Schöner Sterben in Franken - Katharina Drüppel - E-Book

Schöner Sterben in Franken E-Book

Katharina Drüppel

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Beschreibung

Mörderjagd im Erlanger Uni-Milieu. Schock auf dem Erlanger Schlossgartenfest! In der Skulptur des Hugenottenbrunnens liegt eine markgräflich gewandete Frau – erdrosselt. Die Suche nach dem Täter führt Kommissar Clemens Sartorius ins Umfeld der Universität und zu Missgunst und Neid hinter verschlossenen Türen. Zu allem Überfluss mischt sich auch noch seine alte Bekannte, Buchhändlerin Felicitas Reichelsdörfer, in die Ermittlungen ein und stellt die Nerven des Kommissars auf eine harte Probe.

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Katharina Drüppel wurde 1974 in Heilbronn geboren und studierte Biologie. Neben ihrer Leidenschaft für alles, was den menschlichen Körper betrifft, verbringt sie ihre Zeit mit Schreiben, Lesen und Nähen. Sie ist glücklich verheiratet und Mutter von drei Kindern.

Heike Heinlein wurde 1961 in Erlangen geboren. Nach dem Studium der Sozialpädagogik absolvierte sie eine Ausbildung zur Buchhändlerin, was sie nie bereut hat. Neben dem Lesen widmet sie sich neuerdings auch dem Schreiben von Franken-Krimis. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2021 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Helmut Meyer zur Capellen/imageBROKER

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Susanne Bartel

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-709-5

Originalausgabe

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Samstag, 19:30Uhr

Es passte nicht dorthin.

Weder Farbe, Material noch Form stimmten.

Es bestand aus grünem Stoff, nicht aus grauem Sandstein. Jedenfalls Teile davon. Und das, was unter dem Stoff herausragte, waren das etwa Füße, die in hellbraunen Stiefeletten steckten? Unmöglich. Und doch …!

Die Buchhändlerin Felicitas Reichelsdörfer stand vor dem Hugenottenbrunnen im Erlanger Schlossgarten, starrte auf den Fremdkörper darin und fragte sich, ob sie halluzinierte. Waren die zwei Gläser Sekt daran schuld, die sie getrunken hatte? Aber obwohl sie nicht besonders trinkfest war, verursachte diese Menge erfahrungsgemäß höchstens einen leichten Schwindel und führte nicht zu Hirngespinsten. Feli schloss die Augen, öffnete sie wieder und taxierte erneut das, was da im Brunnen war.

Es war Realität.

Verflogen war ihr Freudenrausch darüber, endlich einmal das Erlanger Schlossgartenfest zu besuchen, was sie sich seit Jahren gewünscht hatte, aber immer wieder an ihrer desolaten finanziellen Situation gescheitert war. Verflogen war auch das Gefühl, die Königin des Abends zu sein, das sie verspürt hatte, als sie in ihrem Traumkleid über die Kieswege flaniert war und, so war es ihr vorgekommen, die huldvollen Blicke ihrer Untertanen entgegengenommen hatte. So musste sich Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth gefühlt haben, die vor über zweihundert Jahren auf ebenjenen Wegen gewandelt war. Es war ein erhabenes Gefühl gewesen, das Feli an die Prinzessinnenträume ihrer Kindheit erinnert hatte. Und jetzt beendete dieser Fremdkörper im Brunnen einfach ihren Höhenflug. Die Landung war hart und kam völlig unverhofft.

Sie knuffte ihren Begleiter Hieronymus Bosch, genannt Boschi, in die Seite. »Siehst du, was ich sehe?«

Doch ihr bester Freund badete mit solcher Inbrunst in der einzigartigen Atmosphäre des Festes, dass er Lichtjahre davon entfernt war, es zu bemerken. »Meinst du den bayerischen Innenminister oder den bayerischen Ministerpräsidenten, die da vorne mit ihren Frauen stehen?«, fragte er. »Jetzt kommt auch noch der Bürgermeister dazu. Das Bild ist morgen bestimmt in der Zeitung.«

Feli warf einen raschen Blick auf die Prominenz, die mit ihren Ehefrauen in die Kameras mehrerer Fotografen strahlte. Normalerweise hätte sie dieses Bild in sich aufgesaugt, wann sah man die Herrschaften denn schon live? Aber in dem Moment war es ihr egal.

»Das meine ich nicht. Schau mal in den Brunnen, also in die Öffnung. Da ist doch was.«

»Welche Öffnung?«, fragte Boschi.

»Na, die hier.« Sie deutete auf den länglichen Schlitz inmitten der Sandsteinfiguren, der einen Blick auf das Reiterdenkmal weiter hinten im Schlossgarten freigab. Die meisten Menschen bemerkten die schmale Öffnung wahrscheinlich gar nicht, aber sie hatte einmal bei einer Führung davon erfahren.

Boschi drehte sich in die richtige Position und taxierte den Schlitz. »Du hast recht. Da ist was.«

»Sag ich doch. Sieht aus, als ob da jemand seitlich in einer Nische sitzen würde, oder nicht?«

»Könnte eine Frau sein. Modisch nicht ganz zeitgemäß. Nach allem, was ich sehen kann, stammen die Stiefel aus dem 18. Jahrhundert.«

»Sagt der Experte.« Feli kringelte eine ihrer karottenroten Locken um den Zeigefinger.

»Sei froh, dass du einen Modeexperten wie mich an deiner Seite hast. Das Kleid, das ich dir geschneidert habe, ist der Hingucker des Abends.«

Womit er zweifellos recht hatte, und wofür Feli ihm für alle Zeiten dankbar war. Boschi hatte ihr einen Traum aus einem bunten, rückenfreien Oberteil und einem dunkelgrünen Satinrock genäht. Sie konnte von Glück sagen, dass er nicht nur ihr bester Freund, Seelenverwandter und Mitarbeiter in Personalunion, sondern auch ihr Modeberater und Schneider war. Aber im Augenblick gab es Wichtigeres als seine Qualitäten. Feli wollte wissen, was es mit der vermeintlichen Frau im Brunnen auf sich hatte.

Inzwischen strömten immer mehr Besucher in Richtung Schloss, wo der Präsident der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg in Kürze eine Rede halten würde. Auf den Kieswegen um den Brunnen herum drängten sich die Gäste. Feli hatte sich auf die Rede gefreut, galt sie doch als einer der Höhepunkte des Festes, aber nun ging ihre legendäre Neugierde mit ihr durch.

»Ich glaube, ich schaue mir das jetzt mal genauer an.«

»Was um alles in der Welt hast du vor, Karotte?«, rief ihr Freund.

Feli gab keine Antwort, sondern raffte ihren Rock bis über die Knie nach oben, was wegen der Fülle des Stoffes einige Anstrengung erforderte, hüpfte ungelenk über die den Brunnen umgebende Rosenrabatte und marschierte über die Grünfläche zum Brunnen.

»Und was ist, wenn sich da drin ein Attentäter versteckt hat?« Boschis Stimme klang jetzt leicht panisch.

Feli ließ ihren Rock fallen und drehte sich zu ihm um.

»Unsinn!«, rief sie, spürte aber, wie sich ein Hauch Unsicherheit in ihrem Magen bemerkbar machte. Zudem registrierte sie, dass andere Gäste sie schon beobachteten. Vielleicht sollte sie doch auf Boschi hören und wieder zu ihm zurückgehen? Doch ihre Neugierde behielt die Oberhand. Sie steuerte auf den Brunnenrand zu, kam jedoch nicht weit, weil hinter ihr eine schneidende Stimme ertönte: »Bitte treten S’ zurück.«

Feli drehte sich erneut um und traute ihren Augen nicht. Da stand ein Mann in einem dunklen Anzug. Er hatte blonde Stoppelhaare und einen Leberfleck auf der linken Wange. Von seinem rechten Ohr aus führte ein weißes Kabel in sein Sakko. Er sah aus wie einer der Secret-Service-Agenten, die sich im Fernsehen immer in unmittelbarer Nähe des amerikanischen Präsidenten aufhielten oder in einschlägigen Agentenfilmen die Welt retteten. Sie brauchte einen Augenblick, bis sie kapierte, dass es sich um einen Securitymitarbeiter mit fränkischer Abstammung handelte. Letzteres hatte sie an der Art und Weise, wie er das R rollte, eindeutig erkannt.

»Auf gar keinen Fall trete ich zurück«, protestierte sie. »Da drin«, sie deutete auf die Brunnenöffnung, »sitzt eine Frau.«

Der Securitymitarbeiter bedachte sie mit einem Blick, der Zweifel an ihrem Verstand offenbarte, schaute dann aber in die Öffnung.

»Sehen Sie?« Felis Puls raste vor Aufregung. »Das ist doch eine Frau, oder etwa nicht?«

Ein zweiter Securitymitarbeiter erschien neben ihr. Er war kleiner und gedrungener als der erste und trug einen Dreitagebart. Nachdem auch er den Brunnen in Augenschein genommen hatte, sahen sich die beiden Männer ungläubig an.

Schließlich sah der Große mit dem Leberfleck wieder zur Öffnung: »Hallo, Sie da drinnen! Hören Sie mich?«

Feli hielt den Atem an. Aber aus dem Brunnen kam keine Antwort. Nur das Rauschen der beiden Wasserfontänen rechts und links im Brunnenbecken war zu hören.

»Jetzt unternehmen Sie doch schon was!«, drängte sie die Männer, ohne zu wissen, was sie konkret von ihnen erwartete.

Der Blonde mit dem Leberfleck reagierte als Erster, allerdings nicht in Felis Sinne. »Sie gehen etz erst amol wieder zurück.« Er legte eine Hand auf ihre rechte Schulter, drehte sie um und schob sie Richtung Rosenbeet.

»Geht’s noch? Sie können mich doch nicht einfach so wegschieben?«, protestierte sie und wollte stehen bleiben.

Aber der Mann hatte mehr Kraft. Gegen ihren Willen entfernte Feli sich vom Brunnen.

»Sie sehen doch, dass ich das kann. Also bitte!« Er ließ sie erst unmittelbar vor den Rabatten los und versperrte ihr dann breitbeinig den Rückweg.

»Unverschämtheit!«, schimpfte Feli, sah aber ein, dass diese Schlacht verloren war. Wieder raffte sie umständlich ihren Rock und stieg mit einem großen Schritt über die Rosen. Währenddessen hörte sie, wie der Securitymann in sein Headset sprach: »Wir brauchen Verstärkung am Hugenottenbrunnen.«

Feli schäumte vor Wut. Jetzt wollten diese beiden fränkischen Secret-Service-Agenten die Sache auch noch in die eigene Hand nehmen. Aber nicht mit ihr. Wenn früher oder später ein Hauptverantwortlicher auftauchte, würde sie wieder ins Geschehen eingreifen. So leicht ließ sie sich nicht abspeisen. Schließlich hatte sie die Frau entdeckt. Mussten nicht ihre Personalien aufgenommen werden? Man konnte sie doch nicht einfach so wegschicken.

Boschi nahm sie mit hochrotem Kopf in Empfang. Sein Blutdruck schien durch die Decke zu gehen, wie so oft, wenn er sich aufregte. »Und? Hast du was Neues in Erfahrung gebracht?«, wollte er wissen.

»Da sitzt wirklich eine Frau drinnen. Zumindest der untere Teil von ihr. Mehr habe ich nicht sehen können.«

Das Interesse der Besucher galt nun ausschließlich den Ereignissen am Brunnen. Manche hatten sich von den Bänken, die ringsum auf den Grünflächen standen, erhoben und reckten ihre Hälse. Nervöses Gemurmel breitete sich aus. Eine stattliche Dame in froschgrünem Abendkleid, die die ganze Zeit neben Boschi gestanden hatte, stellte schließlich die Frage, die Feli selbst am meisten auf der Zunge brannte: »Glauben Sie, die Frau im Brunnen ist tot?«

»Fragen Sie doch so was nicht.« Boschi hob abwehrend beide Hände.

Feli zuckte mit den Schultern. Eigentlich war ihr Bedarf an Leichen nach der Sache mit dem Krimischorsch, der letzten Herbst tot in ihrer Buchhandlung gelegen hatte, bis auf Weiteres gedeckt. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie.

Dann sah sie, dass die Prominenz und der Bürgermeister zusammen mit ihren Frauen von Securityleuten ins Schloss gebracht wurden. Die Gäste auf dem Kiesweg bildeten eine Gasse, um den Tross durchzulassen. Vor dem Foyer des Schlosses entdeckte Feli den Präsidenten der Universität, ebenfalls von einschlägigen Herren in schwarzen Anzügen flankiert, der die Honoratioren in Empfang nahm. Alle zusammen verschwanden, vermutlich durch den Ausgang auf der Schlossplatzseite, wo bestimmt ihre Autos warteten. Es war wie im Film.

»Hast du das gesehen?«, fragte Boschi, nahm seine rote Fliege ab und schnappte nach Luft. »Die Prominenz ist in Sicherheit, und wir, das normale Volk, stehen hier ungeschützt herum. Soll ich dir sagen, was ich glaube?«

»Besser nicht«, antwortete Feli, die schon ahnte, dass Boschis Phantasie mit ihm bis nach Timbuktu davongaloppierte.

»Ich denke, im Brunnen sitzt eine mit einer Maschinenpistole bewaffnete Terroristin, die gleich auf uns das Feuer eröffnen wird. Die Frage ist nur, ob sie allein ist. Das glaub ich nämlich nicht. Bestimmt ist das ein professionell geplanter Anschlag, und ganz in der Nähe haben sich noch mehr von der Sorte versteckt, die auf uns lebende Zielscheiben ballern werden. Wenn du mich fragst, sollten wir jetzt schleunigst verschwinden.« Er schnappte Feli am Arm, um sie mit sich wegzuziehen, aber sie sträubte sich.

»Das ist doch Unsinn. Die Frau im Brunnen schießt auf niemanden. Wenn es überhaupt eine Frau ist. Könnte auch eine Puppe sein. Jetzt hab dich halt nicht so, Boschi!« Sie schüttelte seine Hand ab und blieb wie ein Fels in der Brandung stehen. Was immer hier vor sich ging, es würde nicht ohne sie stattfinden. Einige ihrer Freunde zogen sie manchmal mit ihrer Neugierde auf, aber sie selbst fand sich gar nicht neugierig. In ihren Augen war sie schlicht an ihrer Umwelt interessiert. Das war doch ein himmelweiter Unterschied, oder nicht?

Aber Boschi hörte nicht auf, ängstliche Stoßwellen auszusenden, die um sie herumschwirrten und schließlich auch bei ihr Wirkung zeigten. Na großartig. Jetzt hatte sie auch noch ein schlechtes Gewissen.

»Hast du deine Globuli dabei?«, fragte sie.

Eine rein rhetorische Frage, denn ohne Beruhigungspillen verließ ihr bester Freund grundsätzlich nicht das Haus.

Boschi griff in seine Hosentaschen und schluckte sichtbar.

Keine Globuli.

Panisch klopfte er seinen gesamten Körper ab.

Keine Globuli.

Er wühlte in seinen Jacketttaschen und in der Brusttasche seines Hemdes.

Keine Globuli.

»Katastrophe! Ich hab sie vergessen!«, rief er mit sich überschlagender Stimme und schaute sie böse an. »Wenn ich jetzt einen Herzinfarkt bekomme, bist du schuld.«

Feli seufzte. Seine hypochondrischen Anfälle waren manchmal ganz schön anstrengend. Meistens kam sie gut damit klar, letztendlich mochte sie ihn auch gerade deshalb, weil er eben nicht wie so viele andere in jeder Situation einfach nur cool blieb. Doch warum musste er ausgerechnet in einem solchen Augenblick schlappmachen? Denn in Wirklichkeit strotzte er vor Gesundheit, nur sein Nervenkostüm war so dünn wie ein Blatt Papier.

»Du bekommst keinen Herzinfarkt, versprochen«, versuchte sie, ihn zu beruhigen, und griff nach seiner linken Hand, die er wegzog und mit der anderen vor der Brust verschränkte. Feli seufzte resigniert.

Inzwischen waren neue Securitybeamte aufgetaucht, die das Areal um den Brunnen mit rot-weißen Bändern absperrten. Die Besucher mussten ein paar Schritte zurückweichen, auf den Kieswegen wurde es noch enger als zuvor. Als Feli von der Masse gegen die Frau mit dem froschgrünen Kleid geschoben wurde, entschuldigte sie sich.

»Macht nix, Kindchen«, sagte die Dame mit einem Lächeln.

Boschi schaffte es, in Felis Nähe zu bleiben, würdigte sie aber keines Blickes. Er schmollte. Das konnte dauern, das wusste sie aus Erfahrung. Auch gut. Doch er blieb bei ihr, und dafür liebte sie ihn.

Sie wendete sich wieder zum Brunnen, wo der blonde Securitymitarbeiter seine Schuhe auszog und die Hosenbeine hochkrempelte. Endlich gingen die der Sache auf den Grund. Wurde aber auch Zeit. Der Mann schwang sich über den Brunnenrand und watete durch das Wasser direkt zur Öffnung zwischen den Figuren, in die er sich seitlich hineinzwängte. Es dauerte nicht lange, bis er sich mit hochrotem Kopf wieder herauswand. Noch mit den Füßen im Brunnen donnerte er los: »Himmldunnerwedder nua mal! Wir brauchen die Rettung und die Polizei!«

Samstag, 20:00Uhr

»Leider muss die Rede unseres geschätzten Universitätspräsidenten um ungewisse Zeit verschoben werden. Wir bitten Sie, dies zu entschuldigen.«

Die Durchsage einer weiblichen Stimme ertönte laut im Schlosspark, schien aber in direkter Nähe des Schlosses niemanden zu interessieren. Immer mehr Menschen versammelten sich um den Brunnen, vor dem der Präsident der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen seine Rede hätte halten sollen. Unruhe breitete sich aus. Einige Leute tuschelten, andere wirkten verstört.

Clemens Sartorius, Erster Polizeihauptkommissar der Erlanger Kripo und als Gast anwesend, drehte sich zu seinem besten Freund Dr. Klaus Brock, seines Zeichens Internist, und fragte: »Kannst du dir diesen Auflauf erklären?«

Im gleichen Moment hielt ein Krankenwagen samt Notarzt direkt vor dem Brunnen.

»Wird wohl mal wieder einer einen Kreislaufkollaps erlitten haben. Nicht ungewöhnlich bei dieser Hitze«, erwiderte Klaus achselzuckend. Seit Tagen herrschten saunaartige Temperaturen in der Stadt. An Regen war nicht zu denken. Alle Wettermodelle schienen sich gegen Erlangen verschworen zu haben: feuchtheiße Luft ohne Aussicht auf Entladung.

»Meinst du?«, fragte seine Frau Cordula skeptisch. »Für einen einfachen Kreislaufkollaps stehen da aber ziemlich viele Leute herum.«

»Das hat nichts zu sagen«, warf Clemens ein. »Aus Erfahrung kann ich dir versichern, dass die Sensationslust der Menschen grenzenlos ist. Der Notarzt dürfte alle Hände voll zu tun haben, um überhaupt zu seinem Patienten zu gelangen.«

»Erledigt das nicht die Security für ihn?«, fragte Delphine, Clemens’ Freundin.

»Sicher. Wahrscheinlich läuft in einer halben Stunde alles wieder normal. Vermutlich wurde deshalb auch die Rede verschoben.« Er nahm einen Schluck aus seinem Glas. Ein hervorragender Merlot, geradezu gemacht für diesen wundervollen Abend! Er stieß mit Delphine an, die ihm verliebt in die Augen schaute. Langsam näherten sich ihre Köpfe einander.

»Herr Sartorius, kommen Sie! Da vorne am Brunnen ist etwas Ungewöhnliches vorgefallen, was sofortiger Klärung bedarf. Und zwar durch Sie!«

Clemens zuckte zusammen, als die harsche Stimme seines Vorgesetzten, Dienststellenleiter Hans-Dieter Beil, der Romantik ein Ende bereitete. Verdammt! War dieser Typ unfähig, auch nur ein einziges Mal etwas allein zu erledigen? Was konnte so wichtig sein, dass er dafür jetzt sein wohlverdientes freies Wochenende unterbrechen musste? Er erhob sich langsam, klopfte nicht vorhandenen Staub von seinem edlen Zwirn, rückte trotz der späten Stunde, schließlich war es bereits kurz nach acht, seine Sonnenbrille zurecht und strich sich mit der rechten Hand bedächtig über sein markantes Kinn. Als er sein Kreuz durchstreckte und sich gerade hinstellte, überragte er seinen Chef um mehr als Haupteslänge.

»Herr Beil, ebenfalls schön, Sie hier zu sehen. Darf ich denn fragen, was vorgefallen ist, bevor ich mich zum Brunnen bemühe?« Wie immer, wenn Clemens etwas nervte, drückte er sich besonders formell aus.

»Nein, dürfen Sie nicht. Das geht keinen der Gäste etwas an, und abgesehen davon habe ich jetzt auch keine Zeit für Ihre Spielchen. Bemühen Sie sich also gefälligst etwas schneller!«

Clemens seufzte. Hackebeil, wie er seinen Chef in Gedanken und manchmal auch vor seinen Kollegen nannte, befand sich definitiv nicht in Diskussionslaune. Also knöpfte er das Sakko zu, richtete den Knoten der auberginefarbenen Krawatte und entschuldigte sich bei seinen Freunden. Klaus lächelte, er kannte Beil gut genug, um zu wissen, dass Clemens keine andere Wahl blieb.

Clemens folgte seinem Boss durch die dichte Menge. Beil teilte die Menschenmassen mit unsanften Worten, während Clemens in gewohnter Eleganz hinter ihm herschritt. Der berühmte Filmstar wurde von seinem Bodyguard an das Set geleitet. Clemens grinste unwillkürlich bei dieser Vorstellung. Nicht, dass er gern berühmt gewesen wäre, aber sein maßgeschneiderter anthrazitfarbener Anzug sowie seine eins neunzig Körpergröße und sein durchtrainierter Körper sorgten dafür, dass einige Blicke, bevorzugt weibliche, länger als nötig auf ihm ruhten. Nachdem sie sich unter dem rot-weißen Absperrband hindurchgebückt und die sensationslüsterne Meute hinter sich gelassen hatten, kam ein Securitymitarbeiter auf sie zu.

»Sind Sie von der Polizei?«

Clemens wollte schon seinen Dienstausweis zücken, den er immer bei sich trug, aber Beil winkte unwirsch ab: »Was glauben Sie denn, wen Sie hier vor sich haben? Das hier«, er deutete auf Clemens, »ist Kriminalhauptkommissar Sartorius. Er wird die Ermittlungen leiten. Und jetzt schauen Sie, dass Sie diese Geschichte so schnell wie möglich aus der Welt schaffen!«

Da nicht ganz klar war, wem der letzte Satz gegolten hatte, nickte Clemens nur und forderte sein Gegenüber auf, ihn in Kenntnis darüber zu setzen, was passiert war. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie der Notarzt sich die Hosenbeine hochkrempelte, in den Brunnen stieg und zu den Figuren aus Sandstein hinüberwatete. Währenddessen schien Beil am Rand der Absperrung ein offenbar für ihn wichtiges Gesicht zu erkennen, denn er setzte sogleich an, seine Pfunde in ebendiese Richtung zu bewegen. Clemens wandte seufzend den Kopf ab und widmete sich wieder seinem Gesprächspartner.

»Also«, erläuterte der Securitymann, »in dem Brunnen, also, in der Skulptur, da hockt eine weibliche Person. Wir haben keine Ahnung, warum und um wen es sich dabei handelt. Weil sie sich auch net rührt, wenn man mit ihr redet, waren wir uns etz doch a weng unsicher, was das zu bedeuten hat. Also haben wir die Rettung gerufen und die Prominenz in Sicherheit gebracht. Vielleicht ist es ja eine Attentäterin, die sich verschanzt hat.«

»Und dann lassen Sie den Notarzt einfach so ohne Schutz zu der Frau hinlaufen? Sind Sie wahnsinnig?« Clemens hätte sein Gegenüber am liebsten geschüttelt.

Der Sicherheitsbeamte hob abwehrend die Hände. »Ich war doch noch gar net fertig. Also, der Paul, mein Kollege da vorn, der ist vorhin schon in den Brunnen rein und hat nachgesehen. Und der hat gesagt, dass die da drin ganz komisch schaut, als wär die net wirklich bei sich. Vielleicht ist sie ja auch nur krank. Jedenfalls wirkt die net so, als ob die etz gleich durchdrehen und alle niedermähen würde.«

»Ah, ja. Ist das so.« Clemens konnte über das bisherige Vorgehen nur die Stirn runzeln. Als er sich umsah, drängten sich an der Absperrung schon ganze Hundertschaften von Gästen. Die Security hatte alle Mühe, dafür zu sorgen, dass sie hinter dem Band blieben. Irgendwie war ihm das Ganze nicht geheuer. Er spürte, wie sein Magen rumorte. Immer ein schlechtes Zeichen. Eine Frau im Brunnen. Besser noch: in der Brunnenskulptur. Wie war sie dorthin gekommen? Weshalb saß sie da? Wieso, weshalb, warum? Und wer nicht fragte, der blieb dumm, oder wie?

Clemens stieg über die Rosenrabatte vor dem Brunnen und ging am Brunnenrand entlang, bis er in den ominösen Schlitz sehen konnte. Ehrlicherweise war ihm noch nie aufgefallen, dass man durch die Skulptur hindurchsehen konnte, obwohl er bereits seit über zehn Jahren in Erlangen lebte und schon des Öfteren im Schlossgarten gewesen war.

Jetzt sah er sie. Zumindest glaubte er, sie zu sehen. Etwas Dunkelgrünes, Voluminöses, aus welchem zwei hellbraune, geschnürte Stiefel hervorlugten. Und daneben den Notarzt in seiner grellorange-weißen Arbeitsmontur.

Plötzlich stand Beil wieder neben ihm und sah in dieselbe Richtung.

»Und? Wissen Sie schon mehr? Ist das jetzt eine Frau oder eine lebensgroße Puppe?«

»Das werden wir wohl gleich erfahren«, sagte Clemens.

Der Notarzt steckte seinen Kopf aus der Öffnung. »Sind Sie von der Polizei?«

Clemens nickte.

»Also, ich würd ja sagen, die ist tot, aber vielleicht wollen S’ sich ja selbst davon überzeugen?«

»Wie jetzt, tot?« Beil raufte sich die letzten Reste seines grauen Haarkranzes.

»Na, tot halt. Was is ’n daran etz so schwer zu verstehen?«

Clemens winkte ab. In dieser Situation wollte er es nicht auf eine Grundsatzdiskussion zwischen seinem Chef und dem Notarzt ankommen lassen.

»Sartorius, Sie gehen da jetzt rein und überzeugen sich selbst von der Lage«, wies Beil ihn an. »Bevor ich die Spusi herbeordere, will ich Sicherheit. Nicht, dass ich mich noch vor der ganzen Prominenz zum Deppen mache!«

Als ob er das nicht sowieso tat, konnte sich Clemens den Gedanken nicht verkneifen. Dann wurde er sich der Tragweite dieser Aufforderung bewusst. »Sie verlangen ernsthaft von mir, dass ich hier und jetzt in meinem teuren Londoner Anzug durch das Wasser wate, um sicherzustellen, was ein Arzt bereits bestätigt hat?«

»Sie kümmern sich höchstpersönlich darum! Ich muss wissen, ob es sich hier um einen Fall für die Kripo handelt oder nicht.« Beil sprühte geradezu vor Autorität. »Und es ist mir völlig egal, ob Sie das in Ihrem Gott-weiß-was-Anzug von sonst woher tun oder ohne! Haben wir uns verstanden, Sartorius?«

Er wartete Clemens’ Antwort gar nicht erst ab, sondern zückte sein Handy, das mit nervtötender Klingelarie einen Anruf vermeldete.

Clemens atmete tief durch und zählte innerlich bis zehn. Es half nicht. Aber er hätte auch bis hundert zählen können, es hätte nichts daran geändert, dass dieser vorlaute Besserwisser, ach was, dieser unerträgliche Vollpfosten von einem Chef ihn zur Weißglut brachte.

Während Clemens sich betont langsam Schuhe und Socken auszog und sich schließlich auch seines Sakkos entledigte, das er in Ermangelung einer Ablage auch noch auf den Boden legen musste, biss er fest die Zähne zusammen. Als er die Hosenbeine hochkrempelte, war seine Kaumuskulatur bereits bis auf das Äußerste angespannt. Er sah aus wie ein Vollidiot, und genauso fühlte er sich auch.

Vorsichtig stieg er mit einem Bein über den Brunnenrand und tauchte testweise seine Zehen ins Wasser. Trotz der Hitze war es relativ kalt, was vermutlich daran lag, dass es direkt aus einem Wasserspeicher hergepumpt wurde. Als Clemens den Boden des Brunnens berührte, verzog er sofort den Mund. Algen! Überall Algen! Glitschig, eklig und vor allem rutschig. Wie er das Gefühl hasste. Vorsichtig stakste er wie ein Storch im Salat durch das nicht ganz knietiefe Wasser. An den Skulpturen angekommen, zog ihn der Notarzt zu sich hinauf.

»Sehen S’«, sagte er und deutete auf die reglose Gestalt vor sich.

Clemens konnte gerade so den Kopf in den Spalt stecken, wenn er einen seiner Füße auf die kleine Stufe vor der Öffnung stellte. Der Rest seines Körpers musste draußen bleiben, so eng war der Hohlraum. Der Mediziner neben ihm stand in einer seltsam gebückten, fast schon gekrümmten Haltung. Sicher nicht rückenfreundlich.

Clemens versuchte, sich zu orientieren. Viel Platz war in der Nische nicht, aber genug, um sich in ihr zu verbergen. Oder in sitzender Haltung verborgen zu werden. Die junge Frau konnte nicht älter als Mitte zwanzig sein. Ihre überaus zierliche Figur steckte in einem Kostüm aus dunkelgrünem Samt mit einer aufwendig goldfarben bestickten Korsage, die einen tiefen Einblick ins Dekolleté erlaubte, das überraschend blass war. Um Hals und Schultern war ein hellgrünes Tuch drapiert. Ihre Haare passten hingegen gar nicht zu dem restlichen Outfit. Der blonde, asymmetrisch geschnittene Bob stand in seiner Modernität im krassen Gegensatz zu der altertümlichen Kleidung. Als Clemens in die ihn ausdruckslos anstarrenden Augen der Toten blickte, spürte er, wie eine Gänsehaut seine Arme überzog.

»Tot. Mausetot. Kein Puls, keine Atmung, keine Reaktion, keine Reflexe. Außerdem sind die Pupillen starr und erweitert.« Der Arzt versuchte, den Arm der Frau anzuheben. Vergeblich. »Die Totenstarre ist voll ausgebildet, wahrscheinlich ist die schon länger tot.« Er schüttelte betroffen den Kopf. »So ein junges Ding. Schad drum.«

Clemens pflichtete ihm im Stillen bei. Er wollte schleunigst wieder verschwinden. Aber wenn das kein eindeutiger Fall war, was sonst? Fragte sich nur, warum sie ausgerechnet hier und noch dazu derartig kostümiert herumsaß?

Er hörte Beil irgendetwas rufen von wegen, ob er im Brunnen übernachten wolle, was er sehe und so weiter. Clemens zuckte die Achseln. Sollte der ruhig noch ein bisschen durchdrehen. Irgendwann würde er sich schon wieder beruhigen.

»Bitte fassen Sie sie ab jetzt nicht mehr an«, wandte er sich an den Notarzt. »Den Rest erledigen unser Rechtsmediziner und die Spusi. Haben Sie etwas verändert? Lage der Leiche? Kleidung?«

»Natürlich nicht«, wehrte der Mann ab. »Ich hab nur geschaut, ob sie noch lebt.«

Clemens nickte, zog seinen Kopf vorsichtig aus dem Spalt zurück und drehte sich Richtung Brunnenrand, wo Beil sich gerade mit einem Stofftaschentuch die Schweißperlen von der Stirn tupfte.

»Und? Jetzt sagen Sie schon!«, rief er Clemens entgegen.

»Wir brauchen das volle Programm: Spurensicherung, Rechtsmedizin, alles!«, rief er zurück. Offensichtlich war es Beil egal, dass die Festgesellschaft lauschte. Dann sollte ihm das auch recht sein.

»Sagen Sie, dass das jetzt nicht wahr ist!« Kurz wich jegliche Farbe aus Beils Gesicht, bevor er knallrot anlief.

»Was haben Sie denn erwartet? Dass die auf einen Schlag wieder lebendig wird, bloß weil ich Hallo zu ihr sage? Die Frau ist tot, und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit haben wir es hier nicht mit einer natürlichen Todesursache zu tun.« Clemens atmete tief durch, bevor er zum letzten Schlag ausholte: »Lassen Sie das Schlossgartenfest abblasen. Wir brauchen ein Zelt für die Spusi, so viele Kollegen, wie wir kriegen können, um die Ausgänge abzuriegeln, die Gäste ins Schloss oder Kollegienhaus zu bringen und ihre Personalien aufzunehmen. Keiner darf verschwinden, ohne dass wir ihn vorher registriert haben.«

»Oh Gott, oh Gott, oh Gott. Was wird nur der Bürgermeister dazu sagen?« Beil hielt kurz inne. »Und der Innenminister erst! Die werden mich umbringen! Sind Sie sich auch wirklich sicher? Also, zu einhundert Prozent? Ach was, zu einhundertfünfzig?«

»Meinetwegen auch zu zweihundert Prozent, wenn Ihnen das weiterhilft. Aber beordern Sie jetzt unsere Leute her und instruieren Sie die Security!«

Dass er das noch erleben durfte! Seinem Chef Anordnungen geben! Mit einem Mal fühlte sich Clemens richtig gut.

Während Beil sich um Verstärkung kümmerte, watete der Kommissar flotten Schrittes zurück zum Brunnenrand. Zu flott. In der Ferne glaubte er, einen rot gelockten, äußerst bekannten Schopf zu erkennen. Die kurze Ablenkung reichte aus. Er spürte, wie sein rechter Fuß auf den Algen wegrutschte, die Wasseroberfläche durchbrach und in einem fast rechten Winkel nach oben stieg. Durch wildes Rudern mit den Armen versuchte er noch, das Gleichgewicht zu halten, aber es war aussichtslos. Eine Sekunde lang schien die Zeit stillzustehen, dann landete Clemens mit einem lauten Platsch im Wasser. Es spritzte, und er schloss kurz die Augen.

Als er sie wieder öffnete, fühlte er sich wie ein gefallener Popstar im Blitzlichtgewitter. Die Menge hinter dem Absperrband lachte und tuschelte, wohingegen sein ehemaliger Bodyguard Beil ihm einen entgeisterten Blick zuwarf und sich kopfschüttelnd von ihm wegdrehte. Was hätte Clemens nicht alles dafür gegeben, jetzt in einem möglichst nah gelegenen Mauseloch zu verschwinden. Oder durch den Abfluss des Brunnenbeckens zu entkommen. Aber das Schicksal kannte kein Erbarmen. Unter den Blicken der kichernden bis mitleidig schauenden Meute ging er so würdevoll wie möglich Richtung Brunnenrand.

Hinter ihm erschien der Notarzt aus der Brunnenskulptur und reichte ihm eine Hand: »Kommen S’. Ich helf Ihnen. Und machen S’ sich nix draus, mich hat’s vorhin auch fast gelegt.«

Dankbar ergriff Clemens die Hand, was zur Folge hatte, dass jetzt beide für einen Moment einen grotesken Tanz aufführten. Wieder blitzte es an allen Ecken und Enden auf. Doch da hatten sich die zwei wieder gefangen und erreichten den Brunnenrand.

Clemens hätte schwören können, ein bedauerndes Raunen zu hören. Aber vielleicht hatte er sich das auch nur eingebildet. Mühsam setzte er sich auf den Rand. Sein Hintern tat ihm weh, und er fühlte ganz eindeutig, dass sich eine Blockade im Bereich der Brustwirbelsäule ankündigte. Außerdem hatte er bei seinem Fall nicht gerade wenig Wasser geschluckt. Bestimmt wimmelte es darin nur so von miesen Keimen. Und das bei seinem sensiblen Magen. Er musste, so schnell es ging, Klaus fragen, ob er ihm ein Mittel zur vorsorglichen Behandlung empfehlen konnte. Und trockene Kleidung benötigte er auch. Ob der Anzug sich reinigen ließ? Mein Gott, hoffentlich hatte ihn Delphine bei seiner Slapstick-Performance nicht gesehen! Wieder wollte er im Erdboden versinken. Er fühlte sich elend, vom Schicksal reingelegt. Hatte es ihm die Rolle des tragischen Helden zugewiesen? War das alles nur das Vorspiel eines weitaus langwierigeren Dramas?

Samstag, 20:20Uhr

Feli lachte wie selten zuvor in ihrem Leben. War das wirklich Hauptkommissar Clemens Sartorius, der soeben vor ihren Augen ein unfreiwilliges Bad im Brunnen genommen hatte und nun triefend aus dem Becken kletterte? Mit einem Gesicht, das an ein zerknautschtes Sofakissen erinnerte? Jämmerlich sah er aus, geradezu erbärmlich, aber es bestand kein Zweifel: Er war es.

Sie hatte in den letzten Monaten des Öfteren an ihn gedacht. Dass sie ihn allerdings hier auf dem Schlossgartenfest sehen würde, noch dazu in einer für ihn mehr als peinlichen Situation, damit hatte sie nicht gerechnet. Nichts war mehr übrig von der Überlegenheit, mit der er sie nach dem Mord am Krimischorsch als Hauptverdächtige in die Mangel genommen hatte. Der Anblick, den er jetzt bot, war der eines gefallenen Helden. Köstlich! Einfach nur köstlich!

Und doch empfand sie so etwas wie Mitgefühl mit ihm. Die Besucher lachten sich schief über ihn, spätestens morgen würden die Bilder seiner Schmach im Netz kursieren. Das dürfte doch sogar einen selbstbewussten Mann wie Clemens Sartorius nicht kaltlassen. Oder würde er es sportlich nehmen und in ein paar Tagen selbst darüber lachen? Feli wusste nur wenig über den Kommissar, etwa dass er Maßanzüge trug und einen Luxusschlitten fuhr, dessen Marke sie nicht wahrgenommen hatte. Woraus sie schloss, dass er wohlhabend sein musste. Aber woher sein mutmaßlicher Reichtum stammte, hatte sie noch nicht herausgefunden. Genauso wenig wie den Grund, aus dem er Polizist geworden war, welche Bücher er las und ob er gern ins Kino ging. Eine Frau in seinem Leben gab es offensichtlich, denn vor einiger Zeit hatte sie ihn händchenhaltend und scherzend mit einer attraktiven Dunkelhaarigen über den Schlossplatz Richtung Café »Mengin« schlendern sehen. So verliebt, wie die beiden gewirkt hatten, steckte ihre Beziehung noch in den Kinderschuhen. Eine offizielle Frau Sartorius dürfte es also nicht geben.

»Der Kommissar!« Boschi stand immer noch mit verschränkten Armen neben ihr, hatte aber offensichtlich in Anbetracht der Ereignisse vergessen, dass er eigentlich schmollte.

»Was?« Feli musterte ihren Freund.

»Ich merke immer, wenn dich was bewegt. Und der Kommissar bewegt dich, Karotte. Versuch gar nicht erst, es zu leugnen.« Er blickte sie aus seinen braunen Augen an.

»Kümmere dich lieber um dich«, konterte Feli und wunderte sich einmal mehr darüber, mit welcher Sensibilität Boschi ihre Stimmungen wahrnahm. Geradezu beängstigend. »Ich wette, die Frau im Brunnen ist tot«, wechselte sie das Thema. »Warum sonst hat Clemens sich die angeschaut.«

»Clemens? Ich wusste gar nicht, dass ihr euch duzt?«

Feli rümpfte die Nase. »Tun wir auch nicht. Und jetzt hör auf mit deinen hintergründigen Bemerkungen.«

Die Antwort ihres Freundes war ein triumphierendes Grinsen.

»Liebe Gäste«, ertönte jetzt die zweite Durchsage über Lautsprecher an diesem Abend. »Leider müssen wir das Fest an dieser Stelle abbrechen. Begeben Sie sich bitte unverzüglich in das Kollegienhaus an der Universitätsstraße, wo Ihre Personalien aufgenommen werden. Anschließend verlassen Sie das Gelände. Wir bedauern dieses Vorgehen außerordentlich und wünschen Ihnen noch einen schönen Abend.«

»Hab ich es nicht gesagt? Die Frau ist tot.« Feli glühte. »Und alle Anwesenden sind verdächtig, warum sonst wollen die unsere Personalien aufnehmen? Ist das nicht aufregend?«

»Aufregend? Hier läuft ein potenzieller Mörder rum, und du findest das aufregend? Karotte, also ehrlich, manchmal verstehe ich dich nicht. Lass uns schnellstens ins Kollegienhaus gehen und dann verschwinden.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, setzte Boschi sich mit der Masse in Bewegung.

Feli folgte ihm, warf aber einen letzten Blick auf Clemens Sartorius, der jetzt triefnass auf dem Brunnenrand saß. Ein Bild des Elends. Hoffentlich erkältete er sich nicht, überlegte sie, ehe er aus ihrem Blickfeld verschwand.

In der Menge kamen sie nur langsam voran, und mit jedem zurückgelegten Meter wuchs in Feli der Widerstand, nach der Aufnahme ihrer Personalien nach Hause zu gehen. So würde sie nicht erfahren, was es mit der toten Frau auf sich hatte. Eine Vorstellung, die kaum auszuhalten war. Es musste einen Weg geben, wie sie unbemerkt hierbleiben konnte. Nur welchen?

Plötzlich kam der Menschenfluss ins Stocken. Irgendwo weiter vorne beschwerte sich ein offensichtlich Betrunkener lautstark und lallend über das unerhörte Vorgehen der Verantwortlichen. Ob und wann er das Fest verließ, werde er selbst und nicht ein paar Hampelmänner entscheiden, die sich wichtigmachen wollten. Im Übrigen sei er kein Schwerverbrecher, dem man die Fingerabdrücke abnehmen müsse, sondern ein Entscheidungsträger im Unibetrieb. Als er aus dem Strom der Menschen ausscheren wollte, wurde er von mehreren Securitymitarbeitern daran gehindert. Es kam zu Handgreiflichkeiten, einige Damen begannen zu kreischen, und die Menge stob auseinander.

»Sie wissen wohl immer noch nicht, mit wem Sie es zu tun haben!«, brüllte der Verursacher des Tumultes.

Feli konnte erkennen, dass er die Statur von Arnold Schwarzenegger hatte und sich wie ein Wrestling-Champion gegen die zwei Sicherheitsleute wehrte, die schließlich zu Boden gingen und sich krümmten. Weitere Kollegen eilten ihnen zu Hilfe.

»Das hat uns gerade noch gefehlt«, lamentierte Boschi.

»Stimmt«, antwortete Feli, der soeben die Lösung ihres Problems eingefallen war. »Jetzt können wir uns abseilen, ohne dass jemand etwas davon bemerkt. Komm mit.«

»Wieso abseilen?«

Statt einer Antwort schnappte sie sich ihren Freund am Ärmel und zog ihn hinter eines der weißen Gastrozelte, die entlang der Kieswege standen. Das perfekte Versteck, denn auch das Personal schien auf dem Weg zum Kollegienhaus zu sein.

»Bist du jetzt völlig verrückt geworden, Karotte? Was soll das?«, wollte Boschi wissen.

»Das hier ist unser Beobachtungsposten«, flüsterte sie, duckte sich und zog ihren verdutzten Seelenverwandten mit nach unten.

»Ich protestiere!«

»Von mir aus, aber bitte nicht so laut.« Feli legte ihm die Hand auf den Mund, bis er sich beruhigt hatte, und schlüpfte dann in geduckter Haltung in das Innere des Zeltes. »Jetzt komm schon«, sagte sie. »Hier gibt es sogar die Avocado-Gurken-Häppchen, auf die du vorhin schon einen Blick geworfen hast.«

Sie musste einige Sekunden warten, aber dann tauchte Boschi neben ihr auf. »Dafür schuldest du mir was«, brummte er.

»Unbedingt.«

Sie reichte ihm ein Schnittchen, bevor sie sich selbst bediente.

»Hier kann man es doch echt gut aushalten, oder?« Mit vollem Mund ließ sich Feli im Schneidersitz auf dem Boden nieder, sodass sich ihr Rock um sie herum bauschte. »Schätze, das wird dauern, bis die Leiche aus dem Brunnen rausgeholt wird«, sagte sie. »Aber bis dahin wartet hier ja zum Glück jede Menge Arbeit auf uns.« Sie deutete auf die vielen Platten mit den Sandwiches.

Statt einer Antwort feuerte Boschi einen genervten Blick in ihre Richtung ab, aber das Avocado-Gurken-Häppchen schien ihm trotzdem zu schmecken. Seine Gesichtszüge entspannten sich sogar. Als er den letzten Bissen runtergeschluckt hatte, legte er neben Feli ein Areal mit Servietten aus und ließ sich ebenfalls im Schneidersitz nieder, bevor er mit großem Appetit noch weitere Leckerbissen vertilgte.

Feli war erleichtert. Das sah doch ganz danach aus, als wäre er mit diesem Arrangement einverstanden.

Nach einer Weile spitzte sie über den Tresen und stellte fest, dass sich die Lage im Park inzwischen beruhigt hatte. Keine Spur mehr von der Kampfmaschine. Und auch die meisten Besucher waren im Kollegienhaus verschwunden, nur noch eine kurze Schlange wartete davor. Somit war der Blick auf den Brunnen frei.

Dort stand Clemens Sartorius mit verschränkten Armen. Selbst aus der Entfernung erkannte Feli, dass er zitterte. Verflixt noch mal, warum brachte dem denn keiner was Trockenes zum Anziehen? So holte er sich womöglich noch eine Lungenentzündung. Wenn sie ehrlich war, tat er ihr leid.

Um ihn herum wuselten jede Menge Polizisten und Securitymitarbeiter. Gerade fuhr ein Leichenwagen durch den Parkeingang beim Café »Mengin«. Aliens in weißen Ganzkörperanzügen sicherten Spuren im und um den Brunnen. Die ganze Szenerie stand in völligem Gegensatz zu dem feudalen Fest, mit dem der Abend begonnen hatte. »Die Spusi ist schon da«, verkündete Feli. »Zu blöd, dass wir kein Fernglas haben.«

»Ein Fernglas haben wir vielleicht nicht«, Boschi griff in seine Jacketttasche, »aber dafür eine Superzoomkamera. Ist besser als jedes Handy. Hier.«

»Und das sagst du erst jetzt?« Feli staunte.

»Du hast nicht danach gefragt. Und außerdem, was machen wir eigentlich hier, außer dass wir uns den Bauch vollschlagen?« Er schnappte sich eine Melonen-Birnen-Schnitte und biss herzhaft hinein.

»Blöde Frage. Wir warten, bis sie die Leiche bergen. Ich will die tote Frau sehen.«

»Und was hast du dann davon?«

»Ich habe sie entdeckt, Boschi, da darf ich doch wohl wenigstens wissen, was es mit ihr auf sich hat und woran sie gestorben ist.«

»Das steht morgen bestimmt in der Zeitung. Wenn du mich fragst, bringen wir uns nur in allergrößte Schwierigkeiten. Die Eingänge sind abgesperrt, und irgendwann wird die ganze Kavallerie inklusive Leiche verschwinden. Dann sitzen wir hier fest, was im Klartext heißt, dass wir in diesem blöden Zelt übernachten müssen, oder siehst du das anders?«

Feli seufzte. Boschi hatte ja recht. Sie hatte unüberlegt gehandelt und sich von ihrer Impulsivität leiten lassen – wie so oft in ihrem Leben. Obendrein hatte sie ihn in die Sache mit hineingezogen. Sie beschloss, es irgendwann wiedergutzumachen, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Notfalls würden sie auch die Nacht überstehen, zu essen hatten sie jedenfalls genug.

Sie nahm ein Gouda-Apfel-Häppchen und biss ab. »Hm, lecker. Von denen musst du unbedingt auch noch eins probieren, schmeckt köstlich.« Sie reichte ihm eins.

Boschi griff zu und kaute kommentarlos.

Währenddessen beobachtete Feli, wie ein Sanitäter Clemens Sartorius eine dünne Wärmefolie brachte, die er sich sofort umlegte. Vielleicht kam er doch nur mit einem harmlosen Schnupfen davon.

Langsam senkte sich die Dunkelheit über den Schlossgarten. Erst nach etlichen weiteren Schnittchen kam Bewegung in die Szenerie. Es war kurz nach einundzwanzig Uhr, als sich mehrere Aliens daranmachten, die Leiche zu bergen. Millimeter für Millimeter manövrierten sie die Tote aus der Öffnung zwischen den Brunnenfiguren. Dabei mussten sie mehrmals zurück- und wieder vorrangieren.

»Wieso ist das denn so kompliziert?«, überlegte Feli laut, während sie aus ihrem Paparazzi-Versteck hinaus ein Foto nach dem anderen schoss. Dann kam ihr die Erleuchtung. »Bestimmt hat die Leichenstarre bereits eingesetzt.«

Minuten später wurde die Tote endlich auf eine Bahre gehoben. Feli knipste noch immer wie verrückt, konnte aber nur erkennen, dass es sich um eine blonde Frau in dunkelgrünem Kleid handelte. Sie war enttäuscht.

»Ich kann überhaupt keine Details erkennen, Boschi.« Nervös fingerte sie an der Kamera herum. »Wie zum Teufel vergrößert man den Ausschnitt?«

Sie erhielt keine Antwort.

»Boschi?«

»Lass mich in Ruhe«, antwortete ihr Freund. »Mir ist schlecht.«

Sie wandte sich zu ihm um und sah, dass er auffallend weiß geworden war. Nach vorn gekrümmt hockte er auf dem Boden und hielt sich den Bauch.

»Um Gottes willen«, konnte Feli noch sagen, dann übergab sich Boschi geräuschvoll in die nächstgelegene Ecke des Zeltes.

Sie schluckte. War das jetzt die Abwehrreaktion seines Magens auf die vielen Häppchen, die er verdrückt hatte, oder ein Magen-Darm-Virus? Oder womöglich eine Lebensmittelvergiftung? Jedenfalls war es mit Sicherheit keiner seiner hypochondrischen Anfälle.

»Ich glaub, ich sterbe«, verkündete ihr Freund indessen schwer atmend und mit dünner Stimme, richtete sich unter sichtbaren Mühen wieder auf und schloss die Augen.

»Du stirbst ganz bestimmt nicht«, beruhigte ihn Feli, machte sich aber ernsthafte Sorgen um ihn. Was sollte sie jetzt tun? Aus einem Impuls heraus strich sie ihm über den Rücken und reichte ihm eine Serviette.

Nachdem er sich damit den Mund abgetupft hatte, atmete er wieder gleichmäßiger. »Gibt’s hier auch was zu trinken?«, fragte er nach einer Weile, und seine Stimme klang schon wieder etwas kräftiger, wie Feli erleichtert feststellte.

Sie nahm eine Wasserflasche aus einem der Kästen hinter sich, öffnete sie und hielt sie Boschi hin. Während er in kleinen Schlucken trank, riskierte sie wieder einen Blick über die Theke rüber zum Brunnen. Noch immer geisterten Männer in weißen Anzügen um ihn herum. Zumindest schien sie im Augenblick nichts Entscheidendes zu versäumen.

»Vielleicht überlebe ich ja doch«, durchbrach Boschi ein paar Minuten später die Stille, die sich zwischen ihnen breitgemacht hatte.

Feli nickte. »Sieht ganz so aus, als müsste ich dich noch länger ertragen.« Mit gespieltem Bedauern zog sie ihre Mundwinkel nach unten und tätschelte ihrem Freund erneut den Rücken.

Boschi schloss die Augen und gab einen wohligen Ton von sich.

In der Hoffnung, dass es sich doch nur um die Reaktion seines Magens auf eine Überdosis Häppchen gehandelt hatte, entspannte sich auch Feli langsam wieder. Als sie sich erneut dem Geschehen am Brunnen zuwendete, war von der Leiche nichts mehr zu sehen. Anscheinend war sie in den wenigen Momenten, in denen sie unachtsam gewesen war, in das aufgestellte Untersuchungszelt und damit aus ihrem Blickfeld verschwunden. Sie wurde unruhig. Was, wenn auf den Fotos, die sie gemacht hatte, nichts zu erkennen wäre?

Ganz einfach, beantwortete sie sich die Frage selbst, dann wäre die ganze Aktion umsonst gewesen. Zu blöd aber auch, dass sie und technische Geräte kein Dream-Team waren. Selbst ihr Smartphone besaß Funktionen, die sich ihr nicht erschlossen. Zum Glück kümmerte sich Boschi um die EDV im »Büchernest«, sie wäre damit hoffnungslos überfordert gewesen.

»Sag mal, fühlst du dich mittlerweile wieder in der Lage, mir zu zeigen, wie ich die Fotos ansehen kann, die ich geschossen habe?«, fragte sie.

Er starrte sie an. »Dir ist aber schon klar, dass du mich heute Abend in den Wahnsinn treibst, oder, Karotte? Nur zu deiner Information: Mir ist immer noch kotzübel.« Er legte eine kleine Pause ein. »Und jetzt gib schon her, sonst drehst du mir vor lauter Neugierde noch durch.«

Dankbar dafür, dass er sie besser kannte als jeder andere Mensch auf der Welt und ihr trotz seines desolaten Zustandes half, ließ sie sich wieder neben ihn sinken und reichte ihm die Kamera.

Er klickte daran herum, bis er plötzlich innehielt und die Augen aufriss. »Bitte nicht«, sagte er mit erstickter Stimme.

»Was ist?«

»Karotte! Wir kennen die tote Frau.«

Samstag, 21:30Uhr

Clemens hüllte sich fest in die Wärmefolie. Gerade eben hatten die Kollegen die Leiche der jungen Frau in das weiße Untersuchungszelt gebracht, wo Rechtsmediziner Professor Dr. Konrad Mengler sich ihrer annahm. Clemens empfand kein gesteigertes Interesse, der vorläufigen Untersuchung der Toten beizuwohnen. Mengler würde sie erst ausziehen, ihren Körper auf Verletzungen überprüfen und dann die Temperatur messen, damit er den Zeitpunkt des Todes näher bestimmen konnte. Alles Dinge, die Clemens des Öfteren gesehen hatte. Zudem würde ihm der Professor sein Ergebnis schon früh genug mitteilen.

In der zunehmenden Dunkelheit lieferten die aufgestellten Scheinwerfer rund um den Brunnen genug Licht, sodass die Spusi weiterarbeiten konnte, und es kühlte weiter ab. Clemens nieste.

»Gesundheit!«, wünschte ihm eine fröhliche Stimme. »Und Schönheit nicht zu vergessen, aber die haben Sie vermutlich nicht nötig.«

Klar, Mengler konnte es sich wieder einmal nicht verkneifen, noch einen blöden Kommentar hinterherzuschieben. Das aufgezippte Oberteil des weißen Schutzanzugs hing ihm auf den Hüften seines Anzugs. Seinem Outfit nach zu urteilen, war auch er vom Schlossgartenfest weg zwangsrekrutiert worden.

»Wollen Sie sich erst umziehen, oder soll ich Sie sofort mit meinen Ergebnissen paralysieren?« Der Professor trat neben Clemens, der seufzte.

Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als sich die Schlussfolgerungen des Rechtsmediziners anzuhören. Schon vor einer Dreiviertelstunde hatte er Klaus angerufen und ihn gebeten, ihm trockene Kleidung zu bringen. Da dieser aber zuerst wie alle anderen Gäste seine Personalien bei den Kollegen hinterlassen musste, würde es vermutlich noch eine ganze Weile dauern, bis Clemens sich umziehen konnte. Falls er bis dahin nicht erfroren war.

»Schießen Sie los, werter Professor.«

»Oh, so förmlich heute? Das bin ich von Ihnen ja gar nicht gewohnt. Sie werden mir doch wohl nicht krank werden? Wissen Sie, mit nassen Klamotten ist nicht zu spaßen, da ist eine Erkältung, die man sich einfängt, noch das geringste Übel. Auch eine Lungenentzündung wäre möglich. Oder doch eher die Blase? Sind Sie da empfindlich?«

»Mengler!«

Der Professor grinste. »Alles klar.« Während er seine Lesebrille zurechtrückte und dann einen kleinen Block aus der Brusttasche zog, schlackerten die weißen Ärmel des Schutzanzugs um seine Beine.

Clemens zog die Augenbrauen nach oben und verkniff sich eine Bemerkung. Unten Michelin-Männchen, oben Oberkellner. Wenn das kein Bild für den Polizeikalender war, was dann? Er selbst im Brunnen, gab er sich prompt die Antwort. Und zitterte.

»Sind Sie endlich fertig mit Ihren Gedankenspielen, oder soll ich Ihre Stirnrunzelparodie noch länger beobachten?«, grätschte Konrad Mengler in seinen inneren Monolog.

Clemens atmete einmal tief durch und gab dem Rechtsmediziner das Zeichen zu beginnen.

»Also, nachdem ich das Opfer entkleidet hatte, fiel mir zuerst eine horizontal verlaufende Strangulationsmarke im Halsbereich auf. Sie ist nicht besonders auffällig, was auf einen weichen Gegenstand als Strangulationswerkzeug hinweist, möglicherweise ein Halstuch. Auf der Haut und im Rachen finden sich Petechien, außerdem erkennt man eine deutliche Zyanose im Gesicht. Die konjunktivalen Einblutungen sind stark ausgeprägt.«

Clemens zwang sich, Ruhe zu bewahren. »Ich vermute mal, Sie wollen mir damit sagen, dass unsere Leiche punktförmige Einblutungen im Gesicht und daneben noch eine Blaufärbung der Haut zeigt. Konjunktiva ist meines Wissens die Bezeichnung für die Bindehaut der Augen.«

»Bravo! Dann hat unser Bildungssystem bei Ihnen ja doch nicht versagt. Sie haben recht, unter Konjunktiva versteht man die Bindehaut, und konjunktivale Einblutungen sind –«

»Blutrot unterlaufene Augen, weil die feinen Blutgefäße geplatzt sind. Auch das ist mir bekannt, werter Professor. Ich bin schon bei mehreren Obduktionen dabei gewesen. Können Sie mir auch etwas Neues erzählen?« Clemens blickte dem Rechtsmediziner fest in die Augen. Wenn der glaubte, ihn mit seinem Fachchinesisch einschüchtern zu können, war er an den Falschen geraten.

Mengler versuchte unterdessen, eine Stechmücke von seiner Stirn zu verjagen. Erfolglos. Ohne auf Clemens’ Einwand zu reagieren, fuhr er fort: »Die Tote hat versucht, sich zu wehren. Ich habe unter ihren Fingernägeln kleine Hautpartikel gefunden, die ins Labor müssen. Vielleicht bringt uns deren DNS einen Schritt weiter.«

»Glauben Sie, sie hat ihren Mörder gekannt?«

»Gut genug, dass er mit ihr auf Tuchfühlung gehen konnte. Weitere Abwehrverletzungen habe ich allerdings nicht feststellen können.«

»Wann ist sie gestorben?«

»Aufgrund der Körperkerntemperatur würde ich auf irgendwas zwischen sechzehn und vierundzwanzig Uhr letzte Nacht tippen. Die Livores, die Ihnen sicherlich auch ein Begriff sind, lassen sich nicht mehr wegdrücken, und der Rigor Mortis ist voll ausgeprägt. Dabei zu berücksichtigen ist jedoch, dass wir im Moment Hochsommer haben, die Temperatur im Brunnen aber gut zehn Grad geringer sein dürfte als außerhalb. Mehr kann ich Ihnen erst nach der Obduktion sagen.«

Clemens verkniff sich jeden weiteren Kommentar bezüglich Menglers Anspielung auf die bleibenden Todesflecken und die ausgeprägte Leichenstarre. Rigor Mortis. Als ob der Professor der Einzige wäre, der des Lateinischen mächtig war. »Ist sie hier getötet worden?«

»Sieht nicht danach aus. Aufgrund der Lage der Livores vermute ich, dass die Frau erst nach ihrem Tod in dem Brunnen arrangiert wurde. Dafür sprechen auch Abschürfungen an ihren Armen und Beinen, die erst post mortem entstanden sein dürften.«

»Mir wärn dann so weid ferdich.« Max Gimmler, der Leiter der Spurensicherung, war zu den beiden Männern getreten.

Clemens wandte sich von dem Rechtsmediziner ab, der sich nuschelnd verabschiedete. »Was können Sie mir erzählen?«

»Ich befürchte, net wirklich viel«, bemerkte Gimmler. »Wir haben keinerlei Papiere gefunden, kein Handy, einfach nix, womit wir sie identifizieren könnten. Eine Jane Doe, wie es in amerikanischen Krimiserien immer so schön heißt. Und dass wir außerhalb des Brunnens noch irgendwelche verwertbaren Spuren sichern können, ist utopisch. Zu viele Leute. Im Wasser ist sowieso nix, und im Spalt zwischen den Brunnenfiguren sieht es auch nicht besser aus. Ein paar Haare waren auf ihrem Kleid und Hautreste unter ihren Nägeln, wie der Mengler Ihnen bestimmt schon gesagt hat. Wenn wir Glück haben, ist derjenige, welcher im System, wenn net, sieht’s düster aus.« Gimmler strich sich über seine wenigen verbliebenen Haare am Kopf.

»Wann wird die Analyse der DNS vorliegen?«

»Für die DNS von der Haut unter den Nägeln ist unsere Rechtsmedizin zuständig, aber die Haare müssen zum LKA nach München. Ich denke, die Ergebnisse werden wir frühestens am Dienstag haben, eher Mittwoch. Etz am Wochenende arbeitet in München niemand.«

Ernüchtert dankte Clemens Max Gimmler, der sich wieder in das Zelt verzog, wo die Leiche vermutlich zum Abtransport in das rechtsmedizinische Institut vorbereitet wurde.