Schneiderei Graf  - Wendezeiten - Susanne Kriesmer - E-Book

Schneiderei Graf - Wendezeiten E-Book

Susanne Kriesmer

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Beschreibung

Bad Godesberg, 1988: Ediths Tochter Astrid hat nach dem Abitur ein Studium in Modedesign abgeschlossen - allerdings wäre es ihrer Familie lieber gewesen wäre, wenn sie ein Handwerk erlernt hätte. Als ihr Onkel Joachim plötzlich spurlos verschwindet, soll sie in der Schneiderei der Familie arbeiten. Doch Astrid wäre nicht Ediths Tochter, wenn sie nicht ihren eigenen Weg gehen würde. Sie flüchtet nach West-Berlin, um dort ein eigenes Mode-Label aufzubauen. In den Wirren und der Euphorie des Mauerfalls lernt sie den Musiker René kennen, und mit ihm an ihrer Seite scheint plötzlich alles möglich.

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Widmung

PROLOG

1988

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EPILOG

NACHWORT

DANKSAGUNG

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

Bad Godesberg, 1988: Ediths Tochter Astrid hat ihr Studium in Modedesign abgeschlossen und arbeitet an ihrer ersten Kollektion. Ihrer Familie wäre es allerdings lieber, sie würde ihr Talent in der familieneigenen Schneiderei einsetzen. Nach einem Streit mit ihrer Mutter und dem Verschwinden ihres Onkels flüchtet Astrid nach West-Berlin, um sich auf die Suche nach ihren Wurzeln zu machen. Außerdem möchte sie ihren Traum verwirklichen und ein eigenes Modelabel gründen. In den Wirren und der Euphorie zur Zeit des Mauerfalls, lernt sie den sympathischen René kennen. Mit ihm an ihrer Seite scheint plötzlich alles möglich. Doch was ist mit ihrer Familie?

Susanne Kriesmer

Wendezeiten

In Gedenken an Rita L.

PROLOG

Sommer 1978, Bonn-Friesdorf

You´re the one that I want von John Travolta und Olivia Newton-John dröhnte aus dem Kassettenrekorder durch das Jugendzimmer. Konzentriert versuchte Astrid, den Schritten des Grease-Tanzkurses aus der BRAVO zu folgen, die aufgeschlagen auf der Couch lag.

Schritt nach vorn. Schritt zurück. Die Hände an die Hüften und dann ...

Die Tür wurde aufgerissen, und Britta stürzte herein. Ohne zu fragen, warf sie sich auf die bunt gestreifte Bettcouch und fing an, in der Zeitschrift zu blättern.

»Pfoten weg!«, rief Astrid. »Das ist meine.« Sie versuchte, ihrer kleinen Schwester die Zeitschrift zu entreißen.

Aber Britta war schneller. Mit einer Drehung rollte sie sich von der Couch, hielt triumphierend die BRAVO in die Luft: »Hol sie dir doch!« Sie streckte ihr die Zunge heraus.

Das war zu viel! Astrid schnaubte wütend. Sie machte einen Schritt auf Britta zu und bekam eine Ecke der Zeitschrift zu fassen. Im gleichen Moment riss ihre Schwester den Arm hoch. Ein lautes, ratschendes Geräusch übertönte für einen Moment die Musik aus dem Kassettenrekorder – und Astrid hielt Fetzen bunten Papiers in der Hand. Britta ließ mit großen Augen den Rest der Zeitschrift fallen und war so rasch verschwunden, wie sie eben hereingekommen war.

Astrid spürte Tränen in sich aufsteigen. »Die kaufst du mir neu!«, brüllte sie ihrer Schwester in den engen Hausflur hinterher, bevor sie die Zimmertür mit Schwung ins Schloss warf. Die Seiten der zerrissenen Zeitschrift flatterten vom Luftzug hoch. Weinend lehnte Astrid sich von innen an die Tür, rutschte daran herunter. In der Hand hielt sie immer noch die Papierfetzen. Sie zerknüllte sie und pfefferte sie auf den Boden. Warum musste Britta nur so blöd sein? Immer wollte sie haben, was Astrid hatte. Wollte machen, was Astrid machte. Wollte mit dabei sein, wenn Astrids Freunde zu Besuch waren. Und viel zu oft musste Astrid sie mitnehmen und auf sie aufpassen. Als wenn sie mit ihren sechzehn Jahren nichts Besseres zu tun hätte, als auf die zwölfjährige Schwester aufzupassen! Britta war doch nur ein Klotz am Bein, nichts anderes. Aber das wollten ihre Eltern ja nicht einsehen. Vor allem ihre Mutter nicht. Von der bekam sie immer zu hören, wie gern sie selbst eine Schwester gehabt hätte. Was kann ich denn dafür, dass sie stattdessen nur Onkel Joachim zum Bruder hat, dachte Astrid. Immerhin einen Zwillingsbruder! Einen Zwilling zu haben, das stellte sich Astrid spannend vor. Das war bestimmt etwas ganz anders als eine nervige kleine Schwester.

Sie starrte auf die zerknüllten Fetzen und auf die zerrissene BRAVO. Wie würde sie denn am Montag in der Schule dastehen, wenn alle den Tanz des Musicals Grease beherrschten, nur sie nicht! Astrid griff nach der Zeitschrift, ließ sie aber sofort wieder fallen. Das war doch Mist! Britta hatte es mal wieder geschafft, ihr Leben zu zerstören. Sie vergrub ihren Kopf in den Händen.

Eine Zeit lang saß sie einfach nur da, den Rücken an die Tür gelehnt, bis plötzlich Stimmen im Haus laut wurden. Ihre Eltern stritten. Mal wieder. Vor etwas mehr als einem Jahr hatte es angefangen. Astrid wusste nicht, was der Auslöser dafür gewesen war. Aber seitdem stritten ihre Eltern. Und wenn sie nicht stritten, dann schwiegen sie, das war fast noch schlimmer. Bislang hatte Astrid nie mithören können, weil ihre Eltern sofort verstummt waren, wenn sie bemerkt hatten, dass sie nicht allein waren. Aber jetzt konnten sie Astrid nicht bemerken. Sie drehte den Kopf, sodass ihr Ohr an der Tür lag. Durch das dünne Holz hörte sie alles.

»Es reicht. Es reicht so was von! Das hier ... dieser Brief ... das geht nicht mehr.« Das war ihr Vater.

»Du hast es gewusst. Vom ersten Tag an hast du es gewusst«, erwiderte ihre Mutter.

»Ja. Das habe ich. Aber ich habe gedacht, dass sich das gibt. Dass du mit der Zeit siehst, was du an mir hast.«

»Mein Gott, Heinz! Gib mir den Brief. Ich weiß genau, was ich an dir habe. Aber ich kann mein Herz nicht zwingen, ihn zu vergessen.«

Ihn? Von wem sprach ihre Mutter?

»Weißt du eigentlich, wie schlimm das all die Jahre für mich war? Nach Astrids Geburt und erst nach Brittas ... ich dachte, wir wären glücklich. Wir wären eine Familie.«

»Wir waren glücklich, und wir sind eine Familie.«

»Ehrlich? Ich bin mir da nicht mehr so sicher. Dass du nach dieser langen Zeit immer noch an ihm hängst. Ich ... ich kann das nicht mehr länger ertragen! Das Wissen, nur an zweiter Stelle zu stehen, immer nur an zweiter Stelle ... Edith, das geht nicht mehr.«

»Du wusstest es. Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht. Nie. Du wusstest, dass ein großer Teil meines Herzens Paul gehört.«

Paul. Endlich ein Name. Fieberhaft überlegte Astrid, ob sie irgendjemanden mit diesem Namen kannte ...

»Ja, das weiß ich. Ich seh es doch jeden Tag. An dir, an A...«

»Heinz«, unterbrach ihre Mutter ihn. »Ich verstehe, dass es für dich nicht einfach ist. Aber ich kann nun mal nichts dagegen tun.«

Astrid stockte der Atem. Ihre Mutter liebte einen anderen. Und ihr Vater wusste davon?

»Das soll es besser machen?«, fragte ihr Vater kalt.

»Du weißt, wie viel mir an dir liegt.«

»Dir liegt viel an mir ... Aber du liebst mich nicht.«

»Heinz ...«

Astrid wandte den Kopf ab und presste sich die Hände auf die Ohren. Sie wollte das nicht hören. Sie hatte genug mitbekommen. Wenn sie eins und eins zusammenzählte, dann ließ das für sie nur einen Schluss zu: Ihre Mutter liebte jemanden namens Paul. Das musste der Grund sein, warum ihre Eltern in letzter Zeit immer stritten. Dabei hatte sie gedacht, das würde vorübergehen. Ihre Eltern waren doch schon so lange verheiratet – sie waren eine glückliche Familie. Sie alle zusammen. Vater, Mutter, Kinder. Sachte schaukelte Astrid vor und zurück. Die Bewegung beruhigte sie, beruhigte ihr holperndes Herz.

»Das mit uns, das ist vorbei! Und diesmal endgültig!«, schrie Heinz mit einem Mal so laut, dass Astrid es hörte, obwohl sie sich die Ohren zuhielt.

Schwere Schritte erklangen im Flur. Dann wurde die Haustür zugeknallt. Astrid hielt im Schaukeln inne und nahm die Hände herunter. Kurz lag eine unheimliche Stille über dem Haus, bis aus dem Kassettenrekorder Stayin' Alive von den Bee Gees erklang. Astrid saß auf dem Boden und starrte wieder auf die Zeitung vor sich, die zerknüllten Fetzen daneben. Hatte sie eben gedacht, ihr Leben sei zerstört, wegen einer zerrissenen BRAVO? Das war nichts. Gar nichts!

1988

1

Mai, Bonn-Bad Godesberg

»Also wirklich, Süße, du versauerst am Rhein doch nur. Gib dir einen Ruck und dann ab mit dir in den nächsten Zug Richtung Berlin.«

Astrid saß im Wohnzimmer der Villa und hatte den Telefonhörer zwischen Kopf und Schulter geklemmt. Konzentriert blickte sie auf die Finger ihrer rechten Hand, um die sie in der letzten Viertelstunde das spiralig gewellte Telefonkabel gewickelt hatte. »Ich weiß nicht ...«, sagte sie.

»Aber ich weiß es«, kam es von Sabine wie aus der Pistole geschossen zurück. Astrid konnte förmlich hören, dass sie dabei grinste.

»Ich will mich doch auf meine Kollektion konzentrieren«, begann Astrid, »in Ruhe neue Ideen entwickeln und ...«

»Noch ein Grund mehr, nach Berlin zu kommen!«, unterbrach Sabine sie. »Wenn du auf der Suche nach neuen Einflüssen und Trends bist, musst du wohl oder übel an die Spree kommen.«

Astrid verzog den Mund. Sabine hatte leicht reden. Sie war in West-Berlin aufgewachsen, kannte das Leben in einer ummauerten Stadt mitten in der DDR mit nur ein paar Transitstraßen rein und raus in den Westen. Astrid stellte sich das furchtbar vor, so eingekesselt zu sein. Und dann hatte sie immer die Stimme ihrer Mutter im Ohr, dass Berlin eine grausame Stadt sei. Eine geteilte Stadt, die einem alle Träume zerstören würde. Astrid verstand zwar nicht, was für ein Problem ihre Mutter mit Berlin hatte, aber die Sätze hatten sich eingebrannt. »Ich ... ich denk mal drüber nach, okay?«, antwortete sie ausweichend.

»Ach, Süße. Du musst wirklich lernen, über deinen Schatten zu springen.«

Mit einem Ruck zog Astrid ihre Finger aus dem Kabel. »Was soll das denn heißen?«, fragte sie.

»Ich sag nur: erster Abend im Wohnheim«, erwiderte Sabine.

Astrid seufzte schwer, als sie an den besagten Abend zurückdachte. Seit sich ihre Eltern 1978 getrennt hatten und sie plötzlich Knall auf Fall gezwungen gewesen war, mit Britta und ihrer Mutter aus dem kleinen Häuschen in Friesdorf in die Villa in der Dürenstraße umzuziehen, tat sie sich schwer mit großen Veränderungen in ihrem Leben. Kontinuität war zu ihrem Anker geworden. Alles, was gleich blieb, gab ihr Halt und Sicherheit. Dass sie sich nach ihrem Abitur 1981 tatsächlich dazu hatte überwinden können, für ein Studium in Modedesign nach Hamburg zu gehen, hatte sie schon am ersten Abend bereut. Sie konnte sich nicht erklären, was in sie gefahren war. Die Freude über das Ende der Schulzeit an der katholischen Mädchenschule in Bad Godesberg hatte sie wohl alle Bedenken über Bord werfen lassen. Einmal in Hamburg, hatte es kein Zurück mehr gegeben, und so hatte sie sich weinend in den Armen einer völlig fremden Kommilitonin wiedergefunden, die seitdem ihre beste Freundin war: Sabine Ruhland aus West-Berlin, klein, quirlig und das komplette Gegenteil von Astrid. »Pass auf«, sagte sie, »ich verspreche dir, dass ich wirklich darüber nachdenke. Geht das klar?«

»Die Wohnung von meiner Mutti und mir ist zwar klein, aber trotzdem ist in meinem Zimmer eine Couch, die nur auf dich wartet«, erwiderte Sabine.

»Und was sagt deine Mutter dazu?«

»Mutti ist irre lässig, das hab ich dir bestimmt schon tausendmal erzählt. Meinst du, ich würde sonst noch bei ihr wohnen?«

»Ja, ja, ich weiß«, sagte Astrid.

Es gab einen Moment der Stille, dann sagte Sabine: »Gut, dann also bis bald?«

»Ich ruf dich am Wochenende wieder an«, versprach Astrid.

»Weißt du, wenn du herkommen würdest, könnten wir uns die Telefontermine sparen.«

*

Denkmal und Gedenktage geplant

Die Autorin und Fernsehjournalistin Lea Rosh regt den Bau eines Denkmals für die ermordeten Juden Europas an. Es wurde ein Förderkreis gegründet, der großen Zuspruch fand, auch in Form von Spenden. Man möchte sich jetzt mit der Planung befassen und nach einem geeigneten Bauplatz in West-Berlin suchen.

Die Bundesregierung hat unterdessen in Bonn die Einrichtung nationaler Gedenktage für die Opfer des Holocaust beschlossen. Man möchte in Zukunft das Gedenken anlässlich des 50. Jahrestages der Novemberpogrome 1938 verstärken, so ein Sprecher.

Edith starrte auf den Zeitungsartikel. Die Buchstaben und Wörter brannten sich tief in ihre Netzhaut, während sie ohne zu Blinzeln darauf sah. Vor fast dreißig Jahre hatten Helene und Richard Graf ihr offenbart, dass sie nicht ihre leibliche Tochter war, sondern das Kind jüdischer Eltern. Ruth und Aaron Stern hatten den Grafs zu Beginn des Zweiten Weltkriegs die Schneiderei und ihre gerade erst geborene Tochter anvertraut. In der Hoffnung auf ein Wiedersehen, das es nie gegeben hatte, denn sie waren in Buchenwald gestorben. Das hatte Edith im Laufe der Jahre herausgefunden. Sie hatte Briefe in die ganze Welt geschickt und Kontakt zum Yad Vashem Museum in Jerusalem aufgenommen, bis sie endlich erfahren hatte, was mit ihren leiblichen Eltern geschehen war.

Ihren Töchtern hatte sie bisher noch nicht davon erzählt. Die einzigen Menschen, die von ihrer jüdischen Herkunft wussten, waren Joachim und Paul. Und das war besser so. Sicherer. Nach dem Krieg waren viele hochrangige Nazis wieder in den Regierungsapparat integriert worden. An allen möglichen Stellen saßen sie. Und dass der Hass auf die Juden nie völlig verschwunden war, hatte sie an Weihnachten 1959 und im Frühjahr 1960 mitansehen müssen, als eine Welle von Synagogenschändungen sich durch ganz Deutschland gezogen hatte. Und das war nicht das Ende gewesen. Mit großer Besorgnis hatte Edith über die Jahre mitverfolgt, wie der Antisemitismus immer mehr zunahm. Ende der 70er-Jahre hatte es in München an einer Bundeswehrhochschule eine symbolische »Judenverbrennung« gegeben, in den Monaten danach eine regelrechte »Hitlerwelle«. Auf den Titelbildern der namhaftesten Zeitungen im In- und Ausland wurde der Führer gezeigt, sein Leben ausgebreitet, in einer Nostalgie, bei der sich Edith die Nackenhaare aufstellten. An die immer stärker werdende Bewegung der sogenannten Neonazis wollte sie gar nicht denken. Die Gefahr war allgegenwärtig, und deshalb hatte Edith für sich entschieden, es ihren Töchtern erst mitzuteilen, wenn sie erwachsen waren und sich der richtige Moment dafür fand. Wenn Astrid und Britta die Zusammenhänge verstehen und einordnen konnten – und dann für sich selbst entscheiden konnten, wie sie damit umgehen wollten.

Edith faltete den Bonner General-Anzeiger zusammen und warf ihn mit einer Drehung aus dem Handgelenk auf den Kassentresen der Schneiderei Graf. Die Zeitung machte ein klatschendes Geräusch, als sie aufkam, und nun lächelte ihr eine Karikatur von Kanzler Kohl, mit großer Birne als Kopf, entgegen. Edith wusste nicht, was sie von Helmut Kohl halten sollte. In ihren Augen hatte er nicht das Format, das die früheren Bundeskanzler gehabt hatten. War kein Vergleich zu Adenauer oder Brandt.

Da ihr vom langen Sitzen die Beine schmerzten, stand Edith von dem Hocker hinter dem Tresen auf. Sie strich ihren Rock glatt, bevor sie den Geschäftsraum durchquerte.

In den letzten Tagen hatte sie kaum Abwechslung gehabt, es war nicht viel Kundschaft im Geschäft gewesen. Die warme Spätfrühlingssonne und die aufgeblühte Natur lockten die Menschen nach draußen ins Grüne, und die Bad Godesberger Innenstadt lag verlassen da. Deshalb hatte Edith ihre jüngere Tochter Britta nach einem Blick ins Auftragsbuch nach Hause geschickt. Nun saß nur noch Joachim an der Nähmaschine im Arbeitszimmer, während sie vorn die Stellung hielt. Edith warf einen Blick auf die Uhr. Ein paar Stunden, dann könnte sie die Ladentür abschließen und die Lichter löschen.

Edith trat an die Schaufensterscheibe und sah hinaus. Wie sehr sich Bad Godesberg verändert hatte. Seit fast zwanzig Jahren gehörte es zu Bonn, war nur noch ein Stadtteil, ein Vorort: Bonn-Bad Godesberg.

Sie sah hinüber zum Theater und zum Inselhotel. Hier gab es kaum noch Asphalt. Busbahnhof und Straße waren einer Fußgängerzone aus roten Steinen gewichen, dem Theaterplatz. Edith vermisste das geschäftige Treiben, vermisste die Autos und Busse. Natürlich verstand sie den Gedanken dahinter, trotzdem waren für sie als Ladenbesitzerin die Zeiten besser gewesen, als die Kunden noch mit dem Auto vor der Ladentür hatten halten können. Aber auch da war nun Fußgängerzone, und in dieser Ecke der Stadt war es ruhiger geworden. Die meisten Menschen sah man vom Theaterplatz direkt hinauf zum Fronhof laufen. Zum Hertie, der seit Ende der 60er-Jahre mit seinem gleichermaßen bunt gemischten wie umfangreichen Warenangebot lockte. Gerade die Modeabteilung hatte ihnen für einige Zeit das Leben in der Schneiderei schwer gemacht. Und auch während der scheinbar ewig andauernden Bauphase des Altstadtcenters Anfang der 80er waren die Umsätze eingebrochen. Direkt vor ihrer Nase in den Michaelshof hatten sie dieses Ungetüm aus roten Ziegelsteinen gebaut. Edith musterte die breite, kaskadenförmige Treppe, die mehr eine lang gezogene Rampe war und auf einen erhöhten Platz führte, der umgeben war von Wohnblocks mit Läden und Restaurants im Erdgeschoss. Sie mochte diesen Baukoloss nicht. Tausende von täglichen Besuchern hatten sich die Stadtplaner damals davon versprochen, tatsächlich sah man kaum Menschen dort hinaufgehen.

Zum Glück liefen die Geschäfte in der Schneiderei Graf wieder stabil. Nicht zuletzt, weil Edith zusammen mit Joachim aus der ehemaligen Herrenschneiderei eine Damen- und Herrenschneiderei gemacht hatte. Das war die beste Entscheidung gewesen, stellte sich doch heraus, dass gerade die Politikergattinnen einen hohen Bedarf an neuer und maßgeschneiderter Kleidung hatten. Die wollten nichts von der Stange, nichts vom Hertie oder Kaufhof.

Edith ging zurück zum Tresen. Immer noch thronte die alte, schwere Registrierkasse darauf, immer noch gab es die dunkle Regalwand mit den Musterstoffen. Das Interieur der Schneiderei war gleichgeblieben, während sie das Geschäftsmodell umgekrempelt hatten. Und auch ihr eigenes Leben hatte sich radikal geändert. Als ihre Töchter in den 70ern zur Schule gingen, hatte Edith viel Zeit allein in dem kleinen Häuschen in Friesdorf verbracht. Zuerst hatte sie diese ruhigen Stunden am Vormittag genossen, aber dann war ihr klar geworden, dass das nicht das Leben war, das sie führen wollte. Sie hatte doch immer schon den Wunsch verspürt, auf eigenen Beinen zu stehen, hatte ihr eigenes Geld verwalten wollen, und nun? Sie war zu einer Hausfrau geworden, zu einem Heimchen am Herd. Saß zu Hause, abhängig von ihrem Ehemann. Mit diesen ernüchternden Gedanken hatte sie erkannt, dass sie endlich ihre Lehre zur Schneiderin beenden musste und dass sie damit noch lange nicht am Ziel angekommen war. Das war zum ersten wirklichen Streitpunkt in der Beziehung zwischen ihr und Heinz geworden. Dem ersten von vielen. Als die Ehe endgültig in die Brüche gegangen war, hatte Edith es wie einen Befreiungsschlag empfunden. Sie hatte gute Jahre mit Heinz gehabt, ja. Er war für sie da gewesen, hatte Astrid wie sein eigenes Kind angenommen. Sie waren glücklich gewesen – vor allem als ihre gemeinsame Tochter Britta geboren worden war. Aber im Rückblick war das alles nur eine Momentaufnahme gewesen. Die Umstände, die zu der Ehe mit Heinz geführt hatten, hatten letztlich auch deren Zerbrechen zur Folge gehabt: Astrid war das Kind von Paul. Das Kind des Mannes, den sie immer noch liebte. Auch nach all diesen Jahren. Des Mannes, der durch den Bau der Berliner Mauer 1961 von ihr getrennt worden war. Einfach aus ihrem Leben geschnitten, ohne dass sie irgendetwas dagegen hätte unternehmen können. Am Tag ihrer Hochzeit – als sie mit Heinz vor dem Portal der Kirche gestanden hatte – war sie zuversichtlich gewesen. Sie hatte Heinz doch auch geliebt. Sie hatte sich dazu entschieden, also hatte sie gedacht, dass es so bleiben würde. Aber mit der Zeit war es anders gekommen.

Edith nahm wieder auf dem Sitzhocker Platz. Die erste Zeit der Trennung war nicht einfach gewesen. Zum Glück hatte Joachim ihr Rückhalt gegeben. Er hatte sie und die Mädchen in der elterlichen Villa aufgenommen. Er hatte Edith unterstützt auf ihrem Weg als alleinerziehende Mutter, die ihre Lehre und im Anschluss auch noch den Meister gemacht hatte. Es war schön, ihn an ihrer Seite zu wissen. Es zeigte ihr, wie vielfältig Familie sein konnte. Auch ohne Blutsverwandtschaft konnte man Bruder und Schwester sein.

Edith stützte sich mit einem Ellenbogen auf dem Tresen auf. Eine kurze Locke fiel ihr in die Stirn. Mit einem Finger strich sie sie zurück. Es war bald wieder an der Zeit, sich eine neue Dauerwelle machen zu lassen. Manchmal vermisste sie ihr langes, glattes Haar, das sie als Jugendliche mit einem blauen Band meist als Pferdeschwanz getragen hatte. Aber diese Zeiten waren lange vorbei.

*

Der Bleistift kratzte über das Papier. Strich fügte sich an Strich, Schraffur an Schraffur. Hier noch etwas radieren, da noch ein wenig mit dem Finger verwischen, ja, das sah gut aus.

Astrid lag quer über ihrem Bett. Die braunen Haare hatte sie mit einem bauschigen Zopfgummi zur Seite gebunden. Vor ihr lag das aufgeschlagene Skizzenbuch. Mit den Füßen wippte sie zum Takt der Musik, die leise aus dem Radio drang. Durch das offene Fenster hört sie das Zwitschern von Vögeln und entfernt einen Hund bellen. Es wehte eine angenehme Brise herein, die den Geruch nach frischem Gras und Blumen mit sich brachte. Die Ecken der Poster an der Wand flattern leicht. Film- und Bandposter, Astrid hatte alles bunt und querbeet aufgehängt. Ihr liebstes war das von Zurück in die Zukunft, das Michael J. Fox zeigte. Sie mochte diesen Schauspieler, sehr sogar.

Nach dem Telefonat mit Sabine hatte sie noch eine Weile im Wohnzimmer gesessen und zum Fenster der Villa hinaus auf die Dürenstraße geschaut. Hatte darüber nachgedacht, was ihre Freundin gesagt hatte: Sie solle über ihren Schatten springen.

Als sie vor über einem Jahr nach dem Studium wieder in ihrem Zimmer in der Villa eingezogen war, hatte sie gedacht, dass es höchstens für ein paar Wochen sein würde. Eben nur so lange, bis sie mit ihrer ersten Kollektion fertig war, damit sie weiter in die Welt reisen konnte. Und jetzt war sie immer noch dabei, Ideen zu sammeln und Inspiration zu finden. Manchmal fragte sie sich selbst, ob sie diese nicht finden konnte oder nicht finden wollte.

Die vertraute Umgebung der Villa hatte sie schnell in alte Muster zurückfallen lassen. Nach wenigen Tagen war sie wieder mit Mofa, ihrem Freund aus Jugendtagen, zusammengekommen, und seitdem zog sie mit ihm um die Häuser und ließ sich vom Leben treiben. Immer mit der Hoffnung, neue Eindrücke für ihre Mode zu gewinnen.

Nachdenklich kaute Astrid an ihrem Bleistift. Sie betrachtete die Figurine, die sie mit geübten Strichen gezeichnet hatte, wie sie es in ihrem Studium gelernt hatte. Eine Abfolge von Quadraten, Dreiecken und Kreisen, die mit jeder Bleistiftlinie mehr zu einem menschlichen Körper geworden war.

Ob Sabine wohl recht hat?, überlegte Astrid. Wäre es besser für mich, nach West-Berlin zu ziehen, um da an meiner Kollektion zu arbeiten? Sie biss die Zähne zusammen. Sie wollte nicht nach Berlin. Sie blickte zur Fensterbank hinüber, zu der kleinen Schneekugel mit der Freiheitsstatue, die sie vor einigen Jahren von ihrer Patentante Rita geschenkt bekommen hatte. Eigentlich war es ihr großer Traum, nach New York zu gehen, auch wenn sie noch nicht wusste, ob sie jemals einen so großen Schritt wagen würde.

Sie setzte den Stift erneut an. In ihrer Vorstellung hatte sie einen weichen Stoff vor Augen. Nun zog sie große Striche, deutete eine Silhouette an.

Im Radio setzten die Nachrichten ein, Astrid hörte gar nicht genau hin. Erst, als der Name »Graf« fiel, war sie wieder ganz Ohr. Natürlich war damit nicht die Schneiderei Graf oder ihr Onkel Joachim Graf gemeint, es ging um die Tennisspielerin Steffi Graf, die die achtmalige Wimbledonsiegerin Martina Navratilova besiegt und das weltbekannte Tennisturnier für sich entschieden hatte. Dabei war sie gerade mal neunzehn Jahre alt. Astrid zeichnete weiter. Mit neunzehn war sie noch lange nicht an einem Punkt in ihrem Leben gewesen, der so bedeutend war. Wie sie auch im Augenblick noch das Gefühl hatte, weit davon entfernt zu sein.

»... und jetzt machen wir weiter mit einem schon etwas älteren Titel, der zu meinen persönlichen Lieblingen gehört«, säuselte der Radiomoderator, und die ersten Klänge ertönten. Astrid fuhr erschrocken hoch. Skizzenbuch und Bleistift fielen zu Boden. Dieses Lied! Nicht schon wieder dieses Lied. Wie sie es hasste! Seit dem Tag, an dem ihr Leben zerbrochen war und sich in einen Scherbenhaufen verwandelt hatte. Dem Tag, an dem sie durch das dünne Holz ihrer Zimmertür das Streitgespräch zwischen ihren Eltern mitgehört hatte. In den Tagen und Wochen danach war sie wie in Trance gewesen. Alles war Schlag auf Schlag gegangen: Ihr Vater war ausgezogen. Das Haus in Friesdorf war kurze Zeit später verkauft worden, während sie mit ihrer Mutter und Britta hierher in die Villa von Onkel Joachim hatte ziehen müssen. In die Dürenstraße. Da war genug Platz, nachdem Oma Helene vor zwei Jahren gestorben war. Die orange Schrankwand war das Einzige, das ihr von ihrem ehemaligen Jugendzimmer geblieben war. In dem großen Altbauzimmer mit der hohen Decke hatte sie vom ersten Tag an wie ein Fremdkörper gewirkt, genauso fremd wie Astrid sich gefühlt hatte und immer noch fühlte. Nicht nur in der Villa, in ihrem Leben.

Astrid sprang vom Bett auf und schaltete das Radio aus. Jetzt war nur noch das Zwitschern der Vögel zu hören. Der Hund hatte aufgehört zu bellen. Die Brise ließ Astrid mit einem Mal frösteln. Sie schloss das Fenster. Vom Boden hob sie Skizzenbuch und Bleistift auf. Mit einem traurigen Blick bedachte sie ihre Zeichnung, bevor sie das Buch zuklappte und weglegte.

Damit war es für heute vorbei.

Stayin' Alive hatte sie eingeholt. Wieder einmal.

Astrid war in der Küche vor dem geöffneten Kühlschrank in die Hocke gegangen, als sie das Geräusch aus dem Flur hörte. Wie ertappt hielt sie inne und horchte. Jemand schloss die Haustür der Villa auf, betrat den Flur und knallte dann mit Schwung die Tür ins Schloss. Britta. Niemand anderes machte das so. Astrid versuchte, zu erkennen, was sich alles im Kühlschrank befand. Vor ein paar Tagen hatte die kleine Glühbirne, die aufleuchtete, sobald die Tür geöffnet wurde, ihren Geist aufgegeben: Im Graf´schen Kühlschrank herrschte Dunkelheit. Astrid öffnete das Eisfach. Sie brauchte etwas Süßes. Am besten Eis, wenn noch welches da war. Aber außer Tupperdosen mit undefinierbarem Inhalt, einem total überfrorenen Eiswürfelbehälter und einer durchweichten Pappschachtel war nichts zu finden. Sie zog geräuschvoll Luft durch ihre Nase ein und aus. Da musste sie wohl an die Tiefkühltruhe in den Keller gehen und hoffen, dort etwas zu finden, obwohl sie darauf keine Lust hatte. So, wie sie gerade auf gar nichts Lust hatte. Am liebsten hätte sie sich ins Bett gelegt und die Decke über den Kopf gezogen. Wenn sie im Radio nur nicht dieses verfluchte Lied gespielt hätten ...

Astrid schloss Tiefkühlfach und Kühlschrank und richtete sich wieder auf.

»Was sehen meine müden Augen? Ist das tatsächlich meine große Schwester, die sich aus dem Bett bequemt hat?«

Astrid fuhr herum. Britta war an der Tür zur Küche erschienen. Sie trug eine weite Bluse mit Polka Dots zu einer Karottenjeans.

»Was soll das denn heißen?«

»Genau das, was es heißen soll.« Britta drängte sich an ihr vorbei und beugte sich zum Kühlschrank hinunter, wobei ihr das dunkelbraune, zu einem Bob geschnittene Haar ins Gesicht fiel.

»Und das wäre?« Astrid lehnte sich an die Spüle und verschränkte die Arme vor der Brust.

Ihre Schwester fischte zielsicher ein Stück Käse aus dem dunklen Kühlschrank und schloss ihn wieder. »Mein Gott!«, sagte sie, während sie sich aufrichtete. »Es soll heißen, dass du den lieben langen Tag schläfst, unsere Vorräte auffutterst, ohne deinen Teil dafür zu tun!« Sie biss in das Käsestück.

Astrid spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. »Was meinst du damit, meinen Teil tun?«

Ihre Schwester fixierte sie, während sie bedächtig zu Ende kaute. »Ich, Mama und Onkel Joachim«, sagte sie dann, »wir rackern uns in der Schneiderei ab.«

Astrid seufzte. Das alte Lied. Wieso konnte Britta nicht verstehen, dass sie andere Ziele hatte? Sie wollte ein eigenes Modelabel auf die Beine stellen und nach New York gehen. Aber es hatte keinen Sinn, jetzt mit ihrer Schwester diese Diskussion anzufangen. »Der Esel nennt sich ja immer zuerst«, sagte sie nur.

Britta rollte mit den Augen. »Ja klar, lenk nur ab.«

Dieser herablassende Tonfall. Astrid kochte. Dass sie die Reaktion ihrer Schwester selbst provoziert hatte, ignorierte sie geflissentlich. »Ich lenke nicht ab, ich stelle nur Tatsachen fest«, antwortete sie bemüht ruhig.

»Tatsachen?« Ihre Schwester hob die Augenbrauen an. »Was ich eben gesagt habe, ist eine Tatsache.«

»Du bist doch eifersüchtig, weil ich studiert habe und du nur eine Lehre gemacht hast.«

Britta nahm einen weiteren Bissen Käse. Sie kaute und bedachte Astrid dabei mit einem abschätzigen Blick. »Weißt du«, sagte sie, als sie fertig war, »ich wollte nie studieren. Und das war auch gut so. Du hast dein Studium gemacht, ich meine Lehre. Fertig waren wir beide letztes Jahr. Ich habe seitdem in der Schneiderei gearbeitet und du hast ...«

»Ich habe nicht den ganzen Tag geschlafen!«, unterbrach Astrid sie. Sie hatte plötzlich das Gefühl, sich verteidigen zu müssen.

»Und was hast du dann gemacht?«

»An der ersten Kollektion für mein Label gearbeitet, wenn du es unbedingt wissen willst.«

»Ach ja, die Kollektion. Die, an der du ...« Britta runzelte die Stirn und legte in einer übertriebenen Geste den Zeigefinger an den Mund. »... schon fast ein Dreivierteljahr arbeitest? Die Kollektion? Ja? Die schon ... warte mal ...« Sie tat so, als würde sie etwas mit den Fingern aufzählen wollen und warf dann die Hände in die Luft. Das restliche Stück Käse flog hoch und landete auf dem Küchentisch. »... gar kein einziges Kleidungsstück umfasst? Die?«

Da hatte Britta genau den wunden Punkt getroffen. »Du hast da was verloren«, erwiderte Astrid trotzig und deutete mit dem Kinn zu dem Käse auf dem Küchentisch.

»Und du lenkst wieder ab.«

Astrid stieß sich mit der Hüfte von der Spüle ab. In den Keller zu gehen, um nach Eis zu suchen, kam ihr mit einem Mal überaus attraktiv vor. Vielleicht würde sie gleich dort unten bleiben? Alles war besser, als sich Brittas Vorwürfe anzuhören. »Dann lenke ich eben ab«, sagte sie und wandte sich zur Tür.

»Meine Damen und Herren«, tönte Britta hinter ihr, »darf ich vorstellen: meine große Schwester, wie sie leibt und lebt!«

2

Juni, Bonn-Bad Godesberg

Edith unterdrückte ein Gähnen, als sie aus der Villa auf die Straße trat. Seit der Zeitumstellung im März kam sie nicht in den Tritt. Diese eine Stunde, die »geklaut« worden war, wie man im Volksmund sagte, hing ihr nach. Dabei wechselte seit beinahe acht Jahren die Zeit im Frühjahr und im Spätherbst. Seit der großen Ölkrise Ende der 70er-Jahre. Damals hatte Edith das nicht viel ausgemacht, aber seit einigen Jahren fand sie es unerträglich.

Sie zog den dünnen Sommermantel enger um sich, und machte sich auf den Weg in die Schneiderei. Aus den Vorgärten der Dürenstraße leuchtete ihr eine bunte Blütenpracht entgegen. Selbst die Luft war erfüllt vom süßen Blumenduft. Eigentlich ein wunderschöner Morgen, wenn sie nur nicht so furchtbar müde wäre. Joachim war mit Britta schon vor einer halben Stunde aufgebrochen, da hatte Edith sich noch in der Küche der Villa an ihren Kaffeebecher geklammert, während ihre große Tochter mal wieder den Schlaf der Gerechten geschlafen hatte. Das Astrid so in den Tag hinein lebte, ohne wirkliches Ziel, machte Edith Sorgen. So konnte es nicht weitergehen.

Sie überquerte die Straße. An der Straßenbahnhaltestelle neben der Sparkasse warteten Pendler. Allein oder in Grüppchen. Edith ging weiter, über die Moltkestraße, hinüber in die Alte Bahnhofstraße und schließlich durch die Theaterpassage an der Koblenzer Straße. Als sie am Inselhotel angekommen war, blieb sie stehen. Sie blickte zum Stadttheater, das neuerdings »Kammerspiele« hieß, und sah dann zu dem Brunnen, der den Theaterplatz dominierte. Er war eines der wenigen positiven Dinge, die Edith der Fußgängerzone abgewinnen konnte. Sie sah dem sprudelnden Wasser zu. Die rauschenden und gurgelnden Geräusche übten eine beruhigende Wirkung auf sie aus. Schon seltsam, dass Wasser einen solchen Effekt haben konnte. Schließlich ging es ihr auch unten am Rhein so. Aber auch oben im Kottenforst, dachte sie. Auch da konnte man ein Rauschen vernehmen. Das Rascheln der Blätter im Wind klang ähnlich und war genauso beruhigend, zumal der Kottenforst der Ort war, an dem sie die glücklichsten Stunden ihres Lebens verbracht hatte und gleichzeitig auch die schicksalsreichsten. Dort hatte sie Paul das erste Mal geküsst, dort hatte er ihr einen Antrag gemacht, und dort hatte sie ihre Jungfräulichkeit verloren. Edith wurde es schwer ums Herz, wie immer, wenn sie daran dachte, wie anders ihr Leben hätte verlaufen können, wenn nicht der Bau der Berliner Mauer dazwischengekommen wäre. So war sie – Anfang der 60er-Jahre unehelich schwanger – dazu gezwungen gewesen, Heinz zu heiraten. Den sie auch geliebt hatte, aber auf eine brüderliche Art, die am Ende nicht gereicht hatte. Mit Paul hatte sie von Anfang an Briefkontakt gehalten. Bis kurz vor der Trennung von Heinz hatten sie sich geschrieben. Edith hatte Paul von Astrid erzählt, er davon, wie sehr er sie vermisse und wie sehr er sich wünschen würde, seine Tochter kennenzulernen. Über sein Leben in der DDR hatte er nie etwas verlauten lassen. Und dann, wie aus dem Nichts, hatte er nicht mehr geantwortet. Mehrere Briefe hatte Edith danach noch an ihn geschickt. Nichts. Schließlich hatte sie ihm ein letztes Mal geschrieben – dass sie es nicht mehr aushielte, nichts von ihm zu hören. Doch bevor sie den Brief hatte abschicken können, hatte Heinz ihn gefunden. Er hatte ihre Worte gelesen – und alles war eskaliert. So laut wie an jenem Tag war Heinz noch nie geworden. Und danach war er einfach zur Tür ihres gemeinsamen Häuschens in Friesdorf herausgerannt und nicht mehr zurückgekommen. Er hatte sie und die Mädchen zurückgelassen. Erst durch das Scheidungsverfahren hatten sie sich wiedergetroffen. Da war sie schon lange mit Astrid und Britta in der Villa in der Dürenstraße eingezogen. Der Abstand hatte ihr und Heinz gutgetan. Sie hatten wieder miteinander sprechen können wie zwei erwachsene und vernünftige Menschen.

Erwachsen und vernünftig. Edith hatte es so satt, genau das sein zu müssen. Sie sehnte sich nach ihrer Jugendzeit, in der sie unbeschwert und frei gewesen war. Mit Paul. Und heute war sie niedergeschlagen und melancholisch – wegen Paul. Vielleicht war es endlich an der Zeit, damit abzuschließen? Der Kontakt zwischen ihnen war schon vor so langer Zeit abgebrochen. Wenn Edith ehrlich mit sich war, hielt sie sich nur noch an alten Erinnerungen fest und stand sich dabei selbst im Weg! Saß beinahe jeden Abend in ihrem Zimmer, las die alten Briefe und träumte von besseren Zeiten. Das musste sich ändern.

Edith reckte das Kinn vor und setzte ihren Weg zur Schneiderei hinüber fort. Sie musste es nicht nur ändern, sie würde es auch tun!

*

Bonn, Münsterplatz

Astrid trat aus dem Schatten des Bonner Münsters. Sie hatte gewartet, bis ihre Mutter die Villa verlassen hatte, bevor sie aufgestanden war und in aller Ruhe gefrühstückt hatte. Sie wollte den Tag nutzen und war mit der Bahn nach Bonn gefahren. Sie musste einfach raus, etwas anderes sehen als die immer gleichen Straßen Bad Godesbergs. In Bonn, da war sie sich sicher, würde sie endlich Inspirationen finden. Das musste sie auch, allein schon, um Sabine zu beweisen, dass es neue Trends nicht nur in Berlin gab.

Zu schwarzen Leggins trug sie ihr Lieblings-Oversize-T-Shirt mit dem Micky-Maus-Print, das sie mit einem breiten Gürtel in der Taille zusammengeschnürt hatte. Ein Kleidungsstil, der ihrer Mutter voll und ganz zuwider war. Astrid konnte förmlich ihre Stimme im Ohr hören, als sie den Münsterplatz überquerte: »So was würde ich noch nicht mal als Nachthemd tragen.«

Musst du ja auch nicht, dachte Astrid. Sie blieb vor dem Beethovendenkmal stehen. Die rund drei Meter hohe Statue gehörte zu den Wahrzeichen der Stadt Bonn. Dahinter erhob sich das Fürstenbergische Palais. Ein gelbes Gebäude mit Sprossenfenstern und dunkelgrünen Läden. Seit 1877 war es die Hauptpost von Bonn. Astrid sah von unten zu dem Komponisten hinauf. Mit strenger Miene blickte er über sie hinweg in die Ferne. In einer Hand hielt er einen Federkiel, in der anderen einen losen Packen Blätter. Fast wirkte es, als würde er gern etwas aufschreiben, würde aber die Melodie nicht zu fassen bekommen, die ihm schon seit Tagen durch den Kopf schwirrte. Zumindest kam es Astrid immer so vor, weil es ihr selbst oft so ging. Dass eine Idee am Rande ihres Bewusstseins aufblitzte, aber einfach nicht greifbar wurde. Vielleicht ist das Beethovendenkmal ein Sinnbild für meine Ideenlosigkeit in den letzten Monaten, dachte sie. Britta hatte recht mit dem, was sie ihr gestern in der Küche an den Kopf geworfen hatte. Ihre Kollektion hatte immer noch kein einziges Stück vorzuweisen. Dafür häufte sich die Zahl der unfertigen Kleidungsstücke, die sie mit Wuttränen in den Müll gepfeffert hatte, weil es wieder nicht so geworden war, wie sie es sich vorgestellt hatte. Wie sollte sie es je schaffen, ein eigenes Label auf den Markt zu bringen, nach New York zu gehen und vielleicht sogar selbst als Designerin auf der Fashion Week präsent zu sein wie Donna Karan, Wolfgang Joop oder Jil Sander? Ihr Kopf war leer, seit sie zurück in Bad Godesberg war, während ihre Kommilitonen schon erfolgreich kleinere und größere Labels gegründet hatten. Sabine war sogar schon bei einer Modenschau von Claudia Skoda in West-Berlin dabei gewesen. Claudia Skoda, die Ikone der Berliner Undergroundszene! Ihre avantgardistischen Modenschauen waren berühmt berüchtigt. Das war ein riesiger Erfolg für Sabine, die seitdem fleißig an der nächsten Kollektion arbeitete, wie sie sagte.

Astrid seufzte, nahm den Rucksack von der Schulter und zog ihren Walkman hervor. Nachdem sie das Kabel entwirrt hatte, setzte sie sich vorsichtig den Kopfhörer auf, damit ihr seitlicher Zopf nicht verrutschte. Die Play-Taste rastete mit leichtem Widerstand und einem lauten Klick ein. Ein leises Surren ertönte, als sich die Zahnräder im Inneren zu drehen begannen. Die ersten Keyboard-Akkorde von Verdamp lang her von BAP ertönten. Automatisch drehte Astrid den Lautstärkeregler bis zum Anschlag. Sie hockte sich auf das niedrige Mäuerchen vor der schmiedeeisernen Umzäunung des Denkmals und betrachtete das bunte Treiben um sich herum. Durch die laute Musik hatte sie das Gefühl, im Kino zu sitzen und sich einen Film anzusehen. Sie war nur noch die Zuschauerin des alltäglichen Bonner Lebens.

Astrid schaute zum Münster hinüber. Die große Stiftskirche war zur Zeit des Übergangs von der Romanik zur Gotik gebaut worden. Massive Rund- und schlanke Strebebögen zeugten noch heute davon. Bei den spitz zulaufenden Turmspitzen hatte Astrid als Kind immer an die Zipfelmützen von Gartenzwergen denken müssen. Jetzt musste sie über diesen Gedanken schmunzeln. Sie hatte schon immer alles Mögliche in scheinbar alltäglichen Dingen gesehen. Sie war die Träumerin der Familie, während Britta immer nur das sah, was da war – nie mehr.

Die Menschen eilten über den Platz. Astrid musterte sie. Männer in Anzügen mit Aktentaschen, alte Damen mit Handtasche und Hütchen. Mütter mit Kindern in quietschbunten Pullovern, mit gemusterten Kinderwagen oder Buggys. Schüler mit eckigen Scout-Schulranzen, vor allem aber: Studenten. Die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität gehörte zu einer der größten Universitäten der Bundesrepublik und machte Bonn zur Hochschulstadt. Daher wimmelte es in der Stadt von Studenten. Das war ganz anders als in Bad Godesberg, wo man eher auf Botschafter traf und adlige Von-und-zus. Aber auch hier in Bonn waren die Menschen mitunter konservativer gekleidet. Es gab Anzüge, Stoffschuhe und Polohemden. Ein Stoff überwog deutlich: Jeans. Jeanshosen, Jeanshemden, Jeanskleider, Jeans in allen Farben und Formen.

Astrid lauschte der Stimme von Wolfgang Niedecken und wippte mit den Füßen im Takt.

Jeans, Jeans, Jeans ... Das war es! Sie würde Jeans zum Hauptstoff ihrer Kollektion erklären. Den robusten Stoff, der einstmals nur den amerikanischen Arbeitern vorbehalten war. Ja, Jeans war gut. Sie würde den Stoff aus seiner Form nehmen und eine verspielte und vielleicht auch elegante Note geben. Astrid grinste. Das konnte etwas werden. Endlich hatte sie eine Idee! Alles, was sie nun noch brauchte, war Jeansstoff. Sie überlegte, ob sie das nächstgelegene Stoffgeschäft besuchen sollte, aber dann kam ihr ein neuer und viel besserer Gedanke: der Secondhandladen! Was war besser, als bereits bestehende Kleidungsstücke aus Jeans dafür zu nehmen und neu zusammenzusetzen?

Gebrauchte Kleidung, die sie zu Hause an der Nähmaschine in etwas anderes verwandeln würde. Etwas völlig Neues und Einzigartiges.

Bei dem Gedanken, dass sie am Wochenende Sabine davon am Telefon erzählen könnte, musste sie grinsen. Wer brauchte schon Berlin?

*

Joachim beugte sich im Arbeitszimmer der Schneiderei Graf über den Zuschneidetisch und griff nach der Schneiderkreide. Das ehemals quadratische Stück war nur noch ein Stummel. Aber vom Vater hatte er gelernt, nicht das kleinste bisschen zu verschwenden, und so würde er dieses Stückchen Kreide noch so lange benutzen, wie es Halt zwischen seinen Fingern fand. Mit routinierten Bewegungen markierte er Naht- und Schnittkanten auf dem Stoff. Die helle Kreide stach deutlich auf dem dunklen und leicht glänzenden Polyestergewebe hervor. Es würde ein zweireihiges Sakko werden. Mit breitem Revers und Schulterpolstern, ganz so, wie es aktuell Mode war. Die meisten seiner männlichen Kunden bevorzugten zwar nach wie vor klassisch zeitlose Schnitte, aber es gab nun auch mehr und mehr modebewusste unter ihnen. Und das war Joachim nur recht. Denn über die Zeit gesehen, kamen diese viel häufiger mit neuen Aufträgen, weil sie eben mit der Mode gingen.

Das Sakko, das er nähte, war für Frank Lindemann bestimmt. Angesehener FDP-Politiker, Mitglied des Bundestages – und sein Partner. Joachim lächelte. Wenn ihm jemand vor siebenundzwanzig Jahren erzählt hätte, dass er sein Glück in einer Beziehung mit einem Mann finden würde, er hätte es nicht geglaubt. Andererseits: Vor siebenundzwanzig Jahren hätte er auch nicht geglaubt, jemals wieder sein Glück zu finden, nachdem das Fotomodell Petra Weiß ihm das Herz gebrochen hatte. Damals hatte er mit ihr zusammen ein Fotostudio in Bonn eröffnen wollen, die Schneiderei an den Nagel hängen und sich als Fotograf ein neues Leben aufbauen wollen. Aber durch den Tod des Vaters waren alle Träume zerbrochen, weil Joachim in der Schneiderei Graf geblieben war. Petra hatte ihn kurzerhand durch den nächstbesten Fotografen ersetzt, wie eine austauschbare Spielfigur auf einem Schachbrett. Dadurch hatte er sich in seinem Entschluss, die Schneiderei Graf zusammen mit Edith weiterzuführen, bestätigt gesehen – und genau in diesem Moment hatte er Frank kennengelernt.

Er richtete sich vom Zuschneidetisch auf und sah zu Britta hinüber. Sie saß mit konzentriertem Blick vor der Nähmaschine und schob bedächtig den Stoff darunter weiter. Sie war eine gute Schneiderin. Nähte nach Anweisung alles akkurat. Aber sie benötigte genau das: Anweisung. Was die Schnittkonzeption für den Damenbereich der Schneiderei Graf anging, erledigte das immer noch alles Edith. Britta lag das nicht. Sie konnte es nachnähen, wenn ihre Mutter es entworfen hatte. Aber selbst entwerfen? Nein, das war nicht ihr Gebiet. Astrid, die war darin ganz groß. Aber Astrid war leider auch ganz groß darin, die Schneiderei Graf zu meiden, wo sie nur konnte. Und Joachim konnte es ihr gut nachfühlen. Sie wollte aus dem Familienbetrieb ausbrechen, sich etwas Eigenes aufbauen, so wie er damals. Aber mittlerweile fragte er sich immer öfter, wie es mit dem Familienbetrieb weitergehen sollte, wenn Edith und er sich zur Ruhe setzen würden. Britta allein würde den Betrieb nicht am Leben halten können, schon allein deshalb nicht, weil sie nicht in der Herrenschneiderei ausgebildet war. Im Moment war er der einzige Herrenschneider hier. Das alles bereitete ihm mehr Sorge, als er zugeben wollte.

3

Juli, Ost-Berlin