Schneckenleben - Patricia Highsmith - E-Book

Schneckenleben E-Book

Patricia Highsmith

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Beschreibung

»Vielleicht ist ihre einzige Bestimmung, sich zu paaren oder niemals zu paaren, aber wenn sie die Welt um sich herum betrachtet, so viel wahrnehmend, wie sie nur kann, dann ist sie wunderschön«, sagte Patricia Highsmith über Schnecken. In diesem Buch sind bislang unveröffentlichte Texte über ihre Lieblingstiere versammelt sowie einer der Klassiker unter ihren Geschichten: ›Der Schneckenforscher‹.

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Seitenzahl: 53

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Patricia Highsmith

Schneckenleben

Stories und anderes

Aus dem Amerikanischen von Anna-Nina Kroll und Dirk van Gunsteren

Diogenes

Sarah und Hilary: Die beiden Glücksschnecken

An einem gewissen Tag im Mai waren Sarah und Hilary gerade mal zwei runde weiße Eier, halb so groß wie die kleinste Erbse, die ihr je gesehen habt. Sie lagen im Garten etwa zehn Zentimeter unter der Erde. Sie hatten mindestens siebzig Geschwister, die ebenfalls Eier waren. Und alle waren sie gerade eben von ihrer Mutter Hortense gelegt worden.

Nach zwei Wochen wurde die Spirale sichtbar, die jede Schnecke auf der rechten Seite hat. Und noch ein paar Tage später fingen die Eier an, sich zu bewegen. Sie streckten ihre Fühlerchen aus. An deren Enden saßen die Augen. Aber um sich herum sahen sie nur schwarz. Ein paar der Mutigsten, darunter auch Hilary und Sarah, machten sich daran, aufwärts zu kriechen. Sie durchbrachen die krümelige Erde, mit der ihre Mutter die Eiermulde zugedeckt hatte, um sie zu tarnen, und fanden sich plötzlich in einer hellen, grünen Welt voller Grashalme, Blumen, Bäume und Sonnenlicht wieder. Hortense hatte ihre Jungen vergessen. Aber kleine Schnecken stört das Alleinsein nicht, weil sie schon so viel können. Sie können an einem Grashalm hinaufkriechen, und sie können kopfüber auf der Unterseite eines Grashalms entlangkriechen. Und sich auch wieder auf die Oberseite schwingen. Grashalme sind für Schneckenjunge noch toller als Wippen.

Sie können auch Salatblätter fressen, wenn sie das Glück haben, welche zu finden. Sarah und ihr Bruder Hilary waren erst eine halbe Stunde alt, als sie einen Salat entdeckten. Einen ganz frischen, der sich noch im Wachstum befand. Zufrieden mampf‌ten sie vor sich hin. Der Salat war knackig und grün und voller Vitamine. Sie fraßen, so viel sie konnten, aber das war noch immer so wenig, dass niemandem der winzige Bissen aufgefallen wäre, den sie abgeknabbert hatten.

Sarah und Hilary vergaßen ihre Brüder und Schwestern und zogen zu zweit los, um die große weite Welt zu erkunden. Sie krochen und krochen, und sie hielten sich zwar für sehr schnell, aber in Wirklichkeit waren sie sehr langsam, weil sie so klitzeklein waren. Nach einer Stunde hatten sie gerade einmal einen Meter zurückgelegt.

Sie stießen auf ein gewaltiges, zappelndes Etwas. Einen Wurm, der gerade von einem Rotkehlchen aus der Erde gezogen wurde. Hätte das Rotkehlchen Sarah und Hilary entdeckt, hätte es die beiden wohl mit zwei schnellen Schnabelhieben aufgepickt, aber es konnte sie gar nicht sehen, so klein waren sie. Und das Rotkehlchen war so groß und so weit weg, dass Sarah und Hilary es mit ihren winzigen Stielaugen nicht erfassen konnten. Sie sahen nur den langen, zappligen Wurm und fanden ihn sehr lustig.

Kurz darauf entdeckten sie etwas genauso Seltsames. Es war keine Pflanze, kein Stein und kein Baum. »Das kann man nicht essen«, sagte Sarah, und ihr Bruder stimmte ihr zu. Die beiden wussten nicht, dass es sich bei diesem Ding um einen Gummihandschuh von Mrs Smith handelte. Mrs Smith gehörte der Garten. Und noch weniger wussten Sarah und Hilary, dass sich ihre Mutter Hortense gerade in diesem Augenblick im Flug über eine Backsteinmauer befand, weil Mrs Smith sie gefunden und darübergeworfen hatte. Aber Hortense verzog sich während des Flugs geschützt in ihr Haus. Und nach nur einer Stunde war sie die Mauer zu Mrs Smiths Garten hinauf- und auf der anderen Seite hinuntergekrochen und wieder mit ihrem Ehemann Mortimer vereint, Sarahs und Hilarys Vater. Hortense und Mortimer waren ein sehr liebevolles Schneckenpaar, aber beide hatten ihre Kinder vollständig vergessen. Sie wussten, dass Schneckenbabys sich selbst versorgen können.

Drei Wochen vergingen, und Sarah und Hilary wuchsen rasant bei der guten Kost aus Salat, Radieschenblättern und Tau. Sie wuchsen auf die Größe der größten Erbse heran, die ihr je gesehen habt. Sie waren noch am Leben, weil ihr Instinkt ihnen sagte, was eine Schnecke tun und was eine Schnecke lieber lassen sollte. Zum Beispiel sollte sie nicht am helllichten Tage gut sichtbar für jeden Vogel herumkriechen, denn Vögel haben Schnecken zum Fressen gern. Eine Schnecke sollte tagsüber schlafen und erst nachts herumkriechen. Darüber hinaus hatten Sarah und Hilary auch mächtig Glück gehabt, denn ihre Brüder und Schwestern hatten all das ebenfalls gewusst, und von denen war inzwischen nur noch die Hälfte am Leben. Viele waren von Spatzen und Rotkehlchen gefunden und gefressen worden, und das, obwohl sich die Jungschnecken den ganzen Tag lang zum Schlafen an der Ziegelmauer festhielten.

Sarah und Hilary waren noch sehr jung und deshalb sehr neugierig und unternahmen viele Wanderungen durch den Garten. Eines Tages wachten sie zu früh auf, um sechs Uhr abends schon, und krochen von der Ziegelmauer herunter, an der sie geschlafen hatten. »Die Sonne steht noch am Himmel. Lass uns lieber weiterschlafen«, sagte Sarah. Aber Hilary wollte aufbrechen. Da stieß Sarah mit den Augen an ein seltsames Ding. Es war hart und kühl und warf einen Schatten. Sarah sagte: »Komm, hier bleiben wir, bis die Sonne untergeht.«

Also krochen Sarah und Hilary in den Schatten des seltsamen Dings, das Mrs Smiths Pflanzkelle war. Sie krochen auf die Unterseite der Kelle und schliefen ein. Die Sonne ging unter, aber sie schliefen weiter.

Als sie aufwachten, war es viel wärmer und taghell, dabei waren beide Schnecken sicher, dass es eigentlich mitten in der Nacht hätte sein müssen. Sie hatten nicht mitbekommen, dass Mrs Smith die Pflanzkelle in ihre Küche mitgenommen hatte. »Wo sind wir?«, fragte Sarah ihren Bruder.

Hilary tat, als würde er angestrengt nachdenken, und sagte schließlich: »Es muss immer noch Tag sein und eine warme Brise wehen.« (Die Pflanzkelle liegt auf einer Zeitung am Boden vor einem Heizkörper, daneben Gummihandschuhe.)

Sarah und Hilary krochen von der Kelle herunter und waren überrascht, weder Erde noch Gras vorzufinden. Sie krochen auf etwas Kühles, Flaches und ganz und gar nicht Essbares. Plötzlich wurde Hilary von etwas sehr Großem gestreift, fast hätte es seine Augen erwischt, und er zog sich schleunigst in sein Haus zurück. (Ein Damenfuß.) Dieses Zurückziehen ins Haus ist die schnellste Bewegung, zu der eine Schnecke fähig ist. Zack! – und schon war Hilary nicht mehr zu sehen.

»Wir sind in einem Menschenhaus«, sagte Sarah, die nicht mitbekommen hatte, was Hilary beinahe zugestoßen wäre. »Das liegt also hinter der weißen Mauer.«

Ihr Bruder entgegnete: »Ach, das war mir die ganze Zeit klar. Die Frage ist nur, wie wir wieder zurück in den Garten kommen, denn hier gibt es für uns nichts zu fressen.«