Schneewitwen – Das Herz, das im Eis schlug - Marlene Nachtmann - E-Book

Schneewitwen – Das Herz, das im Eis schlug E-Book

Marlene Nachtmann

0,0
0,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein abgelegenes Frauenhaus, eingeschlossen von Eis, Hunger und Schuld. Tage werden zu Wochen, Stimmen verstummen, und das Menschliche beginnt zu zerfallen. Was bleibt, ist der Wille zu überleben – und ein Hunger, der tiefer geht als jede Not. Unter dem gefrorenen Boden erwacht etwas, das nie hätte leben sollen. Etwas, das sich erinnert. Etwas, das sie verändert. Jahrhunderte später spürt ein Junge in der Stadt den Herzschlag der Erde erneut. Er trägt das Erbe derer, die einst im Schnee verschwanden – und wird zum Schlüssel zwischen Erinnerung und Wiedergeburt. Ein psychologischer Horrorroman über Schuld, Verwandlung und die Frage, was von der Menschlichkeit bleibt, wenn der Hunger beginnt zu träumen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

Schneewitwen

Kapitel 1 – Ankunft

Der Schnee begann hier nicht einfach zu fallen; er legte sich. Still, bestimmt, wie eine Hand, die man erst spürt, wenn sie bereits auf der Schulter ruht. Jule stand im Türrahmen der Berghütte und ließ ihre Finger über den rostigen Griff gleiten, während das Taxi davonrollte und mit ihm die dünne, zittrige Linie, die sie noch mit der Welt verbunden hatte. Ein letztes Aufheulen des Motors, dann verschluckte der Hang den Laut, und es blieb nur das leise Knistern des Schnees, der unter seinem eigenen Gewicht zusammensank.

„Du bist Jule?“ Die Stimme kam von innen, warm und sorgsam, wie ein Tuch, dass jemand ausbreitet, damit du deine nassen Schuhe daraufstellen kannst.

Sie nickte, obwohl das Zittern ihrer Hände nicht vom Frost kam. „Ja.“

Die Frau war vielleicht Anfang vierzig, feine Linien um die Augen, ein Gesicht, das in der Nähe sicherer wirkte als auf Abstand. Eine Strähne dunkler Haare hatte sich aus ihrem Zopf gelöst und blieb an der Wolle ihres Schals hängen. „Maren“, sagte sie, und Jule dachte das Wort wie ein festes Brett unter den Füßen: Maren. „Komm rein. Die Kälte hier oben kriecht dir sonst in alles.“

Drinnen roch es nach Kaffee, Reinigungsmittel und etwas Süßem, das irgendwo ausgekühlt war, vielleicht ein Kuchen. Der Flur war schmal, die Lampen gelb und alt. Eine Pinnwand voller Zettel in geschwungenen und krakeligen Schriften: Einkaufsliste, Therapiezeiten, eine Telefonnummer, an der der Kugelschreiber abgebröckelt war. Über allem ein Schweigen, in dem Stimmen noch Platz hatten.

„Schuhe dort.“ Maren deutete auf eine Matte. „Du kannst dir gleich welche von den Filzpantoffeln nehmen. Und…“ Ihr Blick glitt an Jules Wange vorbei, blieb kurz hängen, nicht neugierig, nur registrierend. „Bad ist links, Küche rechts. Die anderen sind oben. Wir essen heute um sechs. Ist das in Ordnung?“

Jule nickte wieder. Ihre Zunge lag schwer hinter den Zähnen; Worte hatten Gewicht, das sie heute nicht heben wollte.

Maren lächelte nur knapp. „Ich zeig dir dein Zimmer.“

Auf der Treppe knarrten die Stufen vertraut, als hätten sie schon viele Schritte gehört, die schwer waren und noch schwerer abgesetzt wurden. Jule hielt den Rucksack an sich, als müsse sie ihn beschützen; doch es war nicht der Rucksack, den sie festhalten wollte, sondern etwas in ihm: eine Zahnbürste mit abgeknickten Borsten, ein T-Shirt mit Farbspritzern, ein zusammengefalteter Zettel, auf dem in krakeligem Filzstift ein Satz stand, der mal ein Versprechen gewesen war. Sie hatte sich gezwungen, nicht hineinzusehen, seit sie in den Zug gestiegen war.

Das Zimmer war klein, aber die Art von klein, die übersichtlich war. Ein Bett, eine Decke, die mehr nach Wärme aussah, als sie vermutlich halten konnte, ein Holzstuhl. Das Fenster ging über den Hang und den firnigen Himmel. Jule legte die Handfläche an die Scheibe und fühlte, wie die Kälte dagegenhielt; sie mochten sich nicht, aber sie erkannten sich.

„Falls du reden willst“, sagte Maren an der Tür, „ich bin unten im Büro. Wenn nicht, ist auch gut. Du hast Zeit. Hier oben läuft sie anders.“

„Danke“, brachte Jule hervor, die Kehle trocken wie altes Papier. Dann waren die Schritte fort, gedämpft durch den Teppich im Flur, und Jule war zum ersten Mal seit langem allein in einem Raum, in dem die Stille nicht gefährlich war.

Sie setzte sich auf das Bett und ließ das Gewicht ihres Körpers langsam in die Matratze sinken, als müsse sie austesten, ob dieses Bett sie trug, ob es nicht plötzlich nachgab, wie andere Dinge nachgegeben hatten – der Boden unter der Küche, der Stuhl, auf dem sie eine Nacht lang gewartet hatte, der Blick in einem Gesicht, das geliebt worden war und dann nicht mehr. Das Zimmer roch nach Holz, das sich im Winter zusammenzogen hatte. Jule legte den Rucksack neben das Kissen, öffnete ihn nicht. Ihr Herz schlug zu laut für den schmalen Raum.

Draußen fiel der Schnee dichter. Er wirbelte in Bögen, als würde er jemandem folgen, der unsichtbar voranging. Jule stellte sich vor, sie könnte die Luft anhauchen und würde auf der Scheibe etwas schreiben, irgendein Wort, das blieb. Aber sie beschloss, es nicht zu tun. Dinge, die bleiben, waren selten.

Sie hörte Stimmen. Eine lachte, ein Lachen, das zur Seite wegsah, als schäme es sich. Schritte auf dem Flur, ein leiser Streit, der so schnell endete, dass er auch zusammengeschluckt worden sein könnte. Jule strich mit dem Daumen über den Verbandsstreifen an ihrem Handgelenk, unter dem die Haut dünn war wie Eierschale.

Beim Abendessen saßen sie zu siebt um einen Tisch, der absichtlich zu groß war, damit Platz blieb für alles, was unausgesprochen mitgegessen wurde. Ronja, kaum älter als ein Mädchen, streichelte unmerklich über ihren Bauch, als würde sie zählen, ob da drinnen noch jemand war. Sanaz saß mit geradem Rücken, ihre Augen dunkel wie Fensterscheiben nachts. Helga, die Älteste, hielt die Tasse mit beiden Händen, als hätte sie früher einmal alles mit beiden Händen gehalten, und das sei immer noch die beste Art.

„Jule“, sagte Maren, nicht als Frage, sondern als Einladung.

„Hallo“, sagte Jule. Das Wort klang in ihren Ohren wie ein Schneekügelchen, das man gegen eine Wand warf, ohne Absicht, Schaden zu machen.

Ronja lächelte, unsicher und weich. „Ich bin Ronja. Wenn du Tee willst, ich hab… viel zu viel gekocht.“ Sie lachte leise. Das Lachen war wie eine kleine Laterne im Wind.

Sanaz nickte Jule nur zu. In ihrem Nicken lag eine Art Prüfung, unaufdringlich, aber wach. Helga stellte Jule ungefragt eine Schüssel hin, in der eine Suppe dampfte, die nach Petersilie roch und nach Brühe, die aus Knochen gezogen wurde, die keiner sehen wollte. Jule dachte daran, wie man Dinge lange kocht, bis alles heraus ist, und wie leer sie dann sind. Sie blies auf die Suppe, ihre Finger dankten für die Wärme.

„Der Bus fährt hier nur bis ins Tal“, sagte Maren, „von da aus kommt man im Winter nur noch mit dem Taxi hoch. Du hast es gut geschafft.“

Jule nickte. Sie wollte sagen: Ich habe nichts gut geschafft. Ich bin nur noch da. Doch sie aß und ließ die Suppe in ihren Bauch rutschen, als sei er ein Ort, den man wieder bewohnen könnte.

„Schnee wird dieses Jahr frühbleibend“, murmelte Helga, als rede sie mit dem Löffel. „Die Berge erzählen einander Geschichten, und eine davon ist lang.“

„Helga“, sagte Sanaz halblaut, „mach ihr keine Angst.“

„Ich mach ihr keine Angst“, sagte Helga und hob den Blick. „Angst hat man, oder man hat sie nicht. Man kann sie nur… anders hinstellen.“ Sie nickte Jule zu, und Jule fühlte sich angesprochen auf eine Art, die nicht wehtat.

Später half Jule in der Küche, weil ihre Hände etwas tun wollten. Sie spülte Teller, die an den Rändern kleine Kratzer hatten, die wie Wege aussahen. Maren trocknete ab. „Die erste Nacht ist die schwerste“, sagte sie, ohne hinzusehen, als wolle sie den Satz nicht per Blick festnageln. „Und die zweite. Und die dritte. Aber irgendwann fängt es an, sich zu setzen. Wie Schnee.“

„Setzt sich Schnee?“ Jule wusste nicht, warum sie fragte; vielleicht, um ihre Stimme zu hören.

„Er tut, was er will. So wie wir, wenn wir es lange genug müssen.“ Maren legte das Tuch über die Lehne und strich es glatt. „Morgen früh machen wir einen Spaziergang zum Holzschuppen. Er ist nicht weit. Das hilft. Raum und Luft.“

„Gern“, sagte Jule, und das Wort schmeckte nach etwas, das man fast vergessen hatte: Zustimmung, die man sich selbst erlaubt.

In der Nacht schlief Jule wenig. Nicht wegen Geräuschen – das Haus hatte eine Art, zu ruhen wie jemand, der gelernt hat, anders zu atmen, um nicht zu weinen. Es war, als würde der Schlaf an ihr vorbeigehen und sich nicht entscheiden können, ob er bleiben wollte. Sie lag auf der Seite und beobachtete, wie das Licht vom Flur, das unter der Tür schmal wie ein Schnitt hindurchfiel, langsam blasser wurde, weil draußen der Schnee die Welt enger machte. Sie dachte an Hände, die Türen schließen, an ein Gesicht über ihr, an das Geräusch, das ein Körper macht, wenn er lernt, still zu sein. Sie schluckte. Sie zählte ihre Atemzüge, bis sie darin doch kurz versank.

Am Morgen stand die Luft im Zimmer, als hätte jemand sie gefaltet und in den Schrank gelegt. Jule zog den Vorhang zur Seite. Die Welt war weiß. Kein schönes Weiß, nicht das der Magazine, die neue Laken zeigen; es war ein Weiß, das etwas vorhatte. Sie schlüpfte in den Filzpantoffeln und ging hinunter. In der Küche saß Helga mit einer Schale Haferflocken, auf die sie Salz streute. „Gegen das Süße der Kälte“, erklärte sie, ohne gefragt zu werden.

Maren kam mit Mütze und Handschuhen, in der Hand ein gebogener Schlüssel für den Schuppen. „Bereit?“

Jule nickte. „Ja.“

Der Wind draußen war kein Wind, der kämpfte; es war ein Wind, der beschloss. Er legte sich auf Jules Wangen, die davon kribbelten, als hätten sie zu lang auf einer starren, kalten Wahrheit gelegen. Maren ging voran, ihre Schritte formten Mulden im Schnee, die Jule mit dem kindlichen Ernst betrat, mit dem man einem Erwachsenen folgt, der weiß, wo es hingeht. Der Hang hinter dem Haus fiel zu einem schmalen Pfad ab, der mit Holzbohlen gesäumt war, die aus dem Schnee ragten wie halb vergessene Markierungen. Unter den Tannen hing die Luft schwer, stillegrün, als ob die Zeit hier langsamer atmete.

„Manchmal hat man Angst vor der Stille“, sagte Maren, ohne sich umzudrehen. „Weil sie uns zuhört. Aber das tut sie nur, wenn man sie anredet.“

Jule schwieg. Sie spürte das Ziehen in den Oberschenkeln, das gute Brennen von einer Bewegung, die nicht aus Panik kam. Der Schuppen war ein dunkler Klotz, dessen Tür eine dünne Linie im Weiß war. Maren schob den Schlüssel ein, ein metallisches Knacken, das Jule beruhigte. Etwas Bleibendes. Im Inneren roch es nach Harz und kaltem Eisen. Sie trugen zusammen Holzscheite in die Arme, die schwerer wurden, und Jule mochte das Gewicht; es war ein ehrliches Gewicht, das nicht plötzlich die Hand wechselte.

„Du kannst stark sein“, sagte Maren, und Jule wusste nicht, ob es als Feststellung oder als Bitte gemeint war.

„Ich weiß nicht, ob das eine gute Eigenschaft ist“, sagte Jule, ohne nachzudenken.

„Es kommt darauf an, wofür.“ Maren legte den Kopf leicht schief, als höre sie etwas, das Jule nicht hörte. „Hast du Hunger?“

„Noch nicht.“

„Dann wird er kommen. Hier oben kommt alles, was man glaubt, hinter sich gelassen zu haben.“

Auf dem Rückweg begann es wieder zu schneien. Es war ein stilles Schneien, bei dem die Welt den Ton aus dem Mund nimmt. Jule dachte an die Suppe vom Abend, an die Wärme in den Händen, daran, dass sie seit Tagen nicht daran gedacht hatte, ob sie schön war oder nicht. Der Gedanke fühlte sich an, als hätte jemand eine Tür aufgemacht, hinter der nicht Gefahr, sondern schlicht Leere war. Leere war erträglich.

Im Haus war es wärmer, aber die Wärme hatte einen Rand, und man wusste, wann man ihn überschritt. Ronja stand am Fenster, beide Hände an ihrem Bauch. „Es bewegt sich heute ständig“, sagte sie. Ihre Stimme war ein leichtes Zittern. „Vielleicht merkt es den Schnee.“

„Kinder merken alles“, sagte Helga, die hinter ihr aufgetaucht war. „Sie wissen die Wahrheit, bevor wir sie höflich machen.“ Sie legte eine Hand an Ronjas Schulter, und die junge Frau lehnte einen Hauch dagegen.

In den folgenden Tagen gewöhnte Jule sich an das Haus wie an ein Kleidungsstück aus alter Wolle: Es kratzte an Stellen, an denen die Haut dünn war, aber es hielt warm. Sie lernte den Rhythmus: Holz holen, kochen, putzen, die Sitzungen mit Maren, in denen Worte langsam auftauten und tropften, manchmal schmutzig, manchmal klar. Einmal hörte Jule Ronja nachts leise weinen, ein Weinen, das nicht laut sein durfte, weil es sonst zu groß geworden wäre. Sie stand auf, ging zur Tür, legte die Hand an das Holz und tat nichts. Es war genug, nicht wegzuhören.

Sie lernte Sanaz’ Art, Dinge anzusehen, bis sie die Luft um sie herum veränderten. Sanaz sprach selten über früher, aber wenn sie sprach, nahm die Sprache eine kurze, metallische Farbe an. „Ich habe in einem Winter gelernt, dass Hunger nicht nur im Bauch ist“, sagte sie einmal beim Kartoffelschälen. „Er ist in den Entscheidungen.“

„Und was macht man dann?“, fragte Jule.

Sanaz zuckte mit den Schultern. „Man entscheidet weiter. Und dann lebt man mit dem, was entschieden wurde.“

„Oder man lebt nicht“, murmelte Helga, die mit geschlossenen Augen am Tisch saß, als lausche sie einem alten Radio. „Die Berge sind voll von den Nicht-Entschiedenen.“

In der dritten Nacht fiel die Lawine. Später, viel später, würde Jule sagen: Es war nicht der Lärm, der mich geweckt hat. Es war der Moment davor. Als ob die Luft im Haus die Lungen anhielt. Als ob etwas ansetzte. Ein winziges, aufmerksames Schweigen, das von überall her kam. Und dann das Rollen, der Stoß, der das Haus vornüberzucken ließ, die Gläser klirrten, eine Tasse sprang von der Arbeitsfläche und zerschellte in weißen Splittern, die aussahen wie sehr kleine, sehr scharfe Schneeflocken.

Maren war bereits auf dem Flur, barfuß, der Zopf halb gelöst, die Augen klar. „Alle ins Erdgeschoss!“, rief sie, und ihre Stimme war so ruhig, dass Jule den Befehl wie eine Decke über die Schultern zog. Jede kam aus einer Tür; sie sahen aus wie Figuren, die aus Schubladen gezogen wurden. Ronja hielt sich am Geländer fest und biss die Zähne zusammen, die Hand an ihrem Bauch. Helga murmelte etwas, das wie ein Gebet klang, aber auch wie der Versuch, sich an ein Rezept zu erinnern.

Sie saßen eine Weile zusammen, in einer alten Umarmung, die nicht aus Berührung bestand, sondern aus Anwesenheit. Das Haus knarrte, als hätte jemand auf es geworfen, und es müsse nun seine Form wiederfinden. Draußen war die Welt fort. Nicht verschwunden – nur fort, zugeschoben von einer Masse, die keine Absicht hatte, aber eine Wirkung. Maren zog den schweren Vorhang vor die Haustür zurück und öffnete sie einen Spalt. Eine weiße Wand stand davor, so dicht, dass Jule das Gefühl hatte, in einen Bauch zu sehen.

„Wir bleiben drin“, sagte Maren und schloss langsam. „Bis morgen. Dann sehen wir.“

Sanaz nickte, ihre Augen schmal. „Wir bleiben drin“, wiederholte sie, und aus ihrem Mund klang es nicht nach Bitte, sondern nach Plan.

Später, als das Zittern ihrer Hände endlich nachließ, stand Jule am Fenster ihres Zimmers und sah auf das, was einmal ein Weg gewesen war. Nichts davon war jetzt sichtbar. Der Schnee hatte die Linien gelöscht; er hatte das Haus nicht begraben, noch nicht, aber er hatte die Welt die Augen schließen lassen. Jule lehnte die Stirn an die kalte Scheibe. Sie spürte, wie ihr Atem einen kleinen Kreis darauf malte, wie er sich sofort in Tropfen brach, die herabliefen. Sie dachte: Vielleicht ist es gut, wenn alles neu gezeichnet werden muss. Vielleicht ist es schlimm.

In der Küche schlug Helga Wasser in einem Topf, als würde sie ein Lied auftauen. „Früher“, sagte sie, ohne den Blick zu heben, „hat man bei uns gesagt: Der Schnee hat Ohren. Du musst ihm erzählen, was du tust, sonst erzählt er es dir auf seine Art.“

„Und was erzählst du ihm jetzt?“, fragte Ronja, die blass am Tisch saß und beide Hände um eine Tasse schloss.

Helga lächelte schief, und für einen Moment war sie sehr jung. „Dass wir atmen. Dass wir warten. Und dass wir wissen, wie man teilt.“

Jule hörte das Wort, und es blieb an ihr hängen. Teilen. Sie dachte an Brot, an Wärme, an Decken, an Blicke. An Nächte, in denen man sich selbst teilen musste, um nicht zu zerbrechen. Sie ließ das Wort in sich und spürte, wie es sich schwer machte, wie ein Samen, der weiß, was der Winter ist.

Spät, als die anderen schliefen oder so taten, saß Jule allein am Treppenabsatz. Die Lampe über ihr summte leise, und das Summen war ihr lieber als die perfekte Stille. Sie holte den Zettel aus dem Rucksack, den sie seit der Ankunft nicht angerührt hatte. Die Filzstiftbuchstaben waren verschmiert, an einer Stelle war eine Träne ins Papier gesickert, und sie hatte dieses kleine, dunkle Auge hinterlassen. Komm zurück, stand da. Keine Unterschrift. Als ob die Worte sich selbst unterschrieben hätten.

Jule faltete den Zettel einmal, dann noch einmal. Ihre Finger waren ruhig. Sie spürte den Hunger nicht, noch nicht. Nur eine Ahnung davon, dass etwas beginnen würde, das größer war als das Haus, größer als die Berge, größer als das, wovor sie geflohen war. Ein Beginn ist leise, dachte sie. Er trägt Fäustlinge. Er klopft nicht. Er steht einfach schon da, wenn du das Licht anmachst.

Sie legte den Zettel in den Rucksack zurück, stand auf und ging in ihr Zimmer. Als sie die Tür schloss, neigte das Haus den Kopf, als wolle es horchen. Draußen setzte der Schnee sich, Millimeter um Millimeter, über Stufen, über Pfade, über alte Spuren, bis alles eine Fläche wurde, auf der man neue Schritte wagen musste.

Jule zog die Decke bis an das Kinn und wartete, bis ihr Körper die Wärme fand, die nicht an einem Ofen entzündet wurde. Irgendwo im Haus seufzte jemand im Schlaf. Irgendwo knackte das Holz. Irgendwo erzählte Helga dem Schnee leise, was sie morgen vorhatten. Und Jule schloss die Augen und dachte an das Wort, das Helga benutzt hatte, das schwer in ihr lag, das im Dunkeln wuchs.

Teilen.

Der Morgen würde kommen, und mit ihm die Bestandsaufnahme: Der Pfad verschüttet. Das Telefon tot. Die Vorratskammer, die neu sortiert werden musste. Das Zählen, das man mit offenem Mund macht, weil Zahlen manchmal nicht durch die Zähne passen. Und irgendwann der Hunger, zuerst der einfache, der in der Küche beantwortet wird. Später ein anderer.

Aber jetzt, in dieser ersten, langen, schmalen Nacht der Ankunft, atmete das Haus, und Jule atmete mit. Und draußen fiel der Schnee und legte sich. Still, bestimmt. Wie eine Hand. Wie eine Entscheidung. Wie ein Versprechen, das niemand gegeben hatte und das trotzdem gelten würde.

 

Kapitel 2 – Der Hunger

Der Morgen nach der Lawine roch nach Metall und nasser Wolle. Es war, als hätte der Schnee einen eigenen Atem, kalt und doch lebendig, und dieser Atem drang durch die Ritzen des Hauses, schlich über Dielen, kroch in Decken und legte sich auf Haut. Niemand sprach in den ersten Stunden. Worte hatten zu viel Gewicht. Selbst das Knistern des Ofens klang unsicher, als wüsste das Feuer, dass es bald allein sein würde mit all den kalten Dingen, die zu füttern waren.

Jule saß am Fenster und sah hinaus auf das Weiß. Es war nicht das Weiß eines Anfangs, sondern das Weiß eines Endes. Ein Weiß, das alles verschluckte, was davor existiert hatte. Der Weg zum Tal war verschwunden, die Bäume standen wie steinerne Wachen in einer Welt ohne Farben. Sie spürte, dass der Schnee sie beobachtete, dass er wusste, wer noch atmete und wer nicht. In der Küche klapperte Maren leise mit Töpfen, als wolle sie die Geräusche eines normalen Morgens beschwören. Aber die Routine war nur Fassade, wie ein Lächeln auf einem Gesicht, das sich bereits aufzulösen beginnt.

„Die Straße ist dicht“, sagte Sanaz, die den ganzen Morgen versucht hatte, ein Stück der Verwehung wegzuschaufeln. „Bis zum Dach. Kein Durchkommen. Vielleicht in ein paar Tagen, wenn das Wetter dreht.“ Ihr Atem stand als kleine Wolke vor ihr, selbst drinnen, so kalt war es inzwischen.

Maren nickte, doch in ihrem Blick lag die Erkenntnis, dass niemand in den nächsten Tagen kommen würde. Das Funkgerät war tot, das Telefon verstummt. Helga hatte noch am Abend zuvor versichert, dass die Vorräte reichen würden, „wenn man sparsam ist“. Aber der Vorratsraum sah jetzt anders aus – kleiner, leerer, bedrohlicher. Gläser mit eingemachten Früchten, die zu süß waren, Dosen, deren Etiketten sich ablösten, Mehl, das kaum für eine Woche reichen würde.

Ronja saß in der Ecke und hielt die Hände auf den Bauch. Ihr Gesicht war fahl, die Augen glänzten fiebrig. „Es bewegt sich kaum“, flüsterte sie, und niemand wusste, ob sie über ihr Kind sprach oder über die Welt.

Jule fühlte, wie ihr Magen sich zusammenzog. Der Hunger kam schleichend, zuerst als kleine Erinnerung an Normalität, dann als leises Pochen hinter den Rippen. Sie dachte an Brot, warm und hell, mit Butter, die schmilzt. Der Gedanke war so konkret, dass sie fast meinte, den Duft zu riechen, aber es war nur Holzrauch.

„Wir teilen“, sagte Maren schließlich. Ihre Stimme klang fest, aber sie zitterte im letzten Wort, kaum hörbar. „Wir teilen alles. Essen. Wärme. Arbeit.“ Sie blickte der Reihe nach in die Gesichter der Frauen, suchte Zustimmung, bekam nur leere Augen. „Das hier ist kein Gefängnis. Wir halten zusammen. Verstanden?“

Sanaz nickte zuerst. Helga sah aus dem Fenster, als höre sie auf etwas anderes. „Der Schnee spricht schon leiser“, murmelte sie. „Er weiß, dass wir anfangen werden.“

Niemand fragte, was sie meinte.

Am Abend saßen sie zu sechst – Jule, Maren, Sanaz, Helga, Ronja und eine schweigsame Frau namens Petra, die kaum sprach, seit sie angekommen war. Sie aßen Suppe, dünn wie Nebel. Jule schmeckte Wasser, Salz, ein Rest Kohl. Die Löffel klirrten, und jeder Hieb gegen den Tellerrand klang wie ein Uhrenschlag. Draußen hatte der Wind sich gelegt, aber das machte es nur schlimmer. Die Stille war dichter als jeder Sturm.

Ronja stand irgendwann auf und ging. Niemand folgte ihr. Erst als die Minuten sich dehnten, folgte ein dumpfer Laut – nicht Schrei, nicht Fall, eher wie ein Stoß, ein Aufprall auf etwas Weiches. Maren war die Erste an der Tür. Jule folgte.

Ronja lag am Flur, zusammengesunken. Blut auf dem Holz, ein dunkler Fleck, der sich langsam ausbreitete. Ihre Hände hielten den Bauch, sie keuchte, ihre Lippen blau. Maren kniete sich neben sie, tastete, flüsterte Worte, die mehr an sie selbst gerichtet waren als an Ronja. Jule spürte, wie sich ihr Magen umdrehte. Es roch nach Eisen.

„Es ist zu früh“, sagte Helga hinter ihnen, leise, als würde sie ein Gebet sprechen. „Kinder, die zu früh kommen, finden den Weg nicht.“

Maren schrie etwas, ein kurzes, wütendes Nein. Sanaz holte Decken, Wasser, irgendetwas, das zu spät kam. Das Kind kam still, so still, dass Jule dachte, es sei gar nicht gekommen. Ronja lag bleich, die Augen offen, als hätte sie etwas gesehen, das nicht für sie bestimmt war.

Niemand sprach. Nicht in dieser Nacht. Nicht am Morgen. Das Haus roch nach Blut, nach Metall, nach etwas, das nicht weggeschrubbt werden konnte.

Das Kind war klein, fast durchsichtig. Maren wickelte es in ein Tuch, legte es in eine Kiste aus Holz. Sie sagten kein Wort von Beerdigung – draußen war der Schnee zu hoch. Es blieb im Keller, weil Maren sagte, dort sei es „kühl und friedlich“. Jule konnte nicht mehr in den Keller gehen, seitdem.

Die Tage danach liefen ineinander. Essen wurde weniger, Feuerholz auch. Sie zählten alles – Löffel, Tassen, Bissen. Sanaz begann Listen zu schreiben, auf alte Zettel, auf die Rückseiten von Formularen. „Wenn wir raffen, kommen wir durch“, sagte sie. „Raffen ist überleben.“

Helga erzählte in diesen Tagen Geschichten. Von Frauen, die im Winter Kinder geboren hatten, die nicht atmeten, und sie im Schnee begruben. „Manchmal kamen sie wieder, aber anders“, sagte sie. „Sie hatten keine Stimmen mehr, nur Hunger. Man nannte sie die Weißen Witwen. Sie aßen nichts, aber sie wuchsen. Der Schnee fütterte sie.“

Maren verbot ihr, das weiterzuerzählen, doch die Worte hatten längst Wurzeln geschlagen. Jule hörte nachts manchmal Geräusche. Kein Schritt, kein Tier. Etwas, das an Holz schabte, ganz leise, rhythmisch, wie ein Atem, der vergessen hatte, wie man aufhört.

In der dritten Woche gab es keinen Zucker mehr, kein Salz, kaum Mehl. Jule kochte Suppe aus Wasser und ein paar Kartoffelschalen. Petra weinte beim Essen, still, wie jemand, der sich für seine Tränen entschuldigt. Maren redete immer weniger. Ihre Augen waren rot, aber nicht vom Weinen, sondern vom Schlafmangel.

Dann, eines Morgens, als der Wind wieder aufzog, war Helga verschwunden. Ihre Decke lag ordentlich gefaltet auf dem Bett, als hätte sie sich bedankt. Auf dem Nachttisch eine Notiz, schief geschrieben: „Ich gehe ihm nach. Vielleicht teilt er.“ Niemand fragte, wem sie folgte. Draußen fanden sie Spuren im Schnee, die bald endeten.

Die Nacht nach Helgas Verschwinden war lang. Maren saß vor dem Ofen und starrte in das Feuer, bis ihre Augen tränten. Sanaz knurrte etwas von „Verschwendung“, weil Holz knapp war. Jule hörte, wie draußen etwas an die Wand schlug, rhythmisch, als klopfe jemand. Als sie ans Fenster trat, war da nichts, nur der Schnee, der sich dichter legte, als wolle er zuhören.

Am nächsten Tag sagte Maren: „Wir müssen rationieren.“ Ihre Stimme war brüchig. „Ohne Vorräte schaffen wir es nicht.“

Sanaz schnaubte. „Und was ist mit dem Keller?“

Maren sah sie an, als hätte sie die Worte nicht verstanden. „Was meinst du?“

Sanaz hob die Augenbrauen. „Ich meine, dass da unten etwas liegt, das nicht mehr atmet.“

Ein Laut ging durch die Küche, kein Wort, nur Luft. Ronja starrte auf den Tisch. Jule fühlte, wie ihr Herz aussetzte, dann schneller schlug. „Du meinst das Kind.“

„Ich meine, dass es nichts nützt, wenn wir alle sterben.“ Sanaz’ Stimme war ruhig, fast sanft. „Tot ist tot. Leben ist Leben.“

Maren stand auf, die Hände zitterten. „Sag das nie wieder.“

Aber der Satz war gesagt. Er blieb im Raum, hing über ihnen wie der Rauch aus dem Ofen, süßlich und giftig.

In dieser Nacht träumte Jule vom Schnee. Er war nicht mehr weiß. Er war grau, durchzogen von feinen roten Linien. Sie träumte, dass sie im Keller stand, und aus der Kiste kam Dampf. Sie öffnete sie, und darin lag kein Kind mehr, sondern etwas anderes – ein Spiegel aus Eis. Und darin sah sie nicht ihr eigenes Gesicht, sondern eines, das sie aus der Vergangenheit kannte, verzerrt und doch vertraut. Es lächelte.

Sie wachte mit einem Schrei auf. Maren stand neben dem Bett, das Gesicht hohl, die Haare offen. „Du hast geträumt“, sagte sie.

„Ja“, flüsterte Jule. „Aber vielleicht hat der Schnee mitgeträumt.“

Maren sah sie lange an, dann wandte sie sich ab. „Wir müssen morgen entscheiden, was wir tun. Der Vorrat reicht noch zwei Tage.“

„Und wenn er nicht reicht?“

Maren blieb stehen, ihre Stimme war kaum mehr als Atem. „Dann wird der Schnee nehmen, was er will.“

Jule hörte, wie die Tür ins Schloss fiel. Draußen tobte der Wind, als hätte er endlich gefunden, wonach er suchte. Sie lag wach bis zum Morgen und wusste, dass das Haus ein anderes geworden war. Etwas war eingezogen zwischen den Wänden – nicht der Tod, nicht der Wahnsinn, sondern etwas dazwischen. Etwas, das Hunger hatte und noch Geduld.