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Am helllichten Tag hockt der Löwenwirt Rudi auf einer Bank im Hardtwald. Ganz entspannt, aber halt auch tot. Frau Nägele, die Perle vom Archiv, kann es nicht lassen und stellt im schwäbischen Kleinstädtchen Nachforschungen an, »schwätzt a bissle mit de Leut«. Als sich Abgründe in der Geschichte der Gastwirtsfamilie Lämmle auftun und ein weiterer Mord passiert, läuft die Hobbyermittlerin zur Hochform auf. Mit Scharfsinn und einer großen Portion Neugier bringt die Schlabbergosch Licht in dunkle Kapitel der Vergangenheit.
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Seitenzahl: 326
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Helga Becker
Scho wägga de Leut!
Frau Nägele ermittelt
Die Miss Marple aus dem Schwabenland Als wäre der Stress mit der eigenen skurrilen Familie nicht genug, kommt für Frau Nägele auch noch die Aufregung um den Löwenwirt Rudi hinzu. Der sitzt nämlich gechillt, aber halt tot auf der Bank im Hardtwald und erschreckt die Yogadamen, die Frau Nägele als »Jägermeisterin« durch den Wald führen wollte. Sofort erwacht der kriminalistische Spürsinn des schwäbischen Originals, mit dem sie Kommissar Lauer ziemlich auf die Nerven geht. Dass sie »mit älle Leut ins Gspräch kommt«, erweist sich als sehr hilfreich, denn so gelangt sie an Informationen, die der Polizei verborgen bleiben. Nach dem Motto »neugierig benn i net, aber intressiera tät’s mich schon«, gräbt die Hobbyermittlerin in der Vergangenheit von Rudis Mutter, der Löwenwirtin. Die Abgründe, die sich auftun, machen sie sprachlos. Und das will bei der schwäbischen Schlabbergosch etwas heißen. Ist sie einem Serienkiller auf der Spur? Welche Rolle spielt die rote Amazone? Papier im Mund ist ungesund und überhaupt: Warum lagert jede Menge Alkohol im »Paradies«?
Helga Becker, geboren 1958 in Murr an der Murr, ist Mutter von zwei Töchtern. Sie lebt mit ihrem Mann, dem Fotografen Richard Becker, im Bottwartal. Nach dem Abitur und einer kaufmännischen Lehre vom Vater zur Drechslerin ausgebildet, ist sie heute Stadtarchivarin in ihrer Heimatstadt Steinheim an der Murr. Die Archivbestände und ihre lebhafte Phantasie liefern die Grundlage für ihre erste Krimigeschichte, die sie mit viel Lokalkolorit zu Papier gebracht hat. Daneben hat sie mit ihrem Mann schon einige Bücher zu kunsthandwerklichen Themen und Architektur veröffentlicht und sie tourt mit ihrer Bühnenfigur »Frau Nägele« als schwäbische Kabarettistin durch das Ländle.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2023 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Ricarda Dück
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Richard Becker
ISBN 978-3-8392-7718-8
Für meine lieben Eltern, Lieselotte und Helmut Nägele
Schon seit Wochen wirbelten die Gedanken durch seinen Kopf. Ein Sammelsurium an Fragmenten, die sich nicht zu einem Bild fügen wollten. Er kam nicht zur Ruhe und hoffte inständig, dass sich der Nebel in seinem Gehirn endlich auflösen würde. Aber bis es so weit war, blieb ihm nichts anderes übrig, als das Durcheinander auszuhalten. Und genau deshalb musste er unbedingt raus!
»Wo willsch denn du jetzt na? Am Samstagnochmittag? Für den Geburtstag missed no die Platta g’richtet werda. Aber der feine Herr hat natürlich keine Luscht, und ich muss wieder älles selber macha!”
»Mutter … Ach leck mich doch!«
Jedes Wort an sie war verschwendet. Er presste die Zähne zusammen, bis seine Kiefermuskeln schmerzten, schnürte eilig seine Wanderschuhe, griff nach seinem Handy und stürzte zur Tür hinaus. Er nahm nicht den Weg über die Hauptstraße des beschaulichen Ortes. Dort würde er zu viele Leute treffen. Eigentlich mochte er es, unter Menschen zu sein, aber heute brauchte er Ruhe. Um Kraft zu sammeln für den entscheidenden Schritt in seinem Leben.
Rasch bog er in die schmale, dunkle Gasse ein, die zwischen Fachwerkhäusern und alten Schuppen zum Ortsrand führte. »Komm ins Offene, Freund!«, hatte Hölderin gefordert. In der Schule hatten sie das Gedicht »Der Gang aufs Land« rauf und runter lesen müssen, aber nur dieser eine Satz war bei ihm hängen geblieben. Und genau dahin wollte er jetzt: ins Offene, ins Freie! Die Enge, die Kleinkrämerei, die ständige Beobachtung hinter sich lassen. Die Mutter und den Löwen. Heute und für immer.
In Gedanken vertieft streifte er über Äcker und Obstwiesen und durch Weinberge. Mit jedem Schritt fiel ein klein wenig der Last von ihm ab, wenngleich das Grundrauschen an Anspannung blieb. Sein Weg führte ihn in den Wald. Die Sonne war mittlerweile gen Westen gewandert. Richtung Schwarzwald, der Region, die seine neue Heimat werden sollte. Und dafür musste er die letzten Angelegenheiten klären …
Nach dem Treffen mit seinem Schulfreund war das Bedürfnis groß, alleine zu sein und sich in die Einsamkeit der Natur zurückziehen. Immerhin hatte er diese unangenehme Begegnung hinter sich gebracht. Sein alter Bekannter hatte zwar versucht, ihn hinzuhalten, aber schließlich eingelenkt. Das war also geklärt. Bald würde er nach Hause zurückkehren, dann stand ihm der letzte Disput mit der Mutter unausweichlich bevor. Aber der lange Spaziergang hatte ihm gutgetan und der Sturm in seinem Kopf hatte sich etwas gelegt. Hier im Wald, an seinem Lieblingsplatz, konnte er nun Energie tanken und sich die entscheidenden Argumente überlegen, die er der hartherzigen Frau entgegenhalten würde.
Vor ihm lag der kleine Fluss, der sich durch das schmale Tal zog und sein Wasser aus den vielen Bächlein des Murrhardter Waldes erhielt. Vor Urzeiten hatte er eine Gumpe entstehen lassen, einen Strudeltopf, in dem sie schon als Kinder heimlich gebadet hatten. Nach den starken Sommergewittern der letzten Tage führte das Flüsschen ungewohnt viel und schmutziges Wasser mit sich. In wilden Kaskaden rauschte es in die Gumpe hinunter und setzte auf der anderen Seite seinen Weg deutlich ruhiger fort, zwischen großen Wackersteinen hindurch. Im Naturbecken stand das Wasser so hoch, dass es den kleinen Holzsteg, der sich darüber spannte, fast berührte.
Da sich das Wetter heute wieder von seiner sonnigen Seite zeigte, ließ er sich auf der kleinen Brücke nieder, streifte Wanderstiefel und Socken ab, ließ seine Beine ins fließende Wasser baumeln und folgte dem Strudel seiner Gedanken. Nur noch eine Woche musste er durchhalten. Dann würden sich seine Wünsche und Hoffnungen erfüllen. Dann würde er endlich seinen eigenen Weg gehen. Es war höchste Zeit, immerhin hatte er vor einigen Wochen seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert. Warum ausgerechnet dieses letzte Fest in der alten Heimat so schiefgelaufen war, konnte er sich selbst nicht erklären. Aber er würde alles wieder ins Reine bringen.
Aus seiner Hemdtasche zog er ein Foto und betrachtete es seufzend. Immer wieder hatte er es versprochen, aber erst jetzt hatte er endlich den Mut gefunden, mit ihr gemeinsam neu anzufangen. Den Heimatort, den Betrieb, die lieblose Mutter, die neidischen Kumpels hinter sich zu lassen. Nichts und niemandem würde er hinterhertrauern. Nur den Abschied von Festus bedauerte er ein wenig. Der hatte ihn oft vor der herrischen Mutter in Schutz genommen. Meist erfolglos, aber allein die Versuche rechnete er dem alten Mann hoch an. Auch dass er immer wieder Beträge aus seiner »Nebenkasse« für ihn abgezweigt hatte, wie er es nannte. Das würde ihnen den Neustart erleichtern. Und vielleicht könnte er Festus irgendwann nachkommen lassen.
Er starrte auf das Wasser, das um seine Beine herum schnell und unaufhaltsam seinem Lauf folgte. Genauso konsequent wollte er jetzt seine Pläne umsetzen. Wieder betrachtete er das Bild.
»Ach, Melanie, für mi gibt’s doch bloß dich ond die Mädla und sonscht nix und niemand. Bald fanget mir neu a, des schwör ich!«, sagte er laut, um sich selbst Mut zuzusprechen.
Er versank wieder in Gedanken und lauschte dem Wasser, das in die Gumpe stürzte und dessen Getöse das Knacken zertretener Äste am Waldrand übertönte. Das leichte Schwanken des Stegs führte er auf die Kraft des Wassers zurück. Kurz wunderte er sich, als ein stechender Schmerz seinen Kopf durchfuhr und Lichtblitze vor seinen Augen zuckten. Dann fühlte er sich so leicht und unbeschwert wie schon lange nicht mehr und glitt in die Tiefen des Wassers.
Wie immer bin ich spät dran. Aber bis die wichtigsten Restaurierungsarbeiten abgeschlossen sind, dauert es halt. Und heute muss ich mir viel Mühe geben, denn ich werde Publikum haben.
Ich öffne das Badschränkchen. Na ja, früher hatten wir ein Badschränkchen, heute haben wir eine Badschrankwand. Mit allerhand Tiegeln, Töpfen, Dosen, Pinseln und Kellen. Wie beim Restaurator. Und weil mit zunehmendem Alter auch immer mehr Fläche zu bearbeiten ist, heißt es jetzt schmieren und salben. Oder besser gesagt reinigen, grundieren, färben und lackieren. Auch wie beim Restaurator. Ich gebe also eine halbe Stunde lang mein Bestes und sehe danach tatsächlich anders aus. Allerdings kein bisschen besser.
Lass guat sei, denk ich. Vergebliche Liebesmüh. Guck liaber, dass du en deine Kleider nei kommsch!
Ich geh ins Schlafzimmer, greife nach meinem Kostüm und frage mich, warum ich eigentlich keine Hemmungen habe, mich in diesem Aufzug in der Öffentlichkeit zu zeigen. Warum es mir nichts ausmacht, wenn sich die Nachbarin verstohlen wegdreht und das Lachen kaum verkneifen kann. Wenn meine Kinder verschämt an mir vorbeilaufen, als gehörte ich nicht zur Familie. Wo mich nur der BMVÄ behandelt, als wäre alles in Ordnung. Aber ihn, den »beschta Ma von älle«, den erschüttert so schnell sowieso nichts. Auch meine heutige Garderobe nicht.
Meine rosa Bluse mit Puffärmeln ist ein Überbleibsel aus meiner Teenagerzeit, doch immerhin passt sie mir noch einigermaßen. Die oberen Knöpfe gehen problemlos zu, früher hat es da gespannt. Die unteren muss ich hingegen offen lassen. Da wird es jetzt eng. Glücklicherweise sieht man das jedoch nicht, weil ich darüber die alte beigegraue Feincordkniebundhose meines Vaters trage. Die mit den Hosenträgern. Passend dazu ziehe ich dicke Kniebundstrümpfe mit Zopfmuster über die nicht mehr ganz so strammen Waden. Sie ähneln denen, die meine Großmutter Anfang der 60er-Jahre gestrickt hat. Die gehen problemlos als Stützstrümpfe durch. Ich stecke die Beine in meine Wanderstiefel, die mir durch die dicken Socken viel zu eng sind. Was tut man nicht alles für sein Publikum.
Mein Outfit wird heute vom grünen Filzhut meines Großvaters komplettiert. Mit Adlerfeder. Oder eher Bussard. Vielleicht auch Taube. Na ja, eine Feder halt. Und über meine Schulter hänge ich einen Rucksack aus grobem Leinen, mit dem der Opa nach dem Krieg übers Land gezogen ist und in der schlechten Zeit Schuhbändel, Hosengummis und Knöpfe verhökert hat. Das Ungetüm ist so groß, dass ich im Notfall darin übernachten kann. Das wichtigste Utensil ist aber der selbst gehäkelte Patronengurt, den ich quer über der Brust trage. Natürlich nicht bestückt mit Patronen, doch irgendwie schon mit Munition. Mit Jägermeister, in Portionsfläschchen. Die sind heute essenziell, weil ich als Jägermeisterin unterwegs bin. Passend zur gleichnamigen Erlebnisführung, die in unserem Heimatwald ansteht.
So, Mädle, jetzt aber flott! Ich werfe einen letzten tapferen Blick in den Spiegel.
»Net schee, aber selda«, murmle ich und eile aus dem Haus.
Doch bevor ich ins Auto steigen kann, fällt mir auf, dass mein Patronengurt leer ist. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es zum örtlichen Getränkehändler nicht mehr reicht. Meine letzte Hoffnung ist das Paradies. Nicht das himmlische, sondern ein ganz irdisches: unsere Gartenlaube. Ich renne mit dem bedenklich hin und her schwingenden Rucksack auf dem Rücken durch den Garten zum kleinen Holzschuppen. Den haben Vater und seine Freunde Alfa und Emil schon vor Jahren »Paradies« getauft und eine handgeschriebene Tafel mit dem Namen über dem Eingang angebracht.
Vor dem Paradies hebe ich den großen Wackerstein auf, unter dem der Schlüssel liegt. Normalerweise. Jetzt liegt da eine grottenhässliche Kröte. Ich erschrecke so sehr, dass ich den schweren Stein mit Karacho wieder fallen lasse. Ein verräterisches Geräusch sagt mir, dass das der Kröte nicht gut bekommen ist. Kurz wird mir übel. Ich schaue lieber nicht nach. Und den Schlüssel will ich schon gar nicht mehr hervorangeln. Brauche ich glücklicherweise auch gar nicht, denn in dem Moment entdecke ich ihn im Schloss stecken. Ich öffne die Tür.
»Hallo, isch äbber do?«, erkundige ich mich unnötigerweise, denn der Raum ist mit einem Blick zu übersehen und menschenleer.
Sehr gut. Für Erklärungen habe ich jetzt nämlich keine Lust und vor allem keine Zeit. Zuerst durchsuche ich die Regale. Das dauert, denn die sind über und über mit Spirituosen aus aller Welt gefüllt. Ein Paradies eben für die »Boygroup«, wie ich Vaters Altherrentruppe gerne nenne. Ich mache mehrere Flaschen Glenfiddich aus, Remy Martin, Ouzo, Carlos Primero, Linie Aquavit, Fernet Branca, Calvados sowie diverse heimische Destillate aus Zwetschge, Birne, Apfel und Kirsch. Kein Jägermeister. Im und auf dem alten Küchenschrank von der Oma mit den rosa und hellblau gestrichenen Schiebetüren lagert ein Jahresbedarf an Riesling, Trollinger, Lemberger, Chianti und Barolo. Im Kühlschrank daneben steht ein 30-Liter-Bierfass, angeschlossen an eine mobile Zapfanlage, jederzeit einsatzbereit. Kurz frage ich mich, ob das Paradies zum Außenlager des Getränkehändlers mutiert ist oder ob in unserem Garten das Ortsjubiläum gefeiert werden soll.
»Was dean denn die alte Bachl mit so viel Alkohol?«, wundere ich mich laut. »Do muss ich mich obedengd mol drum kümmera. Aber net jetzt. Jetzt brauch ich Jägermeischter.«
Als Nächstes hebe ich den Klappsitz der Eckbank an. Tatsächlich, hier finde ich die gewünschten Portionsfläschchen. Und zwar einen Fünfjahresvorrat davon.
»Hände hoch!«, schreit es hinter mir, als ich gerade einen der Kartons heraushebe.
Blitzschnell drehe ich mich um, setze die Jägermeisterbox zum Verteidigungswurf an und starre in einen Gewehrlauf, der direkt auf mich gerichtet ist. Ich lasse den Karton wieder sinken.
»Mensch, Vatter! Hasch du no älle Tassa em Schrank! Du kannsch doch net mit ra Waffe uff mich ziela!«
Kurz muss ich mich am Tisch festhalten, derart heftig ist mir der Schreck in die Glieder gefahren.
»Kann ich wissen, dass du des bisch? Man muss sei Sach doch verteidigen dürfen!«, erwidert mein alter Herr im Honoratiorenschwäbisch, um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen.
»Verteidigen? Die Gartahütte oder die Unmenga an Alkohol? Zu was brauched ihr denn des? Und überhaupt, seit wann hasch du a G’wehr?«
»Erschtens isch das keine Gartenhütte, sondern das Paradies. Zweitens geht dich der Alkohol gar nix a und drittens gehört des Deng net mir. Des hat mir dr Hagemaiers Lugge ausglieha.«
»Ausglieha?«
»Jawoll!«
»Für was?«
»Zum … äh …«
»Vatter!«
»Ja … zum Taubenschiaßa halt!«
»Zum Taubaschiaßa!? Schpinnsch du? Des derf mr doch gar net! Und du kannsch doch gar net schiaßa. Mensch, wenn du versehentlich jemand triffsch? Des isch g’fährlich!«
»Was wird denn des g’fährlich sei? Des isch a Luftg’wehr! Des schiaßt doch bloß Luft! Und außerdem müsst i jo zerschd amol träffa.«
»Vatter, du machsch mich fertig! A Luftg’wehr schiaßt keine Luft! Und überhaupt, des goht net, dass du mit ra Waffe em Aschlag romrennsch. Do müssed mir uff alle Fäll nommol drieber schwädza. Au über den ganza Alkohol dohenna. Jetzt hab i aber kei Zeit. Mir pressierts.«
Er deutet auf den Karton in meinen Händen und grinst. »Ach, aber für Jägermeischder hasch Zeit?«
»Noe, i hab kei Zeit, aber i hab dringend ein brauchd.«
»Muss ich mir do Sorgen macha?«
»Vatter, den brauch i doch net für mi. I hab heut a Führung im Hardtwald und mein Patronagürtel isch leer.«
»Hasch du au a G’wehr?«
»Noe, Vatter, i hann kei G’wehr. Der Gürtel g’hört zu meim Kostüm als Jägermeisterin. Wia fendsch denn des überhaupt?«
Ich dreh mich wie ein Model, damit das Outfit wirken kann. Mein Vater schaut mich von oben bis unten an und fängt an, herzhaft zu lachen.
Do isch doch Hopfa und Malz verlora, denk ich und drück mich an ihm vorbei aus dem Paradies.
Der alte Herr hält mich am Arm zurück und sagt unter Glucksen: »Kennsch du den? Zwei Jäger senn em Wald. Plötzlich bricht einer zamma. Er schnauft anscheinend nemme und seine Auga glänzed. Der andere Jäger holt sei Handy raus und wählt den Notruf. ›Mei Kumpl isch tot! Was soll i macha?‹ – ›Beruhigen Sie sich. Als Erstes versichern Sie sich, dass er tatsächlich tot ist.‹ Stille. Dann ein Schuss. Der Jäger zum Mann vom Notruf: ›Okay, was jetzt?‹ … Hahaha … Der isch sauguad, gell?« Er schüttelt sich vor Lachen und lässt sich auf die Eckbank fallen.
Ich kann nur die Augen verdrehen. »Ja, Vatter, super Witz! I muss nohre macha. I lach nochher em Auto.«
Manchmal könnte ich ihn echt … Aber Vater ist halt Vater. Nun, die Gewehrsache wird ein Nachspiel haben. Genau wie das Alkohollager.
Jetzt muss ich mich aber richtig sputen. Ich renne zum Auto, schmeiß mich auf den Fahrersitz und starte mit quietschenden Reifen. Eigentlich war Vaters Jägerwitz gar nicht schlecht. Doch ich lache nicht – zom Bossa!
Die Uhr tickt, deshalb entscheide ich mich für die Abkürzung über das Promillewegle. Dass das jedoch keine gute Idee war, merke ich sofort. In den letzten Tagen hat es immer wieder heftig geregnet, und der Feldweg ist komplett aufgeweicht. Der Matsch spritzt von den Reifen auf die Karosserie, und ich weiß genau: Da wird sich der BMVÄ nicht freuen!
Aber es hilft nix. Ich muss etwas Zeit rausholen und trete das Gaspedal durch. Hamilton hätte seine Freude an mir. Über die Senken schanze ich professionell hinweg. Die Holpertour macht mir richtig Spaß. Ich komme mir vor wie bei der Rallye Paris–Dakar. Eher unfreiwillig mache ich ein paar Drifts links und rechts in die Randstreifenbegrünung. Das ist jetzt blöd. Da werde ich bei Gelegenheit wohl dem NABU eine kleine Geldspende zukommen lassen müssen.
Eineinhalb Minuten sind schon gewonnen, da erblicke ich in der Ferne einen Riesentraktor, der über den Acker auf meinen Feldweg zufährt.
Du wartsch, denk ich mir und drück noch mal aufs Gas.
Aber der Bulldog wartet nicht. Er will es wissen, beschleunigt ebenfalls und biegt vor mir auf den Weg ein. Unverschämt! Die Riesenräder schleudern Dreckbatzen auf meine Windschutzscheibe. Durch die freien Lücken sehe ich, dass es zwischen ihm und mir langsam eng wird. Ich sollte besser bremsen. Aber ich will nicht! Er will aber anscheinend auch nicht runter vom Weg.
Gut, du haschd es so gewollt! Dann fahr halt ich in den Acker!
Mit einem Grand-Prix-verdächtigen Schlenker ziehe ich durch den Blühstreifen in das Weizenfeld, rausche rechts am Bulldog vorbei und schere kurz vor einem Graben wieder auf den Feldweg ein. Das war knapp.
Ich schalte den Scheibenwischer ein. Der verteilt den Matsch zu einem sämigen Brei auf der Windschutzscheibe. Als ich die Wasserspritzanlage zuschalte, rauscht die Dreckbrühe über die Seitenfenster und das Autodach. Jetzt erkenne ich wenigstens den Weg wieder, aber ob der BMVÄ unseren Wagen wiedererkennen wird? Ich höre schon sein Gezeter, weil sein Heiligtum aussieht wie die Sau. Dass da heute noch eine Strafpredigt gehalten wird, ist so sicher wie das Amen in der Kirche.
Ich lenke meine Gedanken auf die bevorstehende Waldführung. Für heute ist eine Gruppe von zwölf Frauen aus Oberbillig bei Trier angemeldet. Die Yogadamen verbringen ein Wellnesswochenende im Jägerhof und haben mich für die Jägermeisterin-Tour gebucht. Ich bin gespannt, was mich erwartet. Wenn die genauso drauf sind wie die letzte Achtsamkeitstruppe, schaff ich in der vorgegebenen Zeit wieder nur die halbe Strecke, weil jedes Kräuterlein am Wegesrand persönlich begrüßt wird. Aber immerhin habe ich damals gelernt, dass man ein Furunkel prima mit Dipsacus fullonum, der Wilden Karde, behandeln kann. Weiß auch nicht jeder.
Der Feldweg ist zu Ende, und ich biege auf die geteerte Straße ein. Als ich in den Rückspiegel schaue, gewinne ich den Eindruck, mein Auto wäre ein Güllestreuer. Aus den Radkästen spritzt jede Menge Erde in hohem Bogen über die Fahrbahn. Schnell richte ich meinen Blick wieder nach vorne und auf die Uhr. Und trete aufs Pedal. Mit nur einer Minute Verspätung erreiche ich schließlich das Hotel Jägerhof.
Ich kurve kreuz und quer auf dem Parkplatz herum auf der Suche nach einer Lücke. Die letzte verfügbare ist eng. Sehr eng. Nach komplizierten Rangierarbeiten stelle ich den Motor ab und hab jetzt vier Minuten Verspätung. Weitere wertvolle Sekunden verstreichen, in denen ich vergeblich versuche, mich durch den winzigen Spalt der Fahrertüre zu zwängen. Aussichtslos. Okay, ich probiere es auf der Beifahrerseite. Deren Tür lässt sich immerhin ein paar Zentimeter weiter öffnen. Ich ziehe den Bauch ein, drücke hier und zerre da. Ich höre einen dumpfen Aufprall am Nebenfahrzeug, bin aber mit dem Oberkörper schon mal draußen. Meine Hände krallen sich an der gegnerischen Dachreling fest, und ich bugsiere den Rest der Jägermeisterin mitsamt Rucksack und Jägermeisterkarton ins Freie. Schnell bestücke ich meinen Patronengurt. Die restlichen Fläschchen verstaue ich im Rucksack, denn erfahrungsgemäß muss ich während der Tour nachfüllen.
Mit zwölf Minuten Verspätung stehe ich letzten Endes vor meiner Gruppe aus Oberbillig. Die Damen haben unter dem großen Walnussbaum auf mich gewartet. Im Lotussitz lauschen sie den sphärischen Tönen einer Klangschale.
»Hallo miteinander, schön, dass ihr da seid!«, rufe ich fröhlich in die Runde.
Keine Antwort. Man würdigt mich keines Blickes. Ich warte geraume Zeit. Das Dröhnen der Klangschale macht mich aggressiv, aber ich reiße mich zusammen.
»Also, von mir aus können wir anfangen«, versuche ich es noch mal.
Keine Reaktion.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erhebt sich eine ganz in Violett gekleidete Dame elegant vom Boden. Wohl die Chefin der Truppe. Die anderen folgen ihrem Beispiel, die meisten allerdings weniger grazil.
»Ihre Verspätung hat unseren Energiefluss unterbrochen. Wir mussten nochmals positive Schwingungen aufnehmen«, sagt die Vorsteherin tadelnd, und das Gefolge nickt.
»In der Hotelbar wär des mit de positive Schwingunga schneller ganga«, rutscht es mir heraus, und kurz fürchte ich den erneuten Einsatz der Klangschale.
Die Frau in Violett entschließt sich jedoch zu einem Lächeln, und die anderen kichern ebenfalls. Glück gehabt.
Ich angle drei Wollknäuel aus den Tiefen meines Rucksacks. Die Gruppenchefin darf sich eine Farbe aussuchen und entscheidet sich – Überraschung – für Violett. Offenbar geübt in Vorstellungsrunden, nennt sie ihren Namen, führt aus, warum sie anwesend ist und was sie von der Führung erwartet. Dann ergreift sie das Ende des Wollstrangs und wirft mit der anderen Hand das Knäuel einer anderen Yogadame zu.
»Vielen Dank, Yvonne, für deinen ausführlichen Beitrag«, bemerke ich und weiß gleich, dass die Vorstellungsrunde ewig dauern wird.
Yvonne freut sich über meinen Kommentar und wird ein bisschen rot. Während Sigrid als Nächstes ihr Sprüchlein aufsagt, wandert mein Blick unwillkürlich hinüber zur schönen Terrasse des Jägerhofs. Nach den letzten Regentagen zieht es die Menschen bei strahlendem Wetter wieder hinaus ins Freie. Sie genießen die Sonnenstrahlen ebenso wie Kaffee und Kuchen oder ein Gläschen Bottwartäler Wein. Gerade tritt Max, der Kellner, mit einem Glas Aperol Spritz auf dem Tablett aus dem Gebäude. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Elegant und sicher jongliert er das hohe Glas zwischen den Tischen hindurch und stellt es vor einer rothaarigen Dame ab, deren langer geflochtener Zopf über ihren Rücken fällt.
Während bei den Yoginis jetzt Jenny am Wollknäuel ist, beobachte ich die Frau auf der Terrasse. Sie ist nicht mehr ganz jung und keine klassische Schönheit, allerdings verfügt sie über eine natürliche Ausstrahlung. Gedankenverloren saugt sie an dem Trinkhalm in ihrem Aperol. Hin und wieder schaut sie auf ihre Uhr und sieht sich um, als ob sie auf jemanden warten würde. Wartet sie auf ihren Mann oder einen Liebhaber, überlege ich und werfe einen kurzen Blick auf meine Gruppe. Am Gewirr des Wollfadens erkenne ich, dass das Knäuel erst vier oder fünf Teilnehmerinnen passiert hat.
Ich widme meine Aufmerksamkeit wieder der rothaarigen Restaurantbesucherin. Sie ist keine von den Dörrzwetschgen, die außer Mandelmilch und Grünfutter nichts zu sich nehmen. Im Gegenteil. An den Hüften lässt das luftige Sommerkleid Pölsterchen erahnen, und der tiefe Ausschnitt zeigt die Wölbungen eines üppigen Busens. Die Arme sind wohlmodelliert und sehen nach Krafttraining aus. Für eine Frau Mitte oder Ende Vierzig tipptopp.
Gerade ist Elfriede an der Reihe sich vorzustellen, als die Rothaarige aufsteht, um Max heranzuwinken. Der muss zuerst an einem anderen Tisch abkassieren, und sie wartet ungeduldig. Immer wieder schaut sie sich um. Ihr Verehrer wird sie doch nicht versetzt haben?
Als es um mich herum plötzlich still wird, wandern meine Augen wieder zu meinen Yogadamen. Die blicken mich erwartungsvoll an. Die Vorstellungsrunde ist offensichtlich am Ende angelangt. Da wir, wie vermutet, schon eine halbe Stunde verplempert haben, verzichte ich auf eine lange Einleitung und erzähle stattdessen ein, zwei Sätze zu meiner Person, wickle die Wolle wieder auf und verstaue das Knäuel.
»Also, dann ab in den Wald mit der Jägermeisterin«, gebe ich kurz das Kommando, werfe meinen Rucksack über die Schulter und lotse die Frauen im Gänsemarsch über die Landstraße.
Wir tauchen ein in den lichten Schatten des Waldes, und ich gebe flotten Schrittes das Tempo vor. Allerdings möchte die violette Yvonne die Leitung nicht vollständig an mich abtreten.
»Meine Lieben, geht behutsam, öffnet eure Sinne und erkennt die Transzendenzerfahrung als Einheit in der Vielheit.«
Ah, jetzt ja! Was will sie uns damit sagen?
Ein Blick in die Gesichter der anderen Frauen verrät mir, dass sie das auch nicht wissen. Dennoch nicken alle bedeutungsschwer und gehen im Schleichgang weiter.
Mehrere Minuten schaffen es die Mädels offenbar, die Sinne zu öffnen und ihre Transzendenz in der Vielfalt zu vereinheitlichen. Aber irgendwann ist es genug mit Vergeistigung und Sphärenklängen. Dann bricht die Natur durch und der Geist macht Pause. Und mit jedem Schritt kommen wieder die Frauen zum Vorschein, die tratschen und lachen und rumalbern und endlich ein akzeptables Wandertempo an den Tag legen.
Der Boden ist noch feucht, und an einigen Stellen stehen kleine Pfützen. Zum Glück haben alle Teilnehmerinnen feste Schuhe an und können ordentlich ausschreiten. Na ja, fast alle. Sigrid nicht. Sie trägt Sandalen und trippelt hinterher. Nicht weiter überraschend, denn aus Erfahrung weiß ich: Es ist immer eine Sigrid dabei. Da kannst du einen drauf lassen.
Nach einer Stunde herrscht beste Laune, auch bei Sigrid, trotz Sandalen. Wir haben das Gelände erreicht, in dessen Nähe ein Wanderparkplatz angelegt wurde. Hier hat sich der örtliche Heimatverein etwas Nettes einfallen lassen: Holzpuppen zeigen bekannte Persönlichkeiten der Heimatgeschichte, während ihre Biografien auf Tafeln zu lesen sind. Die Gesichter sind geschnitzt, die Gliedmaßen werden von einem Holzgestell gebildet, auf das Kleider gezogen wurden. Die Figuren stehen am Wegesrand, mitten im Gehölz oder sitzen auf Baumstämmen. Alle paar Monate, je nach Spendenlage, kommt eine neue dazu.
Meine Yogadamen – die Yodas, wie ich sie gedanklich nenne – sind hellauf begeistert, eilen eifrig von Skulptur zu Skulptur und lesen einander die Texte vor. Über Elisabeth von Blankenstein, die den Wald einst den sieben Hardtwaldgemeinden gestiftet haben soll. Ihren Vater Albert, dessen Burg hoch über den Weinbergen gestanden hat. Über Walpurgis, die letzte Nonne des Dominikanerinnenklosters, oder den Schultheißen, der seinen Ort im Dreißigjährigen Krieg verteidigte und nach schwerer Folter getötet wurde. Und über die Bauersfrau Mechthild, die mit einer schweren Kraxe beladen am Wegesrand steht. Die seh ich heute auch zum ersten Mal und erfahre vom beschwerlichen Leben der Leibeigenen im Mittelalter, von Hunger, Säuglingssterblichkeit und Armut. Die Yodas sind ganz betroffen.
»Steht mit beiden Beinen fest auf der Erde, schließt die Augen und empfangt positive Energie aus dem Universum«, weist Yvonne ihre Schützlinge mit zum Himmel gestreckten Armen an.
Die Frauen verharren still im Kreis und lassen jede Menge Energie fließen. Nur Sigrid ist nicht bei der Sache. Sie trippelt von einem Bein auf das andere, weil sie offensichtlich dringend muss. Suchend schaut sie sich um. Ein Klohäuschen kann ich ihr allerdings nicht bieten.
»Geh halt a Stückle in den Wald hinein und setz dich hinter einen Baum«, schlage ich vor. »Mir gugged au net.«
Die Frauen haben ihren Energiefluss inzwischen beendet und grinsen sich an. Anscheinend haben sie mein Schwäbisch verstanden. Sigrid kann sich zunächst nicht recht dazu durchringen, doch schließlich schlägt sie sich in die Büsche. Natürlich linst ihr die eine oder andere verstohlen hinterher. Sigrid läuft deshalb im Zickzack weit in den Wald hinein, findet nach längerer Prüfung ein geeignetes Plätzchen und verschwindet hinter dichtem Gestrüpp.
In der Zwischenzeit bespaße ich die Gruppe mit Sagen und Märchen aus dem Hardtwald und halte immer wieder nach Sigrid Ausschau. Mann, das dauert aber lange bei ihr. Mir gehen fast die Geschichten aus. Natürlich nur fast.
Bevor wir Sigrid wieder zu Gesicht bekommen, hören wir sie plötzlich: »Schaut mal, da drüben ist ja noch eine Figur”.
»Wo bisch denn du?«, rufe ich.
»Hier, in der Nähe des kleinen Sees.«
»Ach, du meinsch dr Gomba.«
Die anderen Frauen schauen mich fragend an. Ich erkläre kurz, dass das Flüsschen, an dem wir geraume Zeit entlanggewandert sind, an einem Abhang einen Gumpen bildet, im Schwäbischen »en Gomba«. Und ich verrate, dass wir als Kinder unerlaubt darin gebadet haben. Um den Strudeltopf zu erreichen, müssen wir nicht wie Sigrid durchs Geäst brechen, sondern können einfach auf dem Weg weitergehen. Ich wundere mich, dass der Heimatverein seit meiner letzten Führung sogar zwei neue Holzpuppen aufgestellt hat. Aber immerhin hat er vor Kurzem sein 60-jähriges Jubiläum gefeiert.
»Was isch’s denn für eine Figur?«, rufe ich Sigrid entgegen.
»Ein fescher Wandersmann.«
Schließlich sehen wir ihn auf der Bank sitzen, die der Schwäbische Albverein gestiftet und neben dem Gumpen aufgestellt hat. Sein breitkrempiger Hut mit Feder verbirgt das Gesicht.
»Ach, das soll bestimmt der Wilderer Knorp sein, der hier im Hardtwald sein Unwesen getrieben hat«, erkläre ich. »Der Hofjäger Keppler hatte ihn im Visier, weil er nicht nur das Wild abgeschossen, sondern auch ein Techtelmechtel mit dessen Frau angefangen hat. Er hat Knorp erschossen, als der gerade ein Nickerchen hielt.«
»Keine Notwehr, keine Gefahr in Verzug, sondern einfach Mord!«, entrüstet sich Yvonne.
»Richtig«, bestätige ich. »Der Hofjäger wurde dafür zum Tode verurteilt und hingerichtet.«
Wir treten näher, um den unglücklichen Knorp zu betrachten. Da fällt mir auf, dass vergessen wurde, die Plakette des Schwäbischen Albvereins am Hut abzunehmen. Das passt natürlich nicht zu der historischen Figur, was ich allerdings lieber nicht kommentiere.
»Ah«, seufzt Yvonne. »So ein fescher Wildschütz könnte mir auch gefallen.« Sie macht schmatzende Kussgeräusche. »Den Hut nimmt man aber ab, wenn Damen kommen, mein lieber Herr«, sagt sie tadelnd und lüftet die Kopfbedeckung.
Ein markantes Gesicht kommt zum Vorschein. Der Schnitzer des Heimatvereins hat sehr gute Arbeit geleistet.
»Sehr lebensecht gearbeitet«, erkläre ich fachmännisch. »Anscheinend hat ihm Rudolf Lämmle als Modell gedient, der Juniorchef vom Löwen, dem besten Gasthaus in Steinheim. Womöglich war der ja mit dem Wilderer Knorp verwandt. Danach muss ich den Rudi mal fragen oder im Archiv recherchieren.«
Die Yodas sind begeistert, sowohl von der Geschichte als auch von dem hübschen Kerl. Sie tratschen und kichern wie Teenager. Bis zu der Sekunde, als der Wilderer nickt. Oder besser gesagt: als sein Kopf nach vorne kippt. Da bleibt allen das Lachen im Hals stecken.
Yvonne lässt den Hut entsetzt zu Boden fallen. Die anderen kreischen und rennen durcheinander. Ich bleibe wie angewurzelt stehen und betrachte das Gesicht fasziniert aus der Nähe. Und in diesem Moment geht mir ein Licht auf. Da hat der Rudolf Lämmle nicht nur Modell gestanden.
»Oms nomgugga kannsch nemme romguga«, murmle ich, und dann brauchen wir alle dringend einen Jägermeister.
»Hallo, also … Ich möchte … äh, nein … Ich muss melden, also, er ist tot … also der Junior, nicht der Senior … Er sitzt auf dem Bänkle …«
»Meine Güte, Kälble!«, unterbreche ich und nehm ihm das Handy aus der Hand. »Hallo, mein Name ist Nägele, Elvira Nägele. Wir haben hier einen Toten. Es handelt sich um Rudolf Lämmle, Juniorchef vom Gasthaus Löwen in Steinheim. Mittelgroß, schlank, braune Haare, müsste circa 50 Jahre alt sein, verheiratet, drei Kinder, soviel ich weiß. Zur Todesursache kann noch keine Aussage gemacht werden. Die Auffindungssituation ist jedoch merkwürdig, deshalb fordere ich die Spurensicherung an und die Gerichtsmedizin.«
Der Kälble schaut mich mit großen Augen an.
Ich nehme das Telefon vom Ohr und halte den Lautsprecher mit einer Hand zu. »Do guggsch, gell! Nach tausend Sendungen ›Tatort‹ weiß man halt, wie’s geht!«
»Elvira, bisch du’s?«, tönt es am anderen Ende der Leitung.
»Ja, Elvira Nägele hier, ich hab’s doch grad g’sagt. Und es gibt hier eine Leiche. Wer sind denn Sie?«
»I benn d’ Martha, em Kälble sei Mutter! Senn ihr bsoffa?«
Fassungslos starre ich das Handy an. Ist dem Kälble seine Mutter jetzt auch bei der Polizei? Dann merk ich, was los ist, und kann es nicht fassen.
»Ich bin nicht bsoffa!«, schrei ich und lege schnell auf.
»Mensch, Kälble! Bisch du no ganz bacha! Jetzt muss ich nommol telefoniera. Des koschtet doch älles Zeit. Und die spielt bei Verbrechen eine große Rolle. Des weiß mr doch!«, schimpfe ich und schüttle ihn durch.
Das ist allerdings keine gute Idee, weil dem Kälble geht’s grad nicht so gut, und von der Rüttelei muss er sich wieder übergeben. Was ihren Sohn angeht, hatte die Martha nämlich recht.
Wo ich den Rudi auf der Bank hab hocken sehn, ist mir sofort klar gewesen, dass das gar nicht gut ist. Für die Yogadamen nicht, aber für den armen Kerl noch weniger. Zur Sicherheit hab ich ihm den Finger an den Hals gelegt. Null. Kein bisschen Puls. Leider konnte ich ihn nicht näher untersuchen, weil mir sonst die eine oder andere der Yodas in Ohnmacht gefallen wäre. Doch bevor ich die Polizei hinzuziehen konnte, musste ich mich zuerst um meine Gruppe kümmern. Yvonne versammelte die Mädels um sich, ließ sie nochmals aus dem Universum transzendente Kraft trinken oder so was Ähnliches, und dann gingen wir in Grabesstille auf dem kürzesten Weg zurück zum Jägerhof.
Ich ließ mich etwas zurückfallen und tauchte nach dem Handy in meinem Riesenrucksack, um die Polizei zu rufen. Und die Polizei ist bei uns der Kälble.
»Polizeiposten Steinheim, Polizeiwachtmeister Kälble am Apparat, was kann ich für Sie tun?«
War der auf einer Fortbildung zum Thema Telefonservice, oder was?
»Meine Güte, Kälble, schwädz net so gschwolla daher! Hier isch die Elvira Nägele. Ich muss den Lämmle Rudi melden.«
»Wen?«
»Den Rudolf Lämmle junior, also den Rudi.«
»Warum? Um welches Delikt handelt es sich? Beleidigung, Nachbarschaftsstreit, öffentliches Ärgernis?«
»Kälble, halt dei Klapp!« Langsam wurde ich ungeduldig. »Der Rudi sitzt tot auf der Albvereinsbank am Gomba!«
»Nadierlich, Elvira, dr Rudi hat nix anders zum doa als samschtags tot em Wald romm zum hogga. Schpielsch du grad ›Verstehen Sie Spaß?‹? Hihihi.«
Kälbles blödes Ziegengelächter löste bei mir fast einen Tinnitus aus.
»Kälble, hör uff zum lacha! Des isch kei Witz! Dr Rudi hockt uff derra Albvereinsbank. Mausetot. Und du beweg jetzt deinen Arsch und mach, dass du sofort zum Jägerhof kommsch! Dort holsch du mich ab, und ich fahr mit dir zur Fundstelle!«
Der Kälble merkte dann doch an meinem Ton, dass es mir so was von Ernst war, und versprach, sich gleich auf den Weg zu machen.
Als wir eine Viertelstunde später am Jägerhof ankamen, war der Kälble aber noch nicht da. Die Yodas blieben unschlüssig am Eingang zum Hotel stehen und tuschelten aufgeregt, während ich den Parkplatz nach einem Polizeiauto absuchte. Ich musste eine weitere Viertelstunde auf Kälble warten, und mit jeder Minute stieg bei mir der Druck im Kessel.
Als er endlich fröhlich aus dem Auto stieg und mir eine Bäckertüte entgegenhielt, hab ich ihn entsprechend empfangen: »Du Granadaseggl, du bleeder! Wo kommsch denn du jetzt her, heiligs Bimbam aberau! Do hat mr scho mol einen Fall ond dir pressierts nicht im Geringschten!«
Kälbles Grinsen erlosch. »Elvira, wie schwädsch denn du mit mir? Ich hab halt erscht mol Brezla holla missa …«
»Nix hasch du erscht mol missa!«, fiel ich ihm ins Wort, und Kälble ließ die Tüte sinken. »Mir missad sofort en Wald ond den Tatort sichera. Mach, dass d’ vorwärtskommsch!«
Ich drückte ihn auf den Fahrersitz des Polizeiautos und stieg auf der Beifahrerseite ein. Als wir den Parkplatz verließen, bemerkte ich den Jochen Bauer, den Chef vom Jägerhof, wie der gerade auf der Terrasse mit einer Bedienung schimpfte. Doch die dachte nicht daran, das stillschweigend über sich ergehen zu lassen, und gestikulierte wild.
»Ja, recht so! Lass dir nix gfalla!«, rief ich.
»Von wem?«, fragte mich der Kälble erschrocken und trat abrupt auf die Bremse.
»Net du! Gugg auf d’ Schdross ond fahr zua!«
Der Kälble war vollends eingeschnappt und fuhr nicht zu. Trotz mehrmaliger energischer Aufforderung.
»Also, Kälble«, versuchte ich es deshalb noch einmal milde, was mich viel Anstrengung kostete. »Guck, du bisch doch ein erfahrener Cop. Und ein Cop isch nicht beleidigt, ein Cop isch cool. Und kompetent. Wie du.«
Ich konnte nicht glauben, was ich mich da sagen hörte. Der Kälble wurde jedoch wieder lockerer.
»Und außerdem dürfen wir keine Zeit mehr verlieren. Wir müssen den Tatort sichern. Wir haben eine Mission!«
Ich blickte ihm fest in die Augen, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen, damit die auch ja in seinem Gehirn ankamen. Wenn da nur eins gewesen wäre. Beim Kälble hat die Evolution offensichtlich eine Pause eingelegt.
Ich startete einen letzten Versuch. »Kälble! Mission!«
Und das wirkte. Der Kälble straffte den Rücken, setzte eine abgebrühte FBI-Cop-Miene auf, öffnete eine kleine Klappe oberhalb der Windschutzscheibe und holte das Imitat einer verspiegelten Ray-Ban-Sonnenbrille heraus. Er rückte das Gestell auf der Nase zurecht, legte den Ellbogen lässig ins offene Fenster und ließ den Motor aufheulen. Das Lenkrad bewegte er nur mit dem rechten Handballen, und das Auto machte mit quietschenden Reifen einen Satz nach vorne.
Fehlt nur noch ein Fuchsschwanz am Seitenspiegel, dachte ich bei mir, und ich musste tief durchatmen.
Vom Waldparkplatz, auf dem wir den Wagen abgestellt hatten, erreichten wir in wenigen Minuten zu Fuß den Fundort der Leiche. Genug Zeit für Kälble, mir wieder mit dämlichen Sprüchen und seiner Ziegenlache auf die Nerven zu gehen. Das verging ihm aber sofort, als wir am Gumpen eintrafen. Ich zeigte auf Rudi. Der hatte sich keinen Millimeter fortbewegt. Gut, wie auch?
Kälbles Augen wurden groß, als er den Toten auf der Bank betrachtete. Er neigte den Kopf ein paarmal hin und her und rannte dann in den Wald hinein. Ich hörte eindeutige Geräusche und wartete erst mal, bis alles draußen war.
»Gugg na, dr Supercop. Des isch was anders wie Strofzettl verteila, gell?«, konnte ich mir nicht verkneifen, als Kälble wieder auftauchte.
Der musste sich setzen und deutete mit einer leichten Kopfbewegung auf meinen Jägermeistergurt.
»Kälble, du bisch im Dienscht!«
»Notfall!«, keuchte er nur und zog selbst ein Fläschchen aus meinem Gurt.
»Glaubsch mir jetzt?«, fragte ich ihn nach dem vierten Fläschchen.
»Ja, scho!« Er wiegte seinen Oberkörper, als ob er schunkeln würde. Nach vier weiteren Jägermeistern war auch seine Stimmung entsprechend, und er haute wieder sein Ziegenlachen raus.
»Okay, jetzt wär’s an der Zeit, dass du den Vorfall meldesch, meinsch net?«
Er starrte mich regungslos an.
Gibt es Untersuchungen darüber, ob Kräuterlikör zu Gehörverlust führen kann?
»Du-Kälble-höhere-Instanz-anrufen-und-Toten-melden«, sagte ich deshalb langsam und untermalte meine Worte mit Gesten.
»Jawoll!«, meldete Kälble, sprang auf und legte die Hand an seine Mütze.
Fast hätte es ihn wieder umgehauen, doch ich kriegte gerade noch seinen Arm zu fassen. »Handy!«, kommandierte ich. »Höhere Instanz. Anrufen. Jetzt!«
Und wen ruft der Depp an? Seine Mutter.
Der Kälble ist also mehr oder weniger – also schon eher mehr – besoffen. Ich verzichte deshalb auf seine Hilfe. Natürlich könnte ich die 110 wählen, allerdings dauert mir das zu lang. Ich will direkt mit der Mordkommission sprechen, und der Kälble müsste doch eine Durchwahl haben. Folglich durchsuche ich die Kontakte auf seinem Handy und bin erstaunt über die eine oder andere Nummer. Andrea Berg, Vanessa May, Hartmut Engler. Ach, sogar unser Winnie K.
Do gugg na, der Kälble! Sobald der wieder nüchtern ist, muss ich ihn mal zu seinen Promibekanntschaften befragen. Aber jetzt muss ich mich erst mal um die Leiche kümmern.
Endlich finde ich in der Telefonliste einen Kommissar Egon Lauer in Ludwigsburg, und kurze Zeit später hab ich den Herrn höchstpersönlich am Telefon.
»Elvira Nägele, Assistentin des Polizeimeisters Kälble, Polizei Steinheim.«
»Seit wann hat denn der Posten in Steinheim eine Assistentin?«, schnauzt mich Lauer an.
Ich gehe nicht darauf ein, sondern gebe professionell die wichtigsten Informationen durch, die auch Martha eben erhalten hat.
»Eine Leiche auf dem Albvereinsbänkle …« Lauer bricht erst mal in Gelächter aus. »Ist bei euch Fasching, oder was?«
Ich frag mich, ob ein Heiterkeitsausbruch bei der Polizei als Reaktion auf einen Toten Standard ist.