Weihnachten in der kleinen Bücherei - Amanda Kissel - E-Book

Weihnachten in der kleinen Bücherei E-Book

Amanda Kissel

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Beschreibung

Die Liebe wartet zwischen Büchern, Weihnachtslichtern und längst vergessenen Geschichten   Weihnachten rückt näher und in der kleinen Bücherei wird es besinnlich. Nur Corinnas Stimmung will so gar nicht zur anstehenden Adventszeit passen. Hat ihr Mann sie doch gerade erst für eine andere verlassen. Und auch die gemeinsame Tochter Annika leidet sehr. Da hilft nur eins: Weihnachten muss dieses Jahr noch größer werden als sonst! Mehr festliche Deko, mehr leckere Weihnachtskekse, mehr Weihnachtsbücher und vor allem mehr Liebe. Als die beiden dann im alten Rezeptbuch ihrer Großtante Martha auf ein Familiengeheimnis stoßen, das von einer längst vergessenen Liebe erzählt, schmieden sie sogleich einen Plan. Tante Martha und ihre große Liebe sollen sich unbedingt noch einmal wiedersehen und wer weiß, vielleicht findet auch Corinna ihre Liebe abseits der Bücher wieder …

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Seitenzahl: 468

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Weihnachten in der kleinen Bücherei

Die Autorin

Amanda Kissel ist das Pseudonym der Autorin Ursula Kissel. Sie wurde in Neustadt an der Weinstraße geboren. Mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt sie heute mitten im Pfälzer Wald und arbeitet als Lehrerin.

Das Buch

Weihnachten rückt näher und in der kleinen Bücherei wird es besinnlich. Nur Corinnas Stimmung will so gar nicht zur anstehenden Adventszeit passen. Hat ihr Mann sie doch gerade erst für eine andere verlassen. Und auch die gemeinsame Tochter Annika leidet sehr. Da hilft nur eins: Weihnachten muss dieses Jahr noch größer werden als sonst! Mehr festliche Deko, mehr leckere Weihnachtskekse, mehr Weihnachtsbücher und vor allem mehr Liebe. Als die beiden dann im alten Rezeptbuch ihrer Großtante Martha auf ein Familiengeheimnis stoßen, das von einer längst vergessenen Liebe erzählt, schmieden sie sogleich einen Plan. Tante Martha und ihre große Liebe sollen sich unbedingt noch einmal wiedersehen und wer weiß, vielleicht findet auch Corinna ihre Liebe abseits der Bücher wieder …

Amanda Kissel

Weihnachten in der kleinen Bücherei

Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Originalausgabe bei ForeverForever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinNovember 2020 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020

zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privatE-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-95818-601-9

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Leseprobe: Weihnachten im kleinen Laden am Strand

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 1

Corinna nippte an ihrem heißen Tee, dann sank sie aufs Sofa und zog sich die Wolldecke bis ans Kinn. Draußen tobte ein Herbststurm, der Wind heulte im Gebälk des alten Hauses und der Regen peitschte dicke Tropfen gegen die Scheiben. Eigentlich war es draußen zu ungemütlich, um unterwegs zu sein. Trotzdem klingelte es alle paar Minuten, und als Gespenster, Hexen und Vampire maskierte Kinder forderten »Süßes oder Saures«.

Es war der einunddreißigste Oktober, Halloween. Auf dem Fensterbrett des Wohnzimmers stand ein Kürbis, den sie vor ein paar Tagen mit Annika ausgehöhlt hatte. Ihre Tochter hatte viel Spaß dabei gehabt, einen gezackten Mund, eine dreieckige Nase und zwei Augen hineinzuschneiden. Jetzt leuchtete der Kürbis warm von innen heraus, denn Corinna hatte ein Teelicht hineingestellt und angezündet. Der Rest des Raumes lag im Dunkeln.

Wieder läutete es. Seufzend warf sie die Decke von sich, stand schwerfällig auf und ging durch den finsteren Flur zur Haustür. Drei Nachbarskinder sahen erwartungsvoll zu ihr auf, als sie öffnete.

»Süßes oder Saures!«, rief ein Junge, der als Mumie verkleidet war.

»Guten Abend, Frau Mohr«, grüßte eine seiner beiden Begleiterinnen schüchtern, eine kleine blonde Hexe, die drei Häuser weiter die Straße hinauf wohnte. »Bekommen wir was Süßes?«

Corinna konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen und griff zur Süßigkeitendose, die sie auf dem kleinen Tisch neben der Haustür bereitgestellt hatte. »Aber klar doch.«

»Danke!«, riefen die Kinder mit leuchtenden Augen und schaufelten Schokoriegel und kleine Tütchen mit Gummibärchen in ihre Taschen.

Die Kleinen zogen ab und Corinna kehrte zurück auf das Sofa, wärmte sich die Hände kurz an der noch heißen Teetasse, legte den Kopf wieder auf das Kissen und schlüpfte unter die Decke.

Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es halb zehn war. Annika würde in einer halben Stunde zurückkommen. Als Bettlakengeist hatte sie sich mit Corinnas Schwester Tabea, die im oberen Stockwerk des Hauses wohnte, und deren Lebensgefährten Raphael auf den Weg durch die Nachbarschaft gemacht, um ebenfalls ihren Spaß zu haben. Corinna war Tabea dankbar, dass sie ihre Tochter begleitete; sie selbst war im Moment kaum in der Stimmung dazu.

Zwei Minuten später sah sie wieder auf die Uhr. Wo Heiko wohl blieb? Beklommenheit legte sich wie eine Fessel um ihr Herz. Ihr Mann kam mit jedem Tag später von der Arbeit heim. Corinna war sich nicht sicher, ob sie überhaupt wissen wollte, warum Heiko immer länger von zu Hause und seiner Familie fortblieb.

Um Punkt zehn Uhr vernahm sie das Drehen des Haustürschlüssels im Schloss. Sie fegte die Wolldecke beiseite, wobei sie fast die Teetasse umgeworfen hätte, und eilte in den Eingangsbereich.

Doch es war nicht ihr Mann Heiko, sondern ihre Tochter, die wie vereinbart nach Hause gekommen war, Tabea und Raphael im Schlepptau.

»Es war toll, Mama. Ich habe die ganze Tüte voll mit Schokolade und Keksen«, schwärmte Annika und zog sich ihr selbst gemachtes Geisterkostüm über den Kopf. Ihre langen dunkelblonden Haare, die sich bis über die Schultern wellten, standen dabei in alle Richtungen ab.

»Freut mich, dass du Spaß hattest.« Corinnas Blick hing liebevoll an der Dreizehnjährigen und wie so oft fühlte sie eine heiße Welle des Stolzes auf ihre bildhübsche Tochter.

»Buh!«, kam es da aus der dunklen Ecke neben der Haustür. Corinna zuckte zurück. Raphael hielt ihr sein schwarz angemaltes, zu einer Fratze verzerrtes Gesicht direkt vor die Augen. Tabea und Annika lachten.

»Hör auf mit dem Blödsinn«, sagte Corinna und ging den anderen voran ins Wohnzimmer. »Was stellst du eigentlich dar, Raphael?«

»Ich bin der Tod!«, zischte der Lebensgefährte ihrer Schwester mit weit aufgerissenen Augen und öffnete demonstrativ seine Jacke, sodass sie sein mit einem Skelett bedrucktes Oberteil sehen konnte. »Leg dich nicht mit mir an, du elendes Menschlein!«

Tabea lachte. Sie war fünfzehn Jahre jünger als ihre große Schwester, nämlich achtundzwanzig, und unverkleidet. Trotz der Kälte draußen trug sie einen sehr kurzen Rock über dicken Wollstrumpfhosen. Rein äußerlich ähnelten sich die beiden Schwestern sehr; beide hatten kinnlange braune Locken, die widerspenstig jeder Frisur trotzten, und haselnussbraune Augen.

»Raphael ist gerade etwas übermütig drauf, Schwesterherz. Bei Schmidtbauers am Ende der Straße gab’s nicht nur Süßes für die Kinder, sondern auch Glühwein für die Erwachsenen.«

»Du hättest auch mitkommen sollen, Mama«, sagte Annika und legte ihren Kopf an Corinnas Schulter. Sie war müde, das war ihr anzusehen.

»Ein anderes Mal, Schnecki.« Corinna wechselte einen verstohlenen Blick mit ihrer Schwester. Diese wies mit dem Kinn auf die Uhr, die unausgesprochene Frage in den Augen, ob Heiko noch immer nicht zu Hause war. Corinna schüttelte unmerklich den Kopf, bevor sie Annika die Hand auf den Arm legte. »Ab ins Bett, Süße. Dir fallen ja schon die Augen zu.«

Ausnahmsweise sträubte sich ihre Tochter mal nicht. »Okay«, murmelte sie, gähnte, nahm ihr Geisterkostüm und verschwand in Richtung ihres Zimmers.

»Nighty night«, sang Raphael und lief leicht schwankend zur Treppe, die zu Tabeas Wohnbereich führte.

»Zum Glück ist morgen Feiertag …«, meinte Tabea kopfschüttelnd. Sie wartete, bis ihr Freund nicht mehr zu sehen war, dann setzte sie sich zu ihrer älteren Schwester auf das Sofa.

»Du musst endlich mit Heiko reden«, sagte sie eindringlich. »So kann es nicht weitergehen. Du bist nur noch ein Schatten deiner selbst.«

»Falls er kommt, rede ich mit ihm«, stimmte Corinna zu. »Falls. Sieht ja im Moment nicht danach aus, als ob er uns so bald mit seiner Anwesenheit beehren würde.«

Es war weit nach Mitternacht. Der Sturm fegte noch immer um das Haus, flüsterte im Efeu, das die alten Mauern umrankte. Längst war es auf der Straße still geworden, das verstohlene Gekicher der Kinder verebbt, die letzten Süßigkeitenjäger waren schon vor längerer Zeit heimgegangen. Als Corinna klar geworden war, dass es keinen Sinn hatte, im Wohnzimmer zu warten, bis Heiko käme, war sie in ihr Schlafzimmer gegangen. Mit mechanischen Bewegungen hatte sie ihre Kleider auf Bügel gehängt, nebenan im Bad Zähne geputzt und sich das Gesicht mit einer Nachtcreme eingecremt, bevor sie wie jeden Abend eine Lavendeltablette schluckte, die ihr das Einschlafen erleichtern sollte. Wie jede Nacht funktionierte es auch dieses Mal nicht.

Sie starrte den matten Lichtfleck an der Decke an, den die Straßenlaterne durch die Ritzen des Rollladens warf, bis ihr Herz plötzlich schneller schlug. Heiko war da!

Sie hörte, wie er, bemüht, keine Geräusche zu machen, seine Jacke im Wohnzimmer fallen ließ, im Bad leise Wasser laufen ließ und sich dann zu ihr ins Schlafzimmer schlich. Die Bettdecke raschelte, als er darunter kroch.

Corinna presste die Lippen zusammen. Heikos Geruch drang ihr in die Nase; es war nicht sein Geruch, er roch fremd und ein bisschen exotisch. Parfum?

Heiko merkte wohl an ihrem Atem, dass sie wach war und sie spürte, wie er im Dunkeln den Kopf zu ihr umdrehte.

Einige Minuten herrschte Schweigen zwischen ihnen. Heiko hatte anscheinend nichts zu sagen. Corinna lag die Frage auf der Zunge, wo er wieder so lange gewesen war, doch sie scheute sich, die Worte auszusprechen, so als fürchtete sie die Endgültigkeit der Antwort.

Als Heiko schließlich seufzte – so als ob er Grund dazu hätte – wurde sie trotz der Angst, die ihr Herz auffraß, wütend und sie herrschte ihn leise an: »Mal wieder Überstunden gemacht? Bis ein Uhr nachts?«

»Geschäftsessen«, erwiderte Heiko. »Arbeit.«

Corinna schnaubte. »Spar dir deine Ein-Wort-Erklärungen. Ich kann sie an dir riechen.«

Obwohl am nächsten Tag der erste November war und niemand zur Arbeit oder Schule musste und sie hatten lange schlafen können, fühlte sich Corinna nach dem Aufstehen wie betäubt. Sie stand im Bad am Waschbecken, wusch sich das blasse Gesicht und ging sich mit den Händen durch die kurzen verwuschelten Locken, um sie halbwegs zu bändigen. Dann zog sie den Bademantel enger um sich; sie sah einfach elend aus heute Morgen.

In der Küche herrschte ebenfalls gedrückte Stimmung. Annika saß an der Frühstückstheke, die langen dunkelblonden Haare wie ein Vorhang vor dem Gesicht. Wie jeden Morgen ging sie auf dem Handy die Nachrichten ihrer Freundinnen durch, während sie sich Müsli in den Mund schaufelte. Corinna unterdrückte ihre Ermahnung, beim Essen nicht am Handy zu sein und gab ihr einen Kuss auf den Scheitel. Heiko goss sich gerade im Stehen eine Tasse Kaffee ein und fragte sie mit einer Handbewegung wortlos, ob sie auch eine wollte.

Sie nickte und nahm die Tasse entgegen.

Sie warfen sich über Annikas Kopf hinweg bedeutungsvolle Blicke zu.

»Was machen wir heute?«, murmelte Annika mit vollem Mund.

Heiko räusperte sich. »Ich verzieh mich nachher ein bisschen ins Arbeitszimmer. Ich muss noch was aufarbeiten, was liegen geblieben ist.«

»Als ob du gestern nicht genug gearbeitet hättest, so spät, wie es geworden ist«, sagte Corinna ironisch.

Heiko sah sie warnend an. Nicht vor Annika, besagte dieser Blick. Sie knickte ein und schwieg, obwohl sie kaum an sich halten konnte.

»Und nachher muss ich vielleicht noch mal weg«, fügte Heiko hinzu.

»Am Feiertag?«, fragte Annika. »Da muss doch kein Mensch arbeiten.«

»Manche schon. In der Unternehmensberatung ist immer viel zu tun.« Gereizt strich Heiko seiner Tochter eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Binde dir doch bitte die Haare zusammen. Es ist unappetitlich, wie dir beim Frühstück immer die Strähnen in die Milch hängen.«

Annika setzte eine trotzige Miene auf. Heiko stellte klirrend seine Kaffeetasse auf den Tresen und rauschte in Richtung seines Arbeitszimmers davon.

»Die Stimmung ist ja wieder grandios«, maulte Annika.

Corinna gab ihr bedrückt recht. »Ich weiß. Ich bin gleich wieder da, Schnecke.«

Sie schloss die Küchentür hinter sich und betrat ohne anzuklopfen das Arbeitszimmer ihres Mannes, was er gar nicht mochte.

»Was ist? Ich muss wirklich arbeiten, ob du es glaubst oder nicht.«

»Ich glaube es ja. Du scheinst momentan ja anderweitig zu eingespannt zu sein, als dass du zu irgendetwas kommen würdest.«

Heiko presste missmutig die Lippen zusammen, setzte sich an den Schreibtisch und fuhr den Laptop hoch. Corinna wartete auf eine Erklärung seinerseits, die jedoch nicht kam. Mit jeder Minute wurde ihr banger zumute. Im Grunde wusste sie, was ihr Mann ihr zu sagen hatte, trotzdem wollte sie es nicht hören. Es würde ihre Welt zum Einstürzen bringen.

»Also?«, fragte sie und verknotete nervös den Gürtel ihres Bademantels.

»Was also?«, brummte er und strich sich über das schütter werdende blonde Haar. Er war siebenundvierzig, vier Jahre älter als sie.

»Jetzt hör auf mit den Spielchen und rede mit mir!«

Heiko vergrub das Gesicht in den Händen und seufzte tief. »Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll.«

»Ich glaube, das weißt du nur zu gut«, erwiderte sie leise. Ein bitterer Unterton schwang in ihrer Stimme mit.

»Ich …«

In diesem Moment platzte Annika ins Zimmer; auf Heikos Gesicht war deutlich die Erleichterung abzulesen. Sichtlich entspannter fragte er: »Nun, Schnecke?«

»Wir könnten Tante Martha im Heim besuchen«, schlug Annika vor, an Corinna gewandt. »Draußen ist ekliges Wetter, schweinekalt und neblig, da kann man kaum was anderes machen.«

Martha war eigentlich die Cousine von Corinnas und Tabeas Mutter, dennoch bezeichneten sie sie der Einfachheit halber als Tante. Seit Corinnas und Tabeas Mutter verstorben war, blieben Martha nur ihre beiden Großnichten – auch wenn diese Verwandtschaftsbezeichnung im Grunde nicht so ganz zutreffend war – als Familie. Da sie in Waldbronn, dem Heimatort der Mohrs, im Altenheim wohnte, besuchten Corinna und Annika sie so oft wie möglich. Die alte Dame freute sich immer über ihren Besuch. Annika fühlte sich sehr wohl bei Tante Martha, sie liebte es, dort Kekse zu knabbern, eine heiße Schokolade zu trinken und den Erinnerungen Marthas zu lauschen.

»Das ist eine gute Idee, das machen wir«, stimmte Corinna zu, obwohl ihr Kopf voll mit anderen Dingen war. »Gleich nach dem Mittagessen.«

Annika wandte sich an ihren Vater. »Kommst du auch mit, Papa?«

Heiko schüttelte bedauernd den Kopf. »Das geht dieses Mal nicht, ich habe noch so viel zu erledigen.«

Als ob du Tante Martha bisher auch nur einmal besucht hättest, dachte Corinna.

»Jetzt lasst mich bitte arbeiten«, sagte Heiko und wandte sich wieder seinem Bildschirm zu.

Corinna blieb unschlüssig vor dem Schreibtisch stehen, doch da sie sich des Blicks ihrer Tochter bewusst war, die von Vater zu Mutter sah, nickte sie nur kurz. »Wir reden heute Abend, Heiko.«

Heiko murmelte in sich hinein: »Mhm.«

Bald nach dem Mittagessen verschwand Heiko, ohne sich zu verabschieden. Corinna zog es das Herz zusammen, als sie die Haustür zuschlagen hörte. Da sie nicht länger auf dem Sofa sitzen und Trübsal blasen wollte, klappte sie ihr Buch zu, in dem sie gelesen hatte, ohne auch nur ein Wort aufzunehmen, und rief Annika.

Gleich darauf erschien ihre Tochter in einer knallengen Jeans, einem bunten Shirt und mit einer komplizierten Flechtfrisur.

»Hübsch siehst du aus.« Corinna versuchte, die Sorgenfalten von ihrer Stirn zu vertreiben und zu lächeln. »Bereit zum Abmarsch?«

»Klar. Hast du an ein Buch für Tante Martha gedacht?«

Corinna nickte und klopfte auf ihre Handtasche, an deren Außenseite sich die Umrisse eines dicken Buches abzeichneten. »Den neuesten Thriller. Martha wird ihn lieben.«

Corinna arbeitete in der Stadtbücherei von Waldbronn; groß war das Angebot dort nicht, es gab nur zwei kleine Räume im Untergeschoss des Rathauses. Der eine beherbergte Erwachsenenliteratur, im anderen waren Kinder- und Jugendbücher zu finden. Da sie von jeher ein Bücherwurm gewesen war, liebte sie ihre Arbeit. Tante Martha teilte ihre Leseleidenschaft, und weil sie aufgrund ihres Alters und ihres Gesundheitszustands nur noch selten aus dem Seniorenheim herauskam, brachte Corinna ihr bei jedem Besuch die aktuellsten Bücher und Neuerscheinungen mit.

Draußen war es frostig. Feuchter Nebel lag wie eine Decke über Waldbronn, hüllte die Baumspitzen und Dächer ein. Der beginnende November machte seinem Namen alle Ehre. Es waren nicht viele Menschen unterwegs, die meisten schienen sich lieber drinnen im Warmen aufzuhalten.

In ihren dicken Winterjacken, die sie das erste Mal in dieser Saison aus dem Schrank geholt hatten, marschierten sie durch die kleine Stadt. Annika hatte sich einen mehrere Meter langen bunten Schal mit Glitzerfäden, den sie selbst gestrickt hatte, umgebunden, sodass man ihr hübsches Gesicht nur ab Nasenhöhe erkennen konnte.

Die Hände in die Jackentaschen vergraben murmelte sie, nachdem sie eine Weile in einträchtigem Schweigen nebeneinanderher gegangen waren: »Mit Papa läuft es nicht so gut, was?«

Corinna verspürte einen Stich im Herzen. Sowohl Heiko als auch sie versuchten natürlich, das, was in der Familie gerade vor sich ging – wie sollte man es nur benennen? –, vor ihrer Tochter zu verbergen. Aber sie hätten wissen müssen, dass dies vergebliche Liebesmüh war.

»Wie meinst du das?«, fragte Corinna, um Zeit zu schinden, in der sie ihre Gedanken sortieren konnte.

Annika blieb stehen und sah sie empört an. Ein gelbes Herbstblatt flog durch die Luft und landete neben ihren Füßen. »Ich bin kein kleines Kind mehr und doof bin ich auch nicht. Denkst du, ich merke nicht, was abgeht? Papa ist kaum noch da. Er geht am Feiertag arbeiten! Wo gibt’s denn so was?«

Corinna legte den Arm um ihre Tochter und zog sie zu sich heran. »Ich weiß, Schnecki, das ist nicht schön. Papa und ich haben wohl ein paar Probleme im Moment …« Sie brach ab und biss sich auf die Lippen; sie wusste nicht, wie viel sie einer Dreizehnjährigen erzählen sollte. Sie schreckte ja selbst davor zurück, sich einzugestehen, was mit Heiko los war. Der Gedanke war zu schmerzhaft. Vor ihren Augen ging alles kaputt, was ihr wichtig war: ihre Familie, die Sicherheit und Geborgenheit ihres Heims.

Sie verkrampfte ihre Hände, die unsichtbar in den Manteltaschen steckten, und atmete tief die kalte Luft ein, so als müsse sie Kraft schöpfen, weiterzugehen.

»Kriegt ihr das wieder hin?« Annika sah sie von der Seite an, während sie durch das braune und gelbe Laub stapften, das den Gehweg bedeckte. Corinna spürte die Angst im Blick ihres Kindes. Sollte sie sie beruhigen oder Klartext reden?

»Mach dir keine Gedanken«, sagte sie und drückte Annika noch einmal an sich. »Jetzt machen wir uns erst mal einen schönen Nachmittag und genießen es, dass wir heute frei haben.«

Sie passierten den Bach, der sich durch Waldbronn schlängelte. Nebel waberte über dem Wasser, ein weißlicher Dunst.

»Die letzten Jahre haben wir am ersten November immer mit unseren Weihnachtsvorbereitungen angefangen, stimmt’s, Mama?« Annika lehnte sich über das Geländer einer kleinen Brücke und folgte mit den Augen dem Lauf des Baches. »Weil wir immer sagten, wenn wir uns erst ab dem ersten Advent auf Weihnachten einstimmen, haben wir so wenig davon. Die Zeit vergeht so schnell. Wollen wir es auch dieses Jahr so machen? Ich meine, in den nächsten Tagen mit Backen und Schmücken und Basteln anfangen, damit wir die Vorweihnachtszeit so richtig lange auskosten können?«

Corinna sah in die leuchtenden blauen Augen ihrer Tochter und versuchte, die trüben Gedanken zu verscheuchen. Ihr war so gar nicht festlich zumute. Ihr Mann entfernte sich immer mehr von ihr, sie wollte im Grunde gar nicht wissen, was er abends trieb oder mit wem er sich traf. Aber Annika sah sie so bittend an, dass ihr das Herz weich wurde. Sie beschloss, ihr ihren Wunsch zu erfüllen. Annika hatte es verdient, dass etwas Fröhlichkeit ins Haus zurückkehrte.

»Von mir aus«, stimmte sie lächelnd zu. »Läuten wir die Vorweihnachtszeit ein.«

»Vielleicht bekommt Papa dann auch wieder bessere Stimmung?« Annika hob ein feuerrotes Blatt auf und ließ es in den Bach segeln, wo es träge davonschwamm.

Das bezweifle ich, dachte Corinna. Munter fragte sie: »Und was willst du als Erstes tun? Das Haus dekorieren?«

»Ich hätte gerne ein kleines Bäumchen für mein Zimmer«, verkündete Annika feierlich. »Und zwar in … Pink!«

Corinna musste lachen. »In Pink?«

»Ja, genau. Ein stylisches kleines Bäumchen in Pink. Kaufst du mir eins?«

»Von mir aus, Schnecke.«

»Und ich möchte ganz viel Deko zum Aufhängen kaufen oder selbst basteln. Sterne, Girlanden, Glocken. Ich will den absoluten Weihnachts-Overkill, Mama. Unser Haus soll das abgefahrenste in der ganzen Straße sein. Die Leute werden stehen bleiben und es fotografieren. Und sie werden sagen: Die Mohrs, die wissen, wie man feiert.«

Bei der Vorstellung schüttelte sich Corinna vor Lachen. »Fantasie hast du, das muss man dir lassen.«

»Wieso Fantasie? Das wird bald alles Realität sein. Und ich möchte ganz viel backen. Ein Dutzend Sorten Weihnachtsgebäck. Hilfst du mir, schöne Rezepte zu finden?«

»Ja, natürlich. In der Bücherei haben wir auch viele Backbücher, da werden wir mit Sicherheit fündig.«

»Ich will die ganzen Klassiker backen«, schwärmte Annika. »Zimtsterne, Vanillekipferl, Kokosmakronen, Spritzgebäck … und Kekse mit rosa Zuckerguss und bunten Perlen. Lass uns auch Tante Marthas Zimmer im Seniorenheim dekorieren. Es sieht immer so langweilig aus.«

»Willst du ihr auch ein pinkfarbenes Bäumchen kaufen?«

»Dafür ist sie zu alt«, erklärte Annika. »Sie bekommt was Klassisches.«

Inzwischen hatten sie den Ort durchquert und sahen das Seniorenheim vor sich. Es war ein großes Gebäude mit zwei Flügeln, das inmitten eines kleinen Parks lag. Dieser jedoch wirkte etwas trist, die Bäume waren alle kahl, die Spitzen der Äste verschwanden im milchigen Nebel.

Annika sprach noch immer über Gebäcksorten und Engel, die sie selbst basteln wollte, als sie bereits den Eingangsbereich des Heims betreten hatten. Wie immer roch es steril und nach Putzmitteln, und Corinna versuchte, das Gefühl der Trostlosigkeit zu verdrängen, das sie überkam.

Kapitel 2

In der Eingangshalle, in der vereinzelt alte Menschen allein oder zu zweit saßen, stand wohl schon länger ein ausgehöhlter Kürbis mit einer Fratze auf dem Empfangstresen. Durch die Öffnungen für Augen und Mund erkannte man bereits einen grauen Pelz aus Schimmel, der sich durch das Innere zu ziehen schien.

»Hallo, Frau Mohr«, begrüßte sie die Empfangsdame, »hallo, Annika.« Sie waren seit Jahren hier bekannt. Auch Corinnas und Tabeas Mutter hatte ihre letzten Lebensjahre hier in der Seniorenresidenz verbracht, bevor sie vor achtzehn Monaten im Alter von siebzig Jahren gestorben war. Seitdem fühlte sich Tante Martha oft einsam, jeder Besuch eines ihrer verbleibenden Familienmitglieder war ein Highlight für sie.

»Hallo, Frau Ludwig«, grüßte Corinna.

Im Vorbeigehen beugte sich Annika dicht zu dem Kürbis. »Ich befürchte, der ist schon total schimmlig im Innern, Frau Ludwig. Zeit, ihn auf den Kompost zu schmeißen und die Weihnachtsdeko aufzustellen.«

Die Empfangsdame sah sie irritiert an, während Corinna leicht den Kopf schüttelte. Ihre Tochter zwinkerte ihr nur verschwörerisch zu.

»Äh, du hast recht«, murmelte Frau Ludwig und beugte sich über den Kürbis.

Sie ließen den Empfangsbereich hinter sich und fuhren im Aufzug hinauf in den zweiten Stock. Einige Türen standen offen und sie sahen ein paar Bewohner in ihren Zimmern sitzen, die meisten untätig oder bloß aus dem Fenster schauend. Corinna verspürte immer ein wenig Traurigkeit, wenn sie die einsamen Menschen sah, die einfach warteten, wie die Zeit verging.

Zum Glück gehörte Tante Martha noch zu den aktiveren Bewohnern. Auch ihre Zimmertür stand offen, sodass sie etwas von dem Treiben auf dem Gang mitbekam. Sie saß in ihrem Lieblingssessel, einem alten, mit violettem Samt bezogenen Stück, das sie von zu Hause mit ins Altenheim genommen hatte. Da sie wie Corinna eine Leseratte war, verbrachte sie viele Stunden täglich damit, hier zu sitzen und zu schmökern.

»Überraschung, Tante Martha!«, rief Annika, zog ihre dicke Jacke und den Schal aus, warf alles achtlos auf das Bett und schlang den Arm um ihre Tante.

Marthas Gesicht leuchtete auf. Sie hatte rosige, mit Äderchen durchzogene Wangen und weißes flaumiges Haar, das an die zarten Federn eines Vogels erinnerte. Sie hatte sich eine gehäkelte Decke um die Schultern gelegt und ein dickes Buch auf dem Schoß.

»Das freut mich, dass ihr da seid«, sagte sie glücklich. »Heute ist so ein trister Tag mit dem ganzen Nebel vor den Fenstern, aber jetzt fühle ich mich viel munterer.«

»Hallo, Martha.« Corinna küsste ihre Tante und legte ihre Jacke ebenfalls auf dem Bett ab. Sie zog zwei Stühle für sich und ihre Tochter heran. »Wie geht es dir heute?«

»Wie soll es einer alten Schachtel mit vierundachtzig schon gehen?« Martha zog sich die Decke enger um die Schultern, als friere sie, dabei war der Raum gut aufgeheizt. »Mein Rheuma plagt mich wieder, und mir ist heute den ganzen Tag schon so schwindlig. Heute Mittag wäre ich auf dem Weg in den Speisesaal beinahe gestürzt, wenn mich der nette junge Pfleger nicht im letzten Moment aufgefangen hätte.«

»Vielleicht sollte der Arzt morgen nach dir schauen«, meinte Corinna besorgt.

Tante Martha winkte ab. »Ach was. Wenn ich bei jedem Zipperlein den Arzt holen würde, könnte er gleich hier bei mir einziehen.«

Annika kicherte. Martha erinnerte sich an das Buch, das noch auf ihren Knien lag, und reichte es Corinna.

»Das kannst du heute wieder mitnehmen. Ich habe es gerade eben ausgelesen.«

Corinna steckte den Roman mit dem pastellfarbenen Cover und dem goldgedruckten Titel namens Broken Hearts in December in ihre Handtasche.

»Hat es dir gefallen?«

Martha seufzte. »Ich weiß, das Buch steht auf der Bestsellerliste, aber ich weiß nicht … Müssen Liebesromane heutzutage immer englische Titel haben? Und dann immer das gleiche Schema – eine junge Frau trifft einen höllisch attraktiven Mann, der sie schlecht behandelt. Trotzdem verliebt sie sich in ihn. So etwas hätte mir früher, als ich noch jung war, nie passieren können. Als Frau möchte man doch umsorgt und gut behandelt werden. Wo bleibt denn der Stolz dieser Romanfiguren?«

»Du solltest Rezensionen auf Amazon schreiben«, schlug Annika lachend vor. »Oder einen Bücherblog im Internet.«

»Einen Bücherblog? Ich habe keine Ahnung, was das sein soll, Schätzchen.«

Annika begann mit einer weitschweifigen, mit technischen Begriffen gespickten Erklärung, der Martha jedoch kaum folgen konnte. Corinna holte schnell ein anderes Buch aus ihrer Tasche, um den Monolog ihrer Tochter abzukürzen.

»Schau mal, Martha, ich habe dir ein neues Buch mitgebracht. Ein Thriller aus Frankreich, dort wird er in den höchsten Tönen gelobt.«

Martha betrachtete das rot-schwarze Cover. »Sehr schön, vielen Dank, mein Herzchen. Nach diesen ganzen Schmonzetten ist mir auch mal wieder nach Mord und Totschlag und viel Blut zumute. Möchtet ihr was essen oder trinken?«

»Krieg ich eine heiße Schokolade?«, fragte Annika. »Und diese leckeren Kekse vom letzten Mal?«

»Natürlich. Du kennst ja den Weg zum Aufenthaltsraum. Dort findest du alles.«

Annika verschwand den Flur hinab, und Martha und Corinna blieben allein im Zimmer zurück.

»Du siehst bedrückt aus«, befand Martha und sah ihre Großnichte liebevoll an. »Geht es dir nicht gut?«

»Alles gut«, versicherte Corinna, wandte aber den Blick ab. Sie stellte ein umgefallenes Buch in Marthas Bücherregal wieder in die Reihe. Auch diesen Schrank hatte ihre Tante aus ihrer Wohnung, die sie jahrzehntelang bewohnt hatte, mit hierhergebracht. Bücher aus vielen Epochen reihten sich aneinander. Für mehr persönliche Dinge als den Samtsessel und den Bücherschrank war kein Platz in ihrem kleinen Zimmer. Ansonsten gab es nur noch die zweckmäßige Einrichtung, die in jedem Zimmer des Heims gleich war – ein Bett, ein Nachttisch, ein Kleiderschrank, ein kleiner Tisch und zwei Stühle. »In der Bücherei ist nur viel zu tun im Moment. Aber das kenne ich ja schon.«

»Wie geht es Tabea?«

»Gut. Sie lässt dich grüßen. Sie möchte wahrscheinlich am Wochenende mal bei dir vorbeischauen. Heute ist sie mit Raphael unterwegs.«

»Und was macht Heiko?« Corinna hatte den Eindruck, als ob Marthas Augen schärfer waren, als man ihr in ihrem Alter zutraute. Forschend ruhten sie auf ihr.

Corinna seufzte. »Er muss heute ein bisschen Arbeit nachholen.«

Kurz überlegte sie, ob sie Martha ihr Herz ausschütten sollte. Ihre Tante war schon immer eine gute Zuhörerin gewesen. Aber sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte. Mit dem Verdacht, den sie Heiko gegenüber hegte, ja, sie würde es fast Gewissheit nennen? Mit seiner ständigen Abwesenheit, seinen Ausreden, seiner Gereiztheit? Mit ihrer eigenen Traurigkeit, der Angst, die ständig still in ihr schwelte? Angst, dass ihr Leben, wie es ihr vertraut und lieb war, bald der Vergangenheit angehören würde?

Doch selbst wenn sie ihre Gefühle so einfach in Worte hätte fassen können – ihr blieb gar keine Zeit, weit auszuholen. Annika kam zurück ins Zimmer, beladen mit einem Tablett, auf dem drei Tassen dampfender heißer Schokolade mit einem Berg Schlagsahne und ein Teller mit Schokokeksen standen.

»Du verwöhnst uns«, sagte Martha dankbar und knabberte an einem Keks.

»Bald wird es noch mehr Kekse geben«, verkündete Annika, den ganzen Mund voller Gebäck. »Denn ab heute ist die Vorweihnachtszeit im Hause Mohr offiziell eröffnet. Ich werde dekorieren und backen, was das Zeug hält. Jetzt ist November, da darf man das.«

Martha lächelte, während Corinna gedankenversunken ihre Sahne von der Schokolade löffelte. »Das ist eine tolle Idee. Ich habe noch einige Backbücher von früher.« Sie deutete mit einem Keks in der Hand auf das Bücherregal. »Du darfst sie dir gerne ausleihen.«

Annika setzte an, ausführlich zu erklären, dass man Rezepte heutzutage aus dem Internet nahm, brach dann aber ab und sagte schlicht: »Das … das ist toll, Tante Martha. Ich würde mir deine Bücher gerne mal anschauen. Und Deko bringen wir dir das nächste Mal auch mit, nicht wahr, Mama?«

Corinna lächelte über Annikas Begeisterungsfähigkeit und fragte halb im Scherz: »Hättest du Interesse an einem pinkfarbenen Bäumchen?«

Martha lachte. »Ja, warum nicht? In meinem Alter wird man sowieso als wunderlich angesehen, da darf ich mir auch ein rosa Bäumchen ins Zimmer stellen. Oder vielleicht in Hellblau? Mit weißen Glitzerflocken darauf? Das fände ich schön.«

Annika zwinkerte ihr zu. »Ich sehe schon, wir beide verstehen uns. Wir sind die Influencer unserer Familie.«

Die Dämmerung senkte sich früh über Waldbronn. Nach dem Abendessen saßen Corinna und Annika im Bademantel auf dem Sofa, eng aneinander gekuschelt, und suchten in einem weihnachtlichen Internetshop zwei kleine Bäumchen heraus, eins in Pink, das andere in Hellblau.

»Die sind genau richtig«, meinte Annika begeistert. »Klick auf Bestellen, Mama.«

Corinna lächelte. »Na ja, wenigstens sind sie billig.«

Annika pustete in ihren noch heißen Marzipantee und zog die Füße, die in dicken Kuschelsocken steckten, in den Schneidersitz. »Wenn ich die Bäumchen geschmückt habe, werden sie wunderschön und stylisch aussehen, das wirst du dann schon merken. Wenn ich Videos davon auf TikTok stelle, bekomme ich todsicher unzählige Likes.«

»Eine größere Auszeichnung gibt es wohl nicht«, zog Corinna ihre Tochter auf, doch die verdrehte bloß die Augen.

Als sie von ihrem Besuch bei Tante Martha zurückgekehrt waren, hatten sie nachgesehen, ob Heiko wieder da war. Und obwohl es inzwischen spät war, war er immer noch nicht wiederaufgetaucht. Corinna versuchte, die heimelige Stimmung mit ihrer Tochter zu genießen, doch sie ertappte sich dabei, wie sie alle paar Minuten auf die Uhr sah. Hoffentlich kam er nicht wieder erst mitten in der Nacht heim. Hoffentlich kam er überhaupt heim. Heute würde sie mit ihm reden und sich nicht vertrösten lassen.

Sie ertrug es kaum noch, im Ungewissen darüber zu sein, was hinter ihrem Rücken und doch so offensichtlich für sie ablief.

Als sie die Haustür hörte, wurde ihr heiß und kalt gleichzeitig. Er war da. Sie trank ihren Marzipantee aus und gab ihrer Tochter einen Gute-Nacht-Kuss auf den Scheitel.

»Ab ins Bett mit dir, Zuckerschnute. Morgen ist Schule, da musst du ausgeschlafen sein.«

Annika murrte zwar gewohnheitsmäßig ein bisschen, verschwand dann aber in ihrem Zimmer.

Im selben Moment steckte Heiko seinen Kopf zur Tür herein. Ihr fiel auf, dass er den weinroten Kaschmirpullover trug, den sie ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Sie hatte immer gefunden, dass er darin noch attraktiver aussah als sowieso schon, und plötzlich kam sie sich armselig vor in ihrem zitronengelben Bademantel und den dicken Wollsocken, das Gesicht blass und ungeschminkt, die braunen Locken noch feucht vom Duschen.

»Hallo«, sagte sie leise und sah ihm entgegen. Er kam langsam, fast unschlüssig näher und setzte sich zu ihr auf das Sofa, einen so großen Abstand haltend, dass locker noch jemand zwischen sie gepasst hätte.

»Verrätst du mir bitte endlich mal, wo du die ganze Zeit steckst? Jeden Abend, jeden freien Tag?« Sie war froh, sich halbwegs unter Kontrolle zu haben, ihre Stimme zitterte nur ganz leicht.

Heiko rieb sich müde die Augen. »Ich … es ist so, dass … Also, ich …«

Sein schuljungenhaftes Herumgedruckse erbitterte sie. »Ich sage dir, wo du deine Zeit verbringst. Beziehungsweise mit wem. Du hast seit geraumer Zeit eine Affäre. Ich rieche sie an dir. Auch jetzt wieder.«

»Die Affäre riechst du?«, fragte er und sah sie plötzlich an.

»Die Frau natürlich«, stieß sie hervor. »Ich rieche ihr Parfum.«

Heiko zog die Tischdecke, die mit Hagebutten bedruckt war, akribisch zurecht. Das war eine Marotte von ihm, in Momenten, die seine gesamte Konzentration erforderten, etwas geradezurücken – die Tasse auf der Untertasse, die Blumen in der Vase, die Kissen auf dem Sofa, oder die Tischdecke, so wie jetzt.

»Du irrst dich«, sagte er und sie erkannte ein Flackern in seinem Blick, das sie beunruhigte. »Es ist keine Affäre.«

Einerseits fiel ihr ein Stein vom Herzen, andererseits sagte ihr der Verstand, dass es keinen Grund zur Entwarnung gab. Sie hatte recht.

»Es ist mehr als eine Affäre.«

Sie hatte das Gefühl, alles Blut würde in ihren Magen sacken und dort einen schmerzhaften Klumpen bilden. Sie musste sich verhört haben, das konnte nicht wahr sein … Bis vor Kurzem waren sie eine vollkommen normale, glückliche Familie gewesen … Ein zufriedenes Elternpaar, das sich liebevoll um ihre hübsche, aufgeweckte Tochter kümmerte …

Heikos Blick ruhte auf ihr und sie hatte fast den Eindruck, dass ein bittender Ausdruck darin lag. Was wollte er? Dass sie ihn mir nichts, dir nichts freigab und ihm ihren Segen gab, mit einer anderen Frau glücklich zu sein?

»Die große Liebe, was?«, brachte sie hervor, die Stimme so heiser, dass fast nur ein Krächzen zu hören war.

Heiko schwieg, was Antwort genug war.

»Wer ist es?«

»Eine Mitarbeiterin aus dem Büro. Sie heißt Simona.«

In Corinnas Kopf schrillten alle Alarmglocken. »Von der hast du doch mal erzählt, oder? Als sie neu bei euch angefangen hat? Ist es die?«

»Ja, sie ist es.«

Corinna ertrug es plötzlich nicht länger, neben ihm auf dem Sofa zu sitzen. Sie stand auf und ging im Wohnzimmer hin und her. Der Schein der Straßenlaternen drang matt ins Zimmer und aus der Wohnung ihrer Schwester im oberen Stockwerk hörte sie Schritte und leise Musik. Das erschien ihr alles so unwirklich, als lebte sie plötzlich in einer Luftblase, in der sie von allem abgeschnitten war.

»Und wie soll es jetzt weitergehen? Was wird jetzt? Was stellst du dir denn vor? Denkst du auch an Annika und … mich?«

»Ja«, sagte er, nun fast gereizt. »Aber was soll ich denn tun? Es geht nicht mehr mit uns, Corinna, das kann ich leider nicht ändern. Ich habe mich in Simona verliebt, das war nicht geplant, das kannst du mir glauben. Aber es ist nun einmal so. Ich kann nicht einfach weitermachen wie bisher und glückliche Familie spielen.«

»Wir waren bis jetzt eine glückliche Familie«, stellte sie in scharfem Ton klar.

Heiko seufzte und legte den Kopf gegen die Sofalehne. »Wie auch immer. Ich kann so nicht weitermachen und will es auch nicht.«

»Wie stellst du dir das alles konkret vor?« Corinna ging hektisch auf und ab, ihr Herz trommelte und ihre Hände waren feucht. »Hier bei uns wohnen wie im Hotel, nach Belieben ein- und ausgehen und deine neue Beziehung pflegen?«

»Nein. Ich ziehe morgen aus.«

Jede neue Eröffnung von ihm machte alles nur noch schlimmer. Corinna spürte, wie ihre Welt immer mehr in sich zusammenfiel, bald würde nichts mehr davon übrig sein. Sie fühlte sich hilflos, konnte nichts dagegen tun. Heiko traf alle Entscheidungen, sie konnte nur stumm danebenstehen.

»Wohin?«, fragte sie mit gepresster Stimme.

»Zu Simona.«

»Und mit uns ist es einfach so aus und vorbei? Nach fünfzehn Jahren Ehe einfach so? Du tauschst mich gegen ein jüngeres Modell aus? Sie ist bestimmt jünger als ich, oder?«

»Ja, aber das spielt keine Rolle. Und ich habe mir diesen Schritt lange überlegt, Corinna. Aber gegen meine Gefühle bin ich machtlos.«

»Schade, dass meine Gefühle oder die deiner Tochter so überhaupt keine Rolle spielen«, stieß sie hervor. Sie ertrug dieses Gespräch nicht länger. Sie brachte ihre Teetasse in die Küche, spülte sie mit zitternden Händen kurz aus, ohne wahrzunehmen, was sie eigentlich tat, schaute noch einmal nach ihrer schlafenden Tochter und legte sich dann in ihr Bett.

Sie bebte am ganzen Körper. Sie dachte, sie sollte sich wenigstens die Zähne putzen, aber sie brachte die Energie dafür nicht auf. Durch ihren Kopf wirbelte ein Sturm an Gedanken und ihr Herz brannte. Ihre Augen waren gerötet, doch es wollten keine Tränen kommen.

So lag sie lange regungslos unter der Decke, völlig trostlos in ihrem Schmerz, bis sie irgendwann ihren Mann hereinhuschen hörte. Ohne das Licht anzuschalten zog er sich aus, warf seine Kleider über seinen Stuhl und kroch zu ihr ins Bett. Er seufzte tief, bald darauf hörte sie an seinen gleichmäßigen Atemzügen, dass er eingeschlafen war.

Jetzt endlich liefen ihr die Tränen die Wangen herab und versickerten im Kopfkissen. Sie hätte Heiko gerne berührt, sich an ihn geschmiegt, ihn gebeten, sie nicht zu verlassen, es noch einmal miteinander zu versuchen. Aber sie spürte deutlich, dass es zwecklos war.

Es war sehr früh am nächsten Morgen, noch dunkel, als der Wecker seines Handys piepste und er aus dem Bett sprang. Im trüben Licht der Nachttischlampe nahm er seine Reisetasche aus dem Schrank und packte seine Kleider ein. Corinna beobachtete ihn aufgewühlt vom Bett aus.

»Willst du nicht noch mit Annika reden, bevor du gehst?«, fragte sie leise. »Ihr alles erklären? Dich von ihr verabschieden? Sie wird schockiert sein, wenn sie merkt, dass du bei Nacht und Nebel ausgezogen bist.«

Heiko hielt kurz inne, zog dann aber rasch die Kommodenschublade auf, holte seine Socken heraus und stopfte sie in die Tasche.

»Red du mit ihr«, sagte er kurz.

Sie gab ein Geräusch von sich, das zwischen Lachen und Weinen lag. »Das ist nicht dein Ernst, du Feigling. Ich allein soll jetzt meinen Kopf dafür hinhalten, dass du uns verlässt?«

Heiko gab keine Antwort, und in diesem Moment hasste sie ihn. Er warf sich seine Reisetasche über die Schulter, verließ das Schlafzimmer und zog leise die Tür hinter sich zu.

Kapitel 3

Als ihr eigener Wecker zwei Stunden später klingelte, fand sie kaum die Energie, aufzustehen. Am liebsten wäre sie den ganzen Tag im Bett geblieben und hätte geweint. Sie fühlte sich wie kurz vorm Weltuntergang; und tatsächlich, ihre eigene kleine Welt war ja gerade dabei, auseinanderzubrechen. Vielleicht würde für sie nichts mehr je wieder so sein wie vorher.

Da sie sich um Annika kümmern und arbeiten musste, zwang sie sich schließlich aus dem Bett. Ein Blick in den Spiegel sagte ihr, dass sie in einem gespenstischen Zustand war: weiß wie ein Laken, die Augen verschwollen und rot geädert.

Zum Glück war Annika morgens immer noch so im Halbschlaf und mit sich selbst beschäftigt, dass ihr nicht auffiel, wie ihre Mutter aussah. Nach einem knappen »Morgen« schwang sie sich auf einen Hocker am Frühstückstresen und schüttete sich eine Portion Bananenmüsli in die Schüssel, die Corinna mechanisch bereitgestellt hatte.

»Wenn ich nach der Schule zu dir in die Bücherei komme, gucke ich dort auch mal nach Backbüchern mit Weihnachtsrezepten«, nuschelte Annika mit vollem Mund. An den Tagen, an denen die Bücherei bis abends geöffnet hatte, ging sie nach dem Unterricht immer zu ihrer Mutter, um in der Bibliothek Hausaufgaben zu machen. Sie liebte es, im Hinterzimmer zu sitzen und mit halbem Ohr mitzubekommen, welche Kunden gerade vorbeikamen und welche Bücher sie ausliehen.

»Mach das.« Zu mehr als dieser einsilbigen Antwort konnte Corinna sich nicht durchringen. Ihr Hals fühlte sich wie zugeschnürt an vor Trauer, sie brachte außer ein paar Schlucken Kaffee nichts hinunter. Eigentlich wollte sie Annika schon seit mehreren Tagen erzählen, dass sie eine winterliche/weihnachtliche Buchausstellung plante, in der Back- und Bastelbücher einen großen Raum einnahmen, aber sie brachte die Kraft dazu nicht auf.

»Papa schon weg?«, fragte Annika und spülte ihr Müsli mit einem großen Schluck Kakao hinunter.

»Mhm.« Corinna war erleichtert, dass diese Antwort ihre Tochter zufriedenzustellen schien. Die Dreizehnjährige hatte sich recht schnell daran gewöhnt, dass ihr Vater nur noch sporadisch bei ihnen ein- und ausging. Ihr graute davor, Annika sagen zu müssen, dass Heiko ausgezogen war. Dass er sie verlassen hatte für eine andere Frau. Wieder stieg Wut wie eine heiße Flutwelle in ihr auf. Heiko war verschwunden, ohne mit seiner Tochter zu sprechen, und sie als Mutter musste die Scherben zusammenkehren und ihr Kind trösten, wo sie doch selbst zerfressen von Schmerz war.

Aber jetzt, so früh am Morgen, war nicht die richtige Zeit, um mit Annika zu sprechen.

Corinna sah auf die Küchenuhr, die über der Spüle hing. »Beeil dich, du musst los, Schnecke. Du willst den Bus nicht verpassen. Schreibt ihr nicht heute eine Mathearbeit?«

Annika verzog angeekelt das Gesicht. »Es wäre kein Schaden, heute den Bus zu verpassen.«

Sie rutschte von ihrem Hocker, verschwand im Bad, um sich die Zähne zu putzen und sich die Haare zu stylen. Kurz darauf kam sie wieder in einer kurzen Latzhose, die sie über einer geringelten Strumpfhose und einem gestreiften Langarmshirt trug. Die dunkelblonden Locken hatte sie sich zu einem hohen Zopf gebunden, der ihr in Wellen in den Nacken fiel. Sie war zum Anbeißen süß, und Corinna wurde wehmütig, wenn sie daran dachte, wie viel Kummer Heiko ihrem Kind zumutete.

»Ciao, Mama.«

»Tschüss, meine Süße. Bis heute Nachmittag.«

Als Annika weg war, räumte sie das Geschirr in die Spülmaschine und zog sich selbst an. Sie griff zur erstbesten Jeans und dem ersten hellblauen Pullover, der ihr in die Hände fiel. Ihre kurzen braunen Locken standen widerspenstig ab, ein Glättungsversuch mit Gel schlug fehl. Mit Make-up versuchte sie, ihr Gesicht in einen halbwegs präsentablen Zustand zu bringen, doch wahrscheinlich würde ihr jeder ansehen, dass es ihr nicht gut ging.

Raphael, Tabeas Lebensgefährte, arbeitete zusammen mit ihr in der Bücherei. Eigentlich war er zuerst ihr Mitarbeiter gewesen, bevor er über sie Tabea kennengelernt hatte. Auf einem Buchflohmarkt waren sich die beiden begegnet und seitdem ein Herz und eine Seele. Als Corinnas und Tabeas Mutter ins Seniorenheim zu Tante Martha gezogen war, hatten die beiden Schwestern ihr Elternhaus übernommen. Die untere Etage war für Corinna, Heiko und Annika vorgesehen, oben wohnten Tabea und Raphael.

Corinna zog ihren Mantel an, nahm ihre Tasche und wartete im Treppenhaus auf Raphael. Da sie zusammenarbeiteten und -wohnten, war es zweckmäßig, auch eine Fahrgemeinschaft zu bilden. Aus der oberen Wohnung war nichts zu hören, was nicht überraschend war. Mit Pünktlichkeit hatte Raphael es nicht so.

Corinna wurde ein wenig ungeduldig. Heute Morgen fand in der Bücherei ein Treffen der »Bücherzwerge« statt, einer Gruppe von Müttern mit ihren Kleinkindern, denen Corinna einmal wöchentlich aus Bilderbüchern vorlas, was bei den Kleinen gut ankam. Da in neun Tagen Sankt Martin war, hatte Corinna vor, zuerst ein schönes Buch zum Thema vorzulesen und danach einfache Laternen zu basteln. Das Transparentpapier dafür musste sie noch zuschneiden, doch die Zeit lief ihr allmählich davon. Wieso konnte Raphael nicht einmal zeitig aufstehen?

Sie stapfte die Treppe hoch und läutete. Es dauerte eine Weile, bis Tabea ihr im Nachthemd öffnete, die Haare ganz verstrubbelt.

»Morgen, Schwesterherz. Was verschafft uns die Ehre deines frühen Besuchs?«

»Früh? Schau mal auf die Uhr. Ich warte seit zwanzig Minuten auf Raphael. Heute kommen die Bücherzwerge und wir müssen noch den Bastelkram richten, bevor wir eröffnen.«

Tabea schaute auf die Uhr und schlug erschrocken die Hand vor den Mund. »Oh nein … wir haben wieder mal …«

»Verschlafen«, ergänzte Corinna.

»Raphael! Raus aus den Federn!«, rief Tabea in ohrenbetäubender Lautstärke durch die Wohnung. Dann begann sie sich in aller Seelenruhe ein Frühstück aus Obst und Croissants zuzubereiten und sich einen Kaffee zu machen. Tabea war nie in Eile. Da sie als Graphikdesignerin von zu Hause aus arbeitete, konnte sie sich ihre Zeit einteilen und aufstehen, wann sie wollte.

»Setz dich doch! Kaffee? Oder einen frisch gepressten Orangensaft, Schwesterchen?«

Corinna schüttelte den Kopf, setzte sich aber auf die rustikale Eckbank, die in der Küche stand. Hier herrschte wie in der übrigen Wohnung das blanke Chaos. Frisch gewaschene Wäsche stand in Körben auf jeder freien Fläche, weil noch niemand die Zeit gefunden hatte, sie zusammenzufalten und einzuräumen. Da Raphael wie Corinna ein Bücherwurm war – schließlich war er mit seinem Beruf als Bibliothekar seiner buchstäblichen Berufung gefolgt – lagen auf jedem Tisch, jedem Stuhl, in jeder Ecke stapelweise Fantasybücher.

Endlich tauchte er auf; im Gehen zog er sich ein verwaschenes Shirt über den Kopf, der Reißverschluss seiner an den Knien zerrissenen Jeans stand noch offen, was ihn nicht störte. Das blonde, wuschelige Haar war ungekämmt. »Schönen guten Morgen, Chefin. Keine Angst, das Zeug für die Laternen kriegen wir mühelos noch vorbereitet, ich bin Profi im Schnell-und-effizient-Arbeiten, das weißt du doch.«

»Ich arbeite aber lieber in Ruhe und entspannt.« Corinna sah von ihrem Platz auf der Eckbank zu, wie Raphael sich erst mal zwei dicke Nutellabrote schmierte, und seufzte. Ihr Blick schweifte zum Fensterbrett, wo sich unzählige kleine Tontöpfe mit emporsprießenden Pflänzchen aneinanderdrängten.

»Na, deine Hanfplantage scheint zu gedeihen«, sagte sie mit einem Zucken im Mundwinkel. »Wann darf man denn mit ersten Erzeugnissen rechnen?«

Tabea wurde glühendrot im Gesicht, während Raphael wie aus der Pistole geschossen erwiderte: »Das ist kein Hanf. Das habe ich dir doch schon so oft erklärt. Das ist Hopfen. Vom Aussehen her sind sich die beiden Pflanzenarten sehr ähnlich.«

»Hopfen, soso.«

»Ja«, sagte Raphael mit Nachdruck. »Hopfen. Völlig legal.«

Corinna fühlte sich plötzlich zu müde, um das Geplänkel fortzuführen. »Ich warte unten. Kommst du dann bitte?«

Die Bücherei war im Erdgeschoss des Rathauses von Waldbronn untergebracht. Corinna hatte in den letzten Jahren viel Zeit in die Ausstattung und das Erscheinungsbild der Bücherei gesteckt und alles mit viel Liebe gestaltet. Im Eingangsbereich stand ein großer runder Tisch, den sie jeden Monat nach einem bestimmten Motto bestückte. Im Moment war das Thema »Herbst«. Sie hatte buntes Laub gesammelt, kleine Zierkürbisse dazwischen gestellt und viele herbstliche Bücher drapiert: Bastelbücher, Bücher mit wärmenden Suppenrezepten für die kühlere Jahreszeit, Romane und Bilderbücher, auf deren Titelbildern Drachen im Wind flatterten oder ein Sturm tobte.

Durchs Raphaels Trödelei kamen sie recht spät in der Bücherei an, Corinna schaffte es gerade noch, eine Kanne Früchtetee für die Bücherzwerge-Mamas zu kochen und die Bastelmaterialien für die Laternen zu richten, bevor die Frauen mit ihren Kleinkindern schon eintrafen.

Die Beschäftigung der Kleinen und das anschließende Basteln forderten ihr heute alles ab. Sie wünschte, die Zeit würde schneller vorbeigehen und sie könnte sich bald wieder zu Hause verkriechen. Am liebsten hätte sie sich vor der ganzen Welt versteckt, um mit ihrem Kummer allein zu sein. Es war anstrengend, eine fröhliche Miene zur Schau zu tragen, wenn man innerlich fast zerriss.

»Elias hat sein Transparentpapier zerrissen«, teilte ihr eine gestylte Mutter mit. Sie saß entspannt auf einem dicken Kissen mit den anderen Teilnehmern im Kreis, in einer glitzernden schwarzen Strickjacke über hautengen Jeans und UGG-Boots. Ihr Sohn hielt die zerrissenen Laternenstücke in den Händen und machte ein Gesicht, als überlegte er, ob er gleich losbrüllen oder lieber das Papier zusammenknüllen sollte. Er entschied sich für Ersteres.

»Uaaaaah!«, kreischte er schrill und stampfte mit den Füßen auf, sodass er auf die Laterne seiner Sitznachbarin Mia-Sophie trat. Sofort fing auch sie an zu schreien.

»Kannst du nicht besser auf deinen Sohn aufpassen!«, herrschte Mia-Sophies Mutter Elias’ Mutter an. »Jetzt ist unsere schöne Laterne kaputt! Ich habe mir solche Mühe damit gegeben!«

»Na, erlaube mal!«, entrüstete sich Elias’ Mutter. »In welchem Ton sprichst du denn mit mir?«

»Keine Panik«, ging Corinna dazwischen. »Ich schaue mal im Hinterzimmer nach, ob wir noch Transparentpapier haben. Dann basteln wir die kaputten Teile einfach noch mal.«

Raphael grinste sie verschwörerisch an, als sie in das kleine Zimmer ging, das sich hinter dem Anmeldetresen befand. Er saß lässig in einem Lehnstuhl, die Füße auf dem Schreibtisch, den Laptop auf den Knien und bestellte einige Neuerscheinungen. »Ziemlich unentspannt, die Muttis, oder?«

Corinna durchwühlte die Regale nach Bastelpapier. »Ich hasse Basteln. Das Nikolausbasteln im Dezember übernimmst du.«

»Bist du irre? Das kann ich nicht. Man braucht Muttergefühle, um das junge Gemüse zu bespaßen. Die fehlen mir eindeutig.«

Corinna riss Papier aus dem Regal und musterte ihn mit verengten Augen. »Ach ja? Und ich bin zu alt für solche Krabbelgruppen. Meine Tochter ist ja zum Glück aus dem Alter raus, wo man ständig quengelt und heult.«

Raphael gähnte vernehmlich. »Dann streich das Kleinkindbasteln doch.«

»Hm.« Corinna brachte das gefundene Transparentpapier zu den Bücherzwergen. Da die Mütter von Elias und Mia-Sophie nach ihrer Auseinandersetzung nun in ein Gespräch über die besten Kindergärten in der Gegend und die besten Förderungsmöglichkeiten für begabte Kleinkinder vertieft waren, bastelte sie die beiden zerstörten Laternen zähneknirschend selbst.

Am späten Vormittag, als die Vorlese- und Bastelrunde beendet war und sich die Mütter am Ausleihtresen aufreihten, um jede einen Stapel Bilderbücher auszuleihen, war sie völlig erschöpft. Endlich zogen die Frauen, ihre Buggys vor sich herschiebend, von dannen.

Zum Glück war der Rest des Tages ruhig, was vielleicht an dem strömenden Regen lag, der in Rinnsalen an den Fenstern der Bücherei herabfloss. Draußen sah alles grau und verwaschen aus.

»Döner?«, fragte Raphael zur Mittagszeit. Ohne dass sie es abgesprochen hatten, war er immer für die Verpflegung zuständig.

»Von mir aus«, murmelte sie abwesend. Ob sie Heiko anrufen sollte? Ob sie mit ihm sprechen sollte? Aber was sollte sie sagen? Sollte sie ihn um ein Treffen bitten, um miteinander zu reden? Für den Moment war ja eigentlich alles gesagt. Und sie war zu betäubt vor Schmerz, um sich zu überlegen, wie es weitergehen sollte. Sie war so sehr in der momentanen Situation gefangen, dass es ihr schwerfiel, einen Gedanken an nächste Woche oder nächsten Monat aufzubringen.

»Huhu, Erde an Frau Mohn.« Sie zuckte zusammen, als Raphael plötzlich vor ihr stand, Haare und Jacke völlig durchnässt, und ihr einen Döner vor die Nase hielt. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass er die Bücherei überhaupt verlassen hatte.

»Danke.«

Raphael schwang sich auf den Stuhl neben ihr und sie aßen schweigend.

»Alles klar bei dir?«, fragte er irgendwann.

»Hm.« Bei dem Gedanken daran, dass sie Tabea und Raphael demnächst erzählen musste, dass Heiko ausgezogen war, wurde ihr noch schwerer ums Herz. So lange sie die Sache für sich behielt, konnte sie irgendwie damit umgehen. Wenn andere davon wussten, bekäme alles einen offiziellen Charakter. Dann würde es eine unumstößliche Tatsache sein, dass Heiko sie verlassen hatte.

Und Annika … Oh Gott, einen Moment wurde es ihr richtig schwindlig vor Augen, so sehr belastete sie die Vorstellung, mit ihrer Tochter sprechen zu müssen.

In diesem Moment ging auch schon die Glastür zur Bücherei auf und Annika kam, triefend vor Nässe, den Schulrucksack auf dem Rücken und an jeder Hand zwei große Einkaufsbeutel hängend, herein.

»Hey, Mama. Hey, Raphael. Mhm, Döner! Habt ihr für mich auch einen?«

»Klar doch, junge Frau. Döner macht schöner«, antwortete Raphael und reichte ihr grinsend ihr Essen.

»Wirkt bei Männern aber nicht, oder?«, fragte Annika frech, warf ihre nasse Jacke und ihre Taschen hinter den Ausleihtresen und biss herzhaft in den Döner.

»Nein, denn ich bin schön genug«, sagte Raphael scheinheilig.

»Ha, ha«, machte Annika trocken.

Corinna unterbrach das Geplänkel. »Wie war es in der Schule?«

»Wie immer«, nuschelte Annika mit vollem Mund.

»Wie war die Mathearbeit?«

Annika, die gerade den Döner zum Mund führen wollte, erstarrte. »Äh … man wird sehen.«

Corinna konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Also rechnen wir mit dem Schlimmsten. Was hast du übrigens in den Stoffbeuteln?«

»Oh!« Annikas Augen leuchteten auf. »Ich war nach der Schule noch kurz shoppen. Christmas-shoppen! In dem schnuckeligen kleinen Laden an der Ecke Hauptstraße-Kirchstraße, du weißt schon. Die haben schon ein Riesensortiment an Weihnachtssachen. Ich habe massenweise Deko gekauft – für das Wohnzimmer, den Flur, mein Zimmer und für das pinke und das hellblaue Bäumchen!« Sie kramte in den Einkaufstaschen und zog diverse Lichterketten, die sich leider miteinander verknotet hatten, duftende Kerzen, glitzernde Kugeln und silberne Sterne hervor. »Für die Bücherei hab ich auch was. Warte mal …«

Raphael verdrehte die Augen, während Corinna schnell sagte: »Mit Weihnachtsdeko müssen wir hier in der Bücherei aber noch ein, zwei Wochen warten. Die Leute würden es albern finden, wenn ich am zweiten November schon Christbäume aufstelle.«

»Jaja, weiß ich doch«, winkte Annika ab, dann zog sie triumphierend einige purpurrote LED-Kerzen aus einer Tüte. »Die kannst du überall hinstellen. Und da es LEDs sind, fangen nicht sämtliche Bücher an zu brennen, wenn ein Kind sie umschmeißt.«

»Sehr schön, danke, Süße.« Corinna küsste sie auf die noch feuchten Haare, dann machten sie sich zusammen dran, die Kerzen überall zu verteilen. Da es ohnehin ein trüber Tag war, sorgten die Lichter für einen gemütlichen Schimmer.

»Dann krieg ich zweiunddreißig Euro von dir«, verkündete Annika, als sie sich ins Hinterzimmer verzog, um dort Hausaufgaben zu machen. »Ich kann ja nicht die ganze Bücherei-Deko von meinem Taschengeld bezahlen. Du kannst auch gerne aufrunden, Mama.«

Raphaels Lachen dröhnte hinter den Regalen mit Fantasybüchern hervor. »Geschäftssinn hat sie, die Kleine, das muss man ihr lassen.«

Es war schon dunkel, als sie am frühen Abend die Bücherei abschlossen und zum Auto gingen. Nach wie vor regnete es und das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich in den Pfützen auf dem Bürgersteig. Es war frostig und ein schmaler abnehmender Mond stand am schwarzen Himmel.

Sie hielten kurz beim Supermarkt, um Salat und Kräuterbaguette zu kaufen. Wenn sie mittags schon Döner und dergleichen aßen, sollte wenigstens das Abendessen gesund sein.

Als sie zu Hause ankamen, brannte nur oben in Tabeas Küche Licht. Corinna sackte in sich zusammen. So würde es jetzt immer sein. Ihre Wohnung im Erdgeschoss würde dunkel und verwaist sein, bis sie heimkam. Nie mehr würde Heiko vor ihr da sein und warmes Licht sie begrüßen.

Raphael trug ihnen die Stofftüten mit der Weihnachtsdekoration ins Haus.

»Bis morgen, ihr zwei Hübschen!«, rief er ihnen nach, schon halb die Treppe hoch. Corinna hörte, wie ihre Schwester oben die Tür öffnete und ihren Freund liebevoll im Empfang nahm.

»Jetzt erst mal Abendessen«, sagte Corinna, zog sich die Schuhe aus und hängte ihren Mantel an die Garderobe. »Hast du Hunger?«

»Ich sterbe«, verkündete Annika. »Die Tüten packe ich morgen aus. Können wir heute Abend eine Serie auf Amazon Prime gucken?«

»Warum nicht?« Corinna ging in die Küche und machte sich daran, den Salat zu waschen und den Backofen für das Kräuterbaguette vorzuheizen. Es fiel ihr unendlich schwer, alltäglichen Aufgaben nachzugehen. Doch sie musste die Stellung halten, sich ums Essen und die Hausaufgaben kümmern und funktionieren wie vorher. Sie musste es Annika zuliebe tun.

Als das Essen fertig war und sie den Tisch liebevoll gedeckt hatte – sie hatte mit kleinen Kürbissen bedruckte Servietten neben die Teller gelegt und eine Kerze angezündet – rief sie ihre Tochter.

Es dauerte eine geraume Weile, bis diese in die Küche trat, leichenblass, wie schockgefrostet.

»Was ist los, Süße?« Corinna stand alarmiert auf und legte ihr die Hände auf die Schultern.

»Papa.« Annikas Stimme brach, sie brachte kaum mehr als ein Flüstern hervor. »Er ist weg, oder?«

Corinnas Beine wurden weich, sie sank auf einen Stuhl. Natürlich war ihr klar gewesen, dass ein Gespräch mit Annika unmittelbar bevorstand, doch sie hatte sie sanft darauf vorbereiten wollen. »Woher … wie kommst du darauf?«

Annikas Lippen zitterten. »Seine Zahnbürste ist weg. Und seine ganzen Badsachen. Sein Duschgel. Sein Kamm. Das Aftershave. Und hier …« Sie fegte den Obstkorb beiseite, hinter dem eine Schachtel Tabletten lag. »Da sind nur noch deine Schilddrüsentabletten, aber Papas Vitamine sind weg.«

»Komm mal mit.« Corinna nahm sie an der Hand und führte sie ins Wohnzimmer, wo sie sich auf das Sofa setzten. Sie schlang die Arme um ihre Tochter. »Es stimmt, Papa ist weg.«

»Warum? Warum, Mama? Ihr habt doch gar nicht oft gestritten …!«

Corinna küsste sie auf die Haare. »Nein, haben wir nicht. Trotzdem. Papa hat sich entschieden, dass er …« Verdammt, es war wirklich unsagbar schwer, einer Dreizehnjährigen die Wahrheit zu sagen, ohne allzu sehr ins Detail zu gehen und ohne dass der Vater in einem schlechten Licht dastand. »Er fühlt sich hier nicht mehr wohl und möchte lieber woanders …« Sie brach ab, fühlte sich allzu armselig mit dieser Erklärung.

Inzwischen liefen Annika heiße Tränen die Wangen herab. »Wie meinst du das, er fühlt sich hier nicht mehr wohl? Wegen mir? Habe ich was falsch gemacht?«