Scholle und Timm - Lydia Mäthger - E-Book

Scholle und Timm E-Book

Lydia Mäthger

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Beschreibung

Scholle wacht am frühen Morgen auf, weil ein tosender Herbststurm an ihrem Fenster rüttelt. Eigentlich möchte sie in ihrem kuschlig warmen Bett bleiben, doch ihr jüngerer Bruder Timm ruft nach ihr. Zu ihrem Erstaunen liegt ein verletzter Hund in der Küche! Nur gut, dass ihre Mutter Tierärztin ist. Schnell machen sich die Geschwister an die Rettung. Ihnen ist kaum bewusst, dass sie in diesem Augenblick dem wohl besten Spielkameraden begegnet sind, den man sich wünschen kann. Das Abenteuer kann beginnen!

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Seitenzahl: 284

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Zur Autorin: Lydia Mäthger, geb. 1975 in Bad Saarow, hat einen großen Teil ihrer Kindheit auf einem Bauernhof im Land Brandenburg verbracht. Ihre Liebe zu Tieren und Natur hat sie in die biologische Forschung geführt. Dieses Buch samt Illustrationen ist auf Wunsch ihrer zwei Kinder entstanden. Mit ihrer Familie, zu der etliche Tiere gehören, lebt sie auf Cape Cod, an der Ostküste der USA.

Für Mea und Tili

INHALT

1. Kapitel

Ein Wimmern vor der Tür

2. Kapitel

In der Praxis

3. Kapitel

Ruhe nach dem Sturm

4. Kapitel

Ungewisse Tage

5. Kapitel

Aller guten Dinge sind drei

6. Kapitel

Freunde vom Lindenhof

7. Kapitel

Retter in der Not

8. Kapitel

Der Frühaufsteher

9. Kapitel

Die Stallkatze

10. Kapitel

Witzbolde

11. Kapitel

Einem unerwünschten Gast auf der Spur

12. Kapitel

Scholles Einladung

13. Kapitel

Das Turnier

14. Kapitel

Ein später Anruf

15. Kapitel

Zora

1. KAPITEL Ein Wimmern vor der Tür

Wenn man doch gleich früh beim Aufwachen wüsste, was der Tag einem bringt. Dann könnte man sich vernünftig darauf einstellen und gleich entscheiden, ob es sich überhaupt lohnt aufzustehen. Manchmal schien es sich nicht zu lohnen, besonders an grauen und regnerischen Tagen, wie es heute einer war.

Scholle zog ihre Decke bis unters Kinn und blickte aus dem Fenster.

„So ein Mistwetter“, grummelte sie und kraulte dem getigerten Kater Yoyo, der neben ihrem Kopfkissen zusammengerollt lag, das Kinn. Es goss förmlich, und das schon seit Tagen. Dazu hetzte ein hartnäckiger Wind Blätter und Zweige umher. Die Stallkatze, die in diesem Moment quer über den Hof jagte, drohte förmlich gegen die Stallwand geschleudert zu werden. Vögel waren kaum zu sehen, sie hatten sich in den dichten Hecken an den Feldrändern versteckt und warteten, nass und hungrig, auf besseres Wetter.

Scholle hätte sich so gerne noch einmal im Bett umgedreht und sie wäre auch sicher wieder eingeschlafen, wenn nicht der Wind an ihrem Fenster gerüttelt hätte. Selbst ihr dickes Kissen über dem Kopf half nicht, das lästige Klappern zu dämpfen. Außerdem piekte sie etwas in die Seite. Sie griff nach ihrem Buch, das ihr wahrscheinlich wie immer am Abend zuvor aus der Hand gerutscht war. Sie schlief oft beim Lesen ein und am nächsten Morgen fand sie das Buch dann irgendwo unter der Bettdecke, meist mit ein paar zerknitterten Seiten.

Scholle schaltete ihre Leselampe an, glättete die neu entstandenen Eselsohren und suchte nach der Stelle, an der sie aufgehört hatte zu lesen. Sie konnte sich nicht genau erinnern, sie war ja eingeschlafen. Unten in der Küche hörte sie ihren Bruder Timm. Er hatte bestimmt wieder seine üblichen Probleme mit der Milchflasche. Scholle konnte ihn jedenfalls schimpfen hören und das war ein sicheres Zeichen, dass er mal wieder beim Versuch, Milch in die Müslischüssel zu gießen, einen großen Schwapp über den Tisch gekippt hatte. Aber zugegebenermaßen waren volle Milchflaschen für einen siebenjährigen Jungen wirklich nicht einfach zu handhaben. Scholle war elf. Sie war groß, schlank und von zäher Natur. Eigentlich hieß sie Charlotte. Als sie klein war, konnte sie den Namen „Charlotte“ nicht richtig aussprechen. Und irgendwie war ihre Nuschelversion „Scholle“ seither an ihr hängengeblieben. Da sie ihren richtigen Namen für viel zu altmodisch hielt, fand sie das auch gut so. Ihr Spitzname hatte etwas Robustes an sich und das, fand sie, passte besser zu ihr.

„Scholle“, rief es aus der Küche nach oben.

Aber sie ignorierte den Ruf. Aufstehen wollte sie noch nicht. Sie wollte lesen, keine verkippte Milch aufwischen!

„Wo war ich denn stehengeblieben?“, knurrte sie vor sich hin und blätterte beharrlich in ihrem Buch weiter. Als Timm ein zweites Mal nach ihr rief, hatte sie die Stelle immer noch nicht gefunden. Ein Bild kam ihr bekannt vor. Ja, bis hierhin musste sie gelesen haben, bevor sie eingeschlafen war. Aber langsam ging ihr auch dieses Geklapper gehörig auf die Nerven. Sie sah ärgerlich zum Fenster, dann zur Tür, denn ihr Bruder rief nun zum dritten Mal.

„Scholle!“

Verdrossen legte sie ihr Buch zur Seite. Mit dem Lesen wurde es offensichtlich nichts mehr. Bei dem Fenstergeklapper hätte man sowieso die Augen kaum auf der Buchseite halten können. Man bekam geradezu Angst, die Scheiben könnten jeden Moment aus dem Fensterrahmen fallen. War das möglich? Wahrscheinlich kaum, dachte Scholle. Gemütlich erschien ihr dieser Krach jedenfalls nicht.

Wieder schrie Timm: „Scholle!!!!“

„Ich komme ja schon”, gab Scholle im gleichen Ton zurück. Sie stöhnte. Dass man aber auch früh nicht seine Ruhe haben konnte! Es war zwar Zeit zum Aufstehen, aber gehetzt werden wollte sie trotzdem nicht. Sie hatte noch einiges zu erledigen, bevor sie zu ihrer Mutter in die Tierarztpraxis wollte: Hühner füttern, Schafe, Ziegen und Kaninchen versorgen. Das dauerte immer länger, als man dachte. Ob Papa sie rüber zu Mama fahren würde, zumal sie bei diesem Wetter wohl kaum mit dem Fahrrad vom Hof kam?

Verschlafen zog sie ihre Lieblingsjeans an, die blaue mit den Flicken auf den Knien. Dann schnappte sie sich einen Pullover aus dem offenen Schubfach und zog ihn über den Kopf, während ihre Füße schon die ersten Stufen der knarrenden Holztreppe ertasteten, die hinunter in die Küche führte.

Der Küchentisch sah sauber aus, also hatte sich Timm an diesem Morgen kein Gefecht mit der Milch geliefert. Dafür stand die Haustür sperrangelweit offen. Der Sturm wehte einige Meter weit in den Flur hinein. Eine beachtliche Pfütze hatte sich bei der Tür gebildet, umgeben von Schlamm und nassen, braunen Blättern, die einen kräftig würzigen Herbstgeruch ins Haus brachten.

Mitten in der Pfütze stand Timm mit einem kleinen zottigen schwarzen Etwas auf dem Arm und einem verstörten Ausdruck in den Augen.

„Wo bleibst du denn, Scholle? Hilf mir doch mal schnell!“, bat Timm, als seine Schwester endlich die Treppe heruntergestolpert kam.

„Was ist denn los?“, rief Scholle, die plötzlich hellwach war. „Wo kommt denn der Hund her?“

Sie schlug die Tür mit einem Knall zu und sah ihren Bruder an.

„Weiß auch nicht“, erwiderte Timm, „ich wollte mir gerade etwas zu essen machen, aber dann hab’ ich ein Wimmern an der Tür gehört. Ich dachte, Yoyo will rein und habe aufgemacht. Und dann saß dieser Hund unter dem Vordach. Ich glaube, dem geht’s nicht gut.“

Scholle trat näher an ihren Bruder heran und musterte das pitschnasse, schmutzverklebte und zweifellos stinkende Tier.

„Armer Kleiner“, sagte sie. „Der sieht ja wirklich nicht gut aus. Wie lange er wohl schon draußen im Regen sitzt?“

Jetzt machte sich Scholle aber doch Vorwürfe, dass sie nicht eher aufgestanden war. Timm hatte die Angewohnheit, nur nach ihr zu brüllen und Scholle musste raten, was er wollte. Meistens war es sowieso belanglos. Aber wer hätte ahnen können, dass am frühen Morgen, bei diesem Sturm, ein verletzter Hund vor der Haustür sitzt!

Timm war froh, als ihm seine Schwester das Tier abnahm. Der Hund war zwar klein, aber trotzdem nicht gerade leicht. Er jaulte kurz auf, als Scholle ihm vorsichtig unter den nassen Bauch griff.

„Ganz ruhig“, flüsterte Scholle und trug ihn langsam hinüber zur Küchenbank. Die war zum Glück gerade nicht besetzt. Normalerweise beschlagnahmte der Kater die Bank, und wenn der gerade unterwegs war, lagen die zwei Hütehunde Luna und Racker darauf. Die Küchenbank war das begehrteste Möbelstück des Hauses. Man hatte von hier die beste Aussicht, wenn nicht gerade der Regen gegen das Fenster peitschte, wie heute. Sonst überblickte man durch das große Fenster den gesamten Hof bis hinunter zu den Flusswiesen, auf denen im Sommer die Kühe weideten. Weiter rechts begann der Wald und links lagen die Felder, die seit ein paar Wochen gepflügt und geeggt auf die Frühjahrssaat warteten. An den Feldrändern entlang führte der Weg zum Lindeberger See und dann weiter zum Nachbarhof.

Scholle setzte den kleinen Hund behutsam auf der Küchenbank ab. Er sackte erschöpft auf die Seite, und nun konnten Scholle und Timm das Ausmaß der Verletzungen sehen. Am Kopf waren einige Schrammen, die sicher schmerzten und an der Schulter hatte er eine große, blutverschmierte Wunde. Außerdem sah eines der Hinterbeine geschwollen aus. Scholle nahm vorsichtig die kleine Schnauze zwischen die Hände und hob auf einer Seite die Oberlippe an. Sein Zahnfleisch war sehr blass. Von ihrer Mutter hatte Scholle gelernt, dass ein gesunder Hund ein kräftiges, rosafarbenes Zahnfleisch hatte. Je blasser, desto schlechter der Zustand des Tieres. Dieses hier war nicht so kräftig, wie es sein sollte. Es ging dem kleinen Kerl wirklich nicht gut.

Scholle sah ihn eingehend an. Er hatte ein wahrlich hübsches Gesicht. Sein linkes Ohr war weiß, er hatte hellbraune Ringe um die Augen und auf der Stirn trug er eine zarte Zeichnung, die einem ,M‘ ähnelte. Dankbar schauten seine großen, dunklen Augen die Kinder an. Wahrscheinlich genoss er – trotz seiner offensichtlichen Schmerzen – die wohltuende Wärme des geheizten Küchenofens.

„Ruf mal Mama an“, sagte Timm leise. Ihm war beim Anblick des reglosen Hundes ganz elend zumute. Scholle ging es ähnlich.

„Ja, und du rennst inzwischen in den Stall rüber und holst Papa“, erwiderte Scholle. Sie lief in den Flur zum Telefon. Hastig wählte sie die Rufnummer von der Tierarztpraxis, die sie auswendig kannte. Sie hatte ihre Mutter schon oft auf der Arbeit angerufen.

Mona Lockhart, ihre Mutter, war die Tierärztin von Lindeberg und den umliegenden Ortschaften. Sie hatte mit ihrer Klein- und Großtierpraxis alle Hände voll zu tun, denn hier auf dem Land gab es kaum jemanden, der nicht wenigstens eine Katze besaß. Allein im Umfeld von Lindeberg gab es drei Höfe: den Lindenhof, den Eichenwaldhof und etwas abseits ein großes Pferdegestüt. Hinzu kamen noch eine Menge kleinerer Familienhäuser, die sich entlang der Dorfstraße und den verzweigten Seitenstraßen reihten. Lindeberg war vom Eichenwaldhof fünf Kilometer entfernt. Um dorthin zur Schule zu gelangen, fuhren die Kinder meistens mit dem Fahrrad. Manchmal wurden sie von Mona auch mit dem Auto gebracht oder sie nahmen den Bus.

Scholle und Timms Vater, Johann Lockhart, hatte vor fünfzehn Jahren den ziemlich baufälligen Eichenwaldhof gekauft und zusammen mit seinem Bruder Maarten wieder aufgebaut. Die Brüder hatten für den Bau reichlich Geduld und Kraft aufbringen müssen. Doch nach Jahren zäher Arbeit war aus der alten Ruine wieder ein sehr hübscher kleiner Bauernhof geworden. Und wieder mal war es Scholle, die als kleines Kind aus dem Wort „Eichenwaldhof“ kurzerhand „Eichelhof“ gemacht hatte. Seither war „Eichelhof“ ein gängiger Name für den Eichenwaldhof, genauso wie „Scholle“ für Charlotte.

Mitten auf dem Hofplatz stand eine große, knorrige Eiche. Ihr breiter Stamm machte sich beim Versteckspielen gut als Zählplatz. An einem der dicken Äste hing eine Schaukel. Sie war dort vor vielen Jahren für Scholle angebracht worden, als sie noch kaum laufen konnte. Auch sonst gab es viele Eichbäume rund um den Hof. Im Herbst sammelten die Kinder eimerweise Eicheln und brachten sie, wenn es kalt wurde, für die Rehe und Wildschweine in den Wald.

Auf dem Eichelhof standen zwei Fachwerkhäuser. In dem einen, das ein wenig abseits neben dem Garten stand, wohnte Onkel Maarten mit Tante Lisa, den 3-jährigen Zwillingen, Moritz und Friedel, und einem alten Kater, der Romeo hieß. Lisa war Lehrerin. Sie arbeitete im Nachbarort Rathenau, nicht in Scholle und Timms Schule. In dem anderen Haus direkt gegenüber vom Stall wohnten Scholle und Timm mit ihrem Kater Yoyo, den beiden Collies, Racker und Luna, und natürlich ihren Eltern, Johann und Mona.

Es war ein verträumt aussehender, aber dennoch lebhafter Hof, auf dem die vier Kinder für stete Überraschungen und eine gewisse Geschäftigkeit sorgten. Zum Eichelhof gehörten darüber hinaus 28 Kühe, die gefüttert, gemolken und im Sommer auf die Wiesen getrieben wurden. Dem Kuhstall gegenüberliegend stand ein kleinerer Stall mit Schafen und Ziegen, und daneben war der Hühnerstall. Letztes Jahr hatte Johann dort zusätzlich ein Gehege für zwei Kaninchen gebaut, die Scholle und Timm vom Nachbarhof geschenkt bekommen hatten. In dieser Umzäunung verbrachten die Kaninchen fast das ganze Jahr. Nur im Winter, wenn der Frost wirklich unbarmherzig wurde, bekamen sie bei den Schafen und Ziegen einen geschützten Platz.

Während Scholle darauf wartete, dass in der Praxis jemand ans Telefon ging, schaute sie zu, wie Timm Gummistiefel und Regenjacke anzog und die Haustür öffnete. Der Sturm arbeitete sich für kurze Zeit ein zweites Mal in die Küche und trieb weitere Blätter hinein. Timm beeilte sich, die Tür rasch hinter sich zu schließen. Dann rannte er, so schnell es in Gummistiefeln bei diesem Sturm ging, zum Stall hinüber. Scholle sah ihn im halb offenen Kuhstalltor verschwinden.

„Hoffentlich ist Papa mit dem Melken fertig“, murmelte Scholle und trommelte nervös auf dem Telefontisch herum. Sie wusste, dass ihr Vater sich ansonsten nicht unbedingt gleich von der Arbeit entfernen würde. Johann stieg jeden Tag vor Sonnenaufgang aus dem Bett. Im Winter war es sogar richtig dunkel, wenn er hinüber zum Kuhstall ging, wo sein Bruder Maarten meistens schon als Erster mit dem Füttern angefangen hatte. Er kam normalerweise erst nach etlichen Stunden wieder ins Haus, um ausgiebig zu frühstücken und in Ruhe die Zeitung zu lesen.

Es erschien Scholle wie eine qualvolle Ewigkeit, bevor Carla, Monas Sprechstundenhilfe, endlich ans Telefon ging. „Lindeberg Tierklinik, hier spricht Carla Böhm ...“, sagte sie in ihrer üblichen seelenruhigen Art. Noch bevor sie ihren Telefonsatz mit „Wie kann ich helfen?“ beenden konnte, fiel Scholle ihr ins Wort.

„Hallo Carla, hier ist Scholle, kann ich mal bitte mit Mama reden?“ Sie hoffte, dass ihre Mutter nicht gerade irgendwo unterwegs war, was oft vorkam.

„Charlotte, du bist’s!“, freute sich Carla. „Das ist aber schön, dass du anrufst. Deine Mama hat mir schon erzählt, dass ihr zusammen zu Reitermanns Welpen fahren wollt ... Na ja, deine Mama, die ist gerade im Sprechzimmer. Sie müsste aber bald fertig sein, dann kann sie dich zurückrufen, ja?“ Carla war eine der wenigen, die ,Charlotte‘ zu ihr sagte. Das klänge so schön, meinte sie immer. Wie alt Carla war, wusste Scholle nicht. Sie war vielleicht so alt wie ihre Oma. Die Kinder mochten sie wirklich gerne – nur redete Carla viel, was Scholle im Augenblick völlig verrückt machte.

In der Sorge, Carla würde einfach weiterplaudern, beteuerte Scholle: „Ja, ich komme bald, aber gerade müsste ich dringend mit Mama reden. Timm und ich haben hier in der Küche nämlich einen verletzten Hund. Keiner von unseren, er saß plötzlich vor der Tür.“

„Oh, na dann warte doch mal kurz, ich schaue schnell nach. Vielleicht ist deine Mama ja schon fertig.“ Scholle hörte, wie Carla den Telefonhörer auf den Tisch legte und sich ihre Schritte entfernten.

Auch Timm und Johann kamen in diesem Moment zurück ins Haus.

„Papa, na endlich, ich rufe gerade Mama an. Timm hat vorhin den Hund dort vor der Haustür gefunden. Ich glaube, wir müssen ihn schnell zu Mama fahren.“

Scholle zeigte zur Küchenbank, wo der kleine, strubbelige Hund noch immer auf der Seite lag und langsam atmete. In Abständen stöhnte er leicht. Johann legte seine nasse Stalljacke über den Stuhl und wusch sich die Hände, bevor er sich neben Timm kniete, um den Kleinen anzusehen. Timm streichelte ihm leicht den Kopf, was ihm offensichtlich wohl tat, denn sein Schwanz klopfte sacht auf die Bank.

„Auwei, den hat es aber mächtig erwischt. Habt ihr gesehen, was ihm passiert ist?“, fragte Johann.

„Nein“, antwortete Timm. „Ich war gerade in die Küche gekommen, weil ich Hunger hatte, und dann habe ich etwas an der Tür jammern hören. Als ich nachgeguckt habe, habe ich ihn zusammengekauert in der Ecke unter dem Vordach gefunden.“

Johann sah den Hund besorgt an. „Wir sollten ihn schnell zur Praxis fahren. Hoffentlich ist Mama da“, sagte er und blickte hinüber zu Scholle, die noch immer schweigend am Telefon stand. „Ein Halsband hat er nicht“, fuhr Johann fort, „also wissen wir auch nicht, wem er gehört. Ich vermute, er ist von einem Auto auf der Landstraße angefahren worden und hat sich bis hierher geschleppt. Er ist auch noch ganz jung, mehr als sechs Monate alt kann er kaum sein.“

Jetzt hörte Scholle Stimmen am anderen Ende der Leitung und ihre Mutter nahm den Telefonhörer in die Hand. „Ja, Scholle, was ist denn passiert?“

Scholle erzählte ihrer Mutter von dem Wimmern an der Tür und dass Timm einen Hund ins Haus gebracht hatte. Sie vergaß nicht, die verschiedenen Verletzungen genau zu beschreiben.

„Mama, du musst ihm sofort helfen“, sagte sie, nachdem sie fertig war. Johann war inzwischen zum Telefon gekommen und jetzt übergab Scholle ihm den Telefonhörer. Und während Mona Johann Anweisungen gab, wie er den Hund am besten zur Praxis bringen sollte, war Scholle wieder bei der Küchenbank, neben Timm.

„Was meinst du, wem dieser Hund gehört?“, flüsterte sie Timm zu und versuchte nebenbei nichts von dem Telefongespräch ihrer Eltern zu verpassen.

„Hier aus Lindeberg kommt er jedenfalls nicht“, meinte Timm, der die Gegend kannte wie seinen eigenen Handrücken.

Scholle stimmte zu. „Ja, dann hätten wir ihn erkannt. Aber es kann auch sein, dass irgendjemand ihn gerade erst bekommen hat und wir haben davon noch nichts gehört.“

Scholle liebte Tiere über alles, besonders Hunde, und wenn sie ein verletztes Tier sah, verspürte sie ein dringendes Bedürfnis, es zu versorgen. Als sie kleiner war, hatte sie manchmal darauf gehofft, Tiere in Not zu finden, damit sie ihnen helfen konnte, obwohl sie natürlich wusste, dass das Quatsch war. Sie hoffte nicht wirklich darauf, dass Tiere in Not gerieten. Sie mochte nur dieses bekräftigende, erfüllende Gefühl, helfen zu können. Scholle wollte auch Tierärztin werden, wie ihre Mutter. Das stand jedenfalls fest.

„Also, passt gut auf“, sagte Johann, nachdem er den Telefonhörer aufgelegt hatte. „Wir fahren den Kleinen rüber zur Praxis. Mama wollte gerade weg, aber sie wartet jetzt auf uns. Wir sollen den Hund auf jeden Fall so ruhig wie möglich transportieren. In der Werkstatt habe ich einen flachen Korb, da legen wir ihn hinein. Vorher stabilisieren wir noch sein Bein. Ihr beide passt bei der Fahrt gut auf, dass er sich nicht unnötig bewegt oder ängstigt. Ich gehe nur noch zum Stall und sage Onkel Maarten Bescheid, dann bringe ich das Auto zur Tür. In der Zwischenzeit könnt ihr aus der Kammer eine alte Decke holen, die legen wir in den Korb.“

Johann zog seine Stalljacke wieder an, trat nach draußen und schloss die Tür rasch hinter sich. Der Herbststurm tobte immer noch. So viel Regen hatte es seit langem nicht gegeben. Es prasselte unaufhörlich an die Küchenfenster und der Hof hatte sich in eine Schlammsuhle verwandelt. Die Regenrinnen waren entweder verstopft oder völlig überlaufen von diesen Wassermengen, denn der Regen rann unentwegt an ihnen vorbei die Hauswände hinab.

Scholle und Timm sammelten ein paar Handtücher und eine alte Wolldecke zusammen, aßen jeder noch rasch ein Marmeladenbrot und standen im Handumdrehen in Stiefeln und Regenjacke bereit zur Abfahrt.

Kurze Zeit später brachte ihr Vater das Auto vor die Tür und kam triefend nass mit dem Korb zurück ins Haus. Onkel Maarten war mitgekommen.

„Was ist denn mit diesem Wetter los!“, donnerte Maarten, während er sich die schlammigen Stiefel von den Füßen streifte. Ihr Onkel war ein großer, stämmiger Mann, mit dunklem, lockigen Haar, genau wie sein älterer Bruder Johann. Die beiden Brüder überragten so gut wie jeden.

„Langsam reicht’s“, schimpfte er weiter. „Ich habe nicht ein einziges Paar trockene Stiefel mehr.“

Johann musste lachen, denn ihm ging es ähnlich. Jacken, Hosen und Stiefel wurden schneller nass als sie am Ofen trockneten.

„Wo ist er denn, der Findling?“, fragte Maarten und entdeckte prompt die Kinder vor der Küchenbank, auf der das kleine Tier lag.

Johann brachte den Korb zur Bank und polsterte den Boden mit einem der Handtücher aus. Im Verbandskasten, den er unter dem Waschbecken hervorholte, suchte er nach passendem Material, um das Bein leicht zu schienen und die Wunde an der Schulter abzudecken. Sie blutete immer noch leicht.

Dann nahmen die beiden Männer den Hund vorsichtig hoch, ohne seine Lage zu verändern, legten ihn in den Korb und deckten ihn mit einem zweiten Handtuch gut zu. Maarten nahm die alte Wolldecke und legte sie über den gesamten Korb.

„Die Decke könnt ihr im Auto wieder runternehmen“, sagte Onkel Maarten. „Der Regen wird sie bestimmt komplett durchnässen. Vielleicht bleibt das Handtuch darunter wenigstens trocken.“ Sie trugen den Korb zum Auto und schoben ihn auf den Rücksitz. Die Kinder kletterten auf beiden Seiten ins Auto und schlugen die Türen zu. Johann sprang auf den Fahrersitz und startete den Motor. Nur Onkel Maarten lief zügig zurück in den Stall. Mit dem Melken waren sie fertig geworden, doch jetzt musste er ausmisten und füttern, die Melkmaschinen waschen und die Milch abfüllen.

Der Weg bis zur Landstraße war lang und holprig. Er führte entlang des Flusses, der wegen des Regens schon fast über die Ufer getreten war. Nach ein paar Minuten bog Johann in den Wald ein und fuhr einen kleinen Hügel hinauf. Hier lagen ein paar große Felsen im Wald. Wie ein kleines Gebirge ragten sie zwischen den Baumstämmen empor.

Johann fuhr vorsichtig, er kannte die Löcher und Kurven nur allzu gut.

„Sobald der Regen aufhört, bessere ich endlich diesen Weg aus.“ schimpfte er vor sich hin. Vielleicht meinte er es dieses Mal ernst, denn der Waldweg wurde von Woche zu Woche schlechter. Jeder Regen wusch tiefere Rinnen und füllte die Löcher bis der gesamte Weg aussah wie eine Seenplatte.

Dem Hund machte das Geholper nichts aus. Die Kinder hatten die Decke von seinem Kopf geschoben und beobachteten ihn. Trotz des Geruckels lag er ruhig im Korb. Sie erreichten die Landstraße, ohne dass er einen Laut von sich gab. Von hier aus fuhr man zur Tierarztpraxis nur noch einige Minuten dorfeinwärts. Immerhin war die Straße nun glatt.

Johann rollte auf den Hof des alten Backsteingebäudes, in dem sich die Praxis befand, und parkte direkt an den Stufen zur Hintertür. Der Wind pfiff ihm den Regen um die Ohren, als er ausstieg. Er lief mit eingezogenem Kopf um das Auto herum und öffnete den Kindern die Autotür. Carla hatte schon am Fenster Ausschau nach ihnen gehalten. Als sie das Auto auf den Hof fahren sah, machte sie die Tür auf und kam mit einem aufgespannten Regenschirm die Stufen hinunter.

„Schnell rein mit euch!“, rief Carla, als die Kinder aus dem Auto kletterten. Den Regenschirm in den Wind gestemmt lief sie Johann entgegen, der den Korb vom Hintersitz gezogen und an beiden Griffen gepackt hatte.

„Oje, wen haben wir denn hier!“, sagte Carla besorgt, als sie in den Korb sah. Schon allein an den Kopfverletzungen war zu sehen, dass es sich hier um einen ernsten Notfall handelte.

Der kleine Hund sah verängstigt und verwirrt aus, als er den prasselnden Regen spürte. Er versuchte aufzustehen, doch die Wolldecke war fest in die Seiten des Korbes gesteckt und seine Schmerzen hinderten ihn daran sich hochzudrücken. Als Carla rasch ihre Hand auf die Decke legte und den Regenschirm über den Korb hielt, gab der Hund nach und blieb ruhig liegen.

Johann stieg vorsichtig mit dem Korb in den Händen die Stufen hinauf, während Carla neben ihm lief und den Schirm schützend über den Hund hielt. Die Kinder warteten schon im Inneren des Hauses und schlossen, als Johann und Carla mit dem Korb hineinkamen, schnell die Tür.

2. KAPITEL In der Praxis

Die Fassade der Lindeberger Tierarztpraxis konnte vielleicht ein paar Ausbesserungen vertragen, doch sobald man sie betrat, wurde man von renovierten hohen Räumen und großen Fenstern begrüßt, die selbst an diesem grauen Tag die cremefarbenen, mit Bildern bestückten Wände hell und freundlich erschienen ließen.

Das Wartezimmer war überraschenderweise leer.

„Bei dem schlechten Wetter kommt heute keiner mehr“, sagte Carla, „und eure Mutter hat eben einen Hausbesuch verschoben. Den Termin bei Reitermanns hat sie für heute auch abtelefoniert. Kommt, sie ist schon im OP-Zimmer.“

Das Operationszimmer! Es war der aufregendste Teil der Praxis, gefüllt von Instrumenten, von deren Funktionen Scholle und Timm kaum etwas verstanden. Ein großer Operationstisch stand in der Mitte. Die darüber hängende Lampe wurde von einem riesigen Arm gehalten, der an die Decke montiert war. An einer Wand hing ein großer Lichtkasten, in dem zwei Röntgenbilder vom Vormittag oder noch vom gestrigen Tag hingen. An einer der Wände stand ein langer Schrank mit Schubfächern und Glastüren, hinter denen sich allerlei sonderbare Gefäße, Gläser, Becher und Schüsseln befanden, sowie Kästen und Packungen voller Pipetten, Tupfer und Verbandsmaterial. Ein ganzes Fach war gefüllt mit Medikamenten. Am Fenster entlang reihten sich auf einer Arbeitsplatte verschiedene Geräte: ein Mikroskop, eine Zentrifuge und allerlei andere Dinge. Scholle interessierten diese Geräte sehr und sie staunte, wenn ihre Mutter scheinbar zusammenhangslos auf irgendwelchen Knöpfen herumdrückte oder drehte, um anschließend, wie aus der Luft gegriffen, zu wissen, wie sie ihrem Patienten helfen musste.

Johann stellte den Korb auf dem Operationstisch ab. Mona kam gerade aus dem Nebenzimmer, wo sie das Röntgengerät vorbereitet hatte. Sie trug einen schweren Schutzmantel, den man beim Röntgen tragen musste, und ein Stethoskop hing ihr wie immer um den Nacken. Sie war eine schlanke, große Frau, ihr welliges mittellanges Haar war locker zusammengebunden.

„Da seid ihr ja!“, sagte sie und lächelte freundlich. Mona freute sich, wenn ihre Familie in die Praxis kam, auch wenn der heutige Anlass nicht so rosig war. „Dann schauen wir mal, was wir für den Burschen hier machen können. Er ist doch ein Rüde, oder?“

Scholle nickte.

Mona schob vorsichtig das Handtuch zur Seite und betrachtete den kleinen Hund, während sie ruhig mit ihm sprach. Als Erstes gab sie ihm eine schmerzlindernde Spritze, denn ohne Frage mussten ihm die Wunden sehr weh tun. Dann befühlte sie behutsam seinen Bauch, hörte mit dem Stethoskop sein Herz und seine Lungen genau ab, maß Puls und Atmung und zuletzt seine Temperatur. Schließlich sagte sie zufrieden: „Sieht alles erstmal gut aus. Ich glaube, wir müssen hier nur ein bisschen flicken, dann hopst er bald wieder!“

Das Hinterbein schien allerdings wirklich gebrochen zu sein, wie Mona feststellte. „Wir röntgen es gleich“, sagte sie. „Hoffen wir, dass der Bruch nicht allzu kompliziert ist und ein Gipsverband ausreicht. Ansonsten muss ich das Bein aufschneiden und den Knochen vor dem Gipsen mit einer Metallschiene stützen. Vielleicht schalten wir auch noch das Ultraschallgerät an, dann können wir uns vergewissern, dass er keine inneren Verletzungen hat. Ich glaube es nicht, aber sicher ist sicher.“

Nun blickte Mona auf die Verletzung an der Schulter. „Hier muss ich nähen, dazu müssen wir den Kleinen kurz unter Narkose setzen. Aber erst mal röntgen, dann wissen wir, woran wir sind.“

Carla und Mona trugen den Korb samt Patient hinüber ins Röntgenzimmer und schlossen die Tür. Dorthinein durften die Kinder nicht, wenn eine Röntgenaufnahme gemacht wurde. Auf einem großen Schild mit einem gelb-schwarzen Symbol stand: „Röntgen, Kein Zutritt“. Nach kurzer Zeit kündigte ein kurzes Piepen hinter der Tür das Ende der Röntgenaufnahme an. Scholle wusste aber, dass die Aufnahme jetzt entwickelt werden musste. Dann erst kam der spannende Teil. Wenn die Bilder endlich fertig waren, erklärte ihre Mutter was man darauf sehen konnte und wo das Problem zu finden war. Monas Gerät war alt und es dauerte so seine Zeit, bis man die Aufnahme in den Lichtkasten stecken konnte.

Beim Ultraschall durften Scholle und Timm zusehen. Mona hatte den Kindern einmal erklärt, dass Ultraschall so ähnlich sei wie ihr Stethoskop, nur mit viel höheren Tönen, die Menschen und Tiere nicht hören konnten. Anders als bei einem Stethoskop entstand beim Ultraschall ein schwarz-weißes Bild auf einem Computerbildschirm. Beim Ultraschall musste man Geschick haben, meinte Mona immer, und sie gab dieses Amt gerne an Carla ab, die sich damit bestens auskannte.

Carla schob den Ultraschallkopf langsam und vorsichtig am Bauch auf und ab, ohne an das gebrochene Bein zu kommen. Ein schwarz-weißes Durcheinander war auf dem Bildschirm zu erkennen. Es sah aus wie Sand bei Nacht und Nebel. Wie man daraus klug wurde war Scholle ein Rätsel.

„Sieht gut aus, was denkst du?“, verkündete Carla erfreut und sah Mona fragend an.

„Ich sehe hier auch nichts Verdächtiges“, stimmte Mona ihr zu. „Das Röntgenbild können wir uns gleich ansehen. Jetzt geht’s ans Flicken“, und sie trug den Korb mit Carla zurück ins OP-Zimmer.

„Das wird eine Weile dauern – danach bin ich für heute fertig und fahre nach Hause. Wollt ihr alle hierbleiben und warten?“

Scholle kam die Frage ziemlich unnötig vor. Dabei schaute Mona sowieso nicht ihr, sondern zuerst Johann und dann Timm in die Augen.

„Kann ich mit Scholle hierbleiben?“, fragte Timm zaghaft. Er hatte schon bei Operationen zugesehen. Ihm war nur manchmal nicht ganz wohl dabei gewesen.

„Gerne“, sagte Mona, „aber durchhalten, versprochen? Ich bin erst fertig, wenn ich sage, dass ich fertig bin. Keine Sekunde früher.“ An Johann gewandt, fügte sie hinzu: „Du kannst gerne schon vorfahren. Ich denke, in einer Stunde bin ich hier fertig.“

Sie begann, ihre Operationsinstrumente zurechtzulegen, während Carla die Narkose vorbereitete. Johann nahm seine triefend nasse Jacke vom Haken im Flur und ging zur Tür.

„Papa, kannst du mir einen ganz wichtigen Gefallen tun?“, meldete sich Scholle mit einem Mal zu Wort. „Ich hatte Mama versprochen, mich heute früh um die Tiere zu kümmern. Ich kann nachher noch sauber machen, aber kannst du schon füttern?“

Johann strich seiner Tochter über den Kopf und nickte. „Na klar“, sagte er.

Machmal fragte Johann sich, womit er solche großartigen Kinder verdient hatte. Ob er selbst an ein solches Versprechen gedacht hätte? Als Elfjähriger? Garantiert nicht. Während er sich seine Jacke anzog, rief er ein leises „Bis später!“ in den Raum. Dann schlüpfte er hinaus in den Herbststurm und fuhr zurück zum Eichelhof.

Mona versetzte den jungen Hund in eine leichte Narkose. Dazu stülpte sie ihm eine Maske über die Nase und achtete darauf, dass er nur so viel von dem betäubenden Gas einatmete, wie zum Nähen der Wunden und des Gipsanlegens notwendig war. Normalerweise sah sich Mona vor einer Operation gerne die Resultate eines Bluttests an, um sich zu vergewissern, dass Nieren und Leber gut funktionierten und das Tier die Narkose gut überstehen würde. Heute reichte natürlich die Zeit nicht dafür. An sich war es auch wichtig, dass der Hund keinen vollen Magen hatte. Wann der Kleine das letzte Mal gefressen hatte, wusste allerdings keiner. Mona war bei solchen Notfällen jedes Mal nervös, denn sie musste immer schnell handeln, ohne etwas über den generellen Gesundheitszustand des Tieres zu wissen.

Nachdem der Hund eingeschlafen war, kümmerte sich Mona als Erstes um die Schulterverletzung, die noch immer leicht blutete. Der Riss war groß und ziemlich tief. Mona schnitt das Fell um die Wunde herum zurück, um sie sorgfältig zu reinigen. Eine so tiefe Wunde sollte sich besser nicht durch zurückgebliebenen Dreck entzünden! Scholle beeindruckte die ruhige Hand, mit der ihre Mutter die Wunde zusammennähte und die Geschicktheit jeder ihrer Griffe. Ihre Hände bewegten sich wie von selbst, als wäre es überhaupt kein Kunststück. Nebenbei kontrollierte Mona den Puls und die Atemfrequenz des kleinen Tieres. Offensichtlich verkraftete der Kleine den Eingriff ganz gut.

„Ihr könnt sein Herz abhören, wenn ihr wollt“, schlug sie vor und reichte Timm ihr Stethoskop. „Es klopft ganz langsam, aber das ist gerade völlig normal.“

Carla stand am Kopfende des Tisches, reichte Mona, was sie benötigte, und reinigte nebenbei gründlich die Kopfwunden.

„Wie sieht’s bei dir aus?“, wandte sich Mona an ihre Helferin.

Carla nickte. „Alles gut. Hier muss nichts genäht werden. Ich glaube, er ist zuerst auf die Schulter gefallen.“

Auch die Röntgenaufnahme zeigte keine weiteren Knochenbrüche. Bei der Verletzung am Hinterbein handele es sich um einen leichten Spaltbruch, erklärte Mona. Der Knochen sei nicht komplett gebrochen und benötige keinen operativen Eingriff. Ein Gipsverband würde reichen.

Eine halbe Stunde später war Mona auch mit dem Vergipsen des Beines fertig.

„Das lief wirklich sehr gut!“, stellte sie erleichtert fest. „Vielleicht noch zehn bis zwanzig Minuten, und unser kleiner Freund wacht wieder auf. Er hat wirklich Glück gehabt, was immer ihm passiert ist. Hat jemand eine Ahnung, wem er gehört?“

Carla schüttelte den Kopf. „In Lindeberg habe ich ihn noch nie gesehen.“

Scholle und Timm stimmten ihr zu.

„Ich denke, wir sollten im Tierheim und bei der Polizei anrufen, und eine Beschreibung hinterlassen“, sagte Carla und bot an, sich darum zu kümmern.

Scholle bekam bei dem Gedanken, diesen kleinen Kerl seinem Besitzer aushändigen zu müssen, einen dicken Kloß im Hals. Sie schob den Gedanken schnell zur Seite. Zu Hause hatte die Familie schon zwei Hunde. Die Kinder mochten Luna und Racker gerne, auch wenn die Hunde ihnen nicht viel Beachtung schenkten, sondern stets an Johanns Seite blieben. Scholle hatte des Öfteren probiert, mit Luna zu spielen, mit ihr Tricks zu üben oder einen Stock zu werfen, doch die Hündin machte sich nicht viel daraus. Racker, der Rüde, schon gar nicht. Ja, manchmal sehnten sich Scholle und Timm nach einem Hund, mit dem sie spielen und durch die Wälder streifen konnten – einem Hund, der Kinder mochte.

In diesem Moment riss Mona Scholle aus ihren Gedanken.

„Kommt, wir können gleich fahren“, sagte sie. „Wir nehmen den Hund mit. Er kann auch bei uns in der Küche richtig aufwachen, so lange brauchen wir nicht zu warten. Wir müssen ihn ohnehin erst in Pflege nehmen, bis wir wissen, wem er gehört.“ Mona brachte nach Feierabend nicht selten das eine oder andere Tier mit, wenn es noch eine Nacht oder ein paar Tage beobachtet werden musste. Die Besitzer hatten bisweilen nicht die Geduld oder die Zeit, die Versorgung selbst in die Hand zu nehmen, und auf dem Eichelhof war genügend Platz dafür.

Mona suchte aus dem Medizinschrank Medikamente heraus, die sie für den Hund in den nächsten Tagen benötigte, und packte sie in ihre Arbeitstasche. Carla räumte das OP-Zimmer auf, legte die Operationsinstrumente zur Seite, damit sie gesäubert und sterilisiert werden konnten.

„Fahrt ruhig schon und kümmert euch um den Kleinen“, schlug Carla vor. „Ich hoffe, ihr kommt wohlbehalten nach Hause. Ich setze mich gleich mal ans Telefon, um herauszufinden, wo er hingehört.“

Die Fahrt zurück zum Eichelhof ging schleppend langsam voran. Kurz hinter Lindeberg war ein großer, alter Baum entwurzelt worden und lag quer über der Straße. Leute von der Feuerwehr arbeiteten daran, ihn mit Kettensägen klein zu schneiden und zu räumen. Die Arbeiter konnten einem leidtun, dachte Scholle. So ein scheußliches Wetter brachte nur die wirklich Wagemutigsten aus dem Haus. Die Regentropfen trommelte unaufhaltsam auf das Autodach, die Scheibenwischer jagten über die Windschutzscheibe so schnell es ging, aber der Regen gab das Spiel nicht aus der Hand. Reden konnte man bei diesem Krach kaum.