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Im Mittagland des Kontinents Amrosien lebt abgelegen, tief im Wald, die Hexe Schnatterzahn mit ihren Gefährten - einem Kater und einem Wolf. Ihr Heim ist das Hutzelhaus, windschief, aus groben Brettern selbst erbaut. Es ist Ausgangspunkt für Schnatterzahns Hauptaufgabe: Kräuter sammeln für Hexengebräu. Aber auch für einen Rückblick auf ihre Kindheit im Elfenwunderland und der Hexenschule. Nicht immer verläuft alles nach Plan. Es droht sogar Gefahr. Kann das Späs der Stufe Alpha X1 helfen? Spätestens aber, nachdem ein Anruf auf dem Mobiltelefon und der Flug zum Mond, das Geheimnis um das Ende des Himmels lüftet, könnte sich alles zum Guten wenden. Doch die Nachmittagländer machen Stunk ...
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Seitenzahl: 277
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Umschlaggestaltung: Atelier Rikta
www.rikta-illustrationen.de
Illustrationen: Alex van Artic
alexvanartic/instagram.com
für Simon
Kapitel 1 Nichts beginnt jemals
Kapitel 2 Von einer, die auszog, die Lurchen zu lernen
Kapitel 3 Husten, wir haben ein Problem!
Kapitel 4 Boriumsche Anstalten
Kapitel 5 An Erika
Kapitel 6 Ende, wem Ende gebührt
Epilog
Seht, liebe kleine und große Kinder, seht genau hin, dort ist sie: Hexe Schnatterzahn. Von guten Freunden einfach nur Schnatz genannt. Aber keine Angst, ihr denkt jetzt sicher: Hilfe, eine unheimliche Hexe, trau mich gar nicht weiter zu lesen. Oder: Neee, du bist ein Lügerer, es gibt gar keine Hexen. Doch, es sei euch gleich vorweg gesagt - es gibt sie! Aber es ist keine böse Hexe, nein, unsere Hexe nicht. Sie tat noch nie etwas Böses. Zumindest bisher. Es würde ihr im Moment auch schwerfallen, denn sie kämpft gerade mit einem Zauberschwert gegen eine Zyklopenarmee von einäugigen Kobolden, die zum Glück versehentlich zu grün gestreiftem Erdbeereis mit einem dicken Klecks Sahne und bunten Streuseln gefroren. Im Nu wurden sie von Schnatz mit größtem Genuss vernascht. Ihr üblicher Hexentraum.
Doch seht, schnell, dort ist sie immer noch. Wie sie leibt und lebt. Oder besser, wie sie schläft und aufwacht. »Uaaaah«, gähnte sie, rekelte und streckte die müden Glieder. Denn auch Hexen können nicht ewig im Bett liegen. Sie schwang schwungvoll die Beine über die Bettkante und rieb den Schlaf aus Augen und Ohren, bevor sie ihren verspannten Körper von staksigem Wuchs mühsam in die Höhe stemmte. Der Tag begann.
»Guten Morgen, Kater«, begrüßte sie ihren Kater. Einen richtigen Namen hatte er nämlich nicht. Den konnte sie sich nicht leisten. Deswegen hieß ihr Kater einfach nur Kater. Damit war er aber auch zufrieden. Es machte ihm nichts aus. Er trug ihn sogar mit Würde. Katzen hören sowieso nur auf ihren Namen, wenn sie Lust dazu haben. Einen richtigen eigenen Vornamen konnte sie sich selbst ja auch nicht leisten. Wozu auch? Was sollte sie denn dann auf ihr Klingelschild schreiben? Hexe Elfriede Schnatterzahn? Oder Hexe Chantal Schnatterzahn, 2. Stock, links? Das passt doch gar nicht. Klingt wie Puttchen Brammel auf Dorfkirmes. Schließlich wollte sie schon, dass die Leute ein wenig vor ihr bange sind, wenn sie denn einmal welche sehen würde. Doch leider sah sie niemand. Hexe ohne richtigen Vornamen Schnatterzahn wohnte nämlich mit Kater tief im Wald. So tief, dass nicht der kleinste Weg dorthin führte. In einem Land weit vor unserer Zeit. Im Mittagland. Das Morgen- und Abendland kannte jeder. Aber das Mittagland war noch völlig unerforscht. In einem abgelegenen Zipfel des Kontinents Amrosien. Gleich hinter Aferikan und dann hinter der Ecke geradeaus. Eine Gegend, die sich besonders durch ihre gesunde Luft und der trostlosen Einöde empfahl. Dorthin verschlug es sie einst. Dort wohnte, lebte und arbeitete sie. Mit Kater Kater. Und Rolf. Rolf, der Wolf.
Drei Freunde, wie sie unterschiedlicher kaum sein konnten, doch innerlich tief vereint, durch ihre charaktervolle Natur und ihr selbstloses Wesen.
»Rolf, bring mir doch bitte die Latschen. Die Woche ist rum, ich muss mich waschen.« Wolf Rolf ist ziemlich schlau. Ein sehr erfahrener Latschenbringer. Hexe Schnatterzahn wusch sich. Oder wenigstens tat sie das, was sie waschen nannte. In Wirklichkeit ging sie nur am Fenster vorbei und schaute hinaus zum Bach. Ein rauschender Bach mit ganz besonders nassem Wasser. Und sie dachte, wenn man Wasser nur sieht, reicht das, um sauber zu werden. Zähne putzte sie auch nicht mehr, seitdem die letzte Borste der Zahnbürste ausfiel. Deswegen hat sie nur noch diesen einen großen wackligen Zahn vorn im Mund, der auch noch weit hervorsteht, direkt unter der riesengroßen pickligen Hexenhakennase. Schnatterzahn heißt nicht umsonst Schnatterzahn. Ein geschäftstüchtiger Prothesenklempner hätte gut an ihr verdient.
Nach der ihrer Meinung nach ausgiebigen Morgenwäsche, setzte sie ihren Hut auf. Dies war jetzt aber mal ein richtiger Hexenhut. Hoch und tiefschwarz. Mit breiter Krempe und einem spitzen Zipfel am Ende.
Sie sah sich in ihrer Schlafstube um. Sollte sie aufräumen? Viel war nicht darin. Ihr Bett, ein alter abgewetzter Teppich, eine kleine Kommode mit der unbenutzten Waschschale. Daneben das Bücherregal. Es gab noch Platz neben den beiden Büchern. Spuren eifriger Benutzung suchte man daran vergebens. Schnatterzahns Vater hatte stets gesagt, Bücher erweichen das Gehirn. Also war lieber Vorsicht geboten. Viel besser als das Regal kam das Bild zur Geltung. Dieses große Bild an der Wand, das den Raum so richtig aufhübschte. Ein Blickfang der besonderen Art. Von ihr selbst gemalt. Mit einer wunderschönen bunten Blume. Eine Blume, so bunt, wie man sie mit schwarzer Farbe malen kann. Denn leider hatte sie damals keine andere. So wurde das Bild ganz schwarz und hängt nun windschief in seinem verwitterten Rahmen auf halb acht. Eine große Kunst, nur mit schwarzer Farbe, eine bunte Blume zu malen. Das sollte ihr erst einmal einer nachmachen. Ein wahrlich meisterliches Meisterwerk; das kann ich euch flüstern.
»Quak«, machte Rolf. Wenn Rolf quakte, freute er sich immer. Das sah man auch an seinem wedelnden Schwanz, an seinen gespitzten Ohren und dem aufmerksamen Blick. Rolf war schön und schlank und kräftig, wohlgestaltet bis in die Fellspitzen, ein Prachtexemplar von Wolf, mit allen Tugenden gewaschen, aber er konnte nur quaken. Wie eine Ente. Als kleinem Welpen erzählte man ihm, seine Eltern hätten eine Arbeit als Astronaut angenommen und wohnen nun auf dem Mond und die Rakete sei kaputt und das Raketenersatzteillager ist dort nicht vollständig und sie können gerade nicht zurück und noch viele andere Lügengeschichten. Er glaubte das nicht. Das war damals schon Quatsch. Und heute, nach der langen Zeit, noch viel quätscher. Allerdings wusste er es aber auch nicht besser. Zu seinem großen Glück wurde er als Babywolf von einer schnatternden Entenfamilie gefunden und großgezogen. Die Enten hatten ihn sehr lieb, nahmen ihn auf, wie ihr eigenes Kind. Wunderten sich nur, warum er nicht ausgebrütet werden musste. Es sah schon recht merkwürdig aus, als der kleine Wolf anfangs an den Zitzen der Entenmutter neben den anderen Küken gesäugt wurde. Alle taten in der Folge ihr Bestes. Brachten ihm mit viel Geduld das Schwimmen und Gründeln bei. Aber statt des Knurrens und Grollens, eben leider auch nur das Quaken. Eigentlich ist es ja egal, ob einer quakt oder bellt oder grunzt oder sonst was. Trotzdem wurde er später von den anderen Tieren oft ausgelacht. Da schämte er sich so sehr, dass er in den Wald lief. Immer tiefer und tiefer und noch tiefer. Bis dahin, wo gar keine Wege mehr sind. Und so kamen Rolf und Hexe Schnatterzahn zusammen. Sie kannte es nicht anders und hielt das Quaken für eine normale Marotte. Sogar für eine ganz besondere Begabung, worauf er stolz sein sollte. Seitdem ist Rolf ein treuer Gefährte.
»Komm, Rolf, wir müssen los, das Bett machen wir morgen.«
»Quak!«
Kater blieb liegen. Er war faul und frönte gernstens dem Müßiggang. Schlief lieber weiter. Mied meist die körperlichen Mühen des Alltags. Die waren ihm verpönt. Er zog als Krone der Erschöpfung die konsumfreie Freizeitgestaltung im wohlfühlorientierten Offline-Modus vor. Seine größte Leidenschaft: Turboschlummern bis die Haare bluten. Der Bummelant schlich jedes Mal heimlich ins Bett, wenn die beiden loszogen in den Wald. Denn sie gingen täglich in den Wald. Kräuter sammeln. Hexenhauptaufgabe. Kräuter sammeln für Hexengebräu.
Die sengende Sonne bollerte mit Hochdruck auf die sanft wehenden Sommerkronen der Bäume, als der Aufbruch nahte. Oft war es neblig und düster mit schwerem Gewölk und 'ner kurzen Husche. Heute aber brezelte der Ofen kristallklar vom stahlblauen Himmel herab. Es war gnadenlos heiß und knüppeltrocken. Die Luft flirrte über den Wiesen. Eigentlich bestes Kräutersammelwetter.
»Wir brauchen die dornige Mistelgarbe, halbgiftigen Löwenlattich, die seltenen Hufporlinge, Grabenmohn (den blauen), krosse Kekskresse und 'ne Tüte Chips.« Los ging‘s, in die unberührte Vegetation der näheren Umgebung. Schon nach kurzer Zeit fanden sie den ersten Löwenhufporlattich an der Kräuterlichtung, schnitten hie und da eine Handvoll mit der Sichel ab, verstauten es in ihrem Kräutertragebeutel und suchten emsig weiter. So wäre es eigentlich jeden Tag gewesen. Nur nicht heute. Denn unangenehm schrill klingelte auf einmal das Handy! Hexe Schnatterzahn erschrak. Ein unbeteiligter kleiner Lemming im nahen Buschwerk tat es ihr gleich und verschwand. Rolf spitzte die Ohren. Eine Stimme in ihm raunte mahnend zur Vorsicht. Er zog den Schwanz ein und quakte leise, was wohl ein Knurren sein sollte. Ein Handy? Waldhexe und Handy? Na ja, beim Kräutersammeln findet man so allerlei. Sogar Handys.
»Jaaa, ääääh, hallooo, hier Fräulein Schnatterzahn, wer spricht?«
»Guten Tag, verehrte Dame«, sagte eine überfreundliche künstliche Stimme, »wir gratulieren Ihnen, Sie wurden ...«
»Wie war Ihr Name?«
»… unter tausenden Kunden persönlich ausgewählt. Ihre Telefongesellschaft Smarttalk möchte Ihnen, sehr verehrtes Fräulein Platzhalter, ein einmaliges, hochinteressantes Angebot machen, mit dem Sie viel Geld sparen können. Für nur 9,99 Amros und ein paar Zerquetschte zusätzlich im ...«
»Wie bitte? Was kann ich?«
»… Monat können Sie ab sofort zwei Mal kostenlos und völlig unverbindlich in die Pampa zwischen zwei und drei Uhr nachts telefonieren. Es ist unglaublich aber wahr, so günstig wird es nie wieder, warten Sie nicht, seien Sie klug, greifen Sie schnell zu, bevor es zu spät ist. Die ersten Teilnehmer gewinnen garantiert eine absolute Luxustraumreise auf die Dameliven.«
»Wohin? Lademiven?«
»Es ist ganz leicht, drücken Sie einfach auf ...« Klack! Hexe Schnatterzahn beendete das nervtötende Gespräch. Nicht nur der Akku war am Ende, ihre Geduld auch. Vielleicht zu voreilig? Hätte sie vielleicht doch …? Es ließ sich nicht leugnen, das Angebot schien immerhin sehr verlockend. Es klang so überzeugend. Bestimmt müsste man irgendwann ja mal nach Pampa telefonieren. Könnte doch sein. Und der Gewinn dieser Reise wurde schließlich garantiert. In Medaliven soll es immerhin die feinsten und erlesensten Kräuter geben. Aber nein, ausgeschlossen, so plump und billig ist sie mit ein paar abgedroschenen Phrasen nicht zu ködern. Die Vernunft hielt wieder Einzug.
»Was war das denn??? Da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt. Hast du das gehört, Rolf? Was sollen wir? Geld sparen? Wir sollen Geld sparen? Haben die 'ne Schraube locker? Was ist denn Geld? Ist das vonnöten? Geldkräuter? Gibt's die? Wächst das auf Bäumen? Gott ach Gott ach Gott. Noch nie bekamen wir einen Anruf und dann gleich so ein alberner Klimbim. Frechheit! So ein Lümmel! Ich bin entsetzt! Komm lass uns nach Hause. Mir ist ganz tüddelig nach diesem ganzen Geseiere. Mache uns erstmal eine Apfelschorle. Ohne Schorle. Die ist alle.«
»Quak!«
Sie gingen schleunigst zurück. Im Schweinsgalopp. Ihr schlotterten immer noch die Knie, als beide zu ihrem Hutzelhaus kamen.
Das Hutzelhaus hieß so, weil es genauso aussah. Nicht unbedingt das Letzte an Vollkommenheit, eher ein schrulliges Domizil, völlig verhutzelt, abgeschieden von allem, aber trotzdem irgendwie knuffig. Die Wände aus groben, rauen Brettern mit ein paar krummen Nägeln und viel Herzblut wackelig verbunden, die Zwischenräume mit Lehm notdürftig verschmiert, das Dach allerdings mit lose aneinandergelegten Ziegeln perfekt abgedichtet. Nicht der kleinste Tropfen drang hindurch. Allerdings nur, solange es nicht regnete. Kleine blinde Fenster, geräuschvoll quietschende Türen und nur zwei Räume. Eine Schlafstube und eine Wohn-, Arbeits-, Koch-, Spiel-, Abstell- und Gästestube. Halb unterkellert mit einem großen duftenden Kräuterlager. Die Statik wirkte zwar äußerst fragil, aber das Hutzelhaus war ein Traum. Sie fühlten sich sehr wohl darin. Keine lauten Nachbarn, keine Straßen, Autos, elektrische Rasenkantenschneider, dröhnende Laubbläser oder sonstiges Gelärm. Es war ihr Eigenes. Durch eigene Hand erschaffen. Ganz ohne zertifizierten Handwerksmeisterfachbetrieb. Jeder Stein atmete den süßen Schweiß der Erbauer. Mit Geduld und Spucke hatten sie lange geplant, konstruiert, gehämmert und gewerkelt und noch immer gab es keinen Termin für die amtliche Bauabnahme. Das war getreu der kolonischen Losung aber auch nicht weiter schlimm, denn och de Dom es nit an enem Dach jebaut wode.
Ihr Heim, ein Zufluchtsort, Unterschlupf und Refugium, ihre Trutzburg, die sie abschottet gegen die Gefahren des Draußens, ohne Bausparvertrag oder Immobiliendarlehen mit Disagio, festverzinslicher Laufzeit und Sondertilgungsrecht. Solche Sperenzien gab's hier nicht. Freiheit! Klare Luft, gesunde Natur, Vogelgezwitscher, Wetterunbill, rätselhafte Geräusche. Ein Kleinod umgeben vom wahren Luxus. Hier spürte man das Leben. Ein unbeschwertes Leben. Und das war gut so.
Kater sprang schnell aus dem Bett, als er die quietschende Tür hörte.
»Kater«, rief die Hexe, »Kater, komm, wir müssen Familienrat halten.« Alle drei saßen um den wackligen Holztisch. »Kater, du kannst dir nicht vorstellen, was passierte. Wir bekamen einen Anruf. Auf diesem ... dieser ... Mobilquetsche. Jemand will uns Geld geben, wenn wir nach Pampa telefonieren. Was hältst du davon?«
Kater war ein richtiger Tausendsassa, nicht gerade ein Hansdampf in allen Gassen, eher von beschaulicher, gemütlicher Natur, trotzdem ein gewieftes Schlitzohr, raffiniert durch und durch. Er hielt sich nämlich für multilingual; konnte natürlich selbst nicht wirklich reden, glaubte aber sämtliche Sprachen der Welt verstehen zu können. Kätzisch konnte er perfekt und ein paar Brocken Quak hatte er nach langen Studien perfektioniert und stolzierte nun die kurze Zeit außerhalb seiner faulen Phasen wegen beängstigender Überqualifikation hochnäsig wie ein feiner Herr durch die Gegend. Eigentlich hatte er richtig was auf der Pfanne, doch was man nun schon wieder von ihm wollte, konnte er überhaupt nicht begreifen. Er verstand nur Bahnhof und guckte Löcher in die Luft. Es störte seinen ausgeprägten Hang zum ruhigen Lebenswandel nicht unerheblich; empfand es als lästige Nötigung, zu solch erhöhter Gedankentätigkeit provoziert zu werden. Allein die Tatsache begann ihn zu versöhnen, dass man einmal mehr seine scharfsinnige Geisteskraft zur Rettung der verzwickten Situation benötigte. Trotzdem, dieser spezielle Firlefanz umbrandete ihn auf bedrohliche Weise, zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt. Zudem entzogen sich die zutiefst komplizierten Zusammenhänge seiner Denkstruktur. Er hielt Maulaffen feil und schaute gerade trotz aller Cleverness ziemlich blöd aus der Wäsche. Pampe ... was? Häää? Das roch nach Anstrengung. Wenn er die Zeit dazu findet, würde er später vielleicht noch einmal darüber nachdenken. Jetzt kommt ihm alles gerade ziemlich ungelegen. Das schrie nach einer großzügigen Mütze Schlaf, und schon fiel das Universalgenie ohne schuldhafte Verzögerung auf die Seite, streckte kurz die Beine, räkelte den Rücken und schloss mit großer Sorgfalt die Augen.
Es verfloss eine sprachlose Ewigkeit von wenigen Sekunden, bis Schnatterzahn begriff.
»Siehst du Rolf, Kater hält gar nichts von dem ganzen Zinnober. Wie klug er ist. Weißt du was? Ich finde, Kater hat recht. Wir sollten dieses blöde Handy dahin bringen, wo es hingehört!«
Mit diesem knüppelharten Entschluss, im Sinne von Katers eindeutiger Stellungnahme, ging sie ohne viel Federlesens energischen Schrittes zur Tür hinaus, ließ dabei die Türangeln mit einem quälenden Quietschen aufschreien und warf entschlossen diesen Unsinnsapparat mit Schmackes in die randvoll gefüllte Regentonne. ‘Platsch‘ machte es! Kleine Luftblasen stiegen empor, als plötzlich, noch im Fallen, ein gurgelnd schwurbelndes Klingeln dieses Sprechdings ertönte. Ein letztes Aufbäumen im Todeskampf des technologischen Fortschritts, das jedoch sogleich endgültig erstarb. Klappe zu, Affe tot, futschikato.
»Tja«, dachte Schnatz, »das ging ja gerade nochmal gut. Fast wäre ich auf einen gemeinen Schwindler reingefallen. So ein Schuft, soll er doch einen anderen suchen, dem er seinen Klumpatsch andreht. Wir haben alles, was wir brauchen. Dazu gehören doofes Geld und doofe Anrufe sicher nicht. Schon gar nicht nervige Handys. Die sind noch viel dooferer.«
Dann ging sie nach diesem ganzen verwirrenden Spektakel unter dem heiteren Gesang der Vögel des Waldes, leichten Schrittes, zufrieden und befreit ins Hutzelhaus zurück und machte allen die versprochene Apfelschorle.
Ohne Schorle. Die war alle.
Gegen Abend ging die Morgensonne im Mittagland langsam unter. Das Tageslicht verlor allmählich seine Wirkung. Der Mondschein schien schon schön. Er warf taumelnde Schatten durch die Fenster des Hutzelhauses, die auf den rissigen Bodendielen in griesegraue Fragmente zerflossen. Die Aufregung des Tages um zweifelhafte Sprechmaschinen hatte sich gelegt. Die Dinger konnten keinen Schaden mehr anrichten. Es fand seine letzte Ruhestätte in den unendlichen Tiefen der Regentonne. Die drei saßen wieder entspannt beim Abendbrot und aßen eine kräftige Kräutersuppe. Mit grünen Zwiebeln, überbackenen Krähenfüßen und Eierstich. Als Nachtisch heute: Rollmopsschokolade mit Lakritzecken. Nach einem Spezialrezept Schnatterzahns Mutter; der Elfenkönigin Prinzessin Schnuckelfee. Oft dachte Hexe Schnatterzahn sehnsüchtig an ihre Mutter zurück. Was war sie für eine liebe, schöne Frau. So anmutig, elegant, weise. Das samtrosa Kleidchen umschmeichelte sanft ihren perfekten Körper, wenn sie mit ihren engelsgleichen Flügeln im lautlosen Flug graziös durch die Bäume huschte. Das Elfenvolk huldigte ihr regelmäßig und bestimmte sie seit mehreren Perioden mit überwältigender Mehrheit als oberste Repräsentantin an die Spitze der Christlichen Elfenunion. Die Liebe des Volkes zu ihr kannte keine Grenzen, als man sie einfach nur noch Mutti nannte. Die Königin dankte es mit einem steten, unverbindlichen Lächeln. Und Steuererhöhungen.
Doch Mutter hatte einst auch Sorgen. Sie wünschte sich zu Beginn ihrer Familienplanung sehnlichst ein Kind. Als allein regierende Monarchin ohne Rentenversicherungsansprüche benötigte sie dazu einen Partner an ihrer Seite. Doch das reichste Kleid ist oft gefüttert mit Herzeleid. Die Sehnsucht und Verzweiflung nach häuslicher und familiärer Unterstützung wurde so groß, dass sie auf dem Markt der Geschlechter ungewöhnliche Wege beschritt. In der Internethöhle hinterließ sie ihre Kontaktdaten und es wurde in großer Eile der Elfenbote in die Welt entsandt, um potentielle Interessenten anzulocken. Innerhalb kürzester Zeit trafen waschkörbeweise Fotos von halbseidenen Hallodris, anrüchigen Gspusis, aufgeblasenen Angebern oder dubiosen Schürzenjägern ein. Dazu kurze Briefe voller Rechtsschreibfähler und einem schnarchigen Schmonzius langweiliger Floskeln. Elfenkönigin Schnuckelfee sah die Bilder der Bewerber mit einigem Unwillen genau durch. Mit jedem Bild schwand der Mut jedoch rasch dahin. Allesamt geschniegelte Lackaffen, mit denen man bestimmt nur Maleschen hatte. Brav, bieder, schrullig, hausbacken und reizlos. Mit dem üblichen Killefitz hitziger Günstlinge: Pomade im Haar, abgekauten Fußnägeln, rotknolligen Säufernasen, Manschettenknöpfen am Ärmel oder anderen befremdlichen Abscheulichkeiten. Grässlich!
»Ogottogott, ich sollte mich bei 'Königin sucht Mann' bewerben«, dachte sie noch, unmittelbar bevor sie seiner gewahr wurde und es in ihrem Innern zu schwirren begann. Donnerkiesel! Wie ein Blitz durchfuhr es ihren Leib. Die feinen Körperhärchen stellten sich auf, die Schweißdrüsen verrichteten Schwerstarbeit, der Bauch bubberte. Jep, das ist er, genau so sollte er sein. Er nahm sie innerlich sofort gefangen. Das Bild ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie schwor im ersten Moment, ihm ewig treu und ergeben sein zu wollen. Es machte Plingplong in ihr. Der Verstand lief auf äußerster Sparflamme, das Herz jubilierte, im Bauch donnerte ein Trommelwirbel, die Glocken erklangen hell und es war um sie geschehen.
Auf diese glücksverwöhnte Weise ging Mutter also eine Liaison mit einem Piraten ein. Ein Pirat, diese glorreiche Verkörperung der ungeschliffenen Männlichkeit, mit allen Ecken und Kanten, grobschlächtig und bärbeißig, von anfangs strittigen Rufs. Ein typischer Vertreter seiner Zunft, denn er erfüllte sämtliche Erwartungen an einen Piraten. Er trug einen schwarzen Totenkopfhut über einer Frisur, die offensichtlich jeglichen Gehorsam strikt verweigerte. Dazu ein dunkler Vollbart, schiefe Augenklappe, braungebrannte Nase, zerfranste Klamotten, kariöse Zahnfäule und wahrhaftig hatte er einen großen Anker auf dem Unterarm tätowiert. Der um das Ankertau kunstvoll verschnörkelte Schriftzug ‘Mutti‘ vervollständigte das Bild. Damit verflüchtigten sich natürlich auch noch die allerletzten Zweifel der Prinzessin. Sein berufsbedingtes Holzbein störte nicht weiter. Es war ihm gar nicht mehr bewusst, wann er diese anatomische Optimierung machen ließ. Die Krankenakte gab darüber keinen näheren Aufschluss. Seine Mutter hatte auch eins. Vermutlich wurde es vererbt und er kam bereits mit Holzbein, Vollbart und Augenklappe auf die Welt.
Der Pirat hieß Alfred. Alfred-Ambrosius Göbel-Meierhoff. Zugegeben, kein typischer Piratenname. Seine Kumpane nannten ihn lieber nur Piesel-Backe. Das klang besser als: »Sehr geehrter Herr Göbel-Meierhoff, wären Sie so freundlich und reichen mir doch bitte eben das Fass Rum, da ich das Bedürfnis verspüre, mich noch ein wenig zu stärken, bevor ich mir das Handelsschiff gegenüber in meinen unehrenhaften Besitz überführe?« Nein, das ist kein Piratenslang. »Ey, Piesel-Backe, Buddel Rum her und dann machen wa die ollen Klabautermänner da drüben feddisch, hohoho.« Ja, so sprachen Piraten, um halbstarke Halunken und hartgesottene Haudegen gleichermaßen zu beeindrucken. Es herrschten raue Seefahrerzeiten. Jeder, der kleinste Anzeichen von Meuterei zeigte oder nicht in der Gunst des Kapitäns stand, ging schnurstracks über den Jordan. Die Delinquenten wurden unter dem dröhnenden Gejohle der Aufwiegler ordentlich verschnürt und umgehend zu Fischfutter umdeklariert. Skandalös, aber unvermeidlich. An Land ging es nicht viel besser zu. Meist endete es zwischen den fleischprotzenden Muskelmännern nach rüder Rauferei oder anderer Kinkerlitzchen bei den gefräßigen Ratten im Kittchen der Hafenkloake. Tagediebe, Schurken, Nichtsnutze, Strolche, Lotterbuben, Gauner, Bagaluten, Scharlatane und Tunichtgute wohin man schaute. Die Polente hatte sie stets im Auge. Und wenn diese lichtscheue Piratenmeute, die gerne einen pichelte, in den verruchten Amüsierlokalen des Hafens von Sansibar ihre armselige Heuer verzechte, grölten und sangen sie in ihrer Trunksucht als Freibeuter auf den Meeren Amrosiens die üblichen Gassenhauer: »Oh mamma mia, im Keller ist ein Rohr geplatzt« oder »Potztausend, wir stechen in See, du schöne Meerjungfrau«. Das reimte sich zwar nicht, doch fällt es ins Gewicht?
Alfred sprach, trank und sang nicht nur wie ein Pirat, er war auch so behaart. Alfred war so behaart, dass er nach der Dusche seinen Rücken föhnen musste. Der Föhn war jedoch noch gar nicht erfunden, sodass er trotz seines begeisternden Hobbys, der Sammlung von Eierfiguren, depressiv wurde. Er stellte einen Antrag beim Bezirksamt für Freibeuterei, Schiffsenterungen und Piraterie, kündigte seinen Seeräuberberuf aus psychosozialen Gründen und verzichtete von Stund an auf das Duschen. Nach einigen Monaten stank er bis nach Meppen.
Doch Elfen empfinden diesen Geruch anders. Elfen sind so feinfühlig und zartgliedrig, dass derbe Grobschlächtigkeiten und intensive Geruchserfahrungen eher anziehend auf sie wirken. Diese Gegensätze sind interessant und erstrebenswert. Besser als den ganzen Tag durch den Wald zu huschen und triefende Balladen zu trällern. So ein richtiger Pirat, breitschultrig, der anpacken konnte mit Händen wie Bratpfannen, handwerklich geschickt, stark und robust und trotzdem emotional empfindsam wie ein Babypopo. Ein verdammtes Mannsbild eben! Ja, das war der Traum einer jeden Elfe. Ömmes, mer stonn zo dir un et kütt, wie et kütt. So kam es, wie es kommen wollte. Diesem ungleichen Paar ward ein Kind geboren.
Rosemarie Göbel-Meierhoff, noch süßer und schöner, als der Name es je vermuten ließ. Sie wuchs heran in trauter Familienherrlichkeit. Umgarnt von Elfennannys, verwöhnt von Mutter und besonders vom treusorgenden Vater. Aus Mangel an Flugeigenschaften trug er sein geliebtes Töchterchen unermüdlich durch Wald und Flur, unterrichtete sie in Armdrücken und Schnapsbrennen und beschützte sie vor allem Bösen, das es im Elfenwald allerdings so gar nicht gab. Dennoch glich Rosemarie in ihrer zerbrechlichen Sanftmut eher ihrer Mutter. Mit den zartesten Elfenflügeln, wie man sie schöner zuvor nie sah, schwebte sie durch den Wald und entwickelte ein großes Talent für Musik und Kunst. Ein Jeder war entzückt, ihrer ansichtig geworden zu sein. Die Lebensgeister sprudelten in den schillerndsten Farben. Trotzdem fehlte noch etwas, um die Herrlichkeit perfekt zu machen.
»Mama«, sprach Rosemarie eines Tages mit ihrer zuckersüßen Stimme, »Mama, ich hätte so gern ein Schwesterchen. Dann könnten wir gemeinsam musizieren und die Schmetterlinge beobachten und die Butterblumen pflegen. Bitte, Mama, kaufst du mir eins?«
»Kind, ich wollte es dir schon lange sagen, Papa und ich bestellten vor einiger Zeit in Amazonien ein ganz reizendes Geschwisterchen für dich. Du wirst staunen. Es dauert nicht mehr lange und wir sind zu viert.« Rosemarie wandte sich ungläubig an ihren Vater. Ihre Augen glitzerten.
»Papa, stimmt das, ihr habt mir wirklich ein Schwesterchen gekauft?«
»Aber selbstverständlich doch, natürlich.«
»Wie teuer war sie?«
»Och, ein paar Amros.«
»Und wo habt ihr sie her?«
»Na, aus meinem Portemonnaie!«
»???«
Unabhängig von kleineren Missverständnissen lag jedenfalls allergrößte Freude in der Luft. Sowohl im Hause Schnuckelfee als auch im ganzen Königreich.
Wie üblich drei Wochen zu spät, gab der Amazonienbote das Paket am königlichen Schlosstor ab. Alfred starrte skeptisch auf den Einlieferungsbeleg. Königin Schnuckelfee öffnete vorsichtig die Verpackung und legte Luftpolsterfolie und Styroporchips zur Seite. Sie schauten nun auf das, was darinnen lag. Heiliger Strohsack! Man wich verdutzt zurück. Unwillkürlich verharrte man einen Augenblick. Die Augen wurden groß und größer, blickten wie halbfertige Spiegeleier, die Münder blieben offen, erste Speichelspuren fanden im Mundwinkel ihren Weg nach draußen, es lag eine zähe Sprachlosigkeit in der Luft. Die Zeit dehnte sich ins Unerträgliche, bis ein jäher Schrei aus dem Paket die allgemeine Fassungslosigkeit durchbrach. Was war das? Eine schreiende Nase? Zunächst sah man ja nur diese große Hakennase. Doch nach und nach kam ein mickriger Säugling zum Vorschein und zog einen jeden auf unterschiedliche Weise in seinen Bann. Sichtbar wurde ein kleiner, schöner oder vielmehr ungewöhnlicher Winzling, der seine piefigen Pillefüße in die Höhe streckte. Es folgten eine kräftige, schnatternde Stimme, eine noch viel kräftigere Nase und ein einzelner großer Zahn. Die Umstehenden schluckten trocken. Ein Aufschrei des Entzückens blieb zunächst aus. Dafür schrie der Sprössling umso lauter.
»Potzblitz, was ist denn das für ein Pöks?«, fragte Alfred, der sich zuerst aus der lähmenden Beklemmung befreien konnte.
»Eine Falschlieferung? Soll ja schon mal vorgekommen sein. Dieses verflixte Amazonien. Ich werde mich gleich beschweren. Wo zum Teufel ist denn der Retourenschein? Rücksendegrund: Gefällt nicht? Zu groß? Zu klein? Ah, da haben wir's ja: Pathologische Entgleisung des zentralen Riechkolbens. Das füllen wir mal ruckzuck aus, kleben das drauf und ab dafür. Zack, fertig!«
Wie bitte? Was hatte Alfred gerade gesagt? Was hat er denn da für Flausen im Kopp?! Die allgemeine Befremdnis über seine Reaktion machte die Luft im Raume zum Schneiden dick. Nach einer Weile des sprachlosen Atmens schaute Schnuckelfee ihren Mann mit ungläubigen Augen an. Ihr Mutterherz schwoll zu ungeahnter Größe, zum selbstopfernden Kampfe mit den rasiermesserscharfen Waffen des Wortes bereit. Sie nahm das kleine unbekannte Wesen auf den Arm, drückte es beschützend an ihre Brust und zeigte klare Kante in energischem Ton: »Alfred, mein lieber Alfred-Ambrosius, du unsensibler Wurzelsepp! Du enttäuschst mich sehr und vergällst uns jede Freude. Der närrischste Possenreißer hätte nicht einfältiger daherreden können. Du kannst dir diesen komischen Schein an die Backe nageln und deinen pathologischen Schnickschnack gleich dazu.«
»Aber ich dachte doch nur ... weil wegen der Nase ... dachte ich«, stotterte er kleinlaut.
»Bitte Alfredius Göbelhoff, was bist du für ein Piratenpfosten. Du kannst doch nicht so blindlings Daherdenken, wie du gerade lustig bist. Hör wenigstens diesmal einfach auf zu denken. Der Gedanke ist oft die Wurzel aller Schuld. Hast du Tomaten auf den Augen? Schau, die große Nase! Sieh sie dir doch genau an. Wie gut wird sie damit einmal riechen können. Besser als wir alle zusammen. Ein jeder von uns ist mit vielen Gaben gesegnet, er hat seine ganz eigenen Stärken und Fähigkeiten, die es zu entdecken gilt. Dies ist unser Kind, unser Glückskind, unser Leuchtfeuer im Nebel, und wir werden es liebgewinnen, wie ein jedes andere. Es ist ein Wesen, das uns der liebe Gott schenkte und wir werden es annehmen und großziehen. Es mag vielleicht ein wenig auffällig und … ähm … speziell sein, aber mit ihrem tomatenroten Haarflaum und diesem markanten Zahn, in gewisser Weise sogar eine interessante Schönheit. Die schönsten Dinge wachsen manchmal inmitten der Dornen. Es kommt nur auf die richtige Betrachtungsweise an. Denn in unserem unterschiedlichen Aussehen und unserer unterschiedlichen Herkunft und unserem unterschiedlichen Denken und unseren unterschiedlichen Fähigkeiten haben wir trotzdem die gleichen gemeinsamen Werte, und ein Ansehen und eine persönliche Würde, die es zu respektieren, zu wahren und um alles in der Welt zu schützen gilt. Das merke dir gefälligst ein für alle Mal, mein lieber Alfred.«
Sie hatte fertig. So sprach's aus des Königinnen Mund. Alle Wetter, was für eine Standpauke. Jetzt war aber Polen offen. Herr Göbel-Meierhoff hatte es vermasselt. Die moralische Waage bekam schwere Schlagseite. Rosemarie stockte der Atem. Sie schaute von einem zum anderen und wieder zurück. Alfred wechselte die Gesichtsfarbe in einen eher blassen Schimmer, stand da, wie ein begossener Pudel. Er wusste nicht, wie ihm nach dieser flammenden Gardinenpredigt geschah und senkte den Blick verstohlen und verlegen auf seine schmutzigen Fußnägel. Frauen glauben natürlich immer recht zu haben. Diesmal war es wirklich so. Diesmal sprach die reine Weisheit aus dem Frauenmund. Seine Gedanken schlugen Purzelbäume. Einerseits glaubte er nichts Böses getan zu haben und hatte es als gestandener Piratenhäuptling nicht nötig, sich so anranzen zu lassen. Andererseits berührte ihn das Gesagte sehr. Nach der Blässe überdeckte eine nie gekannte Schamesröte seine narbige Gesichtshaut und eine Welle von Einsicht überspülte seine innersten Gedanken. Er blickte langsam und finster auf, schaute seine Tochter an, dann seine Frau, schließlich das ungewöhnliche Wesen auf ihrem Arm und strahlte allmählich, zur Erleichterung aller, weit über beide Ohren hinaus. Und dieser vollbärtige, starke Mann, der vor nicht allzu langer Zeit, Angst und Schrecken auf den Weltmeeren verbreitete, hatte, wenn man ganz genau hinsah, eine kleine Träne im Knopfloch. Nun war er ausgeschämt.
»So soll es sein, Prinzessin«, sagte Alfred voller Reue im Ton der Überzeugung, tief aus seiner starken Brust heraus, »ab sofort sind wir zu viert und ich verfüge hiermit, unseren Neuankömmling ‘Schnatterzahn‘ zu nennen.«
Rosemarie jubelte vor Glück, die Eltern fielen sich verliebt in die Arme und Schnatterzähnchen plärrte aus vollem Halse, dass es in den Ohren schmerzte. Noch lautere Fanfaren und Posaunen verkündeten die frohe Botschaft vom First des Schlosses. Und über das ganze Elfenland vibrierte ein donnerndes Hosianna.
Schnatterzahn erlebte eine glückliche Kindheit. Sie wuchs und gedieh. Man lebte standhaft nach dem Motto: Was kümmert es die alte Eiche, wenn sich eine Wildsau an ihr schubbert. Rosemarie und Schnatterzahn, äußerlich so verschieden wie man nur sein kann, spielten in trauter Eintracht, liefen über blühende Blumenwiesen, halfen in Not geratenen Insekten, beobachteten die farbenprächtigen Schmetterlinge auf den Vergissmeinnichten, trugen den älteren Elferanern und Elferanerinnen die Einkäufe nach Hause, sangen und tanzten nach Herzenslust den ganzen Tag. Doch bei all der paradiesischen Idylle durfte natürlich das Lernen nicht zu kurz kommen. So war es nicht zu vermeiden, dass Schnatterzahn der Grundschule einen längerfristigen Besuch abstatten musste. Auch die weiterführenden Schulen verlangten ihre Anwesenheit. Man lehrte sie so wichtige Sachen wie Maschineschreiben, Harfe spielen, Flötentröten, Gänseblümchen züchten und Motorradfahren. Am Ende stand trotz nicht ganz befriedigender Leistungen im Elfenflugsimulator immerhin ein mittlerer Mittelschulabschluss. Nun könnte man meinen, das reicht, um ein sorgen- und arbeitsfreies Leben im königlichen Hause des Elfenlandes zu führen. Schließlich wollte Schnatterzahn doch auch einmal Kinder, und die Elfenregierung wäre dann tunlichst verantwortlich, sie finanziell auszustatten. Doch da hatte sie die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Bei solch großspurigen Allüren kam Alfreds große Stunde. Diese Einstellung widerstrebte seinem Charakter. Der Brausekopf schlug zornmütig mit der Faust auf den Tisch und holte tief Luft. Ein kühler Wind pfiff angsterfüllend durchs Land und die Königin herself wagte kaum zu atmen.
»So nicht, junges Fräulein«, polterte er, »so nicht und ich sage dir, so nicht, nämlich irgendwie, also ... irgendwie anders, aber nicht so!«
Nun, seine Eloquenz war seit jeher von recht schlichter Natur. So verwunderte diese Schelte inhaltlich nicht so sehr. Nichtsdestotrotz zeigte sie ihre unmissverständliche Wirkung. Jeder im Saal wusste, was Alfred meinte. Schlendrian kam für ihn nicht infrage. Auch er hatte mühsam eine mehrjährige Piratenausbildung durchlitten und sich anschließend zum Wehe der unbescholtenen Seefahrer aufgerieben. In seiner Karriere brachte er es immerhin bis zum stellvertretenden Ortsvorsitzenden des zuständigen Gewerkschaftskombinats in Oberunterursel. Und seine geliebte Tochter habe nun verdammt nochmal in diese Fußstapfen zu treten. Man einigte sich nach langer Diskussion schlussendlich im allseitigen Einvernehmen auf den Besuch der Universität in Eumelien zum Zwecke des Studiums der Wissenschaft über die Tischmanieren der Gelbfußlurche im südlichen Kombadscha des 14. Jahrhunderts. Zwölf Semester - wenn's gut läuft.
Schneller als man dachte, kam der Tag des Abschieds. Schnatterzahn weinte. Rosemarie weinte. Alfred weinte. Mama war gefasst und sagte: »Mein liebes Kind, nun beginnt der Ernst des Lebens. Geh geschwind zur Universität. Lerne für dich und deine Zukunft. Zieh in die Welt hinaus. Lass dich unterwegs auf keinen Fall von fremden Männern ansprechen. Nimm den Rucksack. Ich habe dir noch Brote mit nahrhafter Haselnusscreme eingepackt. Sehr bekömmlich. Darin sind alle lebensnotwendigen Cerealien aus Fett und Zucker, die dir die nötige Kraft spenden. Wir werden auf dich warten. Deine Heimat bleibt das Elfenland, unsere Tür steht dir immer offen, schreib uns regelmäßig, lass uns an deinen Sorgen und Nöten teilhaben und eines Tages wirst du zurückkehren und prallgefüllt mit neuem Wissen, deinen Platz im Königreich einnehmen.«
»Ja, das wollte ich auch gerade so ähnlich sagen«, brachte Alfred noch heraus, bevor Schnatterzahn den Rucksack schulterte, ihre Tränen wegwischte, den Rotz hochzog und auf traurigen Füßen den Weg zur Universität einschlug.
Es war ein langer Marsch. Sie ging und ging und ging unbeirrbar weiter und noch weiter. Doch wohin? Wie war der Weg? Wo sollte sie langgehen? Sie wusste es nicht mehr genau. Hinter Aferikan rechts? Oder das andere Rechts? Links und rechts, das ist doch gaga. Wer soll sowas auseinander halten können? Deswegen entschied sie, einfach geradeaus zu gehen. Hinter Aferikan und dann immer geradeaus. Das konnte nicht so verkehrt sein. So pilgerte sie einfach weiter, wie es ihr gerade in den Sinn kam. Und siehe da, es schien richtig. Schnatterzahn sah nach vielen Tagen Fußmarsch in der Ferne ein großes Haus. Geprägt von der zarten Ästhetik einer neongrauen Graubetonfassade. Das konnte nur eine Schule sein.
Erhitzt, geschwächt und zahngeschädigt von den aufgefutterten Bemmen mit Haselnusscreme, klopfte sie mit letzter Kraft an die riesengroße Holztür. Nach schier endlos scheinender Zeit vernahm sie ein Schlurfen hinter der Tür sowie ein unverständliches:
»Momang, Sekunn, de dämelig Döör klemmt böös, wegen de dösigen porösen Ösen, Droppen Ööl deit Noot, glieck hebb ick dat, kann nich moer lang duern.«
Schnatterzahn verfiel nach dem wirren Zeugs in kurze Ratlosigkeit, redete dann aber einfach durch die geschlossene Tür drauflos.