Auf den jungen Unternehmer Konrad Norden wird eine Reihe von Anschlägen verübt, die sein bisheriges Leben auf den Kopf stellt. Der Hintergrund der Attentate ist unklar. Norden versucht selbstständig aufzuklären und wird dabei mit sich und seiner Vergangenheit konfrontiert. Gleichzeit ermittelt die Polizei unter der Leitung des bärbeißigen Kriminalhauptkommissars Witten zu den Vorfällen. Für beide führen die Spuren nach Mexiko.
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Seitenzahl: 313
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Carl Wolf
SCHNITT
Roman
Vorwort
Xantoxati, ein kleines Dorf im mexikanischen Bundesstaat Sonora, ächzt unter der gnadenlosen Kraft der Mittagssonne. Weit über 40 Grad lassen die Luft flirren. Jegliche Lebensform bewegt sich im Zeitlupentempo oder verharrt apathisch. Der staubige und rissige Boden sehnt sich nach Wasser. Steine scheinen in der unbarmherzigen Glut bersten zu wollen. Ein normaler Sommertag in dem kleinen Ort am Rande der Wüste. Im Hintergrund hört man das Rauschen der Bundesstraße 15D. Der Fernverkehr dort schert sich einen Dreck um Xantoxati. 99,99 Prozent der Richtung Süden preschenden Fahrzeuge fahren an der kleinen abzweigenden Straße vorbei, folgen den Lockrufen der Metropolen und Pueblos Magicos, die beschildert die Richtung zu sich weisen. Vermutlich 98 Prozent der Vorbeifahrenden wissen nicht einmal, dass am Ende der kleinen abzweigenden Straße Xantoxati liegt, überhaupt, dass es Xantoxati gibt. Die kleine Straße geht bis zum Dorf, durchquert es und hört dann einfach auf. Ohne irgendeine Ankündigung ist einfach Schluss und es beginnt die mexikanische Wüste. Die Häuser links und rechts der Straße tragen die Spuren der Sonne, der Jahre, der Region und der Menschen als Patina stolz nach außen. Prunk sucht man vergebens in diesem kleinen Ort. Hier ist nichts beschönigt, alles ist so, wie für seinen Zweck geschaffen. Selbst die Kirche, etwas erhöht hinter den Häusern stehend, mit ihrem verblichenen weißroten Anstrich, verzichtet auf jegliche Form der überzogenen Selbstdarstellung. Ein schlichtes Kreuz über dem Eingang zeigt, worum es geht. Im Inneren vom Sitzen und Knien gebogene Holzbänke. Als Altar dient eine geschnitzte Marien-Statue, angefertigt vor hundertfünfzig Jahren von Hugo Diego Morales, ein damals im Dorf lebender künstlerisch ambitionierter Ziegenhirt. Die Mauern der Kirche sind dick, gebaut für die Ewigkeit. Sie sind so dick, dass die sehr gläubigen Dorfbewohner die Befürchtung haben, ihre Gebete bleiben in ihnen hängen und erreichen den Adressaten nicht, oder zumindest nur mit Verspätung. Es wird viel gebetet in Xantoxatis Kirche, damit die neuen Gebete die alten aus den Mauern drängen. Die Gottesdienste selbst werden bei sperrangelweit geöffneter Kirchentür durchgeführt. Vermischt mit dem Rauschen der D15 finden die himmlischen Fürbitten so hoffentlich ihren Weg.
Die Menschen im Dorf wohnen schon immer da, so wie ihre Vorfahren und deren Vorfahren. Sie tun das Gleiche wie ihre Vorfahren und deren Vorfahren und leben davon. Die Zeit schrammt, genau wie die Bundesstraße, an dem Dorf und seinen Bewohnern vorbei. Rasend schnell, man merkt es kaum. Die Berührung ist unterschwellig. Nur manchmal bleibt etwas hängen. Statistisch gesehen 0,01 Prozent.
Wort
Deutschland
Das Treffen mit den Koreanern ist perfekt gelaufen. Erst das Geschäft, dann der Alkohol. Im Trinken habe ich Übung. Die verdammten Schlitzaugen waren zäh beim Verhandeln, dafür umso gelöster beim anschließenden Gelage. Die Hotelbar, in der wir den Absacker zu uns nehmen, ist fast leer. Meine neuen Geschäftspartner sind permanent am Kichern, unterhalten sich auf Koreanisch miteinander, während sie zu zwei reiferen Damen schielen, die noch auf Bekanntschaften aus sind. Offensichtlich verkaufen sie die Ehre ihrer Bekanntschaft. Ich verkaufe Software für die Fahrzeugindustrie. Ein Computerprogramm, auf das ich alle Rechte besitze. Mit dem ich mein Geld und damit meinen Erfolg verdiene. Die Asiaten haben angebissen. Der Vorvertrag ist unterschrieben. Ein gelungener Abend. Und ich habe gewonnen. Die Koreanern haben winkend Kontakt zu den späten Mädchen aufgenommen, deshalb verabschiede ich mich und überlasse sie ihren neuen Geschäftspartnerinnen. Jetzt fahre ich, wie jeden Freitag, in mein Wochenendhaus außerhalb der Stadt. Zum Entspannen, oder wenn notwendig, in Ruhe zu arbeiten. Das Grundstück liegt in einem dünn besiedelten Vorort. Waldgebiet wechselt mit von hohen Hecken abgeschirmten Anwesen. Dort wohnt man in seinem eigenen Kosmos. Kontakte zu anderen Menschen gibt es nur gewollt. Die paar Drinks halten mich nicht vom Autofahren ab. Ich kenne meine Grenzen, habe mich immer im Griff.
Das helle Mondlicht dringt nur spärlich bis zum Waldboden vor. Zwischen den beiden uralten Kastanien direkt am Waldweg ist das Laubdach sogar so dicht, dass man den Lieferwagen, der zwischen ihnen parkt, erst sieht, wenn man direkt davor steht. Die Person, die im Wagen sitzt, ist komplett in Schwarz gekleidet. Die Sturmhaube lässt vom Gesicht nur die Augenpartie unbedeckt. Auf dem Armaturenbrett des Wagens liegen verschiedene Geräte, die der Wartende wiederholt auf ihre Funktion prüft. Der Blick des Vermummten schweift über den Waldweg zum Tor der Einfahrt schräg gegenüber und wieder zurück. Er schaut auf seine Uhr am Handgelenk, das Aufleuchten des Zifferblattes wirft für Sekunden ein diffuses Licht in das Wageninnere. Sein Plan ist bis ins kleinste Detail durchdacht. Heute Nacht schlägt er zu.
Mein Name ist Konrad Norden. Mein Leben läuft und läuft und läuft, könnte man sagen. Mir geht es echt super. Ich verdiene viel Geld, fahre einen Sportwagen der Oberklasse, wohne in einem exklusiven Penthouse mit Blick über die Großstadtmetropole. Luxus pur, geliefert von Maßschneidern, Nobelrestaurants und Escort-Services. Reihenfolge beliebig. Und das alles habe ich ausschließlich mir zu verdanken. Das kann ich so sagen, obwohl es arrogant klingt. Es ist mir egal. Ich habe mich schon immer der Meinung des gewöhnlichem entgegenstellen müssen. Wenn man besonders ist, versucht der Mob einem ständig ans Bein zu pinkeln, außer man ordnet sich in das Gelabere des niederen Geistes ein. Aber das kann und will ich nicht. Das dauernde Gezeter um Bagatellen langweilt und verschwendet meine kostbare Zeit. Lange Zeit versuchte ich mich einzuordnen, zu verstehen, aber irgendwann gab ich auf, fand es lächerlich. Niemand kann es leiden, wenn er ausgelacht wird. Deshalb habe ich auch keine Freunde. Freundschaft wird überbewertet. Letztendlich denkt jeder an sich selbst. Das liegt in der Natur, genetisch verankerter Überlebenswille. Die Prediger der Selbstlosigkeit tun alles nur, um Anerkennung für ihr kleines Ego einzuheimsen. Ich brauche keine Anerkennung. Mein Erfolg spricht für mich.
Nur der Mond und die Scheinwerfer beleuchteten den Waldweg, der zu meiner Villa führt. Spielerisch lasse ich die Reifen des Autos im lockeren Kies durchdrehen. Kleine spitze Steine fliegen wie Geschosse in das Universum der übrigen Welt. 340 PS, 6 Zylinder und der Heckantrieb vibrieren unter mir. Ich liebe es, diese Kraft zu beherrschen. Es ist berauschend. Hinter mir eine Staubwolke, vor mir der spitz zulaufende Weg. Wie im Sturzflug mit einem Kampfjet, fliegt der Wagen auf die Einfahrt meines Grundstückes zu. Vollbremsung, jetzt! Zwanzig Meter Bremsweg, Markierung ist ein Gebüsch am Wegrand, das habe ich schon oft genug getestet. Wenige Zentimeter vor dem verschlossenen Edelstahltor komme ich zum Stehen. Ich betätige die Fernbedienung und warte bis das Tor selbstständig nach innen aufschwingt. Auch beim zweiten Versuch bleibt geschlossen.
Mein Anwesen ist eine Festung. Das Sicherheitskonzept habe ich selbst erarbeitet. Mehrere übergreifende Gefährdungszonen mit verschiedenen Sicherheitselementen schützen Wege, Fenster, Türen und Grundstücksgrenzen vor ungebetenen Gästen. Ein Funksystem überträgt jedes Alarmsignal sofort auf mein Smartphone. Das Tor zur Einfahrt erkennt mein Auto als save. Damit es sich öffnet, muss ich zur Bestätigung die Fernbedienung benutzen. Wahrscheinlich ist der Akku schwach.
Um näher an den Signalempfänger zu kommen, steige ich aus und gehe Richtung Tor. Mehrmals betätige ich die Bedienung. Das Tor bewegt sich keinen Millimeter. Plötzlich spüre ich einen Schmerz in meinem Brustbereich. Ein Stich wie von einer Injektionsnadel. Ich greife an die schmerzende Stelle, bemerke einen Pfeil, der in mir steckt. An diesem Pfeil befindet sich ein dünner Draht, der nach links führt. Am anderem Ende des Drahtes steht eine dunkle Gestalt.
Reflexartig versuche ich den Pfeil aus mir zu ziehen, im selben Moment ergreifen pulsierende Stromstöße explodierend die Macht über meinen Körper und meine Sinne. Die Muskulatur fängt an ein Eigenleben zu führen, kontraktiert im Rhythmus der Strom-und Schmerzintervalle. Ich liege am Boden. Winde mich in lähmenden Qualen. Schreie lässt der Hochspannungsdämon in mir nicht zu. Nur Stöhnen und Zucken. Speichel fließt unkontrolliert aus meinen Mundwinkeln, die Augen drohen aus ihren Höhlen zu springen. Ich sehe, wie sich jemand über mich beugt. In einer Hand den Taser, der seine schmerzenden Schläge in mich peitscht. In der anderen Hand ein Gerät, das Geräusche laut wie eine Kreissäge in meinen übersensibilisierten Hörnerven erzeugt. Das Gerät nähert sich meinem Gesicht.
Ich verliere das Bewusstsein.
Die dunkle Gestalt richtet sich wieder auf und geht zum Auto seines Opfers. Die Wagentür steht offen, der Motor brummt seinen erwartungsvollen Sound. Sie nimmt das Smartphone aus der Halterung am Cockpit. Die Entsperrung mit dem Fingerabdruck des Besitzers ist kein Problem, es ist der Daumen der rechten Hand des Bewusstlosen. Mit wenigen Streichbewegungen über das Display und ein paar Adresseingaben schickt der Angreifer alle gespeicherten Daten auf einen verschlüsselten Server. Als der Upload fertig ist, installiert er eine App, die ihre Arbeit unbemerkt im Hintergrund verrichtet. Danach löscht er alle Vorgänge aus der Benutzerhistorie und steckt das Handy wieder in die Halterung im Auto. Ohne einen Blick auf den am Boden Liegenden zu werfen, geht er zum Lieferwagen zwischen den beiden Kastanien, startet den Motor und fährt davon.
Ich weiß nicht, wie lange ich schon im Staub vor meinem Grundstück liege. Mein Mund ist trocken und brennt. Meine Augen schmerzen. Mein Körper fühlt sich zerschlagen an. Hinter mir höre ich mein Auto im Leerlauf vor sich hin tuckern. Mein Herz stolpert beim Versuch Lebenskraft in mich zu pumpen. Langsam, unter Anstrengungen, setze ich mich auf. Die rechte Seite meines Kopfes schmerzt. Vorsichtig betaste ich ihn und fühle eine riesige Beule, hervorgerufen durch den Sturz nach der Stromattacke. Die linke Kopfseite fühlt sich merkwürdig kühl an. Ich fahre mit der Hand über meinen Schädel und stutze. Nein, es ist keine Missempfindung, meine Hand fährt über mit Haarstoppeln durchsetzter kahler Kopfhaut. Der Angreifer hat mir den Kopf geschoren. Zur Hälfte. Neben mir liegt die Fernbedienung für die Einfahrt. Ich drücke auf den Auslöser und lautlos schwingt das Tor nach innen.
„Sie glauben also nicht, dass es ein makabrer Streich ihrer Freunde war?“
„Ich habe keine Freunde! Erst recht keine, die mir solche Streiche antun würden. Wie oft soll ich es Ihnen noch sagen.“
Die beiden jungen Polizisten, ein Mann, eng stehende Augen und eine Frau, blonder Zopf und üppiger Hintern, wirken überfordert mit der Situation. Sie nehmen meine Anzeige auf, aber zu dem Vergehen Haare scheren, zur Hälfte hatten sie auf der Polizeischule nichts gelernt.
„Haben sie Feinde?“, fragt mich die Polizistin. Sie hält einen Notizblock in der Hand und schaut erwartungsvoll und schreibbereit zu mir.
„Offensichtlich“, erwidere ich gereizt. „Aber Namen kann ich ihnen keine nennen.“
„Also Anzeige gegen Unbekannt wegen leichter Körperverletzung und grobem Unfug. Mehr können wir vorerst nicht für sie tun, Herr Norden. Wenn sie uns nicht weiterhelfen und uns keine Verdächtigen aus ihrem Umkreis nennen, müssen wir das so stehen lassen.“
Die beiden Polizisten erheben sich.
„War das jetzt schon alles? Wollen sie nicht anfangen zu ermitteln?“
„Sobald wir dafür Zeit haben machen wir das. Aber bei der geringen Schwere der Tat …“
Die Polizistin lässt das Ende ihrer Aussage offen im Raum stehen.
„Gering?“
Ich werde wütend.
„Meine Haare sind weg! Und ich habe Stromschläge versetzt bekommen. Das war Folter!“, schreie ich die Polizisten an.
„Die Haare wachsen wieder nach. Und wenn sie sich nicht gut fühlen, rufen wir gern den Notarzt für Sie. Das haben wir ihnen schon mehrfach angeboten.“
„Nein! Ich benötige keinen Notarzt! Mein Sicherheitssystem wurde manipuliert, nur deshalb konnte ich angegriffen werden. Das ist doch wohl eine Straftat, bei der ermittelt werden muss!“
„Was die Alarmanlage betrifft, der Ausfall kann ein technisches Versagen gewesen sein. Reden Sie mit ihrer Sicherheitsfirma. Die wird das überprüfen. Dann sehen wir weiter. Wir haben Haus und Grundstück durchsucht. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass jemand in ihr Anwesen eingedrungen ist. Überlegen Sie in Ruhe, wer von ihren Bekannten sie besonders nicht leiden kann. Und lassen Sie sich einen Termin bei ihrem Frisör geben. Nichts für ungut, Herr Norden. Aber wir müssen zum nächsten Einsatz. Sie hören von uns. Auf Wiedersehen.“
Der Polizist nickt mir zu.
Ich winke ab und drehe mich von den beiden weg, während sie mein Haus verlassen.
Tropfnass stehe ich nach der heißen Dusche vor dem wandhohen Spiegel und betrachte mich. Das regelmäßige Training im Fitnessstudio tut meinem Körper gut. Ich lege viel Wert auf ein ansprechendes Aussehen, es öffnet verschlossene Türen leichter. Sei es im Geschäft oder bei Frauen. Viele Türen wurden mir danach fester versperrt, als sie es vorher waren. Das liegt an meinem Tempo, mit dem ich durchs Leben gehe. Die wenigsten können mir folgen. Viele bleiben auf der Strecke. Und irgendeiner der Zurückgebliebenen spielt jetzt den beleidigten Racheengel. Wem ist so ein kindischer Akt zutrauen? Ein Karussell voll von Namen dreht sich in meinem Kopf. Es dreht zu schnell. Niemand ist klar zu fassen. Ich hole meinen Akku-Rasierer aus dem Badezimmerschrank und beginne die andere Hälfte der Haare abzuscheren. Langsam füllt sich das Waschbecken mit meinem tiefschwarzen Kopfhaar. Beim Scheren bemerke ich etwas Dunkles auf der Kopfhaut. Nachdem ich die Stelle frei rasiert habe, sehe ich, dass jemand mit schwarzem wasserfesten Stift zwei Zahlen in Spiegelschrift auf meinem Kopf geschrieben hat. 0 und 2. Genau neben der Beule, die ich durch den Sturz davongetragen habe.
Eine Botschaft des Angreifers?
Verständnislos starre ich in den Spiegel. Aus zwei Zahlen kann man nicht viel deuten. Mit Hilfe eines Rasierspiegels sehe ich nach, ob noch mehr auf meinen Kopf steht. Nichts. Nur 0 und 2, in ausgefranster Schrift vorn auf meinen Schädel geschmiert. Mit einem Handtuch und Rasierwasser rubble ich sie weg.
Ich muss an Clemens denken. Clemens stand auf solche Spielchen. Kryptische Aussagen waren sein Hobby.
Clemens Richter ist ein ehemaliger Geschäftspartner und Freund von mir. Sein Ausscheiden aus Firma und Freundschaft war, vorsichtig formuliert, etwas dramatisch.
Für ihn.
Hat er mich angegriffen?
„Wie schon gesagt, es gibt nichts, was hundertprozentig funktioniert. Mit einem Störsender kann man alle Funksignale unterbrechen. Und dann gibt es keinen Alarm.“
Ich begleite den Mitarbeiter der Sicherheitsfirma an die Tür. Er hat nichts gefunden, was auf eine Manipulation der Alarmanlage hindeutet.
„Und sie meinen das war bei meinem Auto und beim Hausalarm der Fall?“
„Ja. Leider scheint das so gewesen zu sein. Was heute als super sicher gilt, ist morgen schon geknackt. Die Verbrecher sind uns immer dicht auf den Fersen. Wir können nichts dagegen tun, verstehen sie?“
„Ich verstehe gerade, meine Alarmanlage ist veraltet und sie wollen mir eine neue verkaufen. Richtig? Ich habe viel Geld bei Ihnen gelassen. Und jetzt kommen sie mir nicht mit veraltetem System und solchen Aussagen. Ich brauche etwas, das funktioniert. Und das hat es offensichtlich nicht. Das ist ihre Baustelle.“
„Darüber müssen sie mit meinem Chef plaudern. Für den Verkauf bin ich nicht zuständig. Nur für die Wartung. Und ihre Anlage funktioniert im Prinzip einwandfrei.“
„Mit ihrem Chef werde ich plaudern. Das kann ich Ihnen garantieren. Sie können dann gleich einen Termin machen, wenn sie wieder in ihrer Firma sind.“
„Tut mir leid. Für Termine bin ich nicht zuständig. Da müssen sie in unserem Büro anrufen. Das Fräulein dort macht das gern für sie. Auf Wiedersehen.“
Der junge Techniker in seinem Mechaniker-Overall verlässt das Haus und geht Richtung Ausgangstor. Soviel Unverschämtheit ist mir selten untergekommen. Ich habe heute aber schon genug Ärger hinter mir und verzichte darauf, ihn zur Sau zu machen. Voller Wut drücke ich den Bereitschaftstaster für die Alarmanlage und schalte sie scharf. Augenblicklich ertönt der durchdringende Ton der Warnsirene und die im Haus verbauten Stroboskoplichter verteilen ihr Blitzlichtgewitter.
Der Techniker dreht sich grinsend zu mir um. Er hebt einen Daumen in die Höhe und ruft zu mir herüber: „Die Bodensensoren funktionieren astrein. Super Anlage. Sag ich doch.“
Er läuft weiter zum Tor und wartet, bis ich ihm öffne.
Ich schalte die Anlage ab und lasse ihn gehen.
In meiner Hosentasche vibriert das Handy. Ich schaue auf das Display. Lutz Berner, mein Assistent.
„Was wollen Sie?“, melde ich mich grußlos.
„Herr Norden, Entschuldigen sie bitte, dass ich störe. Aber die Koreaner fragen nach, ob es bei dem Termin zur endgültigen Vertragsunterzeichnung heute Abend bleibt.“
„Selbstverständlich. Was soll die blöde Frage? Haben Sie die Verträge vorbereitet?“, herrsche ich ihn an.
„Die habe ich in ungefähr fünfzehn Minuten fertig, Herr Norden.“
„Dann bis später!“
Ich lege auf.
Den Termin hatte ich bei der Aufregung tatsächlich fast vergessen. Hastig packe ich meine Sachen zusammen und verlasse das Grundstück. Mit durchdrehenden Rädern schießt mein Auto Richtung Stadt.
Ich muss weg.
Vorerst fühle ich mich hier nicht mehr sicher.
Meinen Hang zur fokussierten Selbstständigkeit habe ich in die Wiege gelegt bekommen, mit der Muttermilch aufgesogen und war Unterrichtsfach Nummer eins in den ersten Jahren meines Lebens. Meine Mutter war Partnerin einer alteingesessenen Anwaltskanzlei. Ab einem gewissen Jahresnettoeinkommen ändert sich die Rechtslage vor Gericht. Bei entsprechenden Entschädigungszahlungen oder so deklarierten freiwilligen Spenden, fällt ein Urteil bekanntlich anders aus als bei einem gewöhnlichen Menschen, wenn es zum Urteil kommt. Mit einem Vergleich kauft man sich sein eigenes Recht. Das war schon immer so und das wird immer so bleiben.
Die Kanzlei meiner Mutter vertrat das Geld. Sie war findig in ihrer Argumentation vor Gericht und hatte immer eine Lösung parat. Im Interesse ihrer Mandanten, unter dem Deckmantel des allgemeinen Interesses. Sie war ein Arbeitstier, stand noch zwei Stunden vor meiner Entbindung im Gerichtssaal. Erfolgreich versteht sich. Das bekam ich früher bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit zu hören.
Mein Vater besaß eine Immobilienfirma. Von ihm habe ich das erbarmungslose Verhandeln um Verkaufspreise gelernt.
Beim Geschäft gibt es klare Regeln. Keine Freunde und keine Verwandten. Jede Ware hat ihren Preis. Wer Freundschaftsdienste leistet, ist kein Geschäftsmann, ist weich und ein Verlierer. Das war seine Devise und die ist zu meiner geworden.
Ich wurde zum Siegen erzogen. Jede Chance muss genutzt werden, um zu gewinnen. Egal ob beim Sport, Spiel oder im Geschäft. Das trainierten wir täglich.
Mein erster Trainingspartner war mein drei Jahre jüngerer Bruder Maximilian. Wir haben heute keinen Kontakt mehr.
Meine Eltern verunglückten beim Höhlentauchen in Südfrankreich. Sie wurden für tot erklärt, ihre Leichen nie gefunden. Ich war damals gerade fünfundzwanzig Jahre alt geworden, hatte mein Studium abgeschlossen, ein paar Praktika absolviert und spielte mit dem Gedanken mich selbstständig zu machen. Nun musste ich die Firma meines Vaters übernehmen. Aber Immobilien waren nicht mein Ding.
Nach einem Jahr verkaufte ich das Geschäft, zahlte meinen Bruder aus und gründete meine eigene Existenz.
Zusammen mit Clemens Richter, den ich beim Studium kennengelernt hatte. Er hatte die Ideen, ich das Geld. Gemeinsam entwickelten wir eine Software, die Bedürfnisse von potenziellen Kunden erkennt und bestehende Produktionsprozesse darauf prüft, mit welchem Aufwand auf neue Ansprüche eingegangen werden kann. Farben und Designs sind immer dem Modetrend unterworfen. Momentaufnahmen des allgemeinen Geschmacks. Ein stetiger Wandel, der ein schnelles Reagieren erfordert, um Kunden einzufangen und zu halten. Manchmal ist es nur eine Farbnuance oder ein etwas mehr geschwungener Bogen, der einen anspricht und den Unterschied ausmacht. Die Software war damals einmalig und wir fanden in der Automobilbranche mehrere Interessenten dafür.
Wir nannten sie „Chamäleon +“ und verkauften sie an die vier größten deutschen Autohersteller gleichzeitig, inklusive Wartungsvertrag.
Mit dem Gewinn konnten wir Leute einstellen und eine größere Büroetage anmieten.
Auf dem Weg zu meiner Wohnung fahre ich in der Firma vorbei. Der Abschluss mit den Koreanern ist wichtig. Der asiatische Automobilmarkt boomt gewaltig. Neben den etablierten japanischen Herstellern haben die ehemals minderwertig produzierten Marken aus dem restlichen asiatischen Raum, erheblich aufgeholt. Mittlerweile entstehen dort passable Fahrzeuge, die dank ihres unschlagbaren Preises, kontinuierlich den amerikanischen und europäischen Markt erobern. Mit dem entsprechenden Know-how können sie ihren momentanen Status weiter festigen und verbessern. Meine Software gehört zu diesem Know-how. Und wenn die Koreaner sie kaufen, wird es nicht lange dauern, bis weitere Interessenten aus Asien folgen.
Als ich die Firmenräume betrete, kommt mir Lutz Berner sofort diensteifrig entgegengelaufen. Wie immer akkurat gekleidet, im Maßanzug, mit Krawatte, Hemd und Scheitel. Berner ist der perfekte Assistent. Akribisch in der Arbeit, keine eigene Meinung an den Tag legend, befolgt er unbedingt meine Anweisungen. Er ist Tag und Nacht erreichbar und ohne zu murren, erledigt er alles, was ich ihm auftrage. Privatleben gibt es für ihn scheinbar nicht. Er wirft einen kurzen Blick auf meinen haarlosen Schädel, geht aber mit keinem Wort darauf ein.
„Ich habe die Verträge fertig. Sie können sie prüfen, Herr Norden. Möchten sie einen Kaffee?“
„Nein. Die Verträge bitte.“
Rasch überfliege ich sie .
„Da ist noch etwas.“
Fragend hebe ich die Augenbrauen.
„Die Koreaner waren heute Morgen bei JM-Prog zu Besuch.“
JM-Prog ist unsere größte Konkurrenz auf dem heimischen Softwaremarkt. Der Firmenname ergibt sich aus Jan Mayerhofer Programme. Mayerhofer ist ein ehemaliger Angestellter meiner Firma, dem ich nach einem langen Rechtsstreit, der in einem Vergleich endete, gekündigt hatte. Er versucht mir in meiner Branche das Wasser abzugraben. Bisher erfolglos, aber man muss ihn im Auge behalten.
„Woher wissen sie das?“, frage ich Berner.
„Der Portier des Hotels, in dem die Koreaner wohnen, ist ein guter Bekannter von mir. Er hat denen ein Taxi bestellt, als Zieladresse JM-Prog. Er rief mich an, weil er glaubte es würde mich interessieren.“
„Sie haben gute Bekannte?“, frage ich, während ich das Telefon zur Hand nehme und die Nummer von Jan Mayerhofer wähle. Eine Frauenstimme meldet sich.
„Herr Mayerhofer ist in einer wichtigen Besprechung. Wenn sie ihre Nummer hinterlassen ruft er sie zurück“, flötet sie mir ins Ohr.
Die Assistentin scheint neu bei Mayerhofer zu sein und kennt mich demzufolge noch nicht.
„Wenn sie mir nicht augenblicklich den Mayerhofer ans Telefon holen, komme ich vorbei und dann haben wir beide eine Besprechung, die sie ihren Lebtag nicht vergessen werden!“, donnere ich zurück.
Sie schnappt vor Schreck hörbar nach Luft.
„Wie war ihr Name doch gleich?“, kommt es mit piepsiger Stimme.
„Ist schon in Ordnung“, ertönt es im Hintergrund, dann ist Mayerhofer am Apparat. „Hallo Konrad, schön dich zu hören. Was verschafft mir die Ehre deines Anrufes und wieso erschreckst du meine neue Assistentin so?“
„Was hast du mit meinen Koreanern zu schaffen?“, platze ich ihn an.
„Deine Koreaner? Gehört dir jetzt die ganze Welt, Konrad? Oder soll ich dich Kim Jong II nennen?“, erwidert er höhnisch.
„Hör auf mich zu verarschen. Wenn du versuchst mir mein Geschäft kaputtzumachen, dann wirst du was erleben, das verspreche ich dir. Du müsstest meine Anwälte gut genug kennen.“
„Falls du damit auf den Kündigungs-Prozess anspielst, glaube ich nicht, dass du das als Sieg für dich verbuchen kannst, Konrad. Deine Behauptungen sind nie bewiesen worden. Dein einziger Erfolg bei dieser Sache war, dass du mir keine Abfindung zahlen musstest.“
„Du hast deine Geschäfte auf Kosten meiner Firma gemacht. Und ich muss das nicht beweisen. Es ist meine Firma, ich kann einstellen und herausschmeißen, wen ich will!“
„Deine Vorstellung von Recht und Unrecht war schon immer recht eigen. Das hat man bei der Sache mit Clemens Richter gesehen.“
„Wie meinst du das? Was geht dich das an? Du redest von Dingen, die du nicht weißt! Du warst damals noch gar nicht in der Firma!“
„Man hört so einiges, Konrad.“
„Der Tratsch interessiert mich nicht. Ich sag es dir noch einmal. Halt dich aus meinen Geschäften raus. Die Koreaner sind mein Deal! Du hast eh keine Chance zum Zug zu kommen. Dein Produkt ist einfach schlecht. Du spielst in der Amateurliga, zu mehr reicht es bei dir nicht!“
„Es ist meine Firma, ich kann verhandeln mit wem ich will!“
Ich lege auf. Merkwürdig. Mayerhofer sitzt auf dem hohen Ross, benimmt sich, als wüsste er etwas, was ich nicht weiß. Berner steht vor mir und schaut mich mit großen Augen an.
„Die Verträge sind so in Ordnung“, sage ich ihm.
„Ich nehme sie gleich mit und fahre dann heute Abend direkt zum Treffpunkt mit den Koreanern. Sie kommen, wie besprochen, dazu. Also um 19.00 Uhr im Hotelfoyer. Pünktlich. Bis dann.“
Berner nickt beflissen und hält mir die Tür auf, als ich das Büro verlasse.
Das ehemalige Fabrikgebäude im Zentrum der Stadt zählt zu einer der begehrtesten Wohnadressen. Der Fahrstuhl fährt direkt von der Tiefgarage in meine Wohnung. Mit einem Zahlencode öffne ich die Aufzugtür und stehe in meinem Reich. Automatisch schaltet sich die Beleuchtung ein. Die zweihundert Quadratmeter Wohnfläche bestehen aus einem großen Raum, separatem Bade-und Ankleidezimmer, sowie einer Dachterrasse. Ich werfe die Geschäftsunterlagen auf den großen Glastisch in der Mitte des Raumes, gehe zur Bar und mixe mir einen Gin Tonic. Den habe ich jetzt nötig. Den ersten Drink kippe ich in einem Zug herunter. Während ich mir den nächsten mixe, denke ich darüber nach, wer mich angegriffen haben könnte. Es gibt viele Kandidaten. Zu viele. Wenn man Geschäftsmann ist, gibt es immer Konkurrenten, die einem den Erfolg nicht gönnen. Es gab Beschimpfungen, oder miese Nachrede, um einen bei einem anstehenden Geschäft schlecht aussehen zu lassen. Aber zu tätlichen Angriffen ist es bis jetzt noch nie gekommen. So weit ist noch keiner gegangen. Einige könnten ein größeres Interesse daran haben, mir zu schaden. Jan Mayerhofer zum Beispiel, der versucht seine Privatfehde mit mir zu führen. Er wird mir nie das Wasser reichen können.
Was soll das mit den geschorenen Haaren und den zwei Zahlen bedeuten?
Ich muss wieder an Clemens Richter denken. Clemens war ein genialer Programmierer, ein Naturtalent der Computersprache. Er hatte das gewisse Etwas, dass Quäntchen was den Erfolg ausmacht. Aber er war labil, hat unseren Erfolg nicht verkraftet, zu intensiv gefeiert. Der Alkohol war seine Schwäche, er konnte damit nicht umgehen. Als er dann noch herausbekam, dass seine Freundin Christiane ein Verhältnis mit mir hatte, brach er völlig zusammen. Psychiatrische Behandlung inklusive Entziehungskur, im Wechsel mit extensivem Leben, ließen ihn allmählich körperlich und geistig verfallen. Er konnte nicht mehr arbeiten, lag mir nur noch auf der Tasche. Ich kaufte ihm unsere Erfolgssoftware ab und zahlte seine Firmenanteile aus.
Er versoff alles. Verschwand im Dunst des Nirgendwo.
Christiane Klee war der einzige Mensch, nach meinen Eltern, zu dem ich tiefergreifende Gefühle hatte. Sie und Clemens waren schon ein Paar, als ich die beiden während des Studiums kennenlernte. Es dauerte ein halbes Jahr, bis sie bei mir im Bett lag.
Ich war ihr völlig verfallen. Wir hatten den besten Sex der Welt. Sie machte mich schwach.
Nach dem Eklat mit Clemens beendete ich unsere Beziehung.
Danach ließ ich mich nie wieder so intensiv auf einen Menschen ein.
Mit dem Drink in der Hand betrete ich die Dachterrasse und schaue über die Stadt. Sehe das Geflecht aus Straßen und Häusern, die Menschen zu Fuß oder mit Fahrzeugen in stetiger Bewegung. Scheinbar ohne System und trotzdem einer ordnenden Kraft folgend. Wenn man lange genug beobachtet, erkennt man die zeitlichen Abfolgen des Verkehrs. Weiß Strömungen zuzuordnen. Sieht jeden Antizyklus. Versucht diesen, als Störung zu klassifizieren.
Irgendjemand versucht gerade mein Leben zu stören.
Ich will wissen wer.
Die Vorstadt, durch die ich fahre, zählt nicht zu den Wohngegenden, die das Gefühl von Idylle und Geborgenheit ausstrahlen. Mietskasernen mit grauen Fassaden, trüben Fenstern und dem Schmutz der Bewohner vor den malträtierten Haustüren. Graffiti und Fahrradleichen an den Wänden. Multikulti zwischen verständlichem Leerstand. Kleine, überquellende Geschäfte mit Waren aller Art, aus allen Ländern der Welt. Schnellimbiss wechselt mit Bierhalle. Alles umlagert von Gerüchen, die man nicht zuordnen kann und will. Auf den Straßen in Gruppen Männer, die einen mit misstrauischen Blicken folgen. Jugendliche, ständig in Bewegung wie ein Schwarm Wespen, bereit zu fressen oder zu stechen.
Ich halte vor einer dieser grauen Fassaden.
Erotik-Shop, 24 Stunden geöffnet, steht über dem kleinen Laden neben dem Hauseingang. Der Shop hat nicht geöffnet. Spinnweben und zerfetze Plakate von schon längst vergangenen Erotik-Messen dekorieren die Ladentür, zeugen davon, dass hier nicht einmal mehr das älteste Gewerbe der Welt floriert.
Ich steige aus, versperre mit der Fernbedienung das Auto. Es wirkt vollkommen deplatziert an diesem Ort. Die Haustür öffne ich mit dem Ellenbogen, es graust mich vor jeglichem Kontakt in dieser menschlichen Kloake. Der Treppenflur ist meterhoch und dunkel. Werbeprospekte eines halben Jahres stapeln sich an den Wänden. Vor den Wohnungstüren Schuhhaufen. Modriger Geruch wechselt mit dem Gestank von undefinierbar Verkochtem.
Durchn den Flur gelange ich in einen Hinterhof, der mit voll behangenen Wäscheständern, sowie überquellenden Mülltonnen zugestellt ist. In der Mitte des Hofes eine Art Oase. Acht Quadratmeter gelblicher Rasen, eine Bank auf der zwei Mütter sitzen, ein Sandkasten mit kaputter Holzumrandung. In dem Sandkasten zwei schmutzige Kinder und ein Hund.
Die Kinder spielen mit dem Sand.
Der Hund pinkelt.
Sie sehen mich und die Oase erstarrt zu einem Standbild. Keine Bewegung und kein Ton, nur Augenpaare, die mich auf meinem Weg begleiten.
Das Hinterhaus besteht aus einem eingeschossigen Flachbau mit drei Eingangstüren. An der mittleren hängt neben dem Klingelknopf ein von Hand geschriebener Fetzen Papier. C.R. steht darauf.
Mit meiner rechten Faust hämmere ich dreimal gegen die Tür, bevor ich auf den Klingelknopf drücke und ihn gedrückt halte.
Mach auf, Clemens!
Er öffnet sofort, mustert mich, als müsste er prüfen, ob ich wirklich der bin, für den er mich hält. Bemerkt meinen rasierten Schädel und fragt: „Was ist denn mit dir passiert? Bekommst du eine Chemotherapie?“
Nickend deutet er mir, dass ich hereinkommen soll.
Der Flur ist eng und mit Kartons zugestellt. Wir betreten einen Raum, der eine Kombination aus Wohn-, Koch-und Arbeitszimmer zu sein scheint. Auf einer Miniküche türmt sich benutztes Geschirr. Eine Kaffeemaschine speit röchelnd neuen Kaffeesud in den verkrusteten Glasbehälter. In der Mitte des Raumes ein riesiger Tisch, auf dem abermals benutztes Geschirr, Stapel von Zeitungen, Schreibblöcke mit wildem Gekritzel darauf, ein flimmernder nagelneuer Laptop, ein überquellender Aschenbecher und angebissene Schokoladenriegel ein Stillleben der besonderen Art bilden. Drei verschiedene Stühle stehen um den Tisch, zwei davon sind mit Bergen von Kleidungsstücken behangen und belegt. An der Fensterseite des Raumes steht eine alte Zweisitzer-Couch. Auch auf ihr sind Kleidungsstücke und eine schäbige karierte Decke. Ein Fernsehgerät flimmert stumm durch seinen trüben Bildschirm die Nachrichten von den Unglücken der Welt in den Raum.
Mit einem Blick auf den Laptop frage ich: „Arbeitest du wieder?“
Er geht nicht auf meine Frage ein.
„Was willst du hier? Woher weißt du, wo ich wohne?“
Clemens sieht schlecht aus. Aufgedunsen, rote Augen, graues ungekämmtes Haar. Spuren von zu viel Alkohol, Nikotin und Psychiatrieaufenthalt.
„Ich weiß das eben. Ich möchte immer wissen, woher der Wind weht.“
Clemens zündet sich eine Zigarette an, dann leert er einen der Stühle, indem er die auf ihm gelagerten Utensilien einfach auf den Boden kippt, damit ich mich setzen kann.
Ich bleibe stehen.
„Es weht wohl ein heftiger Wind? Bei dem man die Haare verliert?“
Er grinst mich an und inhaliert den Zigarettenrauch.
„Genau. Und ich möchte wissen, ob du etwas damit zu schaffen hast?“
„Wobei zu schaffen? Klär mich auf!“
„Jetzt tu nicht so. Wenn Einer mich auf dem Kieker hat, dann ja wohl du. Ich gebe dir einen Rat. Lass mich in Ruhe. Sonst mache ich dich fertig!“, schieße ich scharf vor den maroden Bug.
„Ich dich auf dem Kieker? Es gibt es wohl eine ganze Reihe von Kandidaten, würde ich sagen. Schau hinter dich. Oder in den Keller, zu deinen Leichen. Und wie bitte, willst du mich noch fertig machen? Sieh dich doch um!“
Mit ausladender Geste schwenkte er seinen Arm, dabei fällt die Zigarettenasche auf dem Boden. Er lacht kichernd.
„Für dein Elend kann ich nichts, Clemens. Das hast du alles deiner eigenen Schwäche zu verdanken.“
„Schwäche? Du hast mir Christiane ausgespannt, meine Idee gestohlen, damit eine Menge Geld verdient und mich um meinen Anteil und meine Arbeit betrogen. Um mein Leben hast du mich betrogen! Du hast es mir gestohlen. Vielleicht war ich schwach, das kann sein. Aber das gibt dir nicht das Recht, mir alles zu nehmen! Du bist ein mieses Schwein, Konrad!“
„Du hast die Gesetze des Marktes nie verstanden. Ich habe nur meine Chancen genutzt. So funktionierten das Geschäft und letztendlich auch das Leben. Dass ich mit dieser Ansicht recht habe, sieht man daran, wohin es uns beide geführt hat.“
Mein Blick schweift durch seine erbärmliche Wohnung, dann sehe ich ihn wieder an und zucke mit den Schultern. Er ist ein Versager.
In meiner Hosentasche vibriert das Handy. Ich ignoriere es.
„Versuchst du mir zu schaden?“
„Ich weiß nicht, was dir passiert ist und es interessiert mich nicht. Außer dir passiert was so richtig Schlechtes. Ist das gerade so? Ich wünsche dir nur Schlechtes. Du sollst für das, was du mir angetan hast, deine Quittung bekommen. Ich glaube an Gerechtigkeit. Du wirst deine Strafe bekommen. Und du wirst selbst dafür verantwortlich sein. Dein Weg, den du gehst, der führt geradewegs in deine eigene Hölle. Lauf, Konrad, lauf. Immer weiter. Und wenn du angekommen bist, werde ich gerne zusehen, wie du darin schmorst. Und jetzt verschwinde. Raus hier!“
Die letzten Sätze schreit Clemens und sein Speichel spritzt dabei über den Tisch. Er schaut mich mit hasserfülltem Blick an und sinkt dann, als ob etwas Großes aus ihm entwichen wäre, in sich zusammen. Tränen laufen ihm über das Gesicht und er schluchzt mehrfach.
„Geh, geh, hau ab.“
Ich verlasse die Wohnung. Stehe im Hinterhof. Die Mütter samt ihren Kindern sind verschwunden. Nur der Hund ist noch da. Er steht mit angelegten Ohren mitten im Sandkasten und knurrt mich an. Die Wolken reißen auf und die Sonne schickt einen mich blendenden Strahl in die Tristesse.
In meiner Hosentasche vibriert erneut das Handy. Ich fummele es heraus, während ich durch das stinkende Treppenhaus Richtung Straße laufe.
Lutz Berner.
„Was ist denn?“, fahre ich ihn an.
Die Gesamtsituation zerrt an meinen Nerven. Ich will nach Hause. Muss über alles nachdenken.
„Die Koreaner haben den Termin heute Abend abgesagt. Sie möchten das Gesamtpaket einer erneuten Prüfung unterziehen. Mr. Kim Suong hat angerufen und wollte sie sprechen. Ich habe sie nicht erreicht.“
„Was soll das denn darstellen, spinnen die jetzt? Wir haben einen Vorvertrag! Hat Suong eine Nummer hinterlassen, auf der ich ihn zurückrufen kann?“
Kim Suong ist der Berner der Koreaner. Der Chef der Abordnung, Kim Huan, saß bei den Verhandlungen schweigend dabei und äußerte sich nur durch Kopf nicken oder schütteln.
„Ich schicke ihnen die Nummer, Chef. Schaffen sie es in einer halben Stunde zum Flughafen?“
„Wieso zum Flughafen?“
„Herr Suong teilte mir mit, dass sie einen früheren Flug gebucht haben und schon in einer Stunde abfliegen.“
„Berner! Wieso haben sie mir nicht Bescheid gesagt?“
„Ich habe versucht sie anzurufen, Chef.“
„Die Telefonnummer! Sofort zu mir!“, schreie ich ins Telefon und lege auf.
Eilig steige ich in mein Auto, starte den Motor, gebe Gas und fahre los. Mit schmatzenden Geräuschen setzt es sich in Bewegung. Während ich sofort wieder abbremse, sprechen die Reifendrucksensoren an und bekunden mir mit piependem Warnton und blinkender Lampe einen Defekt. Ich steige aus und schaue fassungslos auf die vier platten Reifen.
Die Straße ist in beiden Richtungen wie ausgestorben. Die Bewohner sind verschwunden, als ob sie sich vor irgendetwas verstecken müssten. Im Fenster gegenüber sehe ich einen Kopf schnell hinter der Gardine verschwinden.
Das waren bestimmt diese asozialen Jugendlichen mit ihrem unendlichen Hass auf alle, die mehr aus ihrem Leben machen.
Einfach nur lächerlich. In meiner jetzigen Situation aber ärgerlich. Ich muss die Koreaner noch erreichen, bevor sie abfliegen. Gerade will ich die Nummer einer Taxizentrale wählen, als schon eins die Straße entlanggefahren kommt. Heftig winke ich mit beiden Armen und es hält neben mir an. Manchmal muss man eben Glück haben. Rasch steige ich hinten ein.
„Sie schickt der Himmel! Zum Flughafen! So schnell es geht!“
„Geht klar, Meister!“, sagt der Fahrer mit merklichen Akzent und gibt Gas.
Sofort wähle ich die Telefonnummer, die mir Berner geschickt hat.
„Herr Suong, ich bin in zehn Minuten bei Ihnen. Ich verstehe nicht, wieso sie sich nicht an unsere Abmachung halten. Die Hauptverträge sind fertig. Wir benötigen nur noch ihre Unterschrift“, platze ich sofort los.
Kim Suong räuspert sich.
„Hallo Mr. Norden. Ich möchte sie an die Klausel in unserem Vorvertrag erinnern.“
„Welche Klausel?“
„Wenn wir das gleiche Produkt zu einem mindestens fünfzehn Prozent besseren Preis angeboten bekommen, können wir aus dem Vorvertrag zurücktreten, um das neue Angebot in Ruhe zu prüfen.“
„Ich kenne den Passus, Herr Suong. Aber wer sollte Ihnen denn das gleiche Produkt anbieten? Chamäleon + ist die einzige funktionierende Version. Alles andere ist billiger Abklatsch. Meine Software hat sich auf dem internationalen Markt bewährt. Wollen sie auf diese Erfahrung verzichten?“
Mein Smartphone piept warnend im Hintergrund. Der Akku neigt sich dem Ende zu.
„Mr. Norden, ich bedauere Ihnen sagen zu müssen, aber uns wurde heute ein Produkt mit gleicher Funktionalität zu einem so günstigen Preis angeboten, dass wir uns überlegen, das Risiko mit der mangelnden Markterfahrung einzugehen. Unser Unternehmen ist auf maximalen Gewinn orientiert.“
Mayerhofer.
Mein erster Gedanke.
Er hat meine Software. Darum saß er bei unserm Telefonat heute so auf dem hohen Ross.
Der Dreckskerl.
„Ich bin in zehn Minuten bei Ihnen, Herr Suong. Dann reden wir über den Vertrag und den Preis.“
„Sehr gerne, Mr. Norden. Wir werden aber nicht auf sie warten. Unser Flugzeug startet pünktlich.“
Er legt auf.
Mein Handy verabschiedet sich piepend aus dem Netz und geht aus. Der Akku ist leer.
Woher hat Mayerhofer seine Eingebung?
Seine Versuche meine Software zu kopieren waren bisher allesamt dilettantisch gescheitert. Er verdient sein Geld mit der Programmierung von Handy-Apps. Präsenz von Städten für ihren Tourismusmarkt. Hotel-, Restaurant-, Kultur-und Wanderführer. Einträglich, aber wenig anspruchsvoll.
Hat ihm jemand was gesteckt?
Ich gehe im Kopf meine Mitarbeiter durch, aber so etwas traue ich keinem zu. Bei der Einstellung habe ich mit Absicht devote und ängstliche Charaktere bevorzugt. Freigeister bereiten nur Probleme.
Clemens?
Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Die Erkenntnis kommt brachial. Der neue Laptop. Mayerhofer hat Clemens Richter gekauft! Nur Clemens könnte, im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, die Software so geschickt umschreiben, dass er sie neu patentieren dürfte.
Steckt Mayerhofer hinter dem Anschlag auf mich? Wollen die mich fertigmachen?
Wir sind mittlerweile auf der Stadtautobahn, die direkt zum Flughafen führt, angekommen. Um diese Zeit herrscht Hochbetrieb auf dem Zubringer. Ich schaue auf meine Uhr. Der Verkehr rollt, ich kann die Koreaner noch vor ihrer Abreise erreichen.