Schneezeit - Vera Bleibtreu - E-Book

Schneezeit E-Book

Vera Bleibtreu

4,9

Beschreibung

Als der Medizinprofessor Johannes Rigalski tief verschneit und erfroren im Garten seiner Villa in Mainz-Gonsenheim aufgefunden wird, ist die Pfarrerin Susanne Hertz sehr bald mit mehr als nur der Beerdigung betraut. Denn schnell stellt sich heraus, dass der vermeintliche Unglücksfall ein veritabler Mord ist. Und als ein zweites Mordopfer in der St. Johanniskirche gefunden wird, sieht sich Susanne Hertz in einen neuen Fall verwickelt. Auch wenn das Ermitteln ja eigentlich die Aufgabe ihrer Freundin, der Kommissarin Tanja Schmidt, ist … Aber was wäre Tanja Schmidt ohne Susanne Hertz? Deren Rat sie diesmal auch privat bitter nötig hat.

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Seitenzahl: 196

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Schneezeit

Vera Bleibtreu

Schneezeit

Ein Krimi

Die Handlung und alle Personen sind völlig frei erfunden; Ähnlichkeiten wären rein zufällig.

© Leinpfad Verlag2. Auflage Winter 2014

Alle Rechte, auch diejenigen der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form ohne die schriftliche Genehmigung des Leinpfad Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: kosa-design, IngelheimLektorat: Angelika Schulz-Parthu, Frauke ItzerottLayout: Leinpfad Verlag, Ingelheim

Leinpfad Verlag, Leinpfad 5, 55218 Ingelheim,Tel. 06132/8369, Fax: 896951E-Mail: [email protected]

eISBN 978-3-942291-70-5

Inhalt

Für Friedrich Ani.

Montag, 20. Dezember 2010, 0.23 Uhr

Dienstag, 21. Dezember 2010, 18.30 Uhr

Mittwoch, 22. Dezember 2010

Donnerstag, 23. Dezember 2010

Freitag, 24. Dezember 2010, Heiligabend

Samstag, 25. Dezember 2010, erster Weihnachtsfeiertag

Sonntag, 26. Dezember 2010, zweiter Weihnachtsfeiertag

Montag, 27. Dezember 2010

Dienstag, 28. Dezember 2010

Mittwoch, 29. Dezember 2010

Donnerstag, 30. Dezember 2010

Freitag, 31. Dezember 2010

Samstag, 1. Januar 2011

Sonntag, 2. Januar 2011

Montag, 3. Januar 2011

Dienstag, 4. Januar 2011

Mittwoch, 5. Januar 2011

Donnerstag, 6. Januar 2011, Epiphanias (Fest der Erscheinung des Herrn)

Sonntag, 16. Januar 2011

Für Friedrich Ani, den Freund,der Sanftmut im Herzen trägt.

Die Losungen der Herrnhuter Brüdergemeinde erscheinen seit 1731 in ununterbrochener Folge. Einzig die Nationalsozialisten versuchten, ihr Erscheinen zu verhindern, vergeblich.

Nikolaus Graf von Zinzendorf hatte für seine christliche Gemeinschaft in Herrenhut die Idee, jeden Tag unter ein Bibelwort zu stellen. Inzwischen sind die Losungsbüchlein ein jährlicher Bestseller, allein die deutsche Ausgabe verkauft sich eine Million Mal. Die Losungen werden in mehr als fünfzig Sprachen übersetzt und sind gedruckt oder im Internet einsehbar.

Einmal im Jahr trifft sich die Herrnhuter Gemeinschaft und zieht für jeden Tag des Jahres eine Bibelstelle aus dem Alten Testament – die Losung. Dazu wird thematisch passend jeweils eine Bibelstelle aus dem Neuen Testament ausgesucht – der Lehrtext.

Unzählige Menschen auf der ganzen Welt lesen täglich die Losung und den dazugehörigen Lehrtext des Tages und erkennen erstaunt, wie viel ihr Leben mit diesen Bibelworten zu tun hat.

„Losungen sind das, was man im Krieg die Parole nennt.“ (Zinzendorf)

Montag, 20. Dezember 2010, 0.23 Uhr

Losung: Soll denn das Schwert ohne Ende fressen? Weißt du nicht, dass daraus am Ende nur Jammer kommen wird? (2. Samuel 2, 26)

Lehrtext: Wenn möglich, soweit es in eurer Macht steht: Haltet Frieden mit allen Menschen! (Römer 12, 18)

Es schneite. In Mainz ging gar nichts mehr. Innerhalb weniger Stunden hatte sich die Stadt in ein Wintermärchen verwandelt. Die Busse hatten den Betrieb eingestellt, Straßenbahnen waren steckengeblieben. Nur wenige Autoscheinwerfer suchten sich einen Weg auf den verschneiten Straßen.

Er hatte erst gar nicht versucht, sich ein Taxi zu nehmen. Der Weg von Bretzenheim nach Gonsenheim war ja nicht weit. Sein Auto hatte er vorsorglich zu Hause stehen gelassen. Er trank gerne und vertrug auch einiges, dabei fand er, dass das Leben zu kurz sei, um schlechten Wein zu trinken. Sein Freund Matthias Vollbrecht hatte allerdings einen ausgezeichneten Geschmack, sowohl was Kunst als auch was Wein betraf. Eigentlich hätte dazu auch ein heißblütiges Weib gepasst. Marianne Vollbrecht war zwar eine gute Köchin, aber ihr köstliches Käsefondue war auch alles, was er an ihr heiß fand. Er hielt sie für langweilig und bieder, ihr rundes, freundliches Gesicht und ihre bedächtige Art gingen ihm auf die Nerven. Er mochte Frauen, die Biss hatten, rassige Frauen mit Esprit, sie konnten ruhig ein wenig frech sein, im Bett hatte man mit ihnen allemal mehr Spaß als mit diesen faden Hausfrauen, die manche seiner Kollegen bevorzugten und die nur ihre Kinder oder – später – ihre Enkelkinder und das örtliche Fitnesscenter im Kopf hatten. Er fragte sich, worüber sich Matthias mit Marianne unterhielt.

Seit zwanzig Jahren waren er und Matthias befreundet. Die Ehe mit Marianne war nie Gesprächsthema gewesen. In der Regel zog sich Marianne glücklicherweise vor dem Grappa zurück und kam erst zur Verabschiedung wieder. Selbst wenn Matthias und er sichtbar nicht mehr ganz nüchtern waren, blieb sie gleichbleibend freundlich und zuvorkommend. Vielleicht hielt Matthias das bei seiner Frau.

„Marianne braucht eben Frieden und Harmonie wie die Luft zum Leben“, hatte Matthias einmal zu ihm gesagt und vielleicht tat ihm das gut nach dem Haifischbecken Uni-Klinik, das Matthias Vollbrecht als Professor eines Instituts jeden Tag zu ertragen hatte. Da gab es genug Konflikte für jeden Geschmack, auch er selbst wusste oft nicht, wer vorne lächelte und hinten schon das Messer gezückt hatte. Einen Fehler konnte man sich nicht erlauben, das war klar. Matthias hatte sich durch Marianne eine Oase der Ruhe schaffen lassen – das musste er zugeben. Und die Sache hielt, die beiden hatten letztes Jahr Silberhochzeit gefeiert. Er dagegen war nach seiner Scheidung vor zehn Jahren gerade wieder frisch getrennt von Sabine. Er mochte sie. Sie war attraktiv und intelligent und er hatte viel mit ihr genossen, aber das Thema Kinder war bei ihm definitiv ein Trennungsgrund. Leider hatte Sabine dieses Thema jedoch angesprochen. Seine beiden Töchter kosteten ihn jeden Monat ein Vermögen und er hatte keine Lust, noch einen dritten Versorgungsfall zu produzieren. Dank seiner ausgezeichneten Anwältin und des neuen Scheidungsrechts musste er wenigstens an die Mutter nichts mehr zahlen, doch wenn er daran dachte, wie viel Geld er über die Jahre an seine zugegeben immer noch wunderschöne und kapriziöse Ex-Frau gezahlt hatte, nur damit die mit wechselnden jugendlichen Freunden ihre Reisen auf die Malediven und nach New York finanzieren konnte, kam ihm immer noch die Galle hoch. Er spürte es geradezu, während er jetzt daran dachte.

Wahrscheinlich hatte er doch eine Flasche zu viel getrunken. Der Spätburgunder war aber auch wirklich ausgezeichnet gewesen und wie immer hatten sich Matthias und er glänzend unterhalten. Manchmal dachte er unwillkürlich, dass er Matthias hätte heiraten sollen, dann würde er sicher auf eine glückliche Silberhochzeit zurückblicken können. Warum gelangen mit Frauen nicht so entspannte und zugleich anregende Verhältnisse wie mit einem guten Freund? Wahrscheinlich, weil die Erotik fehlte, aber auf die wollte er nun wirklich nicht verzichten, schwul war er nicht. Er seufzte.

Mit Männern war es auf der anderen Seite auch nicht einfach. Besonders für einen Mann wie ihn. Was auf Frauen so attraktiv wirkte, seine spürbare Männlichkeit, der Wille zur Macht, der ihm aus allen Poren drang, seine Energie und sein messerscharfer Intellekt, das stieß viele Kollegen ab, die die Konkurrenz scheuten. Er dagegen liebte Konkurrenz, den Wettkampf; im Mittelalter wäre er sicherlich ein begeisterter Turnierkämpfer geworden. Es gab viele Studentinnen und Studenten, die vor ihm tatsächlich Angst hatten. Auf Patienten dagegen wirkte seine Souveränität meistens beruhigend. Er hatte eine natürliche Autorität und wusste das auch. Er war groß, breitschultrig, kompakt, ohne dick zu sein, jemand, mit dem man sich schon vom Äußeren her nicht gerne anlegte. Als Diabetiker achtete er auf sein Gewicht, nahm es mit den strengen Vorgaben allerdings nicht zu genau – typisch Mediziner, dachte er manchmal mit einem Grinsen, sie rauchen und trinken zu viel, obwohl sie genau wissen, dass es schädlich ist. Daran hatte selbst sein Herzinfarkt vor zwei Jahren wenig geändert. Grimmig dachte er an Söderblöm – er wusste, wem er den Infarkt zu verdanken hatte.

Er stapfte durch den Schnee. Vorausschauend hatte er sich für seine wetterfesten Stiefel entschieden, Marianne hatte darauf bestanden, dass er die Schuhe nicht auszog, als er ankam. Mit einem Blick auf ihre kostbaren Teppiche hatte er es aber auf eine Auseinandersetzung ankommen lassen und sie beide hatten sich nach kurzem Disput darauf geeinigt, dass er Gäste-Hausschuhe anzog. Jetzt war er froh um seine guten Stiefel, die Marianne vorausschauend an die Heizung im Flur gestellt hatte, damit sie nicht auskühlten. Der Vollmond schien nur mühsam durch die immer dichter fallenden schweren Schneeflocken. Er schwankte leicht, und als der Schnee unter seinem rechten Fuß leicht einbrach, stürzte er. Die Gestalt, die ihm entgegengekommen war, bemerkte er erst im letzten Moment, als sich ihm eine Hand entgegenstreckte und ihn hochzog.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte eine freundliche Stimme. Ein Mann, das Gesicht konnte er kaum erkennen in der Dunkelheit. Er wehrte ab, klopfte sich den Schnee vom Mantel: „Nein, danke.“ Das hatte noch gefehlt. Gut, dass er sich den Montag freigenommen hatte, eigentlich wollte er nach Frankfurt in die Oper fahren, mal sehen, wie weit er morgen mit seinem Paper kam. So wie er sich jetzt fühlte, konnte es aber lange dauern, bis er aufstehen würde. Er hatte gehofft, die Kälte würde seinem Kopf gut tun. Er merkte jetzt, dass ihm leicht übel war. Wieso hatte der Mann gefragt, ob er helfen könne? Merkte man ihm den Alkohol an? Wie weit war es noch bis zur Kapellenstraße? Marianne und Matthias hatten ihn gedrängt, im Gästezimmer zu übernachten, doch er hasste es, in fremden Betten und Zimmern aufzuwachen, schlimm genug, dass er auf Tagungen dazu gezwungen war. Er blickte sich um. Von dem Mann, der ihm entgegengekommen war, war nichts mehr zu sehen. Er stemmte sich gegen den aufkommenden Wind, der das Laufen noch mühsamer machte als der weiche Schnee, in dem seine Stiefel einsanken.

Mühsam war ebenfalls das letzte Jahr gewesen, er hatte vergeblich versucht, zum Medizinischen Direktor gewählt zu werden. Dass er ausgerechnet gegen Nils Söderblöm verloren hatte, diesen eitlen, selbstgefälligen Typen, vor dem keine Assistenzärztin sicher war, der sich aber in regelmäßigen Abständen als Wohltäter der Menschheit mit dem Kardinal in der Zeitung ablichten ließ, das wurmte ihn schon. Zumal er Söderblöm fachlich um Längen überlegen war. Beim Gedanken an Söderblöm wurde ihm richtig schlecht. Mühsam unterdrückte er seinen Brechreiz. Söderblöm würde möglicherweise nicht mehr lange Direktor bleiben können. Und wenn Söderblöm zurücktrat oder – noch besser – zurücktreten musste, dann käme seine Stunde. Er biss sich auf die Lippen.

Da war schon die evangelische Kirche mitten auf der Insel der Breiten Straße zu sehen, er brauchte jetzt noch höchstens zehn Minuten bis nach Hause. Er freute sich auf sein Bett und beglückwünschte sich, dass er das Gästezimmer im Libellenweg ausgeschlagen hatte.

Libellenweg! Allein schon diese Siedlung mit den putzigen Insektennamen wäre sein Tod gewesen. Sicher, die Villa von Matthias war großzügig und modern, er würde aber eher in der Neustadt in einem Altbau ohne Aufzug leben wollen als in dieser bürgerlichen Idylle, die in Bretzenheim entstanden war. Ja, wenn es wenigstens einen Zeckenweg gegeben hätte. Er lächelte kurz über seine Idee, gleich darauf war ihm wieder übel. Lag es an der Insektensiedlung oder am Spätburgunder oder am Grappa? Er hatte sich in Gonsenheim eine heruntergekommene Villa in der Kapellenstraße gekauft, allerhand investiert, klar, 250 Quadratmeter waren viel für einen alleinstehenden Mann, aber er war jemand, der Platz brauchte, körperlich und geistig. Und er wollte sich freuen an einem Haus, das zu ihm passte. Für einen Mann wie ihn war die Insektensiedlung zu klein.

Die Breite Straße war einsam und menschenleer um diese Uhrzeit, jedenfalls soweit er sehen konnte. Immer noch verhinderten die dicht fallenden Schneeflocken jede weite Sicht. Plötzlich hörte er Schritte hinter sich, zwei Menschen überholten ihn. Die eine Person drehte sich kurz um, nickte, er wusste nicht, was das bedeuten sollte, ein Zeichen des Erkennens oder ein nächtlicher Gruß? Er rätselte, ob ihm das Gesicht bekannt vorkam. Wieso kamen diese beiden Menschen so viel schneller voran als er? Er blieb kurz stehen und holte tief Luft. Nur noch wenige Meter bis nach Hause. Endlich tauchte der Kiosk am Juxplatz vor ihm auf, er bog in die Kapellenstraße ein.

Das Tor zum Grundstück klemmte ein bisschen, er lehnte sich dagegen, brauchte mehr Kraft als sonst. Der Kehrdienst würde morgen viel zu tun haben, auf dem Bürgersteig häufte sich der Schnee, ihm schien, als ob in einiger Entfernung tatsächlich jemand kehrte – konnte das sein? Irrwitz, wahrscheinlich jemand, der nicht schlafen konnte und auch sonst nichts zu tun hatte. Ein reicher Rentner.

Er trottete den langen Gehweg zum Eingang, der Bewegungsmelder sprang nicht an, er hätte ihn schon längst reparieren lassen sollen. Vor der Haustür suchte er nach seinem Schlüssel. In der rechten Manteltasche war er nicht. Ärgerlich klopfte er seinen Mantel ab. Wo hatte er den Schlüssel hingesteckt, als er am Abend losgegangen war? Der Schlüssel war nicht im Mantel. Plötzlich fiel ihm der Sturz auf dem Heimweg ein. Hatte er bei dieser Gelegenheit den Schlüssel verloren, war er ihm aus der Manteltasche geglitten? Vage dachte er an den Fremden, der ihm aufgeholfen hatte. Hatte der ihm den Schlüssel abgenommen? Er fühlte in der Innentasche seines Sakkos – das Portemonnaie war noch da. Er schüttelte den Kopf, absurde Idee. Er fing an, Gespenster zu sehen. Was konnte er jetzt tun? Hatte er den Hintereingang unverschlossen gelassen wie so häufig? Seine Putzhilfe schimpfte deshalb immer mit ihm, die Villen in der Kapellenstraße waren auch ohne offene Hintertüren ein bevorzugtes Revier für Einbrecher. Er stapfte um das Haus herum, rüttelte. Er hatte abgeschlossen, Frau Buranovic wäre sehr zufrieden mit ihm gewesen, er war es nicht. Wieder wurde ihm übel. Er würde sich kurz ausruhen und auf die Bank setzen, die hinter dem Haus stand, dann würde ihm schon einfallen, was zu tun sei. Mit dem Besen, der an der Wand lehnte, fegte er den Schnee von der Bank und setzte sich seufzend. Nur einen Augenblick Atem schöpfen. Er presste die Hände an die Schläfen. Warum ließ der Kopfschmerz nicht nach? Er suchte noch einmal nach dem Schlüssel. Auch beim wiederholten Suchen fand er ihn weder in den Taschen seines Mantels noch seines Jacketts. Ob er bei den Nachbarn klingeln sollte, um diese Uhrzeit? Lieber nicht. Er merkte, wie müde er war. Jetzt müsste er aufstehen, ein Taxi am Juxplatz suchen und sich ins Hilton fahren lassen. Er könnte auch zu Mirja fahren, das entgeisterte Gesicht seiner Ex-Frau wäre die Sache wert. Ob er doch ein Fenster einschlagen sollte? Er suchte noch einmal nach dem Schlüssel. Tatsächlich, er ertastete das kühle Metall. Also müsste er jetzt aufstehen und die Tür aufschließen. Dabei würde er lieber noch einen Moment auf der Bank sitzen bleiben. Die Schneeflocken taten ihm wohl auf seinem Gesicht, sie kühlten angenehm. Er blinzelte leicht ins Mondlicht, das durch die Schneeflocken schimmerte. Dann schloss er die Augen.

Eigentlich war es gar nicht mehr so kalt.

Dienstag, 21. Dezember 2010, 18.30 Uhr

Losung: Ich bin der HERR, dein Gott, und du sollst keinen andern Gott kennen als mich und keinen Heiland als allein mich. (Hosea 13, 4)

Lehrtext: Das ist das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen. (Johannes 17,3)

Pfarrerin Susanne Hertz telefonierte jetzt schon seit einer Stunde mit Kantor Wilhelm Arzfeld. Es ging um den Heiligabend-Gottesdienst in St. Johannis. Die Kantorei sollte den Gottesdienst musikalisch mitgestalten. Ein hehres Ziel zum Lobe des menschgewordenen Gottes, doch Susanne beschlich in diesen Tagen mehr und mehr die Frage, ob sich Gott die Sache mit seinen Menschen tatsächlich gut überlegt hatte. Ihr jedenfalls gingen seine Geschöpfe besonders in dieser Weihnachtszeit gehörig auf die Nerven. Der Tag hatte für sie mit einer Krisensitzung im Kindergarten begonnen, weil zwei Mütter sich über die Besetzungsliste des Krippenspiels so in Rage gezankt hatten, dass die Kindergartenleiterin Susanne zu Hilfe gerufen hatte. An der Grundproblematik, dass bei einem Krippenspiel die Rolle der Maria eben nur einmal zu vergeben war, konnte sie als Pfarrerin allerdings auch nichts ändern. Mütter, die ihre Kinder Prinzessinnen- oder Prinzengleich vergötterten, waren ihr schon immer suspekt gewesen, und ob Gott Mensch geworden war, damit Ann-Sophie oder Kimberly in St. Johannis als Maria glänzen könnten – Susanne wagte es zu bezweifeln. Ihre dahingehend geäußerten Bedenken trugen leider nicht dazu bei, die Wogen zu glätten. Die in ihrer Ehre gekränkten Mütter drohten mit Kirchenaustritt, nur mit Mühe fand sich eine Lösung per Losentscheid und für Ann-Sophie eine immerhin passable Rolle als Verkündigungsengel. Kein blauer Mantel, dafür aber mehr Text.

Jetzt also die Kantorei. Susanne dachte an das Bonmot eines Kollegen, der Kirchenchöre als die „Mafia der Gemeinde“ bezeichnet hatte. Wilhelm Arzfeld wäre dann der Pate, nur dass er nicht so gut aussah wie Marlon Brando. Susanne grinste beim Gedanken an den Vergleich Arzfeld-Brando. Hatte Brando nicht eine Zeit seines Lebens auf einer Pazifikinsel gelebt und eine Einheimische geheiratet? Ab und an würde sie Arzfeld liebend gerne auf eine pazifische Insel verbannen, meinethalben mit zehn Choristinnen in Baströckchen. Susanne überlegte, ob Arzfeld auf dem Eiland im Stillen Ozean dann auch einen Chor gründen und welche Lieder er einstudieren würde. „Ich bin reif für die Insel“ von Peter Cornelius? Oder „La Paloma blanca“?

Arzfelds Stimme riss sie aus schwülen Pazifikträumen wieder in die eiskalte Mainzer Gegenwart. Die Johannes-Kantorei sollte aus dem Weihnachtsoratorium singen und Susanne bemühte sich, Arzfeld klarzumachen, dass im Heiligabend-Gottesdienst auch noch eine kurze Predigt, die Lesung der Weihnachtsgeschichte und das Krippenspiel der Kindergartenkinder Platz finden müssten – mit Maria und Verkündigungsengel. Außerdem möge es der Gemeinde erlaubt sein, das eine oder andere Lied selbst zu singen – z.B. „Stille Nacht, Heilige Nacht“. Letzteres sah der begnadete Kirchenmusiker leider nicht so recht ein. Susanne bemühte sich, nicht hörbar die Geduld zu verlieren – das war doch nicht das erste Weihnachtsfest, das Arzfeld als Kantor und Organist erlebte! Wieso gab es jedes Jahr, das ins Land ging, wieder die gleichen Diskussionen? Wessen Lob sollte eigentlich im Heiligabend-Gottesdienst gesungen werden? Das des Kirchenmusikers, der Kantorei, der Pfarrerin, das von Kimberly und Ann-Sophie oder das des Herrn Jesus? Susanne sehnte sich danach, einmal ohne maulende Reaktion „Stille Nacht“ als Gemeindelied vorschlagen zu dürfen. „Liebe Frau Hertz, das ist musikalisch und textlich doch allzu seicht, da könnten Sie ja gleich „O Tannenbaum“ singen lassen“, mäkelte Arzfeld über „Stille Nacht, Heilige Nacht.“

Ob Susanne ihm das mit dem Stillen Ozean einfach vorschlagen sollte? Stiller Ozean statt Stille Nacht? „Lieber Herr Arzfeld, Sie erinnern mich an Marlon Brando, wie wärs mit einem pazifischen Eiland als nächster Wirkungsstätte?“ Aber in einem Anfall pastoraler Weisheit verzichtete sie auf diesen Vorschlag und machte sich stattdessen daran, ihrem störrischen Kirchenmusiker noch einmal ihre Vorstellungen nahezubringen. Nach einer weiteren halben Stunde konnten sich die beiden endlich einigen, und immerhin: Susanne war sich sicher, dass der Heiligabend-Gottesdienst musikalisch ein Genuss werden würde, mit „Stille Nacht“ und ohne „O Tannenbaum“. Halleluja!

Erleichtert legte sie den Telefonhörer auf. Über die Qualität ihrer Predigt an diesem Höhepunkt des Jahres wagte sie allerdings keine Prognosen, denn bislang hatte sie erst die tragenden Worte „Liebe Gemeinde“ in ihren Laptop getippt. Sie schaute nach draußen, es schneite wieder. Das Telefon klingelte. Ob es sich Herr Arzfeld mit „Stille Nacht“ doch anders überlegt hatte? Manchmal wäre es schön, einfach katholisch zu sein, da gab es noch klare Hierarchien und nicht dieses manchmal nervige demokratische System wie bei den Protestanten, bei dem alle mitbestimmen wollten, von Arzfeld bis Kimberly, von der Mutter von Ann-Sophie bis zum Hausmeister. Karl Kardinal Lehmann musste bestimmt nicht darum betteln, im Dom „Stille Nacht“ singen zu dürfen. Auf der anderen Seite wäre es für sie als Frau auch nicht ganz einfach bei den Katholiken. Die Zeiten, in denen eine Frau Päpstin werden konnte, lagen lange zurück. Beim Volk kam dieser feine Unterschied nicht immer an. Auf die Information hin, dass sie Pfarrerin sei, reagierten manche Menschen tatsächlich öfter mit der Frage: „Katholisch oder evangelisch?“

Das Telefon klingelte weiter. Vielleicht war ja der Kardinal am Apparat? Oder der Papst? Aber es war weder Benedikt XVI. noch Karl Kardinal Lehmann, auch nicht Arzfeld, sondern ihre Freundin Tanja Schmidt.

„Ich habe niemanden umgebracht, auch nicht Kantor Arzfeld, obwohl ich dazu große Lust hätte“, sagte Susanne gut gelaunt.

„Hör auf mit deinen blöden Späßen“, meinte Tanja, „mir ist nicht zum Spaßen zumute.“

„Ist dir der Papst über die Leber gelaufen“, witzelte Susanne.

„Hör auf, hab ich doch gesagt. Hast du Zeit? Es ist dringend!“, antwortete Tanja.

„Jede Menge Zeit, wie jede Pfarrerin vor dem Heiligen Abend, wann möchtest du mich denn treffen, am 24. Dezember um 16 Uhr, zusammen mit etwa 300 Leuten in St. Johannis oder gleich in der Weinstube?“

„Ich komme zu dir“, sagte Tanja gereizt, „und, wenn es geht, in der Tat sofort, allerdings ganz sicher nicht in die Weinstube, sondern zu dir nach Hause.“

„Darf ich denn wissen, was der großen Kriminalkommissarin die gute Laune verdorben hat? Möchtest du vielleicht im Heiligabend-Gottesdienst „Ihr Kinderlein kommet“ singen und Kantor Arzfeld hat dir dafür alle musikalischen Höllenstrafen angedroht, die ein Protestant zu bieten hat?“

„Ihr Kinderlein kommet – sehr witzig. Ich bin schwanger, Susanne, und über dieses Weihnachtsgeschenk bin ich alles andere als erfreut.“

Eine halbe Stunde später saß Tanja weinend auf Susannes Sofa und Susanne war ziemlich ratlos. „Will nicht“ – „Erpressung“ – „Beruf“ – „Wolfgang“ – „Katastrophe“ – „Mutter“ – „noch nicht so weit“ – „Angst“ – „Ende“, waren Wortfetzen, die sie aus dem Schluchzen und Weinen heraus halbwegs verstehen konnte. Nachdem Tanja sich etwas beruhigt hatte, verstand sie die Situation besser. Sie wusste, dass Tanja und Wolfgang Jacobi eine schwierige Zeit miteinander hatten. Tanja war in einfachen Verhältnissen groß geworden und immer misstrauisch, ob sie Wolfgangs Ansprüchen wirklich genügen könne. Ihr Freund Wolfgang Jacobi verfügte über ein beachtliches Vermögen und war ein Mann, der sich in der ganzen Welt auskannte. Er hatte weltweit Firmen aufgebaut und war ein international gefragter Berater. Das war für Tanja eine stetig sprudelnde Quelle der Minderwertigkeitsgefühle. Wolfgang liebte Tanja sehr, aber es gelang ihm einfach nicht, ihr Misstrauen zu überwinden. Das hatte ihn zeitweise bitter gemacht, er fühlte sich zu alt für ein stets gefährdetes Verhältnis, sehnte sich nach innerer Balance in seinem Leben und Tanjas Verhalten verletzte ihn immer wieder tief. Tanja hoffte auf einen beruflichen Karrieresprung, der sie für Wolfgang zu einer gleichberechtigten Partnerin machen könnte, und begriff nicht, dass Wolfgang sie gerade so liebte, wie sie war – mit oder ohne Karriere bei der Polizei. Wolfgang wiederum konnte nicht verstehen, dass Tanja das Gefühl brauchte, aus eigener Kraft etwas erreicht zu haben, unabhängig von seinem Geld und seinen Verbindungen.

Jetzt war in einer Nacht, in der die beiden sich nicht entscheiden konnten, ob sie sich trennen oder beieinander bleiben sollten, ein Kind entstanden. Tanja wusste, dass Wolfgang sich über nichts mehr freuen würde, und sah zugleich ihre Hoffnung auf eine berufliche Karriere durch ein Baby, das ihre Nähe und Zuwendung bräuchte, in weite Ferne entschwinden. Mit Wolfgang wollte sie natürlich nicht über ihre Zweifel reden, ob sie das Kind austragen solle oder nicht. Er wusste auch nichts von der Schwangerschaft.

In dieser Nacht hatten sie erkannt, dass es so jedenfalls nicht mehr weitergehen könne, und sie wollte ihn auf keinen Fall mit einem Kind erpressen. Susanne versuchte tapfer, sich durch den Gedankenwust ihrer Freundin zu kämpfen.

„Warum bedeutet eigentlich ein Kind das Ende deiner Karriere?“, fragte sie mitten in das Weinen und Argumentieren hinein.

Tanja stutzte. „Das ist doch klar!“, meinte sie.

„Nun ja“, entgegnete Susanne, „wir leben ja nicht mehr in den Sechzigerjahren und meines Wissens gibt es heute Kinderkrippen, mit Wolfgangs Geld sicher auch eine private Kinderfrau und vielleicht hat ja auch der Kindsvater selbst Lust und Laune, sich um seinen Nachwuchs zu kümmern. Ich habe gehört, dass auch Väter ihre Kinder großziehen können, wenn die Mütter arbeiten.“

Tanja war so verblüfft, dass ihr der Mund offen stehen blieb. „Daran habe ich gar nicht gedacht.“ Im nächsten Moment flossen jedoch wieder die Tränen. „Ich will es auch alleine schaffen, ohne Wolfgang!“

Susanne schüttelte den Kopf. „Dieses Kind hat keiner von euch alleine geschafft, das habt ihr miteinander hingekriegt. Wenn du es also behalten willst, könnt ihr auch gemeinsam entscheiden, wie es zu betreuen ist.“

Tanja brach wieder in Tränen aus. „Wir bekommen unsere Beziehung ja jetzt schon nicht hin, wie sollen wir dann ein Kind schaffen?“