Schneeflocken und Winterklänge // Weihnachten in der kleinen Bücherei - Amanda Kissel - E-Book
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Schneeflocken und Winterklänge // Weihnachten in der kleinen Bücherei E-Book

Amanda Kissel

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Beschreibung

Schneeflocken und Winterklänge Musik liegt Claras Familie im Blut. Ihre Großmutter und Mutter waren Balletttänzerinnen und ihr Großvater ist ein gefeierter Opernstar. Da scheint es nicht weit hergeholt, dass Clara Besitzerin eines Musikladens ist. Gerade jetzt kurz vor der Weihnachtszeit herrscht dort besonders besinnliche Stimmung. Und auch in der Liebe scheint es für Clara endlich einmal gut zu laufen. Zwischen Clara und dem Reporter, der eine Biographie über ihren Großvater schreibt, knistert es schon bald gewaltig. Im tiefsten Schnee des Winters forschen die beiden in der Geschichte von Claras Familie. Dabei muss Clara feststellen, nicht alles ist so, wie sie immer geglaubt hat. Kann Marius ihr helfen, Licht ins Dunkel der Vergangenheit zu bringen? Eine Liebe im Schneegestöber, auf den Spuren der Vergangenheit Weihnachten in der kleinen Bücherei Weihnachten rückt näher und in der kleinen Bücherei wird es besinnlich. Nur Corinnas Stimmung will so gar nicht zur anstehenden Adventszeit passen. Hat ihr Mann sie doch gerade erst für eine andere verlassen. Und auch die gemeinsame Tochter Annika leidet sehr. Da hilft nur eins: Weihnachten muss dieses Jahr noch größer werden als sonst! Mehr festliche Deko, mehr leckere Weihnachtskekse, mehr Weihnachtsbücher und vor allem mehr Liebe. Als die beiden dann im alten Rezeptbuch ihrer Großtante Martha auf ein Familiengeheimnis stoßen, das von einer längst vergessenen Liebe erzählt, schmieden sie sogleich einen Plan. Tante Martha und ihre große Liebe sollen sich unbedingt noch einmal wiedersehen und wer weiß, vielleicht findet auch Corinna ihre Liebe abseits der Bücher wieder … Die Liebe wartet zwischen Büchern, Weihnachtslichtern und längst vergessenen Geschichten  

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Schneeflocken und Winterklänge // Weihnachten in der kleinen Bücherei

AMANDA KISSEL ist das Pseudonym der Autorin Ursula Kissel. Sie wurde in Neustadt an der Weinstraße geboren. Mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt sie heute mitten im Pfälzer Wald und arbeitet als Lehrerin.

Schneeflocken und Winterklänge

Musik liegt Claras Familie im Blut. Ihre Großmutter und Mutter waren Balletttänzerinnen und ihr Großvater ist ein gefeierter Opernstar. Da scheint es nicht weit hergeholt, dass Clara Besitzerin eines Musikladens ist. Gerade jetzt kurz vor der Weihnachtszeit herrscht dort besonders besinnliche Stimmung. Und auch in der Liebe scheint es für Clara endlich einmal gut zu laufen. Zwischen Clara und dem Reporter, der eine Biographie über ihren Großvater schreibt, knistert es schon bald gewaltig. Im tiefsten Schnee des Winters forschen die beiden in der Geschichte von Claras Familie. Dabei muss Clara feststellen, nicht alles ist so, wie sie immer geglaubt hat. Kann Marius ihr helfen, Licht ins Dunkel der Vergangenheit zu bringen? Eine Liebe im Schneegestöber, auf den Spuren der Vergangenheit

Weihnachten in der kleinen Bücherei

Weihnachten rückt näher und in der kleinen Bücherei wird es besinnlich. Nur Corinnas Stimmung will so gar nicht zur anstehenden Adventszeit passen. Hat ihr Mann sie doch gerade erst für eine andere verlassen. Und auch die gemeinsame Tochter Annika leidet sehr. Da hilft nur eins: Weihnachten muss dieses Jahr noch größer werden als sonst! Mehr festliche Deko, mehr leckere Weihnachtskekse, mehr Weihnachtsbücher und vor allem mehr Liebe. Als die beiden dann im alten Rezeptbuch ihrer Großtante Martha auf ein Familiengeheimnis stoßen, das von einer längst vergessenen Liebe erzählt, schmieden sie sogleich einen Plan. Tante Martha und ihre große Liebe sollen sich unbedingt noch einmal wiedersehen und wer weiß, vielleicht findet auch Corinna ihre Liebe abseits der Bücher wieder … Die Liebe wartet zwischen Büchern, Weihnachtslichtern und längst vergessenen Geschichten  

Amanda Kissel

Schneeflocken und Winterklänge // Weihnachten in der kleinen Bücherei

Zwei Romane in einem

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Sonderausgabe bei ForeverForever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin August 2023© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023

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Schneeflocken und Winterklänge

Originalausgabe bei Forever Forever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Oktober 2019 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® E-Book powered by pepyrus.com ISBN 978-3-95818-528-9

Weihnachten in der kleinen Bücherei

Originalausgabe bei Forever Forever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin November 2020 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic®E-Book powered by pepyrus.com ISBN 978-3-95818-601-9

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Inhalt

Titelei

Das Buch

Titelseite

Impressum

Schneeflocken und Winterklänge

Widmung

August

Im Forsthaus

Die Spieldose

Zugefroren

Zur Glücklichen Ente

Der Chorknabe

Familiengeheimnisse

Pralinen und Blumen

Deutschland, Hongkong und die Welt

Mitten ins Herz

Alles wird dunkel

Im freien Fall

Emotionale Achterbahn

Tänzerin der Nacht

Gaumenschmaus, 20.15 Uhr

Eisblumen

Vermisst

Klavierkonzert Nummer eins

Das letzte Kapitel

Schwarze Rosen

Weihnachten in der kleinen Bücherei

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Anhang

Leseprobe: This (Last) Christmas

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Schneeflocken und Winterklänge

Schneeflocken und Winterklänge

   

Für Rolf, Titus und die beiden Ballerinen

August

Die Hochzeit des preisgekrönten Rappers MC Flix fand auf einer alten Burgruine mitten im Pfälzerwald statt. Es war August, und durch die eingefallene Decke der Ruine sah man einen samtigen Abendhimmel.

Im ehemaligen Burgsaal drängten sich dreihundert Gäste auf dem mit Moos überwachsenen Steinboden. Die halb verfallenen Mauern standen in bizarrem Kontrast zu den grellbunten Luftballons, die in der heißen, stickigen Luft stillzustehen schienen.

MC Flix und seine Braut – sie trug ein pinkfarbenes Minikleid, das mit schimmernden Perlen bestickt war – tanzten allein auf einer kleinen Bühne zu den berühmtesten Songs des Rappers, umgeben von einer auf und ab wogenden Masse anderer Tänzer und von Leuten, die versuchten, zum Buffet durchzukommen.

Clara Liebrecht und ihr Großvater Johann standen etwas abseits an eine kühle Felsmauer gelehnt und betrachteten das ausgelassene Treiben. Neben ihnen stand ein Baum mitten im Saal, seine Wurzeln hatten längst die Steinfliesen durchbrochen und zerstört. Clara kam sich vor wie im Märchen, fragte sich allerdings auch, ob der Trubel ihrem Großvater, der immerhin schon neunundsiebzig war, nicht zu viel wurde.

»Unsinn«, sagte Johann schmunzelnd. Er war noch immer ein stattlicher Mann und in seinem schwarzen Anzug und mit dem weißen Bart recht gutaussehend. »Ich führe inzwischen so ein zurückgezogenes Leben, dass mich ein bisschen Lärm und Trubel zur Abwechslung nicht abschreckt. Und auch dir tut es gut, mal aus deinem Einerlei herauszukommen. Dein Leben ist viel zu eintönig und einsam für dein Alter.«

Clara zuckte die Achseln; ihr Großvater hatte recht. Sie war zweiunddreißig und wohnte mit ihm zusammen, nicht weit von hier, in einem alten Forsthaus, das zu einem reinen Wohnhaus umfunktioniert worden war.

In diesem Moment nahm Johann sie am Ellbogen und sie spürte, wie er seine Aufmerksamkeit auf einen Mann richtete, der auf sie zu kam.

»Hallo, wen haben wir denn da?«, fragte Johann wohlwollend. »Ein Gesicht, das mir bekannt vorkommt zwischen all dem jungen Gemüse. Ihren Namen habe ich leider vergessen.«

Der Mann war ungefähr zwei oder drei Jahre älter als Clara. Auch er trug einen eleganten Anzug; er hatte dunkles Haar und ungewöhnlich grüne Augen, deren Farbe an Moos erinnerte. Kurz nachdem er ihrem Großvater die Hand gereicht hatte, blieb sein Blick an Clara hängen, und sie merkte, wie er ihr kastanienbraunes kinnlanges Haar und ihr schwarzes Seidenkleid betrachtete. Er lächelte ihr zu.

»Ich bin Marius Richter. Ich freue mich, Sie wiederzusehen, Herr Liebrecht. Wie lange ist es her?«

»Jahre, Jahrzehnte«, seufzte Johann. »Das ist meine Enkelin Clara.«

»Hallo«, sagte Clara. Marius gab auch ihr die Hand, lächelte und nahm sie einen Moment mit seinem moosgrünen Blick gefangen. Etwas verwirrt und trotzdem von ihm angezogen, schob sie sich ihre Clutch unter den Arm.

»Wir kennen uns von früher, als ich noch aktiv auf der Bühne stand«, klärte Johann Clara auf. »Marius ist Musikjournalist. Ich wusste gar nicht, dass Sie mit MC Flix bekannt sind, Marius.«

»MC Flix ist der Größte in seiner Branche. An ihm führt kein Weg vorbei. Ich habe schon öfter über ihn geschrieben. Ich erinnere mich noch gut an das außergewöhnliche Stück, das Sie zusammen mit ihm gesungen haben«, sagte Marius, und Clara sah wirkliche Begeisterung in seinen Augen leuchten. »MC Flix featuring Johann Liebrecht. Ein hartgesottener Rapper mit einem Vorstrafenregister so lang wie eine Rolle Tesafilm singt mit einem seit Jahrzehnten berühmten Sänger, der Opernstücke populär machte.«

»Die Macht der Liebe«, schwärmte Clara. »Keiner hätte MC einen solch gefühlvollen Titel zugetraut. Wie er mit der Geschwindigkeit eines Maschinengewehrs rappte und es schaffte, nicht allzu schlimme Schimpfwörter zu gebrauchen – und wie du mit deiner wundervollen Stimme den Refrain dazu gesungen hast, Opa, das werde ich nie vergessen. Ich höre mir das Lied auch heute noch immer wieder an.«

Ihr Großvater lächelte gerührt. »Ja, das war eine schöne Zeit. Aber lange vorbei. Wollt ihr nicht ein bisschen tanzen, ihr zwei? Mischt euch unters Volk.«

Marius sah sie an, als sei er der Vorstellung nicht abgeneigt, doch Clara wandte sich an Johann. »Ich möchte nicht, dass du allein hier herumstehst, Opa.«

Johann winkte ab. »Ach was. Ich schlage mich in der Zeit zum Buffet durch.«

»Okay.«

Sie musste nicht lange überredet werden, und schon nahm Marius sie an der Hand und führte sie in die Menge der Tanzenden hinein, die sich ekstatisch zur Musik bewegten, die Texte mitschrien, mit den Armen fuchtelten und auf und ab hüpften. Musikmanager im reifen Alter tanzten Haut an Haut mit aufgetakelten jungen Sternchen, die auf sich aufmerksam machen wollten.

Dann folgte ein Gruppentanz, und Marius und Clara fügten sich in die zwei Reihen ein, die sich gegenüberstanden und sich, abwechselnd klatschend und die Arme hochreißend, aufeinander zu und voneinander weg bewegten wie Meereswogen. So bizarr Clara die Situation vorkam, bereitete es ihr doch auch großen Spaß. Nach einer Viertelstunde dieser Art des Tanzens war sie jedoch nicht traurig, als wieder eine Ballade gespielt wurde, denn sie war ganz schön außer Atem.

Marius sagte etwas zu ihr, was sie unmöglich verstehen konnte. Neben ihnen wurde Champagner verschüttet und Leute mit glasigen Augen stolperten durch die Pfütze. In einer Felsnische drängten sich zwei Jugendliche zusammen und küssten sich gierig. Ein himbeerfarbener Luftballon, der über ihnen schwebte, platzte plötzlich, doch der Knall ging in dem alles übertönenden Lärm unter.

Marius hielt sie eng an sich gedrückt. Clara gab sich ganz der Musik und seiner Nähe hin. Er hatte ein markantes Gesicht und wenn seine moosgrünen Augen sie streiften, lächelte er sie an. Sein Blick war fast schon verschwörerisch. Sie hatte das Gefühl, dass dies hier weder seine noch ihre Welt war.

Die Musik wurde immer lauter, zuerst schleuderte die Braut ihren pinkfarbenen Schleier durch die Luft, dann flogen andere Kleidungsstücke umher. Die achtzigjährige Oma der Braut nahm ihr lila Hütchen ab und warf es wie einen Brautstrauß über die Köpfe hinweg. Die Menge feuerte sie an. Versteckt angebrachte Lichter blitzten plötzlich grellgrün und feuerrot durch die Burgruine. Die Menge johlte vor Begeisterung.

»Ich kann nicht mehr«, meinte Marius irgendwann. Clara las die Worte eher von seinen Lippen ab, als dass sie sie verstand. Er war verschwitzt und lockerte seine Krawatte. »Wollen wir rausgehen?«

Clara nickte dankbar und ließ sich von ihm an der Hand durch das Gedränge führen. Ihr Kopf glühte von der Hitze und der Bewegung. Gleichzeitig kribbelte ihre Haut vor Erwartung. Sie war aufgeregt, gleich mit diesem attraktiven Mann allein zu sein.

Im Vorbeigehen nahm er zwei Champagnerflöten vom Tablett einer Bedienung. Draußen vor den Burgmauern war die Luft milder, und einzelne Sterne erschienen am inzwischen tintenschwarzen Himmel.

»Puh«, sagte er, als sie sich im hohen Gras gegenüberstanden und sich zuprosteten, »ganz schön laut und voll und heiß da drinnen, nicht wahr?«

»Eine richtig rauschende Party«, stimmte sie lächelnd zu.

»Wollen wir uns setzen?« Er legte ihr die Hand auf den Rücken und führte sie zu einer verwitterten Holzbank am Rand der Wiese. Schweigend schauten sie in den dichten Wald, der sich hügelabwärts erstreckte, in abendlicher Dunkelheit versunken.

»Sie scheinen meinen Großvater schon lange zu kennen«, sagte sie und hörte selbst, wie ihre Stimme in der klaren Luft, fernab des Lärms, befangen klang.

Marius nickte. »Ja. Ich habe vor zehn, fünfzehn Jahren, als seine Karriere noch auf ihrem Höhepunkt war, oft über ihn geschrieben. Artikel über seine Konzerte und Auftritte. Ich habe ihn auch zwei- oder dreimal interviewt. Ich war damals noch blutjung, aber Ihr Großvater gab mir eine Chance, mich zu beweisen. Das war sehr nett von ihm. Er ist eine beeindruckende Persönlichkeit. Er war immer sehr freundlich und offen zu mir, aber … es umgab ihn auch etwas Geheimnisvolles.«

Sie wandte sich ihm zu und schaute ihm in die Augen. Das Knacken der Tiere im Unterholz schien plötzlich näher als die laute Musik in der Burg. »Etwas Geheimnisvolles?«

»Ja«, sagte er leise. »Wissen Sie, was ich meine?«

Sie konnte seinem intensiven Blick nicht mehr standhalten und sah in den dunklen Wald. »Hm … Vielleicht umgibt jede Berühmtheit etwas Geheimnisvolles. Kein Künstler möchte alles von sich preisgeben.«

Marius lachte leise. »Ich verstehe schon, als loyale Enkelin möchten Sie natürlich auch nichts über Ihren Großvater ausplaudern und die Familiengeheimnisse lieber für sich behalten.«

Clara riss einen Grashalm ab und verknotete ihn. Ihr war klar, dass Marius nur Smalltalk betrieb, aber mit dem Begriff Familiengeheimnisse hatte er einen wunden Punkt bei ihr getroffen. Tatsächlich gab es in ihrer Familie viel Unausgesprochenes.

»Sie sind bei Ihrem Opa aufgewachsen, stimmt´s?«, fragte er. »Ich erinnere mich an dieses eine Interview vor ein paar Jahren, das er mir gegeben hat.«

»Ja. Meine Eltern sind früh bei einem Autounfall verunglückt. Seit meinem zweiten Lebensjahr bin ich bei meinen Großeltern aufgewachsen. Meine Großmutter ist leider vor zwei Jahren gestorben, nun sind nur noch mein Großvater und ich übrig.«

»Das ist traurig«, sagte er und legte ihr den Arm um die Schultern, wie um sie zu wärmen. »Aber Sie haben sicherlich ein enges Verhältnis zu ihm?«

»Ja. Wir stehen uns sehr nah. Nachdem er vor einigen Jahren seinen Rückzug aus dem Musikbusiness angekündigt hatte, hat er sich in ein altes Forsthaus zurückgezogen. Dort wohne ich mit ihm. Ich kümmere mich um ihn, er wird schließlich nicht jünger.«

»Das klingt, als würden Sie beide einsam in den Tiefen der Wälder wohnen«, schmunzelte er. »Ist das nicht ein bisschen trostlos?«

Clara lachte. »Nein. Großvater hat ja nach wie vor seine Musik, auch wenn er nicht mehr singt. Und ich bin auch nicht den ganzen Tag im Wald. Ich habe einen Beruf wie jeder andere Mensch auch.«

»Was tun Sie denn?« Sie sah echtes Interesse in Marius´ Augen.

»Zusammen mit einer Freundin habe ich einen Musikladen.«

»Also sind Sie insgesamt eine sehr musikalische Familie«, stellte er fest. »Und sonst ist da niemand außer Ihrem Großvater und Ihnen?«

»Nein«, sagte sie leichthin und verdrängte schnell ihr schlechtes Gewissen. Marius berührte eine Seite in ihr, die ihr Herz zum Klopfen brachte, und sie hatte keine guten Erfahrungen damit gemacht, Männern gleich beim Kennenlernen von ihrem pubertierenden Sohn zu erzählen. Nicht, dass sie in ihrem Alltag auf viele Männer traf, aber der eine, den sie im letzten Jahr kennengelernt hatte, hatte plötzlich das Weite gesucht, als es um Simon ging.

»Und Sie? Frau und Kind vorhanden?«

Ein kaum wahrnehmbarer schmerzlicher Zug legte sich um seinen Mund, verschwand aber sofort wieder. Sie hatte ihn trotzdem bemerkt. »Nein. Nicht vorhanden.«

Ein Vogel knisterte im Laubwerk vor ihnen.

»Frei wie ein Vogel sozusagen?«, scherzte Clara, und er nickte.

»Frei wie ein Vogel.«

Der Champagner stieg ihr langsam zu Kopf. Sie fühlte sich leicht wie eine Feder, alles erschien ein bisschen unwirklich – die verfallene Burg, die tobende Meute darin, der stille, in die Finsternis getauchte Wald. Einen Moment versank sie in seinen moosgrünen Augen, die so offen und ruhig wirkten, dann beugte er sich zu ihr vor. Sie vergaß fast zu atmen vor lauter Erwartung. Schließlich spürte sie seine warmen Lippen auf ihren. Er schmeckte nach Sekt und der Erdbeertorte, die mit sechs prächtigen Etagen das Buffet in der Burg geziert hatte. Seine Hand umschlang ihren Nacken und er hielt sie so nah an sich gepresst, dass sie seinen rasenden Herzschlag spürte, so wie er auch ihren.

Da wurde auf einmal der nachtblaue Himmel von grellen Blitzen und Böllerschüssen zerrissen. Ein grandioses Feuerwerk tobte über der Burgruine, flammend rot und neongelb und platinsilber leuchtete der Himmel, bevor er für Sekunden wieder schwarz wurde. Heftiges Krachen durchzuckte die Stille des Waldes. Kaskaden von Licht wurden in alle Richtungen geschleudert; in den kurzen Pausen ertönte das beeindruckte »Ah« und »Oh« der dreihundert Hochzeitsgäste oben auf der Burg.

Marius und Clara schauten ein paar Minuten in den Himmel, dann nahm er sie an der Hand. »Komm, gehen wir zurück zur Burg«, sagte er leise.

Ihr Herz zog sich zusammen vor Wehmut. Der magische Moment war vorüber. Aber egal, sie musste ohnehin mal wieder nach ihrem Großvater schauen.

Im Forsthaus

Wieder einmal hatte Clara schlecht geschlafen; der Albtraum, der sie bereits ihr ganzes Leben quälte, hatte sie um drei Uhr morgens aufschrecken lassen. Mit zitternden Knien war sie ans Fenster gegangen und hatte es geöffnet, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Der kalte, nackte Raum mit den weißen Fliesen, der sie in ihren Träumen immer heimsuchte, stand ihr noch klar vor Augen.

Es war Ende November, fast Dezember, und die nachtschwarzen Wolken fegten am Mond vorbei, verdeckten ihn. Der Wetterbericht hatte Schnee vorausgesagt.

Die folgenden Stunden über lag ein eisiger Geruch in der Luft, der nach frühem Winter roch. In ihrem Unterrichtsraum im Musikladen Zauberflöte, in dem sie den Großteil des Tages verbrachte, merkte Clara allerdings wenig davon, denn die Zeit war nahtlos mit Einzel- und Gruppenstunden gefüllt.

Am Nachmittag verabschiedete sie die drei Vierjährigen, die sie wie jeden Dienstag zwischen fünfzehn und sechzehn Uhr im Blockflötenspiel unterrichtete.

»Packt eure Flöten ein. Mia, hör auf, Sophie zu schubsen«, sagte sie erschöpft. »Beeilt euch ein bisschen, Kinder, eure Mamas warten draußen.«

»Tschüss, Frau Liebrecht.«

»Tschüss, Kinder.«

Emil fiel ihr wie jeden Dienstag zum Abschied um den Hals. Clara erwiderte seine Umarmung. Die Kleinen waren anstrengend, weil sie während der Musikstunde unentwegt plapperten, sich stritten und zuhause nie übten, aber sie waren ihr dennoch ans Herz gewachsen.

Als die Kinder und ihre Mütter verschwunden waren, packte Clara ihre Noten zusammen und ging in die Teeküche, um sich noch schnell einen Kaffee zu kochen. Sie hoffte, ihre Freundin Stephanie Braun-Turmquai, mit ihr zusammen gleichberechtigte Inhaberin des Musikladens Zauberflöte, noch kurz zu treffen, bevor sie nach Hause zu ihrem Großvater und Simon fuhr.

Die Teeküche war klein, aber gemütlich. In allen Ecken und auf Regalbrettern stapelten sich Bücher, Noten, kleinere Instrumente und vorweihnachtliche Bastelarbeiten, die die jüngeren Musikschüler ihnen geschenkt hatten.

Der Musikladen erstreckte sich über das Erdgeschoss des Hauses; obendrüber wohnte Stephanie mit ihrer Familie, ihrem Mann und ihren vier Kindern.

Im Hauptverkaufsraum der Zauberflöte gab es von kleineren Instrumenten wie diversen Flöten über Violinen und Bratschen aus glänzend poliertem Holz bis hin zu funkelnden Blechblasinstrumenten alles, was das Herz begehrte. Musikzubehör wie Noten, Liedhefte und allerlei Krimskrams wie Instrumententaschen, die es in diskretem Schwarz oder knallbunten Farben gab, ergänzten das Angebot.

Im Hintergrund ließen Clara und Stephanie stets leise, kaum wahrnehmbare Musik laufen, mal vergnügten Jazz, mal mitreißende Klassik. Deshalb hatten die Kunden, die aus der lauten Einkaufszone in den Laden traten, das Gefühl, einen ganz besonderen, weltentrückten Ort zu betreten. Hier konnten sie in Ruhe stöbern und der Musik lauschen, ohne gestört oder bedrängt zu werden.

Die Wände zwischen den Regalen waren mit großen Schwarz-Weiß-Postern von berühmten Violinisten und Pianisten geschmückt, was den Eindruck, eher an einem Ort der Kunst als des Konsums zu sein, verstärkte.

Da größere Instrumente eher selten verkauft wurden, gaben die beiden Freundinnen im Hinterzimmer der Zauberflöte Musikunterricht für alle Altersklassen. Dieses Angebot wurde von den Einwohnern der kleinen Stadt gerne angenommen.

Weil der Verkaufsraum leer war, nutzte Stephanie die kleine Pause. Sie hing in der Küche in einem der alten Lehnstühle wie ein gestrandeter Vogel. Mit ihren tiefschwarzen, zu einem raspelkurzen Pixie geschnittenen Haaren und dem grauen Kaschmirponcho, über dem sie mehrere Silberketten trug, war sie eine markante Schönheit.

»Fertig für heute mit dem Unterricht?«, fragte Stephanie und schlürfte ihren schäumenden Milchkaffee.

»In jeder Hinsicht«, seufzte Clara. »Die Kleinen sind anstrengend. Mia und Sophie haben sich mitten in der Stunde in die Wolle gekriegt und eine Rauferei angefangen. Frag mich nicht, wieso. Es schien um Haarspangen zu gehen.«

Stephanie stieß ihr raues Lachen aus. »Wenn die Eltern wüssten. Die denken, ihre lieben Kleinen würden brav im Stuhlkreis sitzen und eine Stunde lang Flöte spielen.«

In diesem Moment ertönte aus dem oberen Stockwerk ein ohrenbetäubendes Kreischen, dazu ein wildes Getrampel, als würde dort eine Verfolgungsjagd stattfinden.

Stephanie verdrehte nur die Augen und sank tiefer in ihren Stuhl. Clara grinste in sich hinein und nahm ihren Cappuccino aus dem Kaffeeautomaten.

»Ich brauche mich nicht über unsere Schüler beschweren«, murmelte Stephanie. »Meine eigenen vier sind unmöglich genug.«

Emelie, Florian, Ella und Felix, alle zwischen vierzehn und acht Jahren alt, schienen sich wüst zu beschimpfen. Dann rumpelte es erneut, als sei ein Stuhl umgefallen.

»Ich schalte mal lieber in den Ignore-Mode«, sagte Stephanie. »Sei froh, dass du nur ein Kind hast. Was treibt dein Filius eigentlich?«

»Er …«, begann Clara, doch in diesem Moment gab ihr Handy einen Dreiklang von sich. Stirnrunzelnd las sie die eingegangene Nachricht. »Von Simons Vater.«

»Das Übliche?«, fragte Stephanie mitfühlend.

Clara nickte bedrückt. »Ja. Er kann Simon am Wochenende nicht besuchen. Er hat geschäftlich in Hamburg zu tun.«

»Wann hat Simon seinen Vater das letzte Mal gesehen?«

»Keine Ahnung. Es ist bestimmt schon sechs oder sieben Monate her. Christian hat jedes Mal eine andere Ausrede. Er schafft es nie in die Pfalz, um seinen Sohn zu sehen. Für Simon ist das eine Katastrophe. Mit fast zwölf braucht er seinen Vater.«

»Nun ja, wenigstens hat er seinen Uropa«, sagte Stephanie und betrachtete sie über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg.

»Ja. Und Johann kümmert sich rührend um ihn. Aber er wird auch nicht jünger. Simon bräuchte einen Vater mehr denn je.«

»Wo wir gerade von Männern sprechen … Hast du mal wieder etwas von dem Journalisten gehört, dem du auf dieser schrägen Rapper-Hochzeit begegnet bist?«

»Ach, der.« Clara gelang es, gleichzeitig zu lächeln und unwirsch abzuwinken. »Das ist Monate her. Nach der Hochzeit hat er mir ein oder zwei Nachrichten geschrieben, dass er irgendeine Indie-Band auf ihrer Tour durch Russland und China begleiten muss, um eine Artikelserie zu schreiben. Die Tour sollte drei Monate dauern. Es war ihm wohl nicht wirklich recht, so lange außer Landes zu sein, aber das ist nun mal sein Job.«

»Wahrscheinlich wäre er lieber in deiner Nähe geblieben«, mutmaßte Stephanie. Sie hatte sich interessiert vorgebeugt und balancierte die Kaffeetasse gefährlich auf ihrem übergeschlagenen Knie. Claras – nicht vorhandenes – Beziehungsleben war eines ihrer Lieblingsthemen und sie sparte normalerweise nicht mit ungefragten Ratschlägen. »Warum schreibst du ihm nicht mal ab und zu eine Nachricht, damit er dich in Erinnerung behält? Ihr habt euch doch gut verstanden auf der Hochzeit, und mal ehrlich, Clara …«

»Ja?«, seufzte diese und biss sich auf die Lippen, um ihr Schmunzeln zu verbergen. Gleich würde ihre Freundin sie mit Tipps und Ratschlägen überschütten und ihr wie jede Woche vor Augen führen, dass sie für eine zweiunddreißigjährige Frau ein viel zu zurückgezogenes Leben führte.

»Wie lange soll das so weitergehen? Du bist eine attraktive Frau. Wenn du dich nur nicht immer ganz in Schwarz kleiden würdest …« Stephanie deutete anklagend auf ihre schwarze Hose und den schwarzen Rollkragenpullover, von dem sich ihr kastanienbraunes Haar fast rötlich abhob. »So, als würdest du permanent auf Beerdigungen gehen. Natürlich siehst du superelegant aus, aber Lebensfreude strahlt das nicht aus.«

»Das ist eben mein Stil«, sagte Clara, trank ihren Cappuccino aus und spülte die Tasse.

»Ja, von mir aus«, fuhr Stephanie fort. »Wenn es nur das wäre. Aber noch dazu führst du dieses einsame Leben mitten im Wald … Deshalb finde ich, du solltest dir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, deine Bekanntschaft mit diesem Journalisten zu vertiefen.«

Clara trocknete ihre Tasse ab und stellte sie wieder in den Küchenschrank. »Ich werde nichts vertiefen«, sagte sie leise, und ein bitterer Zug lag um ihren Mund. »Welcher Mann interessiert sich schon für eine Frau mit einem pubertierenden Sohn, der einem den letzten Nerv raubt? Eine weitere Zurückweisung brauche ich wirklich nicht.«

»Das ist es, ja?«, fragte Stephanie vehement. »Du vermutest, dass es sowieso nicht klappt und versuchst es erst gar nicht.«

»Ich muss los«, sagte Clara und warf einen Blick auf die Uhr. »Simon ist bestimmt schon zuhause. Außerdem – was war schon zwischen Marius und mir? Wir befanden uns auf einer durchgeknallten Hochzeitsparty, haben Champagner zusammen getrunken und waren etwas angeheitert. Im wirklichen Leben bin ich mit meinem Sohn und meiner Arbeit in der Zauberflöte voll ausgelastet.«

»Unsinn«, widersprach Stephanie. »Ich schaffe es doch auch, diesen Laden zu führen und nebenher noch Mann und vier Kinder unter einen Hut zu bekommen.«

Vom oberen Stockwerk ertönte ein Krach, als sei eine Bombe ins Haus eingeschlagen.

»Du fetter Mistkäfer«, hörten sie die vierzehnjährige Emelie kreischen, dann erfolgte anscheinend eine wilde Verfolgungsjagd durch die Wohnung, bei der der zehnjährige Felix vor Lachen schrie. Möbel wurden verschoben, Gegenstände fielen krachend zu Boden.

»Du kriegst mich nicht, du hohle zugepinselte Kuh!«

»Gib mir mein Smartphone zurück! Ich bring dich um, du hässliche Missgeburt!«

Stephanie ließ den Kopf auf den Tisch sinken. »Ich nehme alles zurück. Ich bekomme gar nichts unter einen Hut und ich sollte mich davor hüten, anderen Leuten Ratschläge zu erteilen.«

Clara lachte, umarmte ihre Freundin zum Abschied und schlüpfte in ihren schwarzen Mantel. »Bis morgen, altes Haus.«

»Ja«, murmelte Stephanie. »Fahr vorsichtig. Es sieht nach Schnee oder Sturm oder was weiß ich was aus.«

Es war zwar erst kurz vor fünf, aber der Himmel hatte sich zugezogen, war fast schwarz, und noch immer jagten die Wolken darüber hinweg. Die Schweinwerfer der Autos schienen wie Leuchtsignale in der frühwinterlichen Düsternis. Als sie Bad Dürkheim, wo sich die Zauberflöte befand, hinter sich ließ und über die Landstraße zwischen den Weinbergen hindurch heimwärts fuhr, begannen tatsächlich, wie vorausgesagt, winzige Schneeflocken durch die Luft zu treiben; sie wirbelten in den hellen Lichtkegeln der Straßenlaternen.

Clara war froh, als sie die Straße zum Wald erreichte, in dem sie mit ihrem Großvater und ihrem Sohn im ehemaligen Forsthaus wohnte. Stephanie hatte recht damit, dass ihr Zuhause völlig einsam und abgeschieden lag.

Sie hatte die letzten Häuser, die sich an den Waldrand schmiegten, bereits lange hinter sich gelassen und war dem holprigen, von der Feuchtigkeit aufgeweichten Waldweg eine ganze Weile gefolgt, bis das Forsthaus endlich in Sicht kam. Mitten im Nichts, umgeben von dicht stehenden Bäumen mit kahlen Ästen oder dünnen Nadeln.

Doch alle Fenster des Hauses waren hell erleuchtet und hießen sie warm willkommen. Dies hier war ihr Zuhause. Ihr Großvater Johann hatte das Haus vor Jahrzehnten, als sie noch ein kleines Kind gewesen war, gekauft, um einen Rückzugsort zu haben, denn seine steile Karriere als Sänger hatte ihm viel abverlangt. Zeitweise hatte Clara bereits als Kind mit ihrem Opa und Oma Hilda hier im Pfälzerwald gelebt, bis Johann mit der kleinen Familie wieder nach Kaiserslautern umsiedelte, wo sie eine Villa in der Stadt bewohnten.

Johann hatte sich vor Jahren schon vom Musikbusiness verabschiedet und verbrachte seinen Lebensabend nun im Forsthaus. Er bewohnte das untere Stockwerk, seine Enkelin und sein Urenkel logierten oben.

Clara war froh über dieses Arrangement, denn sie verdiente nicht viel und so sparte sie die Miete. Weitaus wichtiger war jedoch, dass Johann ihr gerne zur Verfügung stand, um Simon nachmittags zu betreuen, wenn sie arbeitete. Sie bildeten ein harmonisches Dreiergespann, genossen die Idylle des Waldes; und dennoch – Clara musste Stephanie insgeheim recht geben – überkam sie manchmal die Einsamkeit, wenn sie abends an ihrem Schlafzimmerfenster stand und in den stillen Wald hinausschaute.

Sie öffnete die schwere Haustür und trat in das dämmrige Treppenhaus ein.

»Hallo, Opa«, rief sie, während sie ihren Mantel an die Garderobe hängte. »Ich bin wieder da.«

Die Tür zu Johanns Wohnzimmer war angelehnt, aber wie üblich hörte er sie nicht, da er sich ganz den Klängen von Beethovens Neunter hingab.

Clara ging die knarrende Holztreppe hoch zu ihrer Wohnung. Das Haus sah noch immer wie ein altes Forsthaus aus – alles war aus dunklem Holz, das Treppengeländer und die Türen kunstvoll geschnitzt. An den Wänden hingen sogar noch Geweihe, die Clara gerne entsorgt hätte, doch sie war von ihren beiden Mitbewohnern überstimmt worden. Weiche Teppiche und moderne Malereien dämpften die urige Atmosphäre im oberen Stockwerk. Im Wohnzimmer stand ein Flügel, auf dem sie spielte, wenn ihr danach war.

Als sie ihre Tür hinter sich schloss, verstummte Beethoven, stattdessen schrie Bushido aus dem Kinderzimmer.

»Ich bin zu Hause«, sagte sie und warf einen Blick durch den Türspalt. Ihr Sohn lag auf dem Teppich und machte Hausaufgaben zu dem ohrenbetäubenden Sprechgesang.

Clara verkniff sich die Bemerkung, dass kein Mensch bei diesem Lärm vernünftig Schularbeiten machen konnte. Das hätte nur gleich wieder für Streit gesorgt.

Wie üblich blickte Simon noch nicht mal auf.

Clara seufzte und schaltete die Musikanlage aus.

»Hey!«, rief Simon empört. »Was soll das? Chill mal.«

Sie setzte sich aufs Bett. »Ich habe leider schlechte Nachrichten, Schatz. Dein Vater kann am Wochenende doch nicht kommen. Es tut mir leid.«

Simon richtete sich auf; ganz kurz flackerte ein schwer zu deutender Ausdruck in seinen blaugrauen Augen auf, dann versteckte er sich wie üblich hinter einer mürrischen Miene.

»Warum?«

»Er ist beruflich in Hamburg.«

»Soso.« Simon schmiss seinen Füller in die Ecke, um seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. »Wieder mal. Ich kaufe ihm seine blöden Ausreden nicht mehr ab. Er kann mich mal.«

Clara versuchte, ihm über das verstrubbelte braune Haar zu streichen, doch Simon drehte sich rasch weg. »Lass mich. Ich bin total angefressen. Alle haben einen Vater, nur ich nicht. Alle anderen in meiner Klasse leben in einer richtigen Familie.«

Ich hatte auch keinen Vater, dachte Clara traurig. Geschweige denn eine Mutter.

Simon warf ihr ein Schulheft vor die Füße. »Die Schmidt-Elbers hat uns in Englisch ein Projekt aufgebrummt. Family Tree. Ich könnte ihr den Hals umdrehen.«

»Nun mal langsam«, sagte Clara und hob das Heft auf. »Was musst du tun?«

»Wir sollen einen Familienstammbaum auf ein großes Plakat zeichnen. Alle Familienmitglieder sollen drauf mit Namen und englischer Verwandtschaftsbezeichnung. Eltern, Großeltern, Geschwister, Tanten, Onkel, Cousinen, Cousins. Das Ganze sollen wir mit Fotos und Erinnerungsstücken verzieren. Es gibt eine Note dafür. Meine Fünf ist vorprogrammiert – wie scheiße sieht ein Stammbaum aus, auf dem ganze drei Personen abgebildet sind?«

»Du kannst deinen Vater trotzdem abbilden, auch wenn er nicht hier ist. Und Uroma Hilda und meine Eltern auch, auch wenn sie bereits tot sind«, warf Clara leise ein, doch Simon hörte ihr wie üblich gar nicht zu.

»Lukas hat zwei Schwestern, ein vollständiges Elternpaar und eine Menge Onkel und Tanten. Das sieht doch auf so einem Plakat schon mal ganz anders aus«, schimpfte er vor sich hin und trat mit seinem bestrumpften Fuß nach seinem Schulrucksack.

»Ich helfe dir bei deinem Projekt«, versprach Clara. »Uropa hat mit Sicherheit jede Menge Fotos und Zeitungsartikel aus der Zeit, als er ein berühmter Sänger war. Das macht doch schon mal was her, oder? Und deine Urgroßmutter Hilda war eine angehende Primaballerina, bevor sie ihn geheiratet hat. Auch von ihr gibt es sicherlich ein paar interessante Aufnahmen. Wir fragen Uropa, was er noch alles an Erinnerungsstücken hat. Der Keller ist bestimmt voll davon.«

Clara klang zuversichtlicher, als sie war. Sie hatte in Johanns Schränken und Kisten nie irgendwelche Andenken gesehen, aber irgendetwas musste doch da sein.

»Von mir aus«, murrte Simon und schaltete die Musik wieder an. Bushido erklang lautstark durch das ganze Stockwerk – das Zeichen, dass das Gespräch von seiner Seite aus beendet war.

Nach dem Abendessen verschwand Simon gleich wieder in sein Zimmer, um mit Kopfhörern Spiele am Computer zu spielen. Clara sah aus dem Fenster in den undurchdringlich dunklen Wald. Der Wind riss an den Fensterläden und noch immer wirbelten Schneeflocken umher. Es war jedoch kein Schnee liegengeblieben, dazu war er zu spärlich. Der Waldboden war immer noch trocken und brüchig. Dunkle Schatten flogen vorm Fenster vorüber; manchmal war es Clara doch unheimlich, so fernab der Zivilisation zu wohnen.

Sie ging nach unten und klopfte bei Johann. Ihr Großvater saß in seinem geräumigen Wohnzimmer am Kamin und starrte in die Flammen. Eine behagliche Wärme hatte sich im Raum ausgebreitet, das Feuer knisterte und zischte.

»Setz dich zu mir«, sagte Johann und klopfte auf das Ledersofa neben sich.

Clara nahm Platz und genoss die Wärme des Feuers.

»Auch ein Glas Wein?« Wie jeden Abend hatte Johann bereits ein zweites Glas auf den Tisch gestellt. Clara lächelte und ließ sich ein Glas einschenken.

»Danke, Opa.«

»Wie war dein Tag?«

»Wie immer.« Einen Moment herrschte eine nicht unangenehme Stille, während sie beide einen Schluck tranken.

»Simon muss in Englisch eine größere Arbeit anfertigen. Hat er dir davon erzählt?«

Johann schmunzelte. »Nein. Die Schule ist keines seiner Lieblingsthemen.«

»Wem sagst du das. Er muss einen Familienstammbaum zeichnen und mit Erinnerungsstücken aus der Familiengeschichte ergänzen. Er könnte deine Hilfe gebrauchen, Opa. Hast du irgendwelche Sachen? Fotos? Zeitungsartikel über dich?«

»Hm.« Johann stellte sachte sein Glas auf dem Tisch ab. Clara war, als meide er ihren Blick. »Ja, Zeitungsartikel, Ausschnitte aus Illustrierten und so weiter habe ich. Programme von Konzerten.«

»Und von Oma?«

Johann sah auf das in Öl gemalte Portrait seiner verstorbenen Frau Hilda, das über dem Kamin hing. Der Hintergrund war dunkel, verschwommen, doch die einst junge Ballerina im weißen Tutu und mit den kastanienbraunen, zu einem strengen Dutt aufgesteckten Haaren trat dafür umso zarter und heller hervor. In anmutiger Pose schaute sie den Betrachter mit sanften braunen Augen an.

»Vielleicht das eine oder andere Foto von ihrer Zeit an der Hochschule für Kunst und Tanz«, räumte Johann ein. Clara kannte ihn gut; ihr entging der leicht widerwillige Ton nicht.

»Und … von meinen Eltern?«, fragte sie leise.

»Nein, nichts«, antwortete Johann sofort. Als er merkte, wie die Augen seiner Enkelin auf ihm hingen, fügte er besänftigend hinzu: »Es ist nichts da. Deine Mutter war so jung … Und deinen Vater haben Hilda und ich kaum kennengelernt, das weißt du.«

Clara starrte in die flackernden Flammen. Ihre Großeltern hatten es Zeit ihres Lebens vermieden, viel über ihre Eltern, an die sie sich nicht erinnern konnte, zu sprechen. Das Thema hatte von jeher wie ein Schatten über ihnen gehangen. Clara hatte nie insistiert, da sie immer angenommen hatte, es sei zu schmerzlich gewesen, die Tochter so früh und unter tragischen Umständen zu verlieren. Doch so langsam machte sich Verdruss in ihr breit. Es konnte nicht sein, dass es keinerlei Erinnerungsstücke von ihrer Mutter gab, alte Poesiealben, Spielsachen, Schulkram. Sie würde bei nächster Gelegenheit mal in den Keller gehen und die vielen eingestaubten Kisten und Regale durchsehen. Irgendetwas musste es geben. Sie verspürte plötzlich eine brennende Neugier, Dinge ihrer unbekannten Eltern zu finden, nicht nur für Simons Projekt, sondern auch um ihretwillen. Wie Simon hatte sie das Gefühl, dass einige Mosaiksteinchen ihres Lebens fehlten.

»Lass die Vergangenheit ruhen«, sagte ihr Großvater müde. Er erhob sich mühsam und schob zwei weitere Holzscheite ins Feuer, das knisternd aufloderte. »Wühl nicht darin herum, das bringt nichts.«

Die Spieldose

Am nächsten Tag – sie hatte wieder schlecht geschlafen und davon geträumt, in einem Raum mit nackten Fliesen eingesperrt zu sein -, gab sie vormittags Senioren Einzelunterricht in Klavier und Querflöte. Die älteren Menschen waren ihre liebsten Schüler, da sie die motiviertesten waren und zuhause wirklich übten. Danach leitete sie wie jeden Mittwoch die Marienkäfergruppe, deren Ziel darin bestand, musikalische Früherziehung mit Spiel und Spaß für die Kleinsten zu verbinden. Die jungen Mütter, die eigentlich mit ihren Kleinkindern singen und Bewegungsspiele machen sollten, kamen allerdings eher wegen des geselligen Beisammenseins in die Gruppe und verbrachten die Stunde hauptsächlich mit munterem Austausch über Kinderkochrezepte, Kindertagesstätten und ihre Ehemänner. Zudem waren sie der Meinung, dass ihre Kinder die Stunde nicht ohne einen kleinen Snack überleben würden, und fütterten sie unablässig mit Reiswaffeln und Biokeksen. Clara ärgerte sich immer über die Krümel, die überall im Raum verteilt waren. Doch Stephanie sagte für gewöhnlich, dass sie die Mütter gewähren lassen müssten, denn der Kunde sei König.

Deshalb war Clara froh, die Stunde, die die letzte für den heutigen Tag war, hinter sich zu haben, und im dunstigen Nachmittagslicht heimzufahren.

Der Wald empfing sie nach dem Tag voller Geplapper und Lärm mit wohltuender Ruhe. Kein Zweig bewegte sich, als sie das Auto neben dem Forsthaus abstellte. Raureif hatte die Zweige und abgefallenen Blätter, die die Erde bedeckten, wie mit einer Zuckerschicht überzogen.

Johann stand in der Haustür, in eine dicke Strickjacke gekleidet, und kehrte Laub von den ausgehöhlten Treppenstufen.

»Wie war dein Tag?«, fragte er, so wie jeden Tag.

»Wie immer. Nichts Spektakuläres«, antwortete Clara wie so oft. »Und bei dir, Opa?«

Johann stützte sich auf den Besen und räusperte sich. »Ja, es gibt was Neues.«

Überrascht sah Clara zu ihm auf. Seit ihr Großvater sich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen hatte, führte er ein sehr menschenscheues Dasein. Die meiste Zeit verbrachte er im Forsthaus. Das genüge ihm, sagte er immer. Er sei jahrzehntelang gereist, hätte auf der Bühne gestanden, Konzerte gegeben und wäre im Fernsehen aufgetreten. Er sei berühmt und überall willkommen gewesen. Nun reiche ihm die Ruhe des Waldes.

»Was denn?« Clara sah ihren Großvater erwartungsvoll an.

»Komm erst mal rein.« Johann ging ihr voran in seine Küche und füllte Wasser in den Wasserkocher. »Auch einen Tee?«

Die Fichte, die dicht vor dem Fenster wuchs, strich mit ihren Ästen sachte über die Scheiben. Obwohl es erst früher Nachmittag war, dämmerte es bereits.

»Ich habe heute einen Anruf von meinem ehemaligen Agenten bekommen. Michael Baumgartner, erinnerst du dich?«

»Ja, flüchtig.«

Johann goss das heiße Wasser in eine Kanne und hängte Teebeutel hinein. Er setzte sich zu seiner Enkelin an den Tisch.

»Er hat ein Angebot von einem Verlag bekommen. Vielmehr ich habe das Angebot bekommen. Der Verlag möchte ein Buch über mein Leben herausbringen.«

Clara starrte ihn überrascht an. »Das ist … das ist toll! Oder?«

»Hm, ich weiß nicht«, murmelte Johann und goss Tee in zwei Becher. »Ich glaube nicht, dass ich das machen werde.«

»Aber warum?«, fragte Clara. »Traust du dir nicht zu, ein Buch zu schreiben?«

Johann lächelte. »Darum geht es nicht. Ich müsste das Buch ja auch nicht selbst schreiben. Ein Ghostwriter würde das tun. Ich müsste nur eng mit diesem Menschen zusammenarbeiten und ihm aus meinem Leben erzählen.«

»Und warum möchtest du das nicht?« Clara verbrannte sich die Lippen am heißen Tee. Sie kannte die Antwort ihres Großvaters bereits.

»Ich möchte nicht, dass mein Privatleben an die Öffentlichkeit gezerrt wird«, sagte Johann eindringlich. »Das habe ich jahrzehntelang zu vermeiden versucht. Deine Großmutter und ich haben dich zum Beispiel immer aus dem Rampenlicht herausgehalten, das war doch in deinem Sinne, oder? Ich werde bestimmt nicht im Alter von neunundsiebzig anfangen, Schwanks aus meiner Jugend zu erzählen oder private Dinge, die niemanden etwas angehen.«

»Okay«, sagte Clara. Szenen ihrer Kindheit erschienen vor ihr. Nachdem ihre Eltern bei einem Autounfall gestorben waren, als sie gerade mal zwei Jahre alt gewesen war, hatten Johann und Hilda sie zu sich geholt. Sie hatten ihre Stadtvilla in Kaiserslautern verlassen und waren mit ihr in dieses Forsthaus gezogen. Clara erinnerte sich an lange Spaziergänge mit ihren Großeltern, bei denen sie kaum einer Menschenseele begegnet waren. Opa hatte ihr die Bäume und ihre Unterscheidungsmerkmale erklärt, mit ihr Pilze gesammelt, oder sie im Winter auf dem Schlitten durch den Schnee gezogen. Ansonsten hatte sich ihr Leben fast ausschließlich im Haus abgespielt: Hilda hatte mit ihr gebacken, ihr am Kamin vorgelesen, ihr Puppenkleider genäht … In ihrer Vorschulzeit schien es keine anderen Menschen als ihre Großeltern gegeben zu haben. Johann hatte ihr zuliebe seine Karriere einige Jahre auf Eis gelegt.

»Möchtest du es dir nicht noch mal in Ruhe überlegen?«, fragte sie. »Du musst nicht vorschnell absagen.«

»Es gibt nichts zu überlegen«, sagte Johann. »Zugegeben – es ist ein sehr lukratives Angebot. Der Verlag würde mir eine große Summe zahlen. Die käme nicht ungelegen, ich könnte das Geld für Simons Ausbildung anlegen. Ich werde nicht ewig da sein, um euch zu unterstützen.«

Alarmiert sah Clara ihm in die undurchdringlichen blaugrauen Augen. Wie so oft stellte sie sich vor, einmal ganz allein auf der Welt dazustehen. Sie hatte weder Eltern noch Geschwister noch einen Partner. Irgendwann würde sie mit Simon vollkommen auf sich gestellt sein. »Was meinst du damit, Opa? Bist du krank? Geht es dir nicht gut?«

Johann legte ihr beschwichtigend eine Hand auf den Arm. »Nein, mach dir keine Gedanken. Alles gut. Aber egal – ich werde das Angebot nicht annehmen, auch wenn es eine Menge Geld bringen würde. Lass uns von etwas anderem reden. Ich habe ein paar Fotos herausgesucht, die Simon für sein Projekt nutzen kann.«

Sonntags, wenn sie nichts vorhatten und den ganzen Tag im Forsthaus waren, spürte man die Stille des Waldes besonders. Zuweilen schlug sie Clara aufs Gemüt und sie sehnte sich nach einem Stadtbummel, Kino, einem Café. Vor allem jetzt im Winter wurde es kaum richtig hell, die Silhouetten der nackten Bäume erhoben sich finster vor den Fenstern. Wenn gelegentlich Wanderer vorbeikamen und sie Stimmen hörte, erschrak sie. Manchmal fühlte sie sich eingeschlossen in ein kleines Universum, zu dem sonst niemand Zutritt hatte.

Sie klopfte an Simons Zimmertür. Da er über Kopfhörer schreiend laut Bushido hörte, nahm er sie erst wahr, als sie vor ihm stand.

»Hey, anklopfen!«, rief er entrüstet.

»Ich habe angeklopft. Komm, lass uns mit deinem Stammbaum anfangen. Ich helfe dir mit den Namen.«

»Bist du irre?«, fragte Simon, ohne die Musik leiser zu machen. »Abgabetermin ist erst in drei Wochen, da versaue ich mir doch nicht den Sonntag.«

»Du musst nicht immer alles auf den letzten Drücker machen. Los, setz dich zu mir ins Wohnzimmer, Opa hat mir Fotos gegeben, die können wir zusammen durchsehen und entscheiden, welche du für das Projekt nehmen willst.«

Simon zog eine Grimasse. »Na gut. Fünf Minuten.«

Im Wohnzimmer breitete er das Plakat aus gelbem Tonkarton auf dem Tisch aus. Er hatte bereits einige Namen mit Bleistift vorgeschrieben.

In der Baumkrone befanden sich Johann und Hilda Liebrecht, eine Etage tiefer ihre Tochter Susanna Liebrecht, dann kam deren Tochter Clara und ganz unten Simon.

»Sehr übersichtlich«, spottete Simon und fläzte sich gelangweilt auf das Sofa. »Als ich gestern bei Lukas war, hat er mir sein Plakat gezeigt. Er hat kaum Platz für all die Tantchen und Cousinen.«

»Na ja, ein bisschen was kannst du schon noch ergänzen«, sagte Clara. »Mein Vater hieß Richard von Ruhnau. Den kannst du neben meine Mutter Susanna schreiben. Meine Eltern waren nicht verheiratet, daher die unterschiedlichen Nachnamen.«

Simon sah neugierig auf. »Von? War er ein Graf oder Baron oder so was?«

»Keine Ahnung«, musste Clara zugeben. »Ich glaube, er war so eine Art Landadeliger.«

»Und wo hatte er sein Landgut?«

Clara schüttelte den Kopf. Es versetzte ihr einen Stich, ihrem Sohn so gar nichts über seine Vorfahren erzählen zu können.

»Ist das nicht komisch?«, fragte Simon. »Noch nicht mal das kleinste bisschen über den eigenen Vater zu wissen?«

»Du hast recht«, sagte Clara mit einem Kloß im Hals. »Deine Urgroßeltern wollten nie so recht über ihn reden.«

»Wieso?«

»Ich glaube, sie mochten ihn nicht. Und dann wurde meine Mutter so früh schwanger, und bald darauf hatten sie beide diesen tödlichen Autounfall. Es ist wahrscheinlich zu schmerzlich, darüber zu sprechen.«

»Wieso gibst du dich damit zufrieden?«, beharrte Simon. »In deinem Alter kannst du doch selbst ein paar Erkundigungen anstellen. Du hast doch ein Recht auf Infos.«

»Ja, du hast recht«, murmelte Clara. Sie erwähnte nicht, dass sie den Namen ihres Vaters schon unzählige Male ins Internet eingegeben hatte, jedoch ohne Ergebnis. Allerdings waren ihre Eltern bereits vor Aufkommen des Internets gestorben.

»Den Namen von deinem Papa kannst du auch dazuschreiben«, sagte sie, um vom Thema abzukommen.

Simon schrieb Christian Götz in seiner unleserlichen Schrift auf das Plakat. »Man kann über ihn sagen, was man will, wenigstens weiß ich, wer er ist und was er so treibt.«

Clara biss sich auf die Lippen, um keinen Kommentar dazu abzugeben, der ihr leidtun würde. Stattdessen legte sie den Stapel Fotos und Artikel von Johann auf den Tisch.

»Schau mal, lauter Zeitungsausschnitte und Berichte über Uropa, als er noch ein aktiver Sänger war. Es zahlt sich doch aus, einen berühmten Opa zu haben, was?«

»Ja, schon. Leider beeindrucken diese Operngesänge und Schmachtfetzen, die Opa früher gesungen hat, meine Freunde nicht«, sagte Simon, wobei trotzdem ein Funken Stolz wahrzunehmen war. »Aber dieser Rap-Song, den er mit MC Flix gemacht hat, ist echt cool. Das finden Lukas und Lenny-Jason auch.«

»Na, das ist ja eine Auszeichnung«, bemerkte Clara in liebevollem Spott. Simon verdrehte genervt die Augen.

Gemeinsam gingen sie die Fotos durch. Die meisten zeigten Johann in allen Lebensaltern auf der Bühne. Selbst auf den kleinformatigen Bildern sah man, welche Präsenz er auf der Bühne gehabt hatte. Es gab außerdem einige Fotos von Hilda, eines in Schwarz-Weiß aus der Zeit, als sie als junges Mädchen an der Ballettakademie war, und noch zwei aus späteren Jahren. Dann ein Foto von Claras Mutter Susanna im Tutu bei einer Ballettaufführung. Wie ihre Mutter Hilda hatte sie professionelle Ballerina werden wollen. Das Schicksal hatte ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Die letzten Fotos zeigten Clara im Alter von zwei oder drei Jahren bis heute.

Fotos von sich selbst hatte Clara schon öfter gesehen, sie hatte ein eigenes Album in ihrem Schrank. Doch auch jetzt fiel ihr wieder auf, dass es von ihr keinerlei Babyfotos zu geben schien. Die frühesten Aufnahmen stammten aus ihrer Kleinkindzeit. Das fand sie ein wenig seltsam.

»Und jetzt suchen wir noch ein paar Fotos von dir raus.« Sie nahm Simons Album aus dem Wohnzimmerschrank. »Denn du gehörst natürlich mit auf das Plakat.«

»Bloß nicht«, kreischte Simon. »Wag es nicht, diese Fotos von mir in diesen peinlichen Strampelhosen herauszukramen! Lieber werfe ich mich vor einen Zug, als damit in der Schule aufzutauchen.«

Wie jeden Sonntag kochte Clara unten in Johanns Küche, wo sie zu dritt aßen. Johann war es inzwischen zu beschwerlich, die Treppe zu Claras Wohnung hinaufzukommen. Stille umgab das Haus; die Bäume ließen kein Licht durch, sodass Clara eine dicke Kerze anzündete, um die Stimmung auch optisch aufzuhellen.

Simon gab Würgelaute von sich, als er den Gemüseauflauf sah.

»Nicht schon wieder das Grünzeug«, maulte er.

Sein Urgroßvater beugte sich verschwörerisch zu ihm. »Wenn deine Mutter morgen bis abends im Musikladen ist, bestellen wir zwei uns eine schöne Pizza.« Er zwinkerte ihm zu, und Simon grinste.

Clara gab beiden Gemüse auf die Teller und verbiss sich das Lachen. Johann und Simon hielten zusammen wie Pech und Schwefel.

Nach dem Essen unternahmen sie ihren sonntäglichen Spaziergang durch den Wald. Simon schimpfte zuerst herum, wie langweilig er das fand, und dass keiner seiner Schulfreunde sonntags durch den Wald laufen müsste, gab dann jedoch resigniert nach. Mit seinen Kopfhörern über den Ohren stapfte er voraus, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben.

Clara hatte sich bei Johann eingehakt und sie folgten ihm in einigem Abstand. In der Nacht hatte es Frost gegeben, und die kleinen Zweige knackten unter ihren Füßen. Ihr Atem kam in weißen Wölkchen, so kalt war es.

»Der Winter kommt früh dieses Jahr«, sagte Johann. »Wir sollten noch Nachschub an Feuerholz bestellen.«

»Mhm«, machte Clara abwesend, in Gedanken bei einem Kinofilm, den sie gerne gesehen hätte.

»Übrigens«, begann Johann. »Ich habe es mir noch mal überlegt. Ich werde das Angebot des Verlages doch annehmen.«

Mit einem Mal sehr aufmerksam schaute Clara ihn von der Seite an. Er erwiderte ihren Blick nicht, sondern starrte geradeaus, als sei das Thema damit erledigt.

»Wieso?«

»Es ist einträglich. Ich werde bis zu meinem Tod von den Einnahmen meiner Platten gut leben können, aber das Geld, das ich durch die Veröffentlichung des Buches bekomme, möchte ich für Simon anlegen. Damit er eine gute Ausbildung machen oder studieren kann. Und bevor du wieder Panik bekommst, dass ich bald abtrete«, Johann blieb stehen und strich ihr über den Arm, »darum geht es nicht. Ich möchte einfach, dass mein Urenkel auch in Zukunft gut versorgt ist.«

»Ja, das verstehe ich …«, murmelte Clara. Sie gingen weiter. »Aber du möchtest doch nicht, dass dein Privatleben öffentlich gemacht wird, oder?«

Johann seufzte. »Ja, das möchte ich nach wie vor nicht. Deshalb werde ich dem Ghostwriter von Anfang an klare Ansagen machen, was er schreiben darf und was nicht.«

»Na, hoffentlich hält er sich daran. Hat der Verlag schon jemanden, der das Buch schreibt?«

Ein Funkeln erschien in Johanns blaugrauen Augen. »Ja, einen Journalisten. Du kennst ihn auch.«

Diesmal war es Clara, die stehen blieb. Sie starrte ihren Großvater überrascht an. »Das glaube ich nicht. Marius Richter? Den wir auf der Hochzeit getroffen haben?«

»Ja, freust du dich nicht?«, fragte Johann unschuldig.

Claras Herz schlug ein paar Takte schneller und ihre Wangen röteten sich in der kalten Winterluft. »Opa, du machst aber nicht nur deswegen bei dem Buchprojekt mit, damit ich diesen Journalisten wiedersehe, oder? Das ginge nämlich entschieden zu weit!«

»Ach, was du wieder denkst«, sagte Johann; ihm schaute der Schalk aus den Augen. »Du kennst mich doch.«

»Ja, genau!« Clara war noch immer fassungslos. »Dir ist zuzutrauen, dass du nur zusagst, damit ein Date für mich rausspringt! Das ist so … so peinlich, verstehst du das nicht, Opa?«

»Nein, wieso denn?«, fragte Johann. »Willst du Marius Richter nicht wiedersehen? Er scheint doch ein netter Kerl zu sein.«

»Es ist hoffnungslos«, murmelte Clara. »So wie vor ein paar Jahren, als du diesen Privatlehrer engagiert hast, der dir angeblich Norwegisch beibringen sollte, und du zufällig immer zu spät zu den Stunden kamst, um ihn mit mir allein zu lassen. Mach so was nicht noch mal, Opa! Der Typ war seltsam und ungehobelt, und ich wusste nie, was ich mit ihm reden sollte, bis du endlich aufgetaucht bist.«

»Was soll ich denn machen?«, fragte Johann gespielt hilflos. »Ich habe eine attraktive, intelligente Enkelin in den besten Jahren, die ihre gesamte Zeit in der Einsamkeit des Waldes verbringt. Da muss ich als Großvater doch aktiv werden, um dich zu deinem Glück zu zwingen.«

Er strahlte sie an wie der Weihnachtsmann, sodass sie ihre Vorbehalte fallen ließ und lachen musste. »Okay, okay. Ich fand Marius Richter ja auch ganz nett. Aber bitte versuche nicht, ihn mit mir zu verkuppeln. Ich würde vor Scham im Boden versinken. Konzentrier dich einfach auf das Buch.«

Johann hob demütig die Hände. »Aber natürlich, meine Liebe.«

»Wie soll die Arbeit an dem Buch praktisch vonstattengehen?«, hakte Clara nach.

»Marius kommt nächste Woche mal vorbei. Zu einer Art Vorbesprechung. Dann sehen wir weiter, wie oft wir uns treffen, welche Themen er im Buch haben will und so weiter. Ich lade ihn für abends ein, dann kannst du ihn auch sehen.«

»Du bist unmöglich.« Kopfschüttelnd musste Clara lachen.

In diesem Moment brach die fahle Wintersonne durch die Baumspitzen und tauchte den Wald in ein weiches, unwirkliches Licht. Clara wurde ein wenig leichter ums Herz, ihre sonntägliche Einsamkeit war gewichen. Sie freute sich tatsächlich, Marius wiederzusehen, auch wenn sie nach all den Monaten keinerlei Erwartungen an das Treffen hatte.

Zuhause legte sich Johann wie jeden Nachmittag zum Mittagsschlaf auf das Sofa. Die Zeit war günstig, mal ein wenig im Keller nach alten Erinnerungsstücken zu stöbern.

Außer ihrem Fahrrad und einigen Musikbüchern für die Schule, die sie im Moment nicht im Gebrauch hatte, hatte Clara keine Besitztümer im Keller; deshalb hielt sie sich so gut wie nie hier auf.

Es roch nach Staub und trockener Luft, als sie die Stufen hinunterstieg. Spinnweben hingen in den Ecken. Johann benutzte den Raum hauptsächlich als Abstellraum für ausgediente Möbelstücke. Hinten an der Wand stapelten sich Kartons übereinander, an die man jedoch schlecht herankam, da man zuvor über alte Küchenbänke und ausrangierte Bettgestelle turnen musste.

Als sie dies geschafft hatte, zog sie einen der Kartons hervor, der in winziger Schrift mit Susanna beschriftet war. Sie bekam Gänsehaut; vorsichtig öffnete sie den Karton und spähte hinein. Es befand sich ein dickes Fotoalbum darin sowie allerhand Krimskrams, wie junge Mädchen ihn sammeln: eine goldglitzernde Haarbürste, Postkarten von Orten, die ihre Mutter anscheinend bereist hatte, ein Teddybär.

Sie war so aufgeregt, dass sie zitterte. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie auf Besitztümer ihrer Mutter stieß – hätte Simon nicht dieses Familienprojekt in der Schule gehabt, wäre sie wohl nie auf die Idee gekommen, auf die Suche zu gehen. Vorsichtig nahm sie das Fotoalbum heraus. Es zeigte ihre Mutter in allen Stadien ihres Lebens. Als Baby, als Kleinkind mit Pausbacken, als Vierjährige in Tutu und weißer Strumpfhose, als Achtjährige bei einem Auftritt im Nussknacker und bei diversen anderen Ballettaufführungen.

Ballett war Susannas Leben gewesen, so wie das ihrer Mutter Hilda. Nur hatte Hilda ihre Leidenschaft für Johann aufgegeben und sich ganz der Familie gewidmet. Susanna war auf dem Weg gewesen, eine Primaballerina zu werden, so viel wusste Clara. Sie hatte es nicht geschafft.

Auf den letzten Fotos war Susanna zwanzig Jahre alt, sie trug Jeans, eine weite Bluse und hatte eindeutig einen gewölbten Bauch. Ein Foto von ihr, Clara, gab es nicht.

Wahrscheinlich hatte sie die ganze Zeit recht gehabt mit ihrer Vermutung, Johann könnte es nicht ertragen, das Album oben im Wohnzimmer aufzubewahren. Warum sonst hatte er es in den Keller verbannt?

Auf dem Boden der Kiste lag eine alte Spieldose. Ehrfürchtig nahm sie sie in die Hände und öffnete den nachtblauen, mit goldenen Sternen bemalten Deckel. Eine zarte, leise Melodie erklang und eine winzige Ballerina, die in weiße Rüschen und Spitzenschuhe gekleidet war, drehte sich anmutig im Kreis.

Clara lauschte, bis die Melodie verklang. Dann drehte sie die Spieldose um und erstarrte. Auf der vergoldeten Unterseite war etwas eingraviert: Von R für S. Für immer.

Gedankenverloren strich sie über die Dose. Da hörte sie oben Schritte. Johann war anscheinend aufgewacht. Sie schloss den Karton und schob ihn wieder an die Wand. Die anderen Kisten würden warten müssen. Johann wäre bestimmt nicht erfreut, sie hier unten herumstöbern zu sehen. Sie solle die Vergangenheit nicht aufwühlen, hatte er gesagt. Die Spieldose aber nahm sie mit hoch. Sie würde sie auf ihren Nachttisch stellen, denn sie wollte sie nah bei sich haben.

Zugefroren

Am Dienstag war Clara im Musikladen nicht ganz bei der Sache. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab, da ihr Großvater Marius Richter für den frühen Abend einbestellt hatte, um ein erstes Gespräch über das Buchprojekt zu führen.

Draußen herrschten Minusgrade, und schwere Wolken hingen über Bad Dürkheim. Clara hoffte, es würde nicht anfangen zu regnen. Glatteis könnte sie heute nicht gebrauchen, sie wollte pünktlich zu Hause sein.

Stephanie beriet im Verkaufsraum gerade eine ältere Dame, die eine Blockflöte für ihre kleine Enkelin kaufen wollte, während Clara im Hinterzimmer die fünfzehnjährige Paulina, die kaugummikauend am Klavier saß, unterrichtete. Das Mädchen spielte fürchterlich falsch.

Clara zuckte zusammen. »Noch mal, bitte. Konzentrier dich ein bisschen.«

»Mein Gott, ich hasse dieses Stück«, stieß Paulina hervor. »Können wir nicht früher Schluss machen?«

»Nein. Deine Mutter bezahlt viel Geld für deine Stunden.«

»Wir brauchen es ihr ja nicht zu sagen. Ich halte bestimmt dicht. Ich hab eh keine Lust auf Klavierstunden, aber meine Mutter kapiert das nicht.« Paulina hatte ganz aufgehört zu spielen und sah Clara mit großen blauen Augen provozierend an. Ihre Wimpern waren perfekt getuscht und sie hatte dunkelblauen Glitzerlidschatten aufgetragen.

Clara schüttelte den Kopf und seufzte. Lag es an ihr, dass sie manchen Schülern die Liebe zur Musik einfach nicht näherbringen konnte? Wahrscheinlich war lediglich das Alter daran schuld. Ihr eigener Sohn hatte auch zu nichts Lust und lag am liebsten mit Ohrstöpseln auf dem Teppich seines Zimmers.

»Die Stunde geht noch fünfzehn Minuten, und so lange wird gespielt. Wenn du das Klavierspielen so sehr hasst, solltest du mit deiner Mutter sprechen.«

»Sie finden also auch, dass das hier Geldverschwendung ist?«, versuchte Paulina sie festzunageln.

»Nein, ich finde es nur schade, dass du nichts aus deinen Möglichkeiten machst«, sagte Clara. Sie war die Diskussion, die jede Woche die gleiche war, leid.

Verstohlen spähte sie auf die Uhr und atmete erleichtert auf, als es siebzehn Uhr war. Feierabend für heute. Sie verabschiedete Paulina schnell. Das Mädchen hatte es plötzlich gar nicht mehr eilig und checkte in Seelenruhe die Nachrichten auf ihrem Smartphone.

»Kannst du deine WhatsApps bitte draußen lesen? Ich würde gerne den Raum abschließen.«

Paulina grinste sie an. »Haben wir noch was vor, Frau Liebrecht?«

Clara musste wider Willen lächeln. »Ja, das habe ich. Du auch?«

Paulina lachte und verschwand.

Clara ging in den Verkaufsraum, in dem ein Ehepaar gerade in den Notenheften stöberte und leise diskutierte, welche sie kaufen sollten. Stephanie saß mit einer Tasse Milchkaffee in der Hand im Korbsessel hinter der Kasse.

»Darf ich kurz oben dein Bad benutzen, Stephanie?«

»Ja, klar doch.« Das Ehepaar verließ mit resigniertem Gesichtsausdruck den Laden; offensichtlich hatten sie sich nicht einigen können. »Ich komme morgen allein wieder«, rief die Frau Stephanie im Hinausgehen zu.

Stephanie lächelte. »Tun Sie das.« Sie sah auf die große Retro-Uhr, die an der Wand hing. »Ich komme kurz mit hoch, Clara. Falls Kundschaft kommt, höre ich ja die Glocke.«

Stephanie ging ihr voran die Treppe hoch zu ihrem Wohnbereich. »Ach, heute ist ja der große Tag, nicht? Das Wiedersehen mit deiner Burgbekanntschaft? Du möchtest dich wohl noch ein bisschen aufbrezeln, was?«

»Ach was« Clara machte eine wegwerfende Handbewegung.

Stephanie sah ihr in die aufgeregt glänzenden Augen und sie lachten beide.

»Mir brauchst du nichts vorzumachen. Guck dich doch mal an: deine beste schwarze Hose und deine schicke schwarze Bluse hast du heute angezogen. Ich wünschte nur, du würdest mal irgendeinen Farbtupfer zulassen«, sagte Stephanie und musterte sie von oben bis unten. »Du würdest gleich viel … zugänglicher wirken.«

»Schwarz ist meine Farbe.«

In Stephanies Wohnung wurden sie wie üblich von Lärm und lauten Stimmen empfangen. Im Bad lag die achtjährige Ella rücklings auf den Fliesen, während der zwölfjährige Florian über ihr kniete und ihr Creme in die Haare schmierte. Ella kreischte und wand sich, doch ihr Bruder, der sich prächtig amüsierte, war stärker.

»He, was soll das?«, rief Stephanie. »Runter von ihr, aber dalli! Was fällt dir ein, Flo?«

»Ist doch nur Spaß«, erwiderte Florian, ohne von seiner Schwester abzulassen.

Im Türrahmen erschien Emelie, die älteste Tochter. »Das ist meine Creme, die du ihr in die Haare schmierst, du wurmgesichtiger Fetzenschädel!«, kreischte sie und zerrte ihren Bruder von Ella herunter. »Die ersetzt du mir! Mama, sein nächstes Taschengeld geht an mich!«

»Raus, alle drei«, befahl Stephanie. »Ihr bringt mich um den Verstand. Ihr verursacht mir ein Burnout. Ich steh kurz davor. Raus!«

Die drei verschwanden vor sich hin maulend. Emelie schlug die Tür hinter sich zu, doch Stephanie riss sie sogleich wieder auf, um die Glocke im Laden hören zu können. »Sorry, dass ich so schreie. Aber wenn ich in normaler Lautstärke rede, bin ich bei vier Kindern verloren. Niemand würde mich auch nur wahrnehmen, geschweige denn hören.«

»Bei dir ist ganz schön was los«, murmelte Clara und dachte flüchtig an die Stille bei ihr daheim. Vogelgezwitscher und Bushido waren die einzigen Geräusche, die sie hörte.

Stephanie setzte sich auf den Badewannenrand und sah zu, wie Clara sich das Gesicht puderte und die kastanienbraunen Haare bürstete. »Noch etwas Farbe ins Gesicht? Du kannst dich an Emelies Schminkkram bedienen.«

Clara lächelte und zog sich die Lippen nach. »Stephanie, ich gehe doch nicht aus. Ich fahre lediglich nach Hause.«

»Ach so«, erwiderte Stephanie ironisch. »Aber der dunkelrote Lippenstift muss schon sein, was? Damit und mit den schwarzen Klamotten siehst du aus wie eine Diva. Das muss ich eindeutig begrüßen, meine Liebe. Versuch doch mal, heute Abend ein wenig zu flirten.«

»Ich weiß nicht mehr, wie das geht«, murmelte Clara. »Es ist einfach zu lange her.«

»Frag Emelie. Die weiß genau, wie das geht.«

»Außerdem kommt Marius beruflich. Was glaubst du, was da abläuft? Er und Johann reden über das Buch, dann geht er wieder. Wahrscheinlich begegne ich ihm nicht mal.«

»Setz dich einfach mit dazu«, riet Stephanie. »Was auch immer heute Abend vonstattengeht, ein bisschen Gesellschaft schadet dir nicht. Du verkümmerst noch in deinem Dornröschenwald.«

Während der Rückfahrt zum Forsthaus fing es an zu nieseln und die Straße war im Handumdrehen spiegelglatt. Clara fluchte und sah auf die Temperaturanzeige ihres Autos: minus zwei Grad. Ausgerechnet heute. Sie war gezwungen, im Schneckentempo zu fahren. Wie eine langsame Karawane mit leuchtenden Scheinwerfern kämpften sich die Autos die Bundesstraße entlang durch die Finsternis.

Als sie den Weg in den Wald einschlug, tauchte ein anderes Auto hinter ihr auf. Sie sah in den Rückspiegel und ihr Herz begann zu pochen. Marius hatte es bei diesen Witterungsverhältnissen offenbar auch nicht früher geschafft.