben. Das war typisch für Gaby. Mit einem zaghaften, im richtigen Moment eingesetzten Lächeln zauberte sie das Misstrauen des Gegners weg. Was mir nie gelang, meisterte sie mit Bravour.

Von der Verhaftung hatte sie tatsächlich keine Ahnung. Ich war sehr darauf bedacht gewesen, sie da herauszuhalten. Unter Eid würde sie der Wahrheit entsprechend aussagen können, nicht zu wissen, was ich während der vergangenen Monate getrieben hatte.

Ob sie etwas ahnte? Vom Beifahrersitz aus blickte sie mich mit ihren hellen und ungewöhnlich runden Augen an – Augen wie Bernsteinplättchen, auf denen ihre DNA verschwenderisch grüne Sprenkel gekleckst hatte. Diese Farbe brachte das Rosa ihrer Lippen und das Violett ihrer dunklen Haare zum Leuchten. Ein Effekt, der genau den Unterschied zwischen einem schönen und einem faszinierenden Gesicht ausmachte. Manchmal war ihr Blick entwaffnend sanft, dann wiederum sprühte er Gift. Ich war mir nie sicher, ob das Wechselspiel etwas mit dem Licht oder mit mir zu tun hatte.

»Was hast du denn angestellt, Job?«

Das war jetzt der denkbar ungünstigste Moment für eine Beichte. Ich würde ihr einfach eine andere Geschichte erzählen. Die unschuldige Wahrheit, die kleine, mickrige, vorübergehende Wahrheit, die gerade mal eine halbe Stunde alt war.

»Ihr seid in der Nähe von Thiviers eingeschlafen. Ich bin dann auf die N21 abgefahren, wäre fast eingenickt und hätte fast die Abfahrt nach Excideuil und Périgueux verpasst …«

»Job!«

Sie puffte mich in die Seite, als sie bemerkte, dass ich einfach die Ortsnamen der ausgedruckten Route ablas. Ein Text, der wie ein schlechtes Alibi klingen musste.

»Und wieso werden wir von der Polizei angehalten?«

Ich zuckte möglichst gelassen mit den Schultern.

»Vielleicht bin ich zu schnell gefahren, oder am Wagen stimmt etwas nicht. Diese beiden Muffel rücken ja nicht mit der Sprache heraus.«

Gaby hatte es geschluckt.

»Zu blöd! Hättest du doch bloß einen anderen Weg gewählt.«

Es war von ihr als liebevolle Neckerei gedacht. Die Unschuld jenseits der Verzweiflung, die von Beginn an chancenlos gewesen war. Ganz egal, wohin wir gefahren wären, sie hätten uns sowieso gefunden. Allerdings fragte ich mich plötzlich, wieso sie uns nicht am Haus erwartet hatten. Wahrscheinlich hatten sie den Befehl, mich anzuhalten, sobald sie unseren Wagen bemerkten. Womöglich suchten sie die ganze Gegend nach uns ab, an jeder Abfahrt und jeder Kreuzung in der Umgebung von Saint-Jory, auch in der Nähe des Hauses. Die ganze Polizeieinheit der Region im Einsatz gegen die landesflüchtigen Niederländer.

»Schaut euch mal die beiden an.«

Mein Sohn zeigte zum Polizeibus, in dem die beiden Polizisten nebeneinander auf der Sitzbank vor der geöffneten Schiebetür saßen. Wie zwei nicht allzu helle Schüler, die sich das Lesen beibrachten, buchstabierten sie den Inhalt meines Ausweises. Die Frau fuhr mit ihrem Zeigefinger über die Zeilen, der Mann schien alles in ein Heft mit indigoblau gefüllten Seiten abzuschreiben. Langsam, mühevoll. Hin und wieder knarzte das Funkgerät der Riesin, dann hielt sie es sich an den verkniffenen Mund und sprach Unverständliches hinein. Sie verzog keine Miene.

Die Kinder spielten inzwischen auf ihren iPhones Vampires Live, leicht an dem unerträglichen Gekreische zu erkennen, von dem das ewige Blutspektakel begleitet wurde. Ganz egal, was gerade passierte, das Display bot ihnen ein Parallelleben. Gaby gähnte. Ein roter Kater überquerte gemächlich den Parkplatz. Sie waren alle im festen Glauben, nichts befürchten zu müssen. Ich hingegen hatte das Gefühl, in meinem stehenden Wagen bereits in Untersuchungshaft zu sitzen, eine Gefängniszelle auf Rädern. Eine halbe Stunde passierte überhaupt nichts. Dann kam der Schnurrbart aus seinem Bus heraus und ging auf mich zu, in der Hand hielt er etwas, das einem tragbaren EC-Gerät ähnelte.

»Achtzig Euro«, sagte er.

»Soll das ein Witz sein?«, antwortete ich etwas zu schnell, zu unverschämt. Der Polizist beugte sich vor und warf einen Blick auf den Rücksitz.

»Ich weiß nicht, was Sie so lustig am Verlust Ihrer Lieben gefunden hätten.«

»Pardon?«

Selbstverliebt dozierte er: »Sie fahren von der Autobahn ab, über die Ausfahrt zur Kreuzung, und dann fahren Sie einfach weiter. Das Stoppschild steht direkt vor Ihnen, doch Sie beachten es nicht. Sie halten nicht an, Sie fahren weiter, obwohl wir unübersehbar an der Straße stehen. Achtzig Euro. Betrachten Sie das als Trinkgeld für den Tod, denn schließlich hat er Sie mit dem Leben davonkommen lassen. Diese achtzig Euro werden Ihnen eine Lehre sein. So etwas machen Sie nicht noch einmal.«

Teil 1

Nach dem Fall

1

Seitdem wir in unserem Haus am Haarlemer Wald wohnen, bekomme ich während des Urlaubs Heimweh. Ich freue mich auf das Wiedersehen mit unserem Zuhause, den ersten erhaschten Blick aus dem Wagen heraus, den Beweis dafür, dass es noch steht. Ein schöner Bau, der den Abschluss einer stilvollen Häuserreihe bildet, mit einer einladenden weiß gekiesten Auffahrt bis zur Garage unter einer mächtigen Magnolie. Sobald die prallen Backsteinwangen in Sicht kommen, scheint die Eingangstür zwischen ihnen zu lächeln.

Das habe ich irgendwann einmal laut im Auto gesagt, als ich nach einer höllisch langen Italienfahrt mitten in der Nacht mit schmerzenden Knochen und vollkommen steif in unsere Straße einbog. Furchtbar geschafft war ich. Ich hatte angenommen, im Auto würden alle schlafen und ich könnte etwas von meiner Anspannung nach der zwanzigstündigen Autobahnfahrt fallen lassen, indem ich diesen etwas blöden Gedanken laut aussprach.

Aber die Kinder waren noch wach. Sofort fielen sie über mich her.

»Dir scheint das Autobahnfahren wohl nicht bekommen zu sein, Jo-hob«, spöttelte mein Sohn und schlug dabei eine Kreischstimme an, die seine Mutter auch gerne einsetzte, wenn sie mich im Supermarkt aus den Augen verloren hatte. Dann hallte mein Name zwischen den Regalen, und ich verzog mich vor lauter Scham schnell in einem anderen Gang.

»Unser Haus ist echt scheiße«, höhnte meine Tochter, doch ihrer Stimme mangelte es an Überzeugung und Lautstärke. Es passierte öfter, dass sie etwas vor sich hin nuschelte. Die ganze aufbrodelnde Unzufriedenheit, die allen Pubertierenden gemein ist, machte sich sofort Luft. Sie war es los, mich hatte es verletzt. Genauso gut hätte dieses launische Kind auch etwas Freundliches sagen können. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass Gaby in besseren Zeiten mir ihre Hand besänftigend auf den Oberschenkel gelegt hatte, wenn die Kinder hinten boshafte Bemerkungen von sich gaben oder nicht damit aufhörten, Radau zu machen – um damit zu verhindern, dass ich bissig antwortete oder in die Luft ginge. So einfach löschte sie meine aufflammende Wut. Lass nur!, signalisierte sie. Es gibt auch noch mich, wir haben ein gutes Leben. Als hätte sich eine Friedenstaube auf meinem Bein niedergelassen.

Vor nicht allzu langer Zeit waren solche Intimitäten noch selbstverständlich gewesen. Wir saßen nebeneinander und schwiegen zufrieden, weil wir beide wussten, dass nicht zu reden nichts zu bedeuten hatte. Es handelte sich um eine selbstgewählte Stille, denn Gaby und ich hatten andauernd etwas zu besprechen. Wir führten ein endloses Gespräch. Es gab immer einen roten Faden. Dieser komfortable Fundus an Gesprächsstoff sorgte dafür, dass wir uns nicht auseinanderlebten. Schweigen belastete uns nie. Es war eine Atempause, in der wir unsere Gedanken sammelten. Und dazu war das Auto ein idealer Ort.

Das hatte sich geändert. Im Sommer kehrten wir aus Deutschland zurück, die Fahrt war ein Klacks, wir waren in der Eifel gewesen. Auf dem Beifahrersitz saß Gaby die letzten Kilometer tapfer ab. Dann und wann vernahm ich einen Seufzer. Einer der entmutigten Sorte, der sich mit leichter Selbstbeschuldigung ankündigt, sich aber zugleich vor einer Reaktion absichert.

Ich gab Gas. Ja, erst recht in der Stadt. Verpisst euch doch mit euren Knöllchen. Schon wieder eins, ich bezahlte sie am laufenden Band. An die Straßenverkehrsordnung hielt ich mich nicht. Besonders nicht, wenn ich alleine im Auto saß und alleine auf der Straße war. Das Navi warnte mich vor Blitzern, doch beim Ertönen des Pling-Signals drückte ich automatisch aufs Gas, anstatt zu bremsen. Ein Reflex. Kurven schnitt ich, und oft streifte ich eine Bordsteinkante, einen Poller, einen Seitenspiegel. Ansonsten verhielt ich mich fast immer korrekt.

So korrekt, dass ich dadurch meine Stelle verlor.

So korrekt, dass ich versuchte, aus unserem Ferienziel, einem deutschen Kaff, das man nur mit der Lupe auf der Karte finden konnte, etwas Nettes zu machen. Für die Kinder. Wir hatten noch nie so nah an unserem Zuhause Urlaub gemacht und dann auch noch in einem so verschlafenen Nest. Gaby hatte gebucht.

»Alles, woran du bislang gewöhnt warst, kannst du dir zukünftig aus dem Kopf schlagen«, warnte sie mich während der Zeit, als sie allmorgendlich den Laptop aufklappte, um sich auf Schnäppchenjagd zu begeben.

»Von nun an wird alles anders. Gewöhn dich schon einmal daran.«

Seit ich arbeitslos war, betrachtete sie es als ihre Aufgabe, unser Leben zu organisieren und sich um alles bezüglich meiner Arbeitslosigkeit zu kümmern. Dafür zu sorgen, dass wir finanziell nicht abstürzten.

Ende Juni, als die Kinder bereits nachfragten, wohin wir dieses Jahr in Urlaub fahren würden, suchte sie immer noch online nach günstigen Reiseangeboten, täglich, stundenlang. Ohne Ergebnis. Ich musste dieses hoffnungslose Unterfangen beenden.

»Jetzt buch doch endlich etwas, irgendwo, wo es warm ist, ein günstiges Haus mit Schwimmbad. Und zwar heute!«, wurde ich eines Morgens energisch.

Sie blickte mich an, als hätte ich ihr vorgeschlagen, uns einen Privatjet zuzulegen und damit nach Südafrika zu fliegen. So ein zierliches Modell, in dem wir ein einziges Mal gesessen hatten, als meine zufriedenen Kunden als Zeichen ihrer Dankbarkeit uns zu einem Trip eingeladen hatten. Damals lief das so, wenn ich für jemanden ein Ferienhaus im Ausland entworfen hatte und der glückliche Besitzer sich über die gute Zusammenarbeit freute. Der Auftrag wurde mit einer Einladung des Architekten mit Familie abgerundet. Nicht ein einziger brauchbarer Kontakt für die Zukunft hatte sich daraus ergeben. Wer scheitert und stürzt, der existiert in dieser Welt nicht mehr.

»Es gibt keine günstigen Häuser mit Pool«, zischte Gaby. Aus ihrem Mund klang alles wie ein Vorwurf, den sie sich hätte verkneifen können. Der Effekt blieb sowieso aus. So schätzte sie mich inzwischen ein.

»Du meinst: Sogar die günstigen Häuser sind für uns zu teuer«, sagte ich. »Du meinst: Sieh dir doch nur an, was aus uns geworden ist.«

Gaby konnte dermaßen abwertend die Augen verdrehen, dass man an ihr abprallte und ein weiteres Gespräch unmöglich war.

»Ich meine gar nichts. Ich will dich nur direkter mit den Tatsachen vertraut machen.«

Als ob ich die Tatsachen nicht kennen würde. Tatsache war, dass ich meinen Kindern Ruhe gönnen wollte, Sonne, Meer, ein sauberes Bett, gesundes Essen. Das ganze Jahr über rackerten sie sich in der Schule ab. Probleme mit den Hausaufgaben oder Noten gab es keine. Falls nötig, erreichten sie sie mit der eisernen Disziplin eines Strebers. Sie wussten selbst, wann sie sich anstrengen und wann sie abhängen durften. Dafür musste ich sie belohnen. Zudem wollte ich mit meiner Frau an einem schönen Ort sein. Das wollte ich ihr sagen, doch sie kam mir zuvor.

»Es gibt eine Krise, Job. Sowohl auf der Welt als auch in deinem Portemonnaie.«

Letzteres stimmte nicht ganz. In meinem Portemonnaie befand sich noch genug. Gerade ausreichend, um so zu tun, als würden wir uns innerhalb eines Jahres nicht am Rande des Abgrundes befinden. Fast alles, was ich besessen hatte, war verbraucht. Ich lebte von meinen Rücklagen, und darüber wollte ich nicht klagen. Immerhin hatte ich noch etwas Erspartes, auch wenn es zusehends schmolz. Beunruhigender als die drohende Armut, die Gaby wie eine unentrinnbare Naturkatastrophe fürchtete, empfand ich eher die Veränderung meiner Frau. Einst war sie die Ruhe selbst gewesen, der heimische Stoßdämpfer und Blitzableiter, doch nun spielte sie den düsteren Buchhalter, allzeit eine unheilverkündende Nachricht auf den Lippen.

Einst konnte ich es kaum erwarten, am Abend endlich wieder zu Hause und dort unbefangen einfach ich selbst zu sein. Seit Kurzem lebte ich mit einer Grüblerin zusammen, die ich oft abends im Dunkeln antraf. Jemand, der unentwegt über Geldprobleme klagte. Verschwenderisch oder verwöhnt war Gaby nie gewesen, es war also keine Rede von Entwöhnung. Allerdings nagten Sorgen an ihr. Nicht unseretwegen, sondern wegen der Kinder, dass sie mittellos zurückbleiben könnten. Es trieb sie zu Anfällen, rhetorisch, in rasendem Tempo, bissig in einer für sie ungewöhnlichen Schärfe. Insgeheim bewunderte ich das. Für mich nicht ganz nachvollziehbar war jedoch ihr zwanghaftes Verhalten, wenn es um unsere Ausgaben ging. Wie sehr sie sich damit doch manchmal bloßstellte.

Im Supermarkt fischte sie aus meinem Wagen die Sachen heraus, die ihr zu teuer erschienen, und tauschte sie gegen die billigste Alternative aus.

»Keinen Innocent Smoothie, stell den sofort wieder zurück. Bist du denn vollkommen durchgedreht?«, konnte sie aufschreien, noch bevor ich meine Hand um die Flasche im Kühlregal gelegt hatte. Dann erschrak ich, schloss sogleich die Tür und hatte keine Lust mehr auf einen Smoothie. Die Leute um uns herum machten ein Gesicht, als liefe ein Geisteskranker im Laden herum.

An der Tankstelle sprang sie sofort aus dem Wagen, wenn ich mit dem Tanken fertig war, und eilte hinein zum Bezahlen, um zu verhindern, dass ich womöglich bei den Süßigkeiten, Chips und Getränken zuschlagen würde. Über die Miniflaschen, die dort doppelt so teuer waren wie eine große im Supermarkt, konnte sie mir endlose Vorwürfe machen. Die Tageszeitung hatte sie abbestellt. Gingen wir mal ins Kino, stopfte sie sich vorher die Taschen mit Cola-Dosen und Knabberkram voll. Ich konnte noch knapp verhindern, dass sie dem Fensterputzer kündigte. Doch die Putzfrau, auch wenn sie keine Perle war, hatte sie bereits entlassen. Damit konnte ich ja noch leben. Doch als sie sich eines Tages heimlich mein Handy schnappte, um die Nummern vom Friseur, vom Gärtner, dem Sushi-Service und ihrem Lieblingsgoldschmied zu löschen, bei dem ich ihr früher gerne eine Überraschung gekauft hatte, wurde ich rasend. Alles, was ich bis dahin geschluckt hatte, kam hoch.

Sie konnte sich streiten, das lernte ich jetzt. Innerhalb kürzester Zeit wurden unsere angenehmen wohligen Gespräche von glühenden Fehden verdrängt. Die Streiterei schwelte.

»Es liegt vor allem an der Krise in deinem Kopf, Gabriella«, schrie ich sie an, als sie wieder einmal von der schlechten Wirtschaftslage und meiner katastrophalen Position auf dem Arbeitsmarkt anfing. Wenn andere ihre Frau »Schatz« nannten, sprach ich sie mit ihrem kompletten italienischen Namen an.

Sie lächelte ohne jegliche Freundlichkeit. »Na klar, habe ich eine Krise im Kopf. Wie kommt es nur dazu, Job?«

Meinen Namen verwendete sie nur selten am Satzende, und wenn es dazu kam, klang es wie ein Zahlungsbefehl. Es wurde etwas von mir erwartet, ich hatte etwas gutzumachen.

Ohne weitere Rücksprache buchte sie im ersten Sommer meiner Arbeitslosigkeit einen Platz auf einem Campingplatz in Deutschland. Drei Sterne in der Campingplatz-Klassifizierung des DTV, stand auf der Website und mit ausreichendem Platz für Wohnmobile. Mir graute es davor, aber ich sagte nichts.

Doch als wir eintrafen, schien alles halb so schlimm zu sein. Das Gelände in der Eifel war groß, grün und schön gelegen in einer wohltuend unbewohnten, leicht hügeligen Landschaft. Es gab einen Fußballplatz, Tennisplätze und einen Bauernladen, zudem war für ausreichend »Heckenprivatzone« gesorgt. So stand es tatsächlich im Folder: Heckenprivatzone.

Ein solches Wort musste man in die Tat umsetzen. Als die Kinder am ersten Nachmittag mit den Tennisschlägern zum Platz abzogen, der für eine Stunde gebucht war, packte ich Gaby, um ihr meine Vorstellung der Heckenprivatzone zu zeigen. Mit beiden Ellbogen drückte sie mich von sich weg wie einen Fremden, den sie noch nicht einmal mit den Fingerspitzen berühren würde. Das war neu.

Meine Frau ließ sich vor dem Vorzelt in einem Liegestuhl nieder, in dem sie den Rest der Ferien verbringen würde. In Reichweite hatte sie einen Bücherstapel. Dicke Bücher, die sie zu Hause nicht schaffte, mussten als Entschuldigung für ihre plötzliche Lustlosigkeit herhalten. Sie war bei uns in der Familie der Bücherwurm. Beim Camping lese sie, um zur Ruhe zu kommen, versicherte sie mir und setzte dabei ein Gesicht auf, das zeigte, dass nichts mehr zu retten war. Aber sie hielt durch, die Literaturkur würde ihr dabei helfen, den Kopf von den Sorgen frei zu bekommen, die sie unerträglich belasteten. Ansonsten alles okay, Job, vergnügt euch nur!

Mir blieb nur übrig, für mich selbst irgendetwas aus den Ferien zu machen. Ich zog mit den Kindern los. Die komplette Umgebung grasten wir ab, keine Kirche ließen wir aus, gingen an den Seen, an denen wir vorbeikamen, nicht einfach vorüber, sondern tauchten ins recht klare Wasser und setzten uns im ganzen Umkreis auf jedem Dorfplatz in der Konditorei vor ein großes Kuchenstück mit Sahne. Es war warm, und es regnete nicht. So viel Glück hatten wir immerhin.

Jenseits von Gabys Sichtweite, die darauf bestand, dass wir jeden Tag selbst kochten, kehrte ich mit den Kindern zur Mittagszeit in einem dieser herausgeputzten Landgasthöfe oder eines der Seehotels ein. Wir bestellten uns dann riesige Schnitzel und sonstige Fleischscheiben, wie man sie nur auf deutschen Speisekarten findet: Sie haben die Größe eines iPads, sind zart und saftig und haben eine knusprige Hülle. Die Zwillinge waren hungrig wie die Wölfe. Ich hockte vor meinem gekühlten Weizenbierglas und verfolgte das Fressgelage. Mir gefiel das schlingende Doppel. Als würden sie vor meinen Augen wachsen und als könnte ich direkt mitverfolgen, wie sich meine Investition aus der Speisekarte sofort in Körpermasse umwandelte: Die Knochen knarrten und streckten sich aus, die Muskeln dehnten und spannten sich mit, die Wangen wölbten sich rosig wie bei properen Babys.

Uns ging es nicht schlecht – diesen Gedanken wiederholte ich so oft und mantraartig, dass ich bereits befürchtete, jeder in meiner Umgebung könnte die Beschwörung hören: Uns ging es nicht schlecht, noch lange nicht. Noch nicht.

Um uns herum schaufelten die Gäste ihr Essen in sich hinein. Die Umgebung war zur Abwechslung ungezwungen bürgerlich. Es hatte Zeiten gegeben, da hätte ich einen Riesenbogen um eine solche Gaststätte gemacht, auch wenn es neun Uhr am Abend gewesen wäre und die Kinder hinten im Auto vor Hunger gebrüllt hätten. Ich musste und würde irgendein Lokal finden, mit einer klaren Einrichtung und einem Koch ohne gutbürgerliche Ambitionen. In der Eifel schätzte ich mich glücklich, hier wurde ich aufmerksam bedient: freundliche Kellner, frische Blumen in weißen zierlichen Vasen auf sauberen Tischen und gepflegte Rentner, die es sich ungeniert gut gehen ließen und mit Genuss das fleischlastige Menü verspeisten. Achtzigjährige Frauen mit perfekt sitzenden Perücken knabberten an den Schweinerippchen, die sie zwischen den manikürten Fingern hielten. Sie kicherten wie die Backfische beim Tanztee. Die Atmosphäre in solchen Gaststuben oder Gasthöfen ist entspannt. Europäische Wirtschaftskrise hin oder her, diese Gegend schien nicht davon betroffen zu sein. Zufrieden saß ich zwischen den deutschen Alten und hoffte, dass ihre Sorglosigkeit auch auf mich abstrahlen würde.

Dennoch schreckte ich nicht vor der Rückkehr in die Ungewissheit in den Niederlanden zurück. Bereits als ich mit dem voll beladenen Auto in unsere Straße einbog, sah ich, dass alles in Ordnung war. Was auch sonst? Wäre etwas passiert, hätten uns die Nachbarn benachrichtigt. Doch man möchte mit eigenen Augen sehen, dass alles in Ordnung ist. Dass alles so ist, wie man es hinterlassen hat. Dass man, wenn man den Motor ausstellt und das Knarzen des Kieses unter den Autorädern noch hört, in den Rückspiegel schaut, einmal durchzählt und genau weiß: Wir sind alle wieder zu Hause, es ist so, wie es sein soll.

Ich fuhr den Wagen sofort in die Garage. Das Ausräumen hatte Zeit bis zum nächsten Tag. Die Kinder schleppten sich schläfrig mit Decken über den Schultern nach oben. Doch als ich gerade abschließen wollte, tauchte meine Tochter wieder auf. Sie wedelte mit der Hundeleine.

»Ich hol ihn.«

Ich schüttelte verneinend den Kopf.

»Toby, Toby, Toby!«, skandierte sie, in der Hoffnung, dass der Hund, der ein paar Gärten weiter bei den Nachbarn untergebracht war, sie hören würde.

»Das kannst du dir aus dem Kopf schlagen!«

»Ich brauch noch nicht einmal zu klingeln, ich kann über die Hecken springen und durch die Hintertür bei Maud reingehen«, flehte sie.

Er war ihr Hund. Ihrem Bruder gehörte die Katze. Tara und Toby, Leon und Luna. In gewisser Weise hatten wir vier Kinder. Wir waren eine kleine Familie. Drei Großelternteile waren bereits verstorben, der vierte verschwunden. Gaby und ich waren Einzelkinder, wie auch unsere Eltern. An Geburtstagen saßen wir zu viert am Tisch. Am Nikolausabend packten wir zu viert Geschenke aus. Immer zu viert. Doch zu viert kann man keinen Kreis bilden. Man ist eine Runde mit Ecken. Ein kleines, beengtes Viereck. Die Tiere, die bei uns lebten, durchbrachen die Einsamkeit dieser festgelegten Anzahl. Zusammen mit den beiden Vierbeinern bewegten sich sechs Körper im Haus, und es blickten zwölf Augen einander nach. Das machte schon etwas aus. Jedes Lebewesen mehr gaukelte uns vor, Teil einer größeren, lebhaften Runde zu sein. In Wahrheit blieben wir Einzelne, aufeinander bezogen.

»Nie erlaubst du mir was!«

Tara zog einen theatralisch vorwurfsvollen Schmollmund. Vierzehn und fast so groß wie ich. Auf dem Gymnasium vom schüchternen Mädchen zur frechen Jugendlichen erblüht, die unentwegt Aufmerksamkeit beanspruchte. Endlich ließ sie es heraus, mir war das wichtiger als ihre ungestüme, dickköpfige Seite, die ich wirklich nicht immer in Schach halten konnte.

Sie richtete ihre dunkelbraunen Augen auf mich und sah mich flehentlich mit ihrem stechenden Blick an. Sofort nach der Geburt hatte sie so meine Seele durchbohrt. Ihr Bruder schlief wie ein Murmeltier in solch einer durchsichtigen Plastikbox, wie man sie im Krankenhaus als Wiege hat. Zufrieden, unerschütterlich. Sie nicht. Sie schlief nur bei mir auf dem Arm ein, am liebsten mit dem Bauch auf meinen Handinnenflächen. Eine Haltung, die krampflösend war, meinte unsere Hebamme. Sobald ich sie ablegte, öffnete sie die Augen, die nur ein paar Stunden alt waren, und ermahnte mich geräuschlos, sie wieder zu umarmen. Kein Krampf, kein Schmerz, keine Träne oder Geschrei, nur dieser Blick: Halt mich fest.

»Es ist erst Mitternacht. Maud schläft bestimmt noch nicht. Das ist echt kein Problem. Dann kann er heute Nacht bei mir im Bett schlafen. Komm schon, Papa, er hat mir so furchtbar gefehlt.«

Morgen würde sie bis Mittag schlafen, das wusste sie, und damit würde sie die Rückkehr des Hundes verpassen.

Noch ein, vielleicht zwei Jahre und sie würde bis spät in der Nacht unterwegs sein. Ich würde dann wach liegen und darauf warten, dass sie nach Hause käme. Ganz furchtbar besorgt, hoffnungslos im Bann der allerschlimmsten Vorstellungen. In der Hand würde ich ihr Handy halten, das sie zu Hause vergessen hätte. Auch das noch. Mitternacht und man konnte sein Kind, das da draußen herumschwirrte, nicht erreichen. Ganze Nächte würde ich mich im Bett wälzen und aufschrecken, sobald ich draußen auf der Straße eine Fahrradklingel hörte, und so richtig mulmig würde es mir, wenn daraufhin nicht der Schlüssel in die Haustür gesteckt würde.

Zu dieser Art Eltern zähle ich – und Gaby auch. Mit den Zwillingen verwachsen, denn achtzehn Jahre vergehen im Nu. Es gibt keine Wiederholungsrunde. Man lebt nur für kurze Zeit zusammen unter einem Dach. Während der unangenehmen nächtlichen Wartepartien würde ich mich nach ihrem Drängen, den Hund zu holen, zurücksehnen.

»Ich wecke dich morgen gleich, wenn er wieder da ist«, versprach ich ihr.

Noch bevor sie sich wehren konnte, drückte ich ihr einen Kuss auf den warmen Scheitel und schob sie zur Tür zwischen Haus und Garage.

Danach betrat ich den Vorgarten. Kurz frische Luft schnappen.

Der August roch trocken und würzig. Ich konnte das sanfte Rauschen des Waldes hören, die sich wiegenden Bäume im trägen Nachtwind, ein leichter Luftzug, der in den Blättern spielte. Nirgendwo schlief ich so gut wie hier, nur einen Steinwurf entfernt von dem mit schwarzer Stille gefüllten Naturreservat.

Nirgendwo in unserer Straße brannte noch Licht. Doch im Raum links neben der Haustür, mit unseren Jacken, Schuhen, Taschen und einem Tisch für die Post, bemerkte ich, wie das gelbe Auge der Schreibtischlampe plötzlich aufleuchtete. Das weiche Licht fiel auf den Briefstapel, den die Nachbarn dort angesammelt hatten. Folienverpackte Zeitschriften, darunter die kantigen Amazon-Kartonhüllen, die ich sofort aufriss, wenn sie bei uns eintrafen, weil Gaby und ich darauf brannten zu erfahren, was sich darin befand: Bücher, Filme, CDs, die Ernte meiner noch nicht von der Bank eingezogenen Kreditkarte. Doch seit Kurzem stritten wir uns auch über diese Bestellungen. Für mich bedeuteten sie eine lebensnotwendige Entspannung, für Gaby den Gipfel der Verschwendung. Heimlich bestellte ich dennoch und war ihr immer zuvor, wenn die Post kam.

Doch die Begeisterung hatte nachgelassen. Seit Ewigkeiten hatten wir uns nicht mehr bis spät in die Nacht hinein gleich eine ganze Fernsehstaffel angeschaut. Drei, vier, manchmal sogar fünf Folgen einer Serie hintereinander, weil man erst dann das Gefühl hat, noch ein zusätzliches Leben zu bekommen. Ein spannendes, überraschendes Leben. Oder war es vielleicht doch noch nicht so lange her, sondern schien es nur so lange her zu sein, weil sich so viel so schnell verändert hatte? Ich registrierte die Stimmungsschwankungen bei uns zu Hause nicht mehr.

Gaby kramte in dem Stapel herum. Aus der Entfernung betrachtet. Ich hätte genauso gut ein zufälliger Passant sein können, der den Blick schweifen ließ, zur Seite schaute und eine unbedeutende Szene in einem fremden Haus registrierte. Mit dem Arm kippte meine Frau die ordentlichen Stapel um und fischte von ganz unten etwas heraus. Ein großer Packen Briefumschläge. Rechnungen. Die öffnete sie, noch bevor sie ihre Jacke abgelegt hatte, die Tasche hing noch über ihrer Schulter. Im Zwielicht über dem Lampenlicht konnte ich ihr Gesicht kaum erkennen, doch ich vermutete, dass es sich verdunkelte wie ein später Herbsttag. Da sah sie zum Fenster hinaus, erblickte mich und schaltete das Licht aus.

2

Ich wurde entlassen. Anders kann ich meinen erzwungenen Abgang nicht ausdrücken. Ich habe meine Stelle durch die Machenschaften eines Bürgermeisters und seines Beigeordneten verloren. Natürlich wuschen sie ihre Hände unablässig in Unschuld und stellten nach außen meinen Weggang als meinen eigenen Wunsch dar. Eine Lüge, die die Presse unbesehen übernahm.

Sie besaßen tatsächlich die Chuzpe, Folgendes zu schreiben: »Job van Emmerik (52), seit 2009 Stadtbaumeister von Haarlem, hat beschlossen, sein Amt niederzulegen. Er begründet sein freiwilliges Ausscheiden mit Meinungsverschiedenheiten im Kollegium von B&W über mehrere wichtige Flächennutzungspläne und die Strukturplanung 2050. Diese inhaltliche Differenz mache eine weitere Zusammenarbeit unmöglich. Der Amtsleiter, ehemaliger Eigentümer des im vergangenen Jahr in Konkurs gegangenen renommierten Architekturbüros Arcadia, betont, dass er seine Funktion wegen unterschiedlicher Ansichten bezüglich der zukünftigen Stadtentwicklung niederlegt. Er bedankt sich für die vier inspirierenden Jahre, in denen er zumindest einen Bruchteil dessen realisieren konnte, was er sich vorgenommen hatte.«

Während der Lektüre des Artikels hatte ich den Eindruck, über das Schicksal einer fremden Person zu lesen. Ein Mensch, dessen Schlamassel unmittelbar auf mein Leben einwirkte, mich überrollte – wie eine Lawine, losgetreten von einem unachtsamen Skifahrer, die plötzlich auf meiner Piste abgeht.

Die Zeitung meldete sich nicht bei mir wegen einer Stellungnahme zu der vom Rathaus freigegebenen Erklärung. An der unverfälschten Wahrheit aus dem Munde des Protagonisten dieser Geschichte zeigten sie kein Interesse. Wahrscheinlich dachte der betreffende Journalist gar nicht daran, dass bei diesem Rücktritt vielleicht doch nicht alles mit rechten Dingen zugegangen war. Er kam gar nicht auf die Idee, eine Zweitmeinung einzuholen.

Dabei hatte ich doch Verbündete. Im Stadtrat, im Planungs- und Bauausschuss, unter den Beamten. Kollegen, die wie ich der Ansicht waren, dass Haarlem eine kompakte Stadt mit nur geringen Stadterweiterungsmöglichkeiten ist. Eine Stadt, die im Innern wachsen musste. Das war keineswegs irgendein Werbeslogan, der sich auf Papier gut machte, in Wirklichkeit aber hohl war. Es handelte sich um eine Vision, die ich mühevoll, schließlich aber doch mit der einstimmigen Zustimmung aller Parteien, die bei Entscheidungen über die Zukunft der Stadt mitsprechen durften, amtlich machen konnte. Dies war die einzige Möglichkeit, damit die Stadt intakt blieb und sie den Klauen der Projektentwickler entrissen wurde, die jede Gelegenheit nutzen würden, ambitioniert, hoch und breit zu bauen, Bürogebäude an Bürogebäude, Bürotürme und Paläste der städtischen Behörden. Seoul an der Spaarne, Seattle an der Spaarne, Shanghai an der Spaarne. Diese drolligen Namenskombinationen habe ich auf Modellen mit Wolkenkratzern und Autobahnen auf Stelzen gesehen. Diesen städtebaulichen Wahnsinn konnte man noch nicht einmal als Science-Fiction-Kulisse bezeichnen, denn immer weniger fiel den Leuten die Lächerlichkeit des Ganzen auf.

Es war meine Pflicht, diesen Irrsinn zu verhindern. Meine Mitstreiter hatte die Zeitung ebenfalls nicht über meinen Abgang befragt. Als ob ich von niemandem Unterstützung hätte erwarten können. Dabei hatten sogar der Bürgermeister und der Beigeordnete damals ihre Unterschrift unter mein Städtebaukonzept gesetzt. Dass meine Entlassung ungerechtfertigt war, konnte man in dem Artikel überdeutlich herauslesen, doch die Zeitung überging das.

Es war zudem unzutreffend, dass ich nur einen Bruchteil dessen erreicht, was ich mir vorgenommen hatte. Schließlich hatte ich nahezu im Alleingang die städtebaulichen Gutachten der Stadt verfasst, die Strukturplanung, hinter der ich nun angeblich stand. Voller Ambitionen und Gespür für die Realität, so die damaligen Worte des Magistrats. Träumen, zeichnen, machen. Wer das nicht konnte, der sollte lieber nicht Architekt werden. Diese drei Dinge bedingen einander, bilden ein labiles Gleichgewicht. Gerät es aus der Balance, scheitert jedes Projekt. Ich war mit meinem Büro in Konkurs gegangen. Aus Arcadia wurde Atlantis, etwas, das ich mir noch immer nicht verzieh. Doch wegen der Stadt mache ich mir keine Vorwürfe. Dort habe ich durchaus etwas erreicht.

Viele Dossiers und unbeliebte Flächennutzungspläne habe ich mit entsprechenden Kopfschmerzen effektiv angepasst, damit sie jeglichem Widerstand trotzen konnten. Im Regionalverband habe ich die Interessen der Stadt verteidigt, als der gewiefte Geschäftsmann, der ich gerne gewesen wäre, hätte ich das Talent dazu gehabt. Liegt mir nicht im Blut, zählt nicht gerade zu meinen Stärken. Doch als Planungsamtsleiter im geschützten Schatten des Verwaltungsrats, der alles, woran er sich nicht gütlich tun konnte, auf die lange Bank schob, bekam ich Geschmack an der Sache: der nervöse Unternehmerdrang, der auf handlungslahme Beamte pfiff.

Nebenbei habe ich noch ein Architekturzentrum für die Öffentlichkeit errichtet, mit einer Mediathek und einer Beschwerdestelle, bei der man seine Einwände gegen geplante Bauten, Straßen, Parkanlagen und Kunstprojekte in den Vierteln äußern konnte, einem Büro für Baugutachten, einem Unterrichtsraum, einem Infopoint mit Touchscreen für juristische Fragen bei privaten Bauvorhaben sowie einem Ausstellungsraum.

Ein Zweithaus für jeden Haarlemer, Bürgermeister Benno Braat sagte das selbst während der Eröffnung. Theo Daniëls, der den städtischen Ämtern Planen, Bauen, Liegenschaften und Verkehr vorstand, hatte danebengestanden und zustimmend genickt wie so ein Wackeldackel auf der Hutablage eines Autos. Braat und Daniëls, die Architekten meiner Entlassung. Parteigenossen und Freunde, auch außerhalb der Politik. Ihre Frauen spielten gemeinsam Tennis in Eindenhout, die Männer verbrachten jedes Wochenende miteinander im Kennemer Golf & Country Club. Der Sohn des einen war mit der Tochter des anderen verlobt. Ferien auf anderen Kontinenten buchte man gemeinsam in einem Reisebüro, das auf maßgeschneiderten Luxus in Ferienzielen mit malerischer Armut spezialisiert war. Im Anschluss an eine gemütlich verlaufende Stadtratssitzung passierte es schon einmal, dass Fotos gezückt wurden und die Runde machten – Neid erweckende Urlaubsbilder.

Mich haben diese offensichtlichen Interessenverflechtungen nie gestört. Wer nichts zu verbergen hat, der hat auch nichts zu befürchten, wenn er sich zeigt, dachte ich in meiner Naivität. Die Bilder wurden von Hand zu Hand weitergereicht. Zwei Leben, beide unter Dach und Fach. Ein Duo ohne Sorgen, ohne Probleme. Eine stabile Freundschaft, das konnte man gleich sehen. Mich machte das ein wenig neidisch. Eine solch enge Kameradschaft war nicht jedem beschieden.

Und genau mit diesen beiden arbeitete ich eng zusammen. Ihre gegenseitige Sympathie, die Blicke, die Worte ersetzten – damit konnte ich mich gut arrangieren.

Es war in Ordnung, sich mit den beiden kleinen, untersetzten Männern in knitterfreien Anzügen zu beratschlagen. Vier nervöse hellgraue Fischaugen glitten dann über mein Gesicht. Schlüpfrig glatte Punkte, die vielerlei ausdrücken konnten: einen scharfen Verstand, ein sympathisches Wesen oder eiskalte Einschätzung des Gegenübers. Auf mich machten die beiden den Eindruck, dass sie darauf vertrauten, ich würde meine Sache gut machen. Wohlwollend. Dass die beiden Politiker einander so stark ähnelten, veranlasste mich zu der irrigen Vorstellung, dass sie einfach zu handhaben waren, denn sie waren vorhersehbar einmütig. Das ging eine ganze Weile gut.

Bis sie dahinterkamen, dass ich ihnen dicht auf den Fersen war und sie ihre Köpfe mit den millimeterkurzen Igelschnitten zusammengesteckt hatten, um mich rauszuwerfen. So haben sie wahrscheinlich auch die Pressemitteilung verfasst, die in meinem Namen und von meiner Geschäftsmail aus an die Zeitung versendet wurde – allerdings nicht achtlos an irgendeine Nachrichtenredaktion. Die Exklusivmeldung ging an Mohinder De Loo. Er hatte sich einen Namen gemacht. Der Typ konnte gut schreiben, ganz besonders größere Geschichten und lange Interviews. Ich las seine Sachen gerne. Deswegen war es eine Überraschung, dass gerade dieser Mohinder beflissen die falsche Pressemeldung über meinen Abgang für die Zeitung abschrieb. Angeblich hatte ich folgenden Unsinn von mir gegeben: Die Eile meines fachmännischen Ehrgeizes sei nicht mit den langsamen Veränderungen zu vereinbaren, die eine Stadt durchzustehen hat und in die Gewissenhaftigkeit und divergierende Interessen mit einbezogen werden müssten. Ein Aspekt, der von mir nicht bedacht worden sei.

Vollkommener Schwachsinn, der mich noch immer rasend machte. Volksverdummung, auf dem Mist von Menschen gewachsen, denen ich blind vertraut hatte. Als ich las, welcher Unsinn mir in den Mund gelegt worden war, ballte ich vor Wut die Fäuste, bereit für die fiesen Dinge, mit denen man sich in einem unbeobachteten Moment rächen kann. Eine Delle in den Schrank schlagen und sich dabei die Finger zerquetschen. Eine Weinflasche an einer Wand zertrümmern. Oder dem Bürgermeister samt Vasallen die Köpfe einschlagen, gegeneinander oder auch einem nach dem anderen, mit den schwersten Golfschlägern ihrer iron sets. Damit sie irgendwo zwischen zwei Dünen ihrer 27-Loch-Golfanlage in der Dämmerung bei niemals endendem Nieselregen auf dem nassen Boden zusammensinken würden. Der Caddymeister würde sie erst am nächsten Tag finden, zu spät.

Ein paar Monate war ich von einem Vernichtungsdrang besessen. Er schlug in mir wie ein zweites, anmaßendes und ungeduldiges Herz, das mir von einem Menschen mit außerordentlich schlechtem Charakter implantiert worden war. Irgendwann verschwand die Wut wieder von allein.

Doch auch in beruhigtem Zustand trafen mich die schädigenden Worte in der Zeitung wie Peitschenhiebe. Als wäre es dem mir zugeschriebenen maßlosen Ehrgeiz zu verdanken gewesen, dass ich die Haarlemer Bürger im Stich gelassen hatte.

Dieses ewige Verdrehen der Wahrheit. Wieso überraschte mich das überhaupt noch? Denn wenn ich während meiner vierjährigen Tätigkeit als Planungsamtsleiter etwas Unangenehmes entdeckt hatte, dann war es die Tatsache, dass über nahezu alle städtebaulichen Projekte der Gemeinde verdächtig wohlwollend berichtet wurde. Ob es um fragwürdige Bauprojekte ging, kritische Stimmen der Regionalversammlung als Reaktion auf drei Worte des spärlich kommunizierenden Bürgermeisters oder die verhüllenden, sinnentleerten Geschichten des Magistrats: Man schrieb mit einem umsichtigen Schlenker an der Wahrheit vorbei. All die brisanten Geschichten über die kleinen und größeren Missgeschicke, den Widerstand, der mal stark, mal weniger stark ausfiel, oder auch die Rechtsstreite, sie wurden lieber unter den Teppich gekehrt. Natürlich hätte man sich mithilfe der Sitzungsprotokolle, der Arbeitsberichte oder der unordentlich geführten Akten darüber informieren können, öffentlich kommuniziert wurde es aber nie. Auch ich habe das mit einem Schulterzucken hingenommen. Bis ich dann zufällig auf einen viel größeren Betrug gestoßen bin.

3

Vergangenes Jahr im Spätherbst wollte mich Bürgermeister Benno Braat kurz vor Beginn einer Versammlung des Stadtrats sprechen. Es ging um den Verkauf von Grundstücken, die der Stadt gehörten. Daniëls würde ebenfalls an diesem Gespräch im engsten Kreise teilnehmen.

»Ich möchte, dass du kurz einen Blick auf die Vorschläge wirfst«, hatte Braat gemailt.

Ich möchte. Nur selten erhielt ich eine Mail von irgendeinem hohen Tier der Stadt oder Region, von einem Geschäftsführer einer Wohnungsbaugesellschaft oder einem Projektentwickler, die nicht mit dieser sanften Nötigung begann. Ich möchte. Damit war das Verhältnis sofort geklärt. Weitere Informationen wurden einem solchen Befehl nur selten beigefügt. Man hielt es nicht der Mühe wert, mich vorab über die Gründe meines Besuchs genauer zu informieren. Ich sagte nie ab. Schließlich hatte ich eine gute Erziehung genossen.

Ich traf frühzeitig beim Bürgermeister ein. Seine Sekretärin erlaubte mir, sein Büro zu betreten. Er telefonierte. Noch keine Spur vom Planungs- und Baudezernenten Daniëls.

Braat wedelte mit der Hand in der Luft herum und bildete mit Lippengymnastik eine lautlose Mitteilung, die ich nicht verstand. Ich ließ mich ihm gegenüber nieder. Ein paar endlose Minuten sah ich mich um, in der unbequemen Haltung des Wartenden, der sich so sehr langweilt, dass er sich noch nicht einmal dafür schämt, alles und jeden anzuglotzen.

Auf Braats Schreibtisch herrschte Chaos. Herumliegende Papiere und überquellende Ordner, Zeitungen und Zeitschriften, Akten und Bücher schoben sich übereinander wie Eisschollen. Braat legte auf, begrüßte mich jovial mit meinem Vornamen und erhob sich, um mir über den Tisch hinweg die Hand zu reichen, doch er wurde in der Bewegung unterbrochen, da erneut das Telefon klingelte. Mit dem Handy in der Hand stiefelte er aus dem Zimmer.

In diesem Moment siegte meine Neugier über meine Skrupel und die eventuellen Folgen. Also schaute ich mir die Unterlagen auf dem Schreibtisch des Bürgermeisters an. Oben auf einem Stapel, nur knapp von der Tageszeitung verdeckt, lag ein Kontoauszug. Ein altmodischer Papierausdruck, zum Greifen nahe. Wenn ich meinen Rücken streckte und mich vorbeugte, könnte ich ihn lesen, ohne ihn in die Hand nehmen zu müssen. Ich war brennend neugierig, ob es sich um ein Privatkonto handelte und welche Buchungen es gab. Ich war in der Stadt manchmal in Gegenden unterwegs, dort hielt man alle Angestellten der Stadt für korrupt und bestechlich. Die Obrigkeit war der Feind, grundsätzlich. Und der Feind war, selbstverständlich, reich. Das ewige neidvolle Gejammer. Doch in jenem Sommer hatte ich eine wirklich brisante Neuigkeit erfahren.

Ein Bekannter, Architekt in der Gegend mit den Tulpenfeldern, hatte meinen Bürgermeister auf Häuserjagd in Bulgarien entdeckt. Ungefähr vier Kilometer außerhalb der Stadt, auf dem Weg zu einem besonders schönen Strand, sah er Braat, unverkennbar Benno Braat, mit Frau und dem jüngsten Spross, wie sie aus einem Geländewagen vor einer Villa mit beachtlichem Grundstück ausstiegen. Das Werbebanner mit den Verkaufsinformationen zur Immobilie war an eine Not leidende Palme genagelt, nicht in kyrillischer Schrift, sondern auf Englisch.

Mein Bekannter witterte gerne mal einen Skandal, jedoch war er meistens zu faul, um der Sache dann wirklich auf den Grund zu gehen, aber nun schlug er zu. Er parkte seinen Wagen am Straßenrand, ging zurück und machte ein paar Fotos. Danach filmte er mit seinem iPhone, wie Braat und seine Frau Hand in Hand eine Runde um den nierenförmigen Pool drehten. Sie trugen beide weiße Bermudas und Poloshirts, ihr pubertierender Sohn trottete in Surfershorts hinter ihnen her. Ein Makler in einem dunkelgrünen Anzug folgte ihnen mit etwas Abstand. Vor Ort googelte mein Bekannter den Namen des Maklers und entdeckte den Verkaufspreis von 630000 Euro für das Objekt. Er schickte mir sofort diese Information per SMS: »Braat lässt den Rubel rollen, haha! Gruß aus dem heißen Varna.«

Danach hörte ich nichts mehr von ihm über diese Sache. Er hatte seine Entdeckung weitergegeben, nun war ich am Zug.

Dass ein liberaler Bürgermeister – fortschrittlich, optimistisch, zukunftsorientiert und »zugleich mit der Stadt und den Menschen auf dem Weg in eine gute Zukunft«, wie Braat in einem Zeitungsinterview über sich selbst behauptet hatte – so viel Schotter für ein reizendes Anwesen an der Küste im Ausland hatte, überraschte mich jetzt nicht. Überheblichkeit in finanzieller Sicht war innerhalb der Partei nichts Ungewöhnliches.

Doch das Bild blieb hängen, und schließlich sah ich mir den Film an, den mein Bekannter gemacht hatte: Braats krebsroter Kopf in der sengenden Sonne, fest verschraubt mit seinem stämmigen, schwitzenden Leib in blütenweißer Baumwolle, die seine schuppigen und faltigen Knie unbedeckt ließ. Kerzengerade stand er da und starrte gemeinsam mit seiner Frau den WICK-VapoRub-blauen Inhalt des großen Pools mit dem typisch missbilligenden Touristenblick an, als würde es sich um die Souvenirauslage auf dem schmuddeligen Tuch eines Straßenhändlers handeln. Es war ihnen heiß, na klar. Nur zu gerne hätten sie sich kurz im Pool erfrischt. Doch irgendetwas hielt sie davor zurück, so schnell ihre Begeisterung für die riesige Villa mit Garage, Poolhouse und Nebengebäuden zu zeigen. Das war der Kaufmannsinstinkt in ihnen. Eine armselige Knauserigkeit, die ihnen fernlag, wenn sie in einem Sternelokal für ein Mittagessen ein paar Hunderter lockermachten und zusätzlich noch ein kräftiges Trinkgeld aufs Tischtuch legten. Doch im Strandscha in Bulgarien, dem Biotop windiger und unbedeutender Fremder, witterten sie ihre Chance. Sie beäugten das Objekt mit einer Miene, als hätte man ihnen über ihren Sonnenstich zusätzlich noch eine Flasche Essig gekippt. Wahrscheinlich erhofften sie sich von ihrem missfälligen Blick eine Preissenkung. Ich konnte ihre Mimik erkennen, sogar auf dem aus der Ferne aufgenommenen Filmchen. Bei manchen Menschen erkennt man mehr Körperhaltung und Gesichtsausdruck, als es einem lieb ist.

Was hatte Braat im Sinn? Er schien mir kein Parvenü zu sein. Er bevorzugte zwar dieselben Anzüge wie die Schlauberger aus der Zweiten Kammer im Parlament, die immer gierig zu den anwesenden TV-Kameras schielten, aber er trug Schuhe mit dicken Kreppsohlen. Er fuhr einen Skoda, kein allzu kleines Modell, auch nicht gerade billig, aber dennoch. Denselben Wagen fuhr unser Gärtner und transportierte damit im Anhänger die Grünabfälle ab. Er spielte in einem vornehmen Club Golf, tafelte mindestens ein Mal in der Woche feudal, und man traf ihn regelmäßig in den paar Sternerestaurants an, die es in der Region gab. Aber man sah ihn auch durchaus mit einer Flasche Fanta und einer Packung blasser Tortillachips im Multiplexkino. Eingequetscht zwischen Besucherhorden an einem überfüllten Samstag, bereit für den neuen James Bond, volksnah und gesellig. Am Montag erzählte er dann stolz davon. Zum Rathaus fuhr er auf einem klapprigen Damenfahrrad, das fand man in der Stadt ganz besonders sympathisch.

Ein Ablenkungsmanöver oder sein wahres Ich? Wer wusste das schon. Einerseits sparsam, andererseits verschwenderisch. Diese Stilbrüche waren seltsam. Dennoch machte ihn das nicht verdächtig. Verdächtig für was auch immer.

Der Kontoauszug auf dem Schreibtisch war tatsächlich von Braat mit einem Saldo von nicht unbedingt alarmierenden achttausend Euro. Es gab etwas anderes, das mein Interesse weckte. Ein Betrag von dreitausend Euro war überwiesen worden, mit dem Vermerk: »Studiendarlehen«. Empfänger: Mohinder De Loo.

Braat kehrte an diesem Nachmittag nicht mehr in sein Büro zurück. Allerdings kam Theo Daniëls ins Zimmer hineingestürmt, als würde er sehr dringend eine Toilette suchen. Oder hatte Braat ihn eilig zu mir hingeschickt, um zu verhindern, dass ich herumschnüffelte? Wir beratschlagten uns zehn Minuten wegen des geplanten Grundstücksverkaufs, dann waren wir schon fertig.

Während der darauffolgenden Tage begann ich mit meinen Recherchen. Die Verbindung zwischen Mohinder De Loo und Braat ließ mich nicht los. Ein Bürgermeister, der einem jungen Journalisten Geld zahlt? Verdächtig. Meine Fantasie ging mit mir durch. Der Bürgermeister schätzte den jungen Schreiberling und wollte ihn anspornen? Allerdings roch das auch nach Bestechung eines Journalisten. Der Bürgermeister begleitete ihn als zukünftiges politisches Talent für seine Partei? Gut möglich, doch warum hatte er ihn dann nicht bei sich im Rathaus eingestellt?

Der Journalist hatte eine enge Beziehung mit einer der Töchter des Bürgermeisters, befand sich in finanziellen Schwierigkeiten, und man half ihm als zukünftigem Schwiegersohn aus der Patsche? Gut möglich, doch diese These zerschlug sich, als ich De Loo zwei Wochen darauf bei einer Ausstellungseröffnung eng umschlungen mit der um einiges älteren Galeriebesitzerin sah. Sie ließ es zu, dass er im Beisein aller seine Hände in ihre eng anliegende Lederhose zwängte. Keine passende Gelegenheit, ihn zu fragen, ob er die Tochter des Bürgermeister kennt. Oder erpresste er Braat? Hatte er etwas entdeckt und erhielt dafür Schweigegeld?

Gaby war der Meinung, ich würde meine Zeit vergeuden.

»Typisch, du vermutest immer gleich das Schlechteste im Menschen und hältst eine freundliche Geste für eine krumme Sache«, sagte sie.

Ich hatte ihr von meiner Entdeckung erzählt, als ich damals noch amüsiert darüber berichten konnte. Sie wusste allerdings nicht, dass ich mit meinen Vermutungen über derartige Unrechtmäßigkeiten nur allzu oft ins Schwarze traf.

Gaby lebte seit vielen Jahren fern von dem ganzen Klüngel und den Manipulationen im Arbeitsleben. Die prüfenden Blicke auf dem Schulhof waren die einzige soziale Gefahr, die sie kannte. Doch was sich wirklich in den Familien, hinter ihren Wänden abspielte, hatte sie nie interessiert. Wie ich war auch sie eine Einzelgängerin. Doch im Unterschied zu mir ließen sie sowohl Einladungen kalt, bei denen es ums Sehen und Gesehenwerden ging, als auch soziale Ablehnungen. Gaby nahm sich nicht so schnell etwas zu Herzen. Ihre Unbekümmertheit gab mir oft Mut. Jetzt nicht.

Weil ich mir weiter meine Gedanken über De Loo machte, bat ich meine Assistentin, mir eine Kopie von all seinen Interviews aus dem vergangenen Halbjahr zu machen. Tags darauf landete ein hoher Papierstapel auf meinem Schreibtisch. Nachmittags wollte ich einen Bildhauer in seinem Atelier besuchen, der beauftragt war, eine Skulptur für den Platz im Schlachthofviertel anzufertigen. Die Artikel von De Loo nahm ich mit.

Auf dem Heimweg machte ich bei einer Brasserie im Dorf halt. Eine nette Abwechslung zur allabendlichen heimischen Routine. Mir fehlten die Dienstreisen ins Ausland, die Hotels mit ihren oft übertrieben designten Restaurants und Bars, wo man es sich trotz allem ungestört gut gehen lassen konnte. Dass ich manchmal für längere Zeit verreisen musste, war die Kehrseite meiner erfolgreichen Jahre gewesen, doch sich auf Flughäfen zu bewegen, ins Flugzeug ein- oder wieder aussteigen, das gefiel mir. Als würde ich plötzlich den Rhythmus der Erddrehung durchkreuzen, der Sonne voraus oder den Abend überlistet. Ich wurde regelrecht süchtig nach den kleinen Siegen über die weiterrasende Zeit, der Jetlag machte mir nie zu schaffen.

Diese Zeiten waren nun vorbei, und in der Regel bedauerte ich das auch nicht. Manchmal kam es mir dann aber doch vor, als würde sich alles um mich herum weiterdrehen, während ich auf der Stelle verharrte. In Lisse waren die Tische aus lackiertem Holz, und überall standen Orchideen in zu großen weißen Übertöpfen. Die mussten wohl den Mangel an Kunstwerken ausgleichen. Ich bestellte mir ein Bockbier mit einem Angus-Steak dazu, und noch bevor das stark gepfefferte, medium gegarte Fleisch in zischendem Bratensaft vor mich hingestellt wurde, hatte ich bereits die Hälfte der Looser Zeitung nach Hinweisen auf Braat durchforstet. Autoren, Kabarettisten, Schauspieler, Mitspieler aus Soap-Serien, Sänger, hochgejubelte oder niedergemachte Prominente, ein Arzt, ein Wissenschaftler, ein paar TV-Moderatoren, eine Schar bekannter Gesichter tauchte in den Artikeln des jungen Journalisten auf. Ab und zu befand sich darunter eine lokale Persönlichkeit, jemand, der ein erfolgreiches Unternehmen hatte oder etwas Verdienstvolles mit Tieren, Kindern oder Alten machte. »Die eigenen Leute«, wie Braat bei Versammlungen die Bewohner von Haarlem immer nannte, damit auch jeder wusste, mit wem er solidarisch zu sein hatte.

Nur eine einzige Person war mir fremd, ein Name, bei dem es beim größeren Publikum nicht sofort klingelte. Das dazugehörende Gesicht sagte mir ebenfalls nichts. Arne Dalstra. Sohn eines Industriellen älteren Semesters, der von Frühjahr bis Herbst in einer noblen Residenz am Bentveldseduinweg in Aerdenhout wohnte. Arne schien ein rasanter Aufsteiger in der Quote 500 zu sein. Nach einer steilen Karriere in der IT-Branche und einem spektakulären Börsengang mit seinem Unternehmen, las ich dort, war er mit Frau und frisch geborenem Kind nach Aerdenhout gezogen, in die Nähe seiner Eltern. Ansonsten nur Gemeinplätze über seine Branche und die Ruhe, die er sich nun in direkter Nähe zum Meer und den Dünen erhoffte. Gibt es eigentlich einen bekannten Niederländer in dieser Gegend, der nicht von der See schwärmt? Und wie alle fährt er natürlich am liebsten auf dem Rad dorthin. Ich war jedes Wochenende mit dem Hund am Strand, doch einen TV-Star, der dort ein Bad im Meer nimmt oder einen Spaziergang macht, habe ich noch nie erblickt.

Gelaber, hätte ich fast laut gerufen, noch während der Lektüre, ganz wie daheim. Doch dann. Jetzt hab ich dich. Der junge Hund Arne hatte nicht vor, einfach so hierherzuziehen, er wollte in die Gegend investieren. Nicht nur in existierende Projekte, für die er »tausend Ideen hatte«. Ich befürchtete schon das Schlimmste. Er wollte der Stadt ein »bleibendes und ruhmvolles« Geschenk machen: ein Museum. Ein Ort, in dem in Wechselausstellungen die Privatsammlung seiner Eltern und die anderer Kunstsammler gezeigt werden könnte sowie thematisch verwandte Ausstellungen. Eine Kunsteinrichtung, die den Geschmack einer vermögenden Familie widerspiegeln und präsentieren würde. Er könnte die Räume schon auf Jahre hinaus behängen, und falls die Sammler aus den Niederlanden einmal erschöpft wären, hätte er auch Namen aus dem Ausland parat.

De Loo hatte das niedergeschrieben, als würde er an den Lippen des Verkünders hängen. Auch den Arbeitstitel hatte Arne Dalstra bereits parat: Das Museum des Privatbesitzes. Ich musste zugeben: Dieser Name war nicht infrage zu stellen. Er zeigte sofort, was sich in seinem Innern befand, und hatte zugleich eine trotzig politische Botschaft, die dennoch hinlänglich flexibel war: Verherrlichung oder Verdrängung von Privatbesitz – in beiden Fällen war ein Museum auch symbolisch eine Antwort.

Natürlich war dieses Projekt auch mit dem zu erwartenden Größenwahn behaftet. Er würde es nicht bedauern, sagte der junge Multimillionär, wenn das Institut schließlich unter dem Namen Sammlung Dalstra bekannt sein würde und in Reiseführern Erwähnung fände. Arne Dalstra schwebte ein futuristischer Bau in den Dünen vor. Für den Bau des Gebäudes hatte er bereits einige weltbekannte Architekten angeschrieben, Namen wollte er jetzt allerdings nicht nennen. Noch war nichts in trockenen Tüchern. Egal, wie schön sein Gebäude inmitten des ruppigen Dünengrases auch aussehen würde, das Zentrum von Haarlem schien ihm noch besser dafür geeignet zu sein: denn dort gäbe es mehr Museumsbesucher. Zudem, so fügte der Journalist noch geschickt am Satzende ein, um die Wirkung zu steigern, hatte Dalstra grünes Licht. Das stand dort tatsächlich. »Ich bin mir schon jetzt der uneingeschränkten Unterstützung und Mitarbeit des Bürgermeisters von Haarlem sicher sowie der von einigen hochgeschätzten Persönlichkeiten der Region.«

Ich wollte einen kräftigen Schluck von meinem frischen Bier trinken, doch ich schnappte nur in die Schaumkrone. Dieser Wohltäter gewinnt mit einem solchen Prestigeobjekt das Vertrauen und die Sympathie der Bewohner sowie des Stadtrats von Haarlem. Ihm öffnen sich die Türen, er kann überall und jederzeit hineinspazieren und weiß, dass er Gehör finden wird. Bei Empfängen flirtet er heftig mit der Frau von jemandem aus dem Provinzparlament, dem er etwas zuschieben will, im Tausch gegen Unterstützung seiner Projekte, die nichts mit dem Museum zu tun haben. Im Rathaus und in der Gemeinde macht er sich alle Leute, die ihm von Nutzen sein können, gefügig. Und bevor man weiß, was geschieht, ist geschwind ein Stadtviertel entstellt, weil Dalstra dort etwas bauen will, das er mit der Lage wunderbar verkaufen könnte.

Natürlich konnte ich auf Gaby hören und zugeben, dass ich paranoid geworden war. Doch die Geschichte stank zehn Meter gegen den Wind.

Mein Argwohn wurde auch dadurch noch weiter bestätigt, dass der Museumsbau bereits durchgewunken worden war, ohne dass ich davon die geringste Kenntnis besaß.

Wie war es möglich?

Das Interview war in den Herbstferien erschienen. Damals war ich mit Gaby und in den Kindern in London gewesen. Die Nachrichten aus den Niederlanden oder gar Haarlem hatte ich nicht verfolgt. Doch danach? Niemand hatte mit mir je darüber gesprochen, und man hatte mich auch um nichts gebeten. Wohlgemerkt handelte es sich um einen Bau, der möglicherweise im Zentrum von Haarlem entstehen sollte und von Benno Braat offenbar spornstreichs abgesegnet worden war.

Ich fuhr nach Hause, um der Sache auf den Grund zu gehen.

Am nächsten Tag schickte ich zunächst Daniëls eine Mail. »Hallo, Theo, der Deal mit Arne Dalstra ging ja ziemlich schnell über die Bühne. Zum Glück hat mich die Presse informiert. Welche konkreten Zusagen wurden bislang gemacht? Herzlich, Job.«

Die Antwort kam prompt, als hätte er auf die Beschuldigung gewartet, die er sofort entschärfen musste: »Hehe, Job, nur nicht so misstrauisch. Es gibt keinen Deal. Und wir haben genau wie du alles aus der Zeitung erfahren. Wir sprechen uns noch, T.«

Wenn Daniëls im Plural sprach, dann tat er das auch im Namen von Braat. In diesem Fall schien er ihn zu decken. Das locker eingesetzte »wir« vernebelte die Angelegenheit wirksam, und alle, die an dem Deal mit Dalstra beteiligt waren, konnten sich dahinter verstecken und sich Ausreden überlegen und die Verantwortung weiterreichen, bis irgendwann nicht mehr klar war, wer für was zuständig war.

Ich gab mich mit der Antwort nicht zufrieden und schrieb zurück: »Dann ist es doch sehr sonderbar, dass Dalstra jr. in der Zeitung bereits eine politische Unterstützung erwähnt. Ich werde Mohinder De Loo mal anrufen und nachfragen.«

Keine zehn Sekunden später schrieb Daniëls zurück: »Bin schon am Apparat, regel das selbst mit der Zeitung. Informier dich später.«

Wie verräterisch die Sprache doch ist. Regeln war das falsche Verb. Damit deutet man an, etwas verschleiern zu wollen, Schaden begrenzen oder sogar jemanden kaltstellen zu wollen. Eine unverdächtige Antwort von Daniëls hätte lauten müssen: »Ich werde mal bei der Zeitung nachhaken.« Wäre er wirklich noch nicht informiert gewesen, dann hätte er zunächst den Journalisten angerufen, um nachzufragen, was los war. Er hätte das bereits vor Wochen tun müssen, als der Artikel in der Zeitung gestanden hatte.

Eine Viertelstunde später hatte ich einen weiteren Beweis. Aufgrund der entstandenen Konfusion und aus Verärgerung über die Frage in meiner Mail oder auch aus Angst, ich könnte Nachforschungen betreiben, machte Daniëls einen Fehler. Versehentlich setzte er mich in der Mail, die er Braat schrieb, in Kopie. »Job, fragt wegen Arne nach, was tun?«

Ich wusste genug. Sofort bat ich meine Assistentin erneut um eine Recherche. Alles über Arne Dalstra, inklusive Schnappschüsse in Klatschzeitschriften und ähnlichen Magazinen, alles, was auffindbar war. Sie blickte mich an, als wäre ich vollkommen durchgeknallt. Doch am Nachmittag lag ein ansehnlicher Stapel auf meinem Schreibtisch. Obenauf ein Foto aus dem Stan Huygens Journaal. Meine Assistentin, bereits seit über dreißig Jahren bei der Gemeinde angestellt, hatte mit einem Textmarker einen leuchtenden Heiligenschein um einen Kopf gleich neben Dalstra gezeichnet. Darüber stand: »Kann es sein, dass du eigentlich den hier suchst?«

Verflucht, unter der Fotokopie der Zeitung lag gleich noch ein weiteres Foto aus der Weekend mit demselben Paar, diesmal auf der Immobilienfachmesse an der Côte d’Azur. Neben Dalstra stand Guus Daniëls, Bruder des Beigeordneten und Direktor der Wohnungsbaugesellschaft Casa, im Volksmund auch gerne Kasse genannt.

Auf einem großen Blatt Papier notierte ich mir meine bislang gesammelten Informationen.

Ein Bürgermeister, der einem Journalisten der lokalen Zeitung dreitausend Euro überweist.

Ein Journalist, der einen nahezu unbekannten Millionär groß in der Zeitung porträtiert und als Glanznummer sein Vorhaben erwähnt, in die Stadt investieren zu wollen und dafür bereits die politische Genehmigung des Bürgermeisters bekommen zu haben.

Daniëls, der bestritt, dass er oder der Bürgermeister etwas davon gewusst hätten.

Daniëls, der den Bürgermeister fragte, was zu tun sei, nachdem sich herausstellte, dass ich Wind von der Sache bekommen hatte.

Der Bruder von Daniëls gemeinsam mit dem Millionär auf zwei Zeitungsfotos.

Der Bruder von Daniëls gemeinsam mit demselben Arne Dalstra auf der MIPIM in Cannes im vergangenen Frühjahr.

Und ein weiteres, nicht unwichtiges Detail: Die Tatsache, dass die Brüder Theo und Guus Daniëls einmal gemeinsam Brickland