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Die Entstehung der Lebewesen durch natürliche Evolution ist ein vehement verteidigtes Dogma der säkularen westlichen Kultur. Doch immer mehr Befunde führen an systematische Grenzen evolutionärer Erklärungen. Das räumen mittlerweile auch manche Evolutionsbiologen ein. Gleichzeitig häufen sich in der Biologie eindrückliche Indizien für einen Schöpfer. Grund genug, evolutionäre Erklärungen von verschiedenen Blickrichtungen einer kritischen Analyse zu unterziehen und den Design-Ansatz gegen die wichtigsten Einwände zu verteidigen.
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Seitenzahl: 748
Veröffentlichungsjahr: 2021
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STUDIUM INTEGRALE BIOLOGIE / PHILOSOPHIE
SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-7751-7520-3 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-6110-7 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck
© Copyright der deutschen Ausgabe 2021 by SCM Hänssler
in der SCM Verlagsgruppe GmbH · 71088 Holzgerlingen
www.scm-haenssler.de · E-Mail: [email protected]
Herausgegeben von der Studiengemeinschaft
Wort und Wissen e.V.
www.wort-und-wissen.org
Studium Integrale
Satz: Studiengemeinschaft Wort und Wissen, Baiersbronn
Umschlaggestaltung: Regine Tholen
Titelbild: Libelle: AdobeStock, Martin Spurny; künstliche Libelle: Johannes Weiss
Einleitung
Teil I: Kritische Analyse von Erklärungen in der Evolutionsbiologie
Evolution und Evolutionstheorien. Irrtümliche Selbstverständnisse und Fehldarstellungen naturalistischer Ursprungsmodelle (H. Ullrich)
Gibt es eine naturwissenschaftliche Evolutionstheorie? (R. Junker & M. Widenmeyer)
Methodologie der Naturgeschichtsforschung (R. Junker)
Erklärungen in der Naturgeschichte am Beispiel der Entstehung von Vogelfeder und Vogelflug (R. Junker)
Schöpfung und Evolution – Naturwissenschaft und Naturgeschichte (Th. Jahn, R. Junker & M. Widenmeyer)
Evolution „erklärt“ Sachverhalte und ihr Gegenteil (R. Junker)
Ermöglicht die Plastizität der Lebewesen evolutionäre Innovationen? (R. Junker)
Warten auf einen neuen Einstein (H.-B. Braun)
„Brauchen wir eine neue Evolutionstheorie?“ (R. Junker)
Nichts in der Biologie ergibt Sinn außer im Licht der – Theologie? (R. Junker)
Teil II: Warum der Design-Ansatz seinen Platz in der Wissenschaft hat
Das Design-Argument in Biologie, Philosophie und Theologie (R. Junker & M. Widenmeyer)
Der Kern des Design-Arguments in der Biologie und warum die Kritiker daran scheitern (M. Widenmeyer & R. Junker)
Der Schluss auf Design und das Bayes’sche Schlussverfahren (M. Widenmeyer & R. Junker)
Sind Zwecke in der Natur bloße Zuschreibungen? (R. Junker & M. Widenmeyer)
Sind Gottes Spuren in der Schöpfung verwischt? Eine Antwort auf irreführende Argumente gegen den Design-Ansatz in der Biologie (R. Junker)
„Baumeisterin Natur.“ Sind teleologische Begriffe in der Biologie nur Metaphern? (R. Junker)
Das Design-Argument in der Biologie – ein Lückenbüßer? (R. Junker & M. Widenmeyer)
„Unintelligentes Design“ – Sprechen biologische Befunde gegen die Existenz eines Schöpfers? (H. Ullrich)
Teil III: Buchbesprechungen
Evolution
Michael Denton (2016) Evolution: Still a theory in crisis (R. Junker)
Jerry Fodor & Massimo Piattelli-Palmarini (2010) What Darwin got wrong (R. Junker)
Jonathan B. Losos (2018) Glücksfall Mensch. Ist Evolution vorhersehbar? (R. Junker)
Thomas Nagel (2012) Mind & Cosmos – Why the materialist neo-darwinian conception of nature is almost certainly false (M. Widenmeyer)
Design-Ansatz
Erkki Vesa Rope Kojonen (2014) Intelligent Design: A theological and philosophical analysis (R. Junker)
Die Herausgeber und Autoren
Glossar
Wenn Wissenschaftler die Geschichte des Lebens, der Erde oder des ganzen Kosmos rekonstruieren möchten, arbeiten sie ähnlich wie ein Kriminalkommissar, der ein vergangenes Geschehen aufzuklären hat, z. B. die Umstände, die zu einem Todesfall führten. War es Mord oder Selbstmord oder trat der Tod auf natürlichem Wege ein? Ein solches Geschehen ist unserer direkten Beobachtung entzogen; wir können es nicht wiederholen, auch wenn einzelne Aspekte, die gesetzmäßigen Charakter haben, experimentell zugänglich sein können. Wenn glaubwürdige Augenzeugen fehlen, ist nur ein Indizienbeweis möglich, um eine stimmige Erklärung der am Tatort gefundenen Indizien zu erhalten; im Idealfall gibt es nur eine einzige stimmige Erklärung und der Fall ist gelöst, zumindest nach bestem menschlichem Wissen. Unter Umständen bleibt der Fall aber mangels Beweisen ungelöst, weil die Indizien zu mehreren Szenarien passen (und kein Geständnis vorliegt).
Wenn der Kriminalkommissar seine Arbeit korrekt – und damit insbesondere unvoreingenommen – macht, berücksichtigt er alle zugänglichen Indizien, um zu einem möglichst umfassenden Gesamtbild zu kommen, und er wird allen Spuren und Verdachtsmomenten nachgehen. Das heißt: Er ist für alle möglichen Antworten offen. Ein Kommissar, der eine der möglichen Erklärungen grundsätzlich ausschließen würde, hat seinen Beruf verfehlt. Oder was würden Sie von einem Kommissar halten, der „Mord“ von vornherein ausschließen würde mit der „Begründung“, es müsse unter allen Umständen eine Erklärung dafür geben, dass der Tod auf natürlichem Wege eingetreten sei? Die Möglichkeit, dass es einen Täter gab, der absichtsvoll gehandelt hat, dürfe nicht berücksichtigt werden?
Nicht anders ist tatsächlich die Herangehensweise der überwältigenden Mehrheit der heutigen Biologen in ihren Forschungen zur Entstehung des Lebens und zur Geschichte der Lebewesen. Die Möglichkeit, dass ein Schöpfer absichtsvoll gehandelt hat und dass die korrekte Erklärung dem entspricht, wird prinzipiell ausgeschlossen. Selbst wenn es deutliche Spuren gibt, die auf einen Schöpfer hinweisen, werden diese gewöhnlich nicht verfolgt. Nur ein Zitat von vielen sei genannt, das diese Einstellung verdeutlicht: „Selbst wenn alle Daten auf einen intelligenten Schöpfer weisen, würde eine solche Hypothese aus der Wissenschaft ausgeschlossen werden, weil sie nicht naturalistisch ist.“1 Dieses Zitat besagt: Die Wissenschaftlergemeinschaft sei faktisch darauf festgelegt, dass es auf alle Ursprungsfragen eine naturalistische2 Antwort geben muss.
Wie wird diese Vorgehensweise begründet? Sehr oft wird behauptet, dass Wissenschaft das Wirken eines Schöpfers methodisch ausblenden müsse, was aber natürlich nichts anderes als eine Vorentscheidung in der Sache ist: Von Anfang an wird ein planvolles und zielorientiertes Handeln eines Schöpfers ausgeschlossen. Damit wird gleichzeitig ein Grundprinzip wissenschaftlichen Arbeitens aufgegeben, nämlich die Suche nach der zutreffenden Antwort.3 Stattdessen wird die „beste“ naturalistische Antwort gesucht – „beste“ in Anführungszeichen, weil alle naturalistischen Antworten falsch sein könnten und falsche Antworten nie die besten sein können.
Diese Festlegung auf den Naturalismus bildet den weltanschaulichen Hintergrund der Arbeitsweise der institutionalisierten Wissenschaften, oder wenigstens des derzeit dominanten Teils. Ohne Kenntnis dieses Hintergrundes sind aktuelle Diskussionen über evolutionäre Erklärungen und über den Design-Ansatz nicht zu verstehen.
Die naturalistische Weltanschauung ist jedoch nicht im Konzept der modernen Naturwissenschaft enthalten. Sie steht zudem in Spannung zu ihren Befunden. Denn der Wissensfortschritt offenbart zunehmend eine atemberaubende Komplexität und vielfache informationsgesteuerte Prozesse sowie vielfältige Wechselwirkungen und anspruchsvolle Regelkreise bei Organismen. Die Anforderungen an eine Erklärung für deren Entstehung steigen dadurch ständig an, und die denkbaren (hinreichend konkretisierten) natürlichen Prozesse, die als Erklärungen in Frage kommen könnten, bleiben immer weiter hinter dem Erklärungsziel zurück. Man gibt sich mit vagen Modellen zufrieden, die die wesentlichen Fragen nicht beantworten, und setzt das Erklärungsziel herab, indem das, was zu erklären ist, nur ziemlich unscharf formuliert wird. Sogar der naturwissenschaftliche Erklärungsbegriff wird stark verwässert, um weiterhin von vermeintlichen evolutionstheoretischen Erklärungen reden zu können. Aber die Schlussfolgerung, dass man einen ganz anderen Erklärungstyp benötigt, ist tabu. Am Beispiel der Erklärung der Entstehung von Vogelfeder und Vogelflug wird das in diesem Sammelband beispielhaft erläutert.
Richard DAWKINS – einer der profiliertesten Gegner des Gedankens an Planung in der Natur – definiert Biologie als „das Studium komplizierter Dinge, die so aussehen, als seien sie zu einem Zweck entworfen worden“ (DAWKINS 1987, 13), um anschließend das Design als Illusion zu werten. Auch für AYALA (1994, 4) scheint „das funktionale Design der Organismen und ihrer Eigenschaften […] die Existenz eines Designers zu sprechen.“ Ähnliche Zitate finden sich bei vielen Evolutionstheoretikern.4 Gründe, diesem Anschein eines Designs nachzugehen und für einen Design-Ansatz offen zu sein, gibt es genug.
Wie kann es dennoch sein, dass der Design-Ansatz in der Biologie in der akademischen Welt nicht verfolgt wird, ja verpönt ist und dass „intelligentes Design“ („ID“) als mögliche entscheidende Ursache für biologische Phänomene bei der Suche nach der zutreffenden Erklärung nicht in Betracht gezogen wird?5 Warum wird eine (rein) natürliche Evolution der Lebewesen als Tatsache angesehen, und warum werden diejenigen, die diese vermeintliche „Tatsache“ in Frage stellen, fast vollständig aus dem wissenschaftlichen Diskurs ausgeschlossen? Gibt es hierfür irgendwelche besonderen wissenschaftlichen, methodischen, philosophischen oder gar theologischen Gründe? Die Autoren der Beiträge dieses Sammelbandes haben vielfältige Gründe dieser Art unter die Lupe genommen, aber dabei kein wirklich belastbares Material gefunden. Mögliche Begründungen für die Absolutheitsansprüche naturalistischer Ansätze wurden gewogen und für zu leicht befunden, Fehlschlüsse aufgezeigt, das Nicht-Einlösen von Erklärungsansprüchen, das Einschleusen von Pseudosubjekten oder argumentative Doppelstandards in pro-naturalistischen Erklärungen offengelegt, psychologische von sachlichen Argumenten getrennt, soziologische Aspekte und Ablenkungsmanöver aufgezeigt und Ähnliches mehr.
In diesem Sammelband werden folgende Fragestellungen und Zielsetzungen verfolgt:
• Kritische Analysen von Evolutionstheorien. Welchen Status haben Evolutionstheorien als historische Rekonstruktionen der Naturgeschichte? Hier soll u. a. gezeigt werden, dass die methodische Vorgehensweise bei historischen Evolutionstheorien6 in vielerlei Hinsicht der Vorgehensweise im Rahmen des Design-Ansatzes ähnelt. Als Konsequenz ergibt sich, dass die Gründe für den Ausschluss des Design-Ansatzes aus wissenschaftlichen Erklärungen im Wesentlichen auch für historische Evolutionstheorien gelten würden.
• Welche Erklärungskraft haben aktuelle kausale Evolutionstheorien, die die Ursachen des Formenwandels beschreiben?
• Wie wird Wissenschaft, einschließlich Naturwissenschaft, im Rahmen eines Schöpfungsparadigmas (Design-Ansatz) betrieben?
• Welches sind die grundlegenden Argumente bzw. Überlegungen im Rahmen des Design-Ansatzes? Welche Kritik gibt es an diesem Ansatz und wie stark ist ihre argumentative Kraft?
• Welche (Typen von) Indizien sind an den Lebewesen nachweisbar, die als „Spuren eines Schöpfers“ interpretiert werden können?
Es zeigt sich, dass es gute Gründe dafür gibt, den Design-Ansatz zu verfolgen und dass die Einbeziehung dieses Ansatzes erkenntnisfördernd ist. Zum Beispiel produziert die naturwissenschaftliche Forschung laufend neue Befunde, die plausibel als Indizien für einen Schöpfer gewertet werden können. Klassische Gegenargumente wie z. B., dass Kritik an einem umfassenden „Ansatz Evolution“ bzw. der „Design-Ansatz“ per se unwissenschaftlich oder gar wissenschaftsfeindlich sei, oder auch der beliebte Lückenbüßervorwurf erweisen sich nach genauer Analyse als unbegründet. Eine antiwissenschaftliche, weil dogmatische Haltung besteht vielmehr darin, den Erklärungstyp „Design“ ohne zwingende Sachgründe und aus vermeintlich methodischen Gründen aus dem Diskurs auszuschließen.
Zusammenfassend ergeben sich drei wichtige Gründe für eine umfassende Suche nach zutreffenden Antworten unter Einschluss des Antworttyps „Schöpfung“ („Design“):
1. Bestimmte Antwortoptionen dürfen nicht von vornherein ausgeschlossen werden, weil sonst möglicherweise die zutreffende Antwort ausgeschlossen wird. Die Offenheit für den Design-Ansatz ist nicht nur eine legitime, sondern auch eine notwendige Voraussetzung für eine rationale, d. h. ergebnisoffene, wahrheitsorientierte Ursprungsforschung.
2. Es gibt tatsächlich sehr starke Indizien für einen Schöpfer. Solche Indizien werden anhand von Kriterien erkannt, die auf anderen Gebieten unstrittig sind. Wir zögern normalerweise keine Sekunde, ein komplex-funktionales Gebilde wie eine Maschine auf einen Urheber zurückführen. Warum soll beispielsweise die funktionale Komplexität bei Lebewesen kein Indiz für einen Schöpfer sein, wo dieses Kennzeichen in Bereich der Technik ein unstrittiges Indiz ist?
3. Verschiedene nicht-empirische, d. h. philosophische oder methodologische Argumente gegen einen Design-Ansatz erweisen sich bei genauer Analyse als unbegründet.
Im längeren Teil I dieses Buches werden grundlegende wissenschaftstheoretische Fragen zu historischen und kausalen Evolutionstheorien behandelt. Evolutionstheoretische Modellierungen werden in Bezug auf ihre Argumentationsstruktur untersucht und es wird herausgearbeitet, dass Evolutionstheorien, die Innovationen in der Biologie zum Gegenstand haben, derzeit nicht als naturwissenschaftliche Theorien formuliert werden können. Die Besonderheiten von Ursprungsforschung und der Rekonstruktion der Naturgeschichte im Vergleich zur naturwissenschaftlichen Hypothesenbildung werden diskutiert. Eine wichtige Einsicht ist: Evolutionstheorien bilden ein konzeptionelles Gerüst für die Formulierung historischer und kausaler Evolutionstheorien. Dieses ist Ergebnis einer Wahl bzw. einer Konvention, die grundsätzlich auch anders ausfallen könnte – und auch anders ausfallen sollte, falls es dafür gute Gründe gibt.
Bereits in Teil I wird an passenden Stellen darauf hingewiesen, dass und warum es in Ursprungsfragen bei der Erklärung naturwissenschaftlicher Daten angebracht ist, auch eine Schöpfung in Betracht zu ziehen, also eine geistige bzw. kreative Verursachung, die wir auch sonst in vielen Bereichen des Lebens im Allgemeinen und in Wissenschaftsfragen im Besonderen als Erklärung heranziehen. Dieser Erklärungsansatz, von uns als „Design-Ansatz“ bezeichnet und unter dem Schlagwort „Intelligent Design“ bekannt, wird in Teil II des Buches entfaltet und in mehreren Beiträgen gegen verschiedene Arten von Kritik verteidigt. Über diesen Ansatz sind zahlreiche Missverständnisse im Umlauf; am meisten verbreitet ist wohl der Vorwurf, hier werde ein Lückenbüßer bemüht. Dagegen werden an geeigneter Stelle mehrere Einwände vorgebracht. Soviel vorab: Die Erklärung durch geistige Verursachung (Schöpfung) ist nicht in den Lücken einer naturalistischen Ursprungshypothese zu verorten und ergänzt eine solche auch nicht, sondern sie ist eine Alternative zu einer solchen Hypothese, die einen völlig andersartigen Prozess darbietet. Die Vorstellung, mit einer Erklärung durch Schöpfung würden Lücken geschlossen, übersieht, dass ein anderer Erklärungstyp anstelle eines gescheiterten naturwissenschaftlichen Erklärungsversuchs vorliegt.
Ein wissenschaftlicher Ansatz ist generell ergebnisoffen, was natürlich dann auch für den Design-Ansatz gilt. Es werden daher Kriterien formuliert, anhand derer untersucht werden kann, ob eine geistige oder nicht-geistige (natürliche) Ursache für die Entstehung eines Naturgegenstandes wahrscheinlicher ist. Das Ergebnis steht im Einzelfall erst fest, wenn aussagekräftige Indizien geprüft wurden. Das ist anders als in einem naturalistischen Ansatz, in dem die Suche auf natürliche, intelligenzfreie Ursachen beschränkt ist und jegliche Bezugnahme auf einen zielorientiert handelnden Akteur als überflüssig betrachtet wird. Ansätze, die sich stattdessen auf eine naturalistische Weltanschauung festlegen, tun dies entsprechend auf Kosten zweier grundlegender wissenschaftlicher Grundsätze: Ergebnisoffenheit und Orientierung an Tatsachen.
In Teil III werden schließlich einige neuere Buchpublikationen, die sich mit den Themen dieses Sammelbandes befassen, vorgestellt.
Ein Teil der Beiträge dieses Bandes wurde in den vergangenen Jahren bereits in ähnlicher Form publiziert, meistens als Internetartikel auf der Homepage der Studiengemeinschaft Wort und Wissen (wort-und-wissen.org) und einige in der Zeitschrift „Studium Integrale Journal“ (si-journal.de). Für die Publikation in diesem Sammelband wurden alle Beiträge jedoch gründlich überarbeitet und teilweise erweitert. Da alle Beiträge ursprünglich als Einzelbeiträge entstanden sind und jeder Beitrag ohne Kenntnis der anderen lesbar sein sollte, haben wir einige Redundanzen in Kauf genommen.
Wir haben darauf geachtet, wichtige Begriffe im Text zu erklären; es sind einige Begriffsklärungen aber auch in einem Glossar zusammengefasst. An einigen Stellen verweisen Sterne bei den Begriffen auf die Aufnahme im Glossar.
Reinhard Junker und Markus Widenmeyer, im Januar 2021
AYALA F (1994) Darwin’s Revolution. In: CAMPBELL J & SCHOPF J (eds) Creative Evolution?! Boston, Mass.
DAWKINS R (1987) Der blinde Uhrmacher. Ein neues Plädoyer für den Darwinismus. München.
GOULD SJ (1991) Eine Anhörung für Vavilov. In: GOULD SJ: Wie das Zebra zu seinen Streifen kommt. Frankfurt, S. 132–142.
RAMMERSTORFER M (2006) Nur eine Illusion? Biologie und Design. Marburg.
SCHMIDTGALL B (2018) Die Intoleranz des Naturalismus. https://www.wort-und-wissen.org/disk/die-intoleranz-des-naturalismus/
TODD SC (1999) A view from Kansas on that evolution debate. Nature 401, 423.
1TODD (1999)
2Der Naturalismus ist die Auffassung, dass es nur den Bereich des Natürlichen gibt, also den Bereich des Materiellen oder Physikalischen. Entsprechend lehnt der Naturalist Übernatürliches ab. Beispiele für Übernatürliches sind Gott, die Seele des Menschen, echte Willensfreiheit oder objektive Ethik.
3Es mag sein, dass eine Antwort nicht gelingt; es geht hier darum, alle denkbaren Antwortmöglichkeiten einzubeziehen.
4RAMMERSTORFER (2006) hat dazu einige interessante Zitate zusammengetragen, die hier z. T. wiedergegeben wurden.
5Vgl. SCHMIDTGALL (2018)
6Historische Evolutionstheorien haben Rekonstruktionen der hypothetischen Evolution zum Inhalt, während kausale Evolutionstheorien zum Ziel haben, natürliche Mechanismen des Formenwandels zu beschreiben.
Henrik Ullrich
In der Debatte um Evolution, Schöpfung und Intelligent Design* (ID) werden die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen der eigenen Wirklichkeitssicht und des argumentativen Schließens häufig nicht benannt. Darauf haben mehrere Autoren hingewiesen. Eine Reflexion über die erkenntnistheoretischen Grundlagen und Grenzen evolutionstheoretischer Modellierungen und die angemessene Präsentation ihrer tatsächlichen Erklärungskraft sind Grundvoraussetzungen für einen der Sache angemessenen Disput. Eine klare Bestimmung des Forschungsgegenstands „Evolution“, der zugrunde liegenden theoretischen Konzepte und der Rolle der naturwissenschaftlichen Methoden ist unverzichtbar. Sonst resultiert eine wissenschaftlich und wissenschaftstheoretisch nicht gedeckte Bedeutungszuweisung für die Ausdrücke „Evolution“ und „Evolutionstheorie“. Die Folge ist ein unkritischer, dogmatischer oder gar quasireligiöser Gebrauch dieser Begriffe.
Kann die moderne Biologie als erfolgreiche Wissenschaft vom Leben überleben, wenn Evolution als Tatsache in Frage gestellt wird und sich nicht als „realhistorischer Prozess“ bestätigen lässt? Die Beantwortung dieser Frage ist – aus wissenschaftspsychologischen bzw. -soziologischen Gründen – mit Schwierigkeiten behaftet. Denn es ist zum eingeschliffenen Ritual eines Abwehrkampfes geworden, jede Infragestellung von Evolution und jede Kritik an evolutionstheoretischen Entwürfen pauschal als Angriff auf die gesamte Biologie und die Wissenschaft insgesamt zu verurteilen. Die Ergebnisse des in diesem Beitrag skizzierten Ganges durch die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Biologie und die Analyse evolutionär-ateleologischer* Ursprungsmodelle widersprechen diesen Pauschalverurteilungen nachdrücklich.
Die Debatte um Evolution, Schöpfung und Intelligent Design (ID) leidet häufig unter dem Mangel, dass die Vertreter der jeweiligen Positionen die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen der eigenen Wirklichkeitssicht sowie die Grenzen und Reichweite der von ihnen formulierten wissenschaftlichen Modelle nicht benennen. Dadurch besteht die Gefahr, dass stillschweigend gesetzte Denkvoraussetzungen unhinterfragt in die Argumentation und die Methodik einfließen und dadurch das scheinbar wissenschaftliche Ergebnis entscheidend prägen. Die in der Öffentlichkeit vorgetragene Auseinandersetzung konzentriert sich auf medienwirksame Aspekte und verrennt sich in eine Art inhaltlich verarmter (und in der Regel höchst einseitiger) Kriegsberichterstattung. Man verzichtet dabei fast vollständig auf konkrete Inhalte der wissenschaftlichen Diskussion und gelangt nicht auf ein der Sache angemessenes Reflexionsniveau. So ist z. B. die Rede von einem „Kreuzzug gegen die Evolution“, von der „Wissenschaft als Werkzeug des Teufels“, von „Darwin gegen Gott“, von „Gotteskriegern“ und „Wissenschaftsfeinden“, einem „Kulturkampf in den Klassenzimmern“ oder man warnt vor der Gefahr eines „Rückfalls in das Mittelalter“ (SCHMIDT 2006; KUTSCHERA 2007; vgl. Abb. 1).
Abb. 1: Typische „Kriegsberichterstattung“ der Medien.
Selten kommt man dabei auf die eigentlichen sachlichen Kernfragen zu sprechen, die hinter der spannenden Thematik von Evolution, Schöpfung und ID und den häufig so emotional geführten Debatten stehen: Existiert Gott? Hat er Einfluss auf die uns zugängliche Welt? Was ist der Mensch? Was kann der Mensch wissen? Was darf er hoffen? Was soll er tun? Ist der Einzelne moralisch verantwortlich und wird er einmal vor Gott zur Rechenschaft gezogen? Dabei wird schnell klar, dass diese Fragen mit den Methoden der (Natur-)Wissenschaft nicht oder zumindest nicht allein geklärt werden können.
Ein weiteres Manko offenbart sich im inflationären und beliebigen, ja nicht selten manipulativen Gebrauch der Begriffe „Evolution“, „Evolutionsbiologie“, „Evolutionstheorie“. Aber auch das Verständnis von Schöpfung und Intelligent Design sowie die Definition von Religion, Wissenschaft und Pseudowissenschaft sind oft unklar. Die versteckte Vermischung von Themen (z. B. wissenschaftlicher, wissenschaftstheoretischer, weltanschaulich-philosophischer Art) oder deren Inanspruchnahme zur Formulierung von Scheinwidersprüchen (z. B. zwischen Naturwissenschaft und religiösen bzw. metaphysischen Aussagen) bleibt dem Laien häufig verborgen. Zwei Beispiele sollen diese Einschätzung anschaulich belegen:
„Die Erkenntnisse der Biologie in den letzten Jahrzehnten machen immer deutlicher, dass nicht nur Evolutionstheorie und Schöpfungsglaube, sondern grundsätzlich Biologie und Religion unvereinbar sind. Tatsächlich finden sich unter den Biologen immer weniger Anhänger traditioneller Glaubenssysteme. Der Biologe erkennt, dass es keine Absichten und keinen Sinn in der Natur gibt und dass der Glaube an Gott bloß einem elementaren menschlichen Bedürfnis nach Sinn entsprungen ist“ (WUKETITS 2000).
„Das ‚Dass‘ der Evolution steht nicht mehr infrage, sofern man der menschlichen Vernunft überhaupt zutraut, rationale Erklärungen für Naturvorgänge zu finden. […] Die Frage ist auch nicht, ob es eine Evolution der Lebewesen gibt. Diese Frage ist empirisch beantwortet, denn die verfügbaren Beobachtungsdaten lassen sich nur mit Hilfe der Evolutionstheorie deuten“ (HEMMINGER 2007, 14, 22).
Beiden Aussagen mangelt es unter anderem an einer Reflexion über die erkenntnistheoretischen Grundlagen und Grenzen biologischer und evolutionstheoretischer Modellierungen. Explizit im Rahmen der naturwissenschaftlichen Methodik erlangte Aussagen können nicht oder nicht ohne Weiteres auf metaphysische Fragestellungen bezogen werden, die explizit den Rahmen des naturwissenschaftlich Fassbaren überschreiten. Zudem ist es auch problematisch, von einer wirklich naturwissenschaftlichen Evolutionslehre zu reden (siehe Beitrag „Gibt es eine naturwissenschaftliche Evolutionstheorie?“ in diesem Band). Die Akzeptanz und Berücksichtigung verschiedener Themenfelder ist Grundvoraussetzung für einen rationalen, nach Wahrheit ringenden Disput.
Die von Seiten der Evolutionsbefürworter häufig behauptete Überlegenheit der „Evolutionstheorie“ gegenüber teleologischen* Ursprungsmodellen bleibt eine bloße Parole, wenn die eigenen weltanschaulichen Rahmenvorgaben nicht offengelegt und rational gerechtfertigt werden oder man deren Einfluss auf die Deutung vorliegender Tatsachenbefunde bestreitet. Selbstverständlich müssen dieses Offenlegen und die Rechtfertigung ihrer weltanschaulichen Grundlagen auch von denen eingebracht werden, die Schöpfungs- oder ID-Thesen als alternative Erklärung anbieten.
Naturwissenschaft wird gegenwärtig unter zumeist stillschweigend akzeptierten metaphysischen Zugeständnissen betrieben. Zuerst ist die erkenntnistheoretische Vorgabe zu nennen, die Natur als etwas tatsächlich Gegebenes und vom betrachtenden Subjekt unabhängig Existierendes anzunehmen. Diese Gegenüberstellung von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisgegenstand macht die Natur einer wissenschaftlichen Beschreibung und Analyse methodisch zugänglich. (Eine andere Position nimmt dazu der Berkeley‘sche Idealismus ein, der an dieser Stelle nicht diskutiert werden soll.) Die Erwartung und die Intuition des Menschen, dass es regelmäßige und kausale Zusammenhänge zwischen den Entitäten* der natürlichen Vielfalt gibt, die durch das menschliche Erkenntnisvermögen und mittels der Vernunft angemessen erfasst werden können, sind als weitere philosophische Grundvoraussetzungen zu benennen. Diese Grundpositionen werden vom christlichen Schöpfungsglauben ebenso wie vom ontologischen Naturalismus* a priori in Anspruch genommen, weshalb unter beiden Weltsichten Naturwissenschaft möglich war und ist. Allerdings ist für den Naturalisten im Gegensatz zum christlichen Theisten Ordnung etwas unerklärbar Gegebenes, über dessen Ursprung er nicht wirklich Rechenschaft ablegen kann. Von realen Menschen praktizierte „Naturwissenschaft“ ist auch in ihrer modernen Erscheinung keine von subjektiven Einflüssen gänzlich unabhängige objektive Erkenntnismethode. Die Inhalte, Fragestellungen oder Leitideen trugen und tragen immer den Stempel des soziokulturellen, politischen und weltanschaulichen Gesamtgefüges der jeweiligen zeitgeschichtlichen Epoche. Im historischen Werdegang der Wissenschaften sind selbstredend viele solche Spuren dokumentiert. Die Geschichte der Biologie, insbesondere das wissenschaftliche Denken über Evolution und Schöpfung, liefert dafür beeindruckende Belege (ULLRICH 1997).
Naturwissenschaft stellt in ihrer idealen Form eine methodisch definierte und rational begründete Herangehensweise an die für den Menschen wahrnehmbare Natur dar. Naturwissenschaftler verfolgen damit das Ziel, über die Natur einschließlich den Menschen transsubjektiv gültige Aussagen bzw. Erkenntnisse zu formulieren. Diese Methode erscheint zudem auch unabhängig von der Weltanschauung oder subjektiven Vorlieben der Wissenschaftler weltweit reproduzierbar und damit überprüfbar.
Diese Charakterisierung ist jedoch nur eingeschränkt gültig und damit eine Idealisierung, denn Naturwissenschaftler arbeiten erstens in der Regel stillschweigend mit metaphysischen Voraussetzungen (siehe Kastentext). Zweitens wird in der Praxis des heutigen naturwissenschaftlichen Betriebes (reale institutionalisierte Form von Wissenschaft) darüber hinaus der naturwissenschaftliche Ansatz häufig verabsolutiert bzw. weltanschaulich aufgeladen, indem die Natur (als Gegenstand der Forschung) und auch ihre Geschichte als abgeschlossene Systeme betrachtet werden, welche ausschließlich auf Basis von Naturgesetzen und Randbedingungen (die beide als zu diesem System gehörend betrachtet werden) zu erklären sind. Dies wird häufig auch als der (angeblich nur methodische) Grundsatz formuliert „als ob es Gott nicht gäbe“ (bzw. als ob Gott nie am Anfang oder in die Natur hineingewirkt hätte und auch keine sonstigen nicht-physikalisch bedingten Wirkungen stattfinden könnten). In den darauf aufbauenden Gesamterklärungen wird also nur Gesetzes- und Beschreibungswissen akzeptiert, das auf regelmäßige Beobachtungen und kausale Zusammenhänge für die Ursachen-Wirkungs-Beziehungen zurückgreift und von daher – wenigstens theoretisch – eine (möglichst transsubjektive) empirische Überprüfbarkeit erlaubt.
Der naturwissenschaftliche Ansatz wird häufig verabsolutiert oder weltanschaulich aufgeladen, indem die Natur und ihre Geschichte als abgeschlossene Systeme betrachtet werden.
Dadurch sind alle nicht-natürlichen Erklärungsszenarien von vornherein vom Tisch. Denn im rein naturwissenschaftlichen Sprachspiel finden bestimmte Ausdrücke wie etwa „Schöpfer“, „Gott“, „Designer“ keine Anwendung und sind somit ohne Relevanz für eine naturwissenschaftliche Erklärung als solche. D. h., alles, was einer naturwissenschaftlichen Beschreibung aufgrund seines ontologischen* Status nicht zugänglich ist („beschreibungsunabhängige Existenz“, z. B.Gott, Ewigkeit, Engel, Teufel), soll weder als Erklärung noch als zu Erklärendes im rein naturwissenschaftlichen Sprachspiel genutzt werden (GUTMANN 2005). Es ist jedoch ein fataler Kurzschluss, diese Konvention und methodische Vorgabe als argumentative Grundlage ins Feld zu führen, um die Existenz oder eine Schöpfertätigkeit Gottes als wissenschaftlich widerlegt zu betrachten (siehe das o. g. Zitat von WUKETITS). Denn dies würde einen (unbegründeten und nicht begründbaren) radikalen Reduktionismus voraussetzen, nämlich dass alle Erklärungen naturwissenschaftliche Erklärungen sein müssen, bzw. dass alle Dinge letztlich physikalischer Art sind.
In der wechselseitigen Abhängigkeit von Wissenschaft und Weltbild liegt eine Gefahr des Missbrauchs des Wissenschaftsbegriffs oder der ungerechtfertigten Inanspruchnahme sogenannter „Wissenschaftlichkeit“. Wird z. B. unvermittelt im Namen der Wissenschaft davon gesprochen, dass nur das auf diesem Weg erlangte Wissen die alleinige Wirklichkeit repräsentieren kann, verwechselt man Weltanschauung mit wissenschaftlicher Rede (z. B. im Historischen und Dialektischen Marxismus von Karl Marx oder im neuen Atheismus bei Richard Dawkins und anderen). Jede spezielle (angebliche) Erkenntnismethode, die sich ihrer eigenen erkenntnistheoretischen Vorgaben, methodischen Grundlagen und Grenzen nicht mehr bewusst ist, hört auf, Erkenntnismethode zu sein. Sie wird zu einem weltanschaulichen Glaubenssystem und, wo sie mit einem ggf. aggressiv vertretenen Wahrheits- oder Geltungsanspruch auftritt, zu einer ideologischen Normative.
Die öffentliche Diskussion zu den Fragen von Schöpfung und Evolution wird häufig von zwei Fronten dominiert, polemisierenden Formen des neuen Atheismus und des politisierenden Kreationismus. Letzterer ist hierzulande jedoch nicht existent. In zahlreichen Publikationen von Vertretern beider Fronten lassen sich Erscheinungsformen und Endpunkte der o. g. Fehlentwicklungen gut belegen. Auf der Basis einer absolut gesetzten und allein richtigen „Wissenschaftlichkeit“ wird die eigene Position mit wissenschaftlichem Anspruch als ausschließliche und alles erklärende Sicht der Welt und des Menschen propagiert.
In der wechselseitigen Abhängigkeit von Wissenschaft und Weltbild liegt eine Gefahr des Missbrauchs des Wissenschaftsbegriffs.
Die Biologie, die Wissenschaft vom Leben, gilt als eine empirische Naturwissenschaft. Das heißt, nur empirische Befunde (Beobachtungen, Messungen, Analysen der Zusammenhänge von Form und Funktionen usw.) und sie verbindende Ursache-Wirkungs-Beziehungen sind für eine biologische Erklärung zugelassen. Gegenüber der Physik oder Chemie zeigt die Biologie jedoch deutliche Eigenarten. Die Besonderheiten der funktional-analytisch arbeitenden Biologie lassen sich in dreierlei Hinsicht festmachen. Erstens: Es fehlt der Biologie an einer Definition ihres ureigenen Forschungsgegenstandes, dem Leben. Zum zweiten wird der Forschungsgegenstand der Biologie als teleologisch oder zweckmäßig charakterisiert (konstituiert); die Frage „Wozu“ ist treibende Kraft hinter einem Großteil der biologischen Forschung (anders als in Physik und Chemie). Das führt drittens dazu, dass ihre Ergebnisse wesentlich in (teleologisch zu analysierenden) Funktionalaussagen formuliert werden. Auf diese drei Besonderheiten kommen wir im Folgenden zu sprechen.
„Trotz – oder gerade wegen – seiner vielfachen Verwendung und der spontanen Zugänglichkeit des Bezeichneten […] ist der Begriff aber in seinem deskriptiven Gehalt und normativen Status unklar“ (TOEPFER 2005b, 157, zum Begriff „Leben“).
Das Leben lässt sich nicht allein durch Physik und Chemie beschreiben oder in seinen Erscheinungsformen vollständig auf ihre Gesetze zurückführen, allein schon, weil Leben wesentlich teleologische Merkmale hat. Die Wiederbelebung von Emergenztheorien* und systemtheoretischen Erklärungsansätzen zur Erklärung des Auftretens von Leben sind Ausdruck einer entsprechenden Neuorientierung innerhalb biologischer Forschungsrichtungen, um sich aus der Enge und Sprachlosigkeit reduktionistisch-physikalistischer Szenarien zu befreien (STEPHAN 2005; STOTZ 2005a). Den Schwierigkeiten des naturalistischen Emergenzbegriffs, insbesondere wo er solche „höheren“ Phänomene, die nicht vollständig auf Physik und Chemie reduzierbar sind, erklären soll, kann an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden (siehe dazu WIDENMEYER 2018). Aber auch andere biologische Zentralbegriffe sind hinsichtlich ihrer begrifflichen Fassung relativ unbestimmt und bis heute in der Diskussion. Beispiele sind „Funktion“, „Organismus“, „Gen“, „Homologie“ oder „Art“, was nicht ohne entsprechende Konsequenzen für darauf aufbauende Modellierungen geblieben ist (vgl. WILLE & RHEINBERGER 2009).
Das Leben lässt sich nicht allein durch Physik und Chemie beschreiben oder in seinen Erscheinungsformen vollständig auf ihre Gesetze zurückführen.
In Folge der Auseinandersetzungen mit den Thesen des Intelligent Design rückte das umstrittene Verhältnis von Biologie zur Teleologie erneut in den Fokus. Die Teleologie gilt als „… die Lehre von den Zwecken und zielgerichteten Prozessen“ (TOEPFER 2005a, 36). Auch in einer naturalistisch geprägten Biologie ist die Verwendung einer teleologischen Sprache gängige Praxis und offenbar unumgänglich. Die Voraussetzung von Zweckmäßigkeit (die man jedoch streng von wirklicher Zwecksetzung als intentionalen, willentlichen Prozess der Zielvorgabe abgrenzen will) ist nach TOEPFER für die Erforschung der Organismen und ihrer Wechselbeziehungen konstitutiv. Das heißt: Das (auch nur teilweise) Verständnis eines Organismus ist ohne die Kategorie der Zweckmäßigkeit nicht möglich. Man kann z. B. die Tätigkeit des Herzens nicht angemessen beschreiben und verstehen, ohne einen Zweck ins Spiel zu bringen. Gleichzeitig wird betont, dass im Rahmen der naturalistisch bestimmten Naturwissenschaft diese Zweckmäßigkeit „… zwar zum Bestimmungsgrund, damit aber nicht zur realen Ursache des betreffenden Gegenstandes“ (TOEPFER 2005a, 50) erhoben werden kann. Das heißt: Der Zweck des Herzens als Pumporgan wird nicht als Ursache der Entstehung des Herzens eingeführt. Somit wird die Funktion von Teleologie allgemein als methodisch notwendig für die Beschreibung lebender Systeme akzeptiert; die Mehrzahl der heutigen Biologen distanziert sich jedoch deutlich von einer rational ebenso begründeten realen Teleologie, die eine zwecksetzende Entstehungsursache der Organismen postuliert (z. B. einen Schöpfer) oder eine Ausrichtung aller Elemente des Universums auf Ziele hin annimmt (z. B. teleologische oder theistische Evolutionstheorien). Begründet wird diese Position nicht aufgrund des biologisch verfügbaren Datenmaterials oder Wissens, sondern weil sie mit einem naturalistischen Weltbild nicht vereinbar ist (da sie einen Akteur voraussetzt) und daher nur ateleologische Ursprungsmodelle zugelassen werden. TOEPFER begründet den dominierenden Konsens so:
„Abgelehnt werden diese Formen der Teleologie, weil die bestehenden Modelle zur kosmischen Genese und organischen Evolution als hinreichende Erklärung der anorganischen Veränderung und organischen Höherentwicklung gelten und weil keine zielgebenden Faktoren identifiziert werden konnten – und weil diese darüber hinaus einen fraglichen Status in einem naturwissenschaftlichen Weltbild hätten, das ohne einen planenden Schöpfergott auskommen will“ (TOEPFER 2005a, 37).
Die Gründe, welche hier aufgeführt werden, um eine universelle Teleologie als möglichen Erklärungskontext wissenschaftlicher Fragestellungen auszuschließen, basieren also erstens auf der Überzeugung, dass die heutigen Vorstellungen über eine natürliche Entwicklung des Kosmos und des Lebens hinreichende Erklärungen bieten. Zweitens auf der Vorstellung, dass nur rein naturwissenschaftliche Erklärungen akzeptabel sind, während es mit den Methoden der Naturwissenschaft nicht möglich ist, teleologische Zusammenhänge zu beschreiben; und drittens, damit eng verbunden, auf dem Bekenntnis zu einer vermeintlich „naturwissenschaftlichen“ (in Wirklichkeit: naturalistisch-reduktionistischen) Weltanschauung, welche sonst zur Disposition stünde. Während die beiden zuletzt genannten Argumente TOEPFERS offensichtlich weltanschaulicher Natur sind, beruft sich das erste auf einen angeblichen Erfolg naturwissenschaftlicher Modellierungen in Ursprungsfragen. Hier lässt sich eine per se nichtnatürliche Handlungsursache aber nur dann als unnötig erweisen, wenn die favorisierten, natürlichen (ateleologischen) Evolutionsmodelle ihren Anspruch, hinreichende Erklärungen der „anorganischen Veränderung und organischen Höherentwicklung“ zu liefern, tatsächlich umfassend einlösen könnten. Das ist aber keineswegs der Fall, auch wenn dies – wie bei HEMMINGER oben gezeigt – permanent behauptet wird (vgl. dazu HEILIG & KANY 2011 sowie den Beitrag „Gibt es eine naturwissenschaftliche Evolutionstheorie?“ in diesem Band).
Aufgrund der Zweckmäßigkeit, die wir bei Lebewesen und ihren Bestandteilen als Forschungsgegenstand der Biologie antreffen, besitzen auch biologische Beschreibungen eine besondere Qualität: Sie sind, anders als z. B. die Darstellung der Bewegungen von Elektronen, Funktionalaussagen mit teleologischem Charakter (wofür etwas gut oder nützlich ist). Dazu einige Beispiele: Die Reizauslösung und -übertragung funktioniert im Auge unter Einbeziehung biochemischer Reaktionskaskaden. Die Regulierung der Herzfrequenz erfolgt bei Belastung u. a. durch die körpereigene Analyse der Blutgase. Die Ausschüttung von Hormonen wird über periphere Rezeptoren gesteuert. In Mechanismen, welche Gene aktivieren oder inaktivieren, sind z. B. Masterkontrollgene eingebunden.
Die funktional-analytisch arbeitende Biologie erfolgt primär unabhängig und unbeeinflusst vom Wissen oder von Theorien über die Herkunft und Entstehung des Lebens.
Die Behandlung der Themenstellungen im Rahmen der funktional-analytisch arbeitenden Biologie erfolgt primär unabhängig und unbeeinflusst vom Wissen oder von Theorien über die Herkunft und Entstehung des Lebens. Dies gilt auch dann, wenn angeregt durch Ursprungshypothesen nach speziellen molekularbiologischen, physiologischen oder morphologischen Merkmalen der Organismen gesucht wird. Im Gegensatz zu den hier betrachteten funktional-analytisch ausgerichteten Beschreibungen, die zu 100% die gesamte moderne Medizin bestimmen, zeigen Ursprungstheorien wie die Evolutionstheorien eine grundsätzlich andere Begründungsstruktur und einen anders zu definierenden Forschungsgegenstand. Die Evolutionsbiologie ist wie jede Ursprungsforschung nur unter Rückgriff auf bereits „nicht-evolutionär“ erworbenes Wissen möglich und verfolgt auf dieser Basis dann den Anspruch, das heutige Erscheinungsbild der Organismen und den Charakter der Ökosysteme als Ergebnis einer natürlichen Entwicklung (Evolution) zu erklären (Abb. 2). Im Ergebnis entwirft sie Rekonstruktionen eines hypothetischen Entwicklungsverlaufes in erzählender Berichtsform (z. B.: „Aus A ist B entstanden, D und C leiten sich von Vorfahren ab, die B nahe standen“).
Abb. 2: Das Verständnis für die Funktion und den Aufbau des Auges (v. l.: Komplexauge, Linsenauge, Spiegelteleskopauge der Muschel Pecten) leistet die funktional analytische Biologie. Ihre Ergebnisse sind unabhängig davon, welche Entstehungstheorie man zugrunde legt. Erst das Wissen um Funktion und Aufbau der Augen bei verschiedenen Tieren ermöglicht es der Evolutionsbiologie, mögliche Entstehungsabfolgen zu rekonstruieren (Pfeile). Deshalb sind evolutionsbiologische Modellierungen letztendlich als ein nachgeordneter Typ wissen-schaftlicher Begründung zu bestimmen. Sie „… sind für die (in der Regel funktional orientierte) laborwissenschaftliche Praxis letztlich irrelevant“ (GUTMANN 2005). (Aus JUNKER & SCHERER 2013)
„Methodologisch von Bedeutung ist nun, dass die Evaluierung unserer Erzählung im Lichte genau jenes funktionalen und nomothetischen* Wissens stattfindet, das wir grundsätzlich auch ohne diesen Bericht in Geltung setzen können. Dies scheint die Evolutionstheorie als einen zwar methodologisch möglichen, aber letztendlich nachgeordneten Typ wissenschaftlicher Begründung zu bestimmen. Insofern wäre sie für die (in der Regel funktional orientierte) laborwissenschaftliche Praxis letztlich irrelevant“ (GUTMANN 2005, 263).
1983 publizierte Alfred LOCKER eine Arbeit über system- und metatheoretische Aspekte von „Evolution“ und „Evolutionstheorie“. Darin beklagt der Autor die weitestgehend fehlende Bereitschaft von Evolutionsbiologen zu einer wissenschaftstheoretischen Reflexion über ihren Forschungsgegenstand, über die zugrunde liegenden Sätze ihrer weltanschaulichen Konventionen und theoretischen Konzeptionen.
„Ohne Rücksicht auf die Schwierigkeit, den mit ‚Evolution‘ gemeinten Prozess zu definieren, wird er für eine unumstößliche Tatsache gehalten und die ihn darlegende, sich nach ihm benennende Theorie als eine so sehr gesicherte angesehen, dass für ihre Anhänger keine Veranlassung besteht, ihr ‚Lieblingskind‘ auf seine Rechtmäßigkeit zu prüfen, d. h. die Theorie metatheoretisch zu reflektieren und nach ihrer Voraussetzung und Geltung zu fragen“ (LOCKER 1983, 2).
Die Evolutionsbiologie blieb scheinbar unbeeindruckt von dieser Kritik, so dass 13 Jahre später auch GUTMANN resümiert:
„Während die moderne Wissenschaftstheorie die Biologie kaum wahrnimmt, hat sie sich von dieser doch zugleich in immer größeren Maßen abhängig gemacht. […] Umgekehrt hat die Weigerung der Biologie, auf wissenschaftstheoretische Einwände zu antworten, zur Blindheit dieser Naturwissenschaft gegenüber eigenen methodischen Schwächen geführt. Das läßt sich in besonderer Weise am Beispiel der Evolutionstheorie als einer der für Philosophie wie Biologie gleichermaßen zentralen Ansätze moderner Naturwissenschaft aufzeigen“ (GUTMANN 1996, Covertext).
In einem Beitrag des „Laborjournals“ weist der Pflanzenphysiologe KUTSCHERA offensichtlich unbeeindruckt immer noch die Anfragen der Geisteswissenschaften an die Evolutionsbiologie schroff zurück: „Nichts in den Geisteswissenschaften ergibt einen Sinn, außer im Licht der Biologie“ (KUTSCHERA 2008, 32). Abseits einer solch platten und zirkulären Argumentationslogik gibt es genügend Autoren unter den Evolutionsbiologen, die sich der Bedeutung der von LOCKER zurecht geforderten Reflexion bewusst waren und diese anstrebten. Zum Beispiel sei auf S. J. GOULD verwiesen.
„Wenn Wissenschaftler sich den Mythos zu Eigen machen, dass Theorien ausschließlich aus Beobachtungen erwachsen, und wenn sie deshalb nicht prüfen, welche persönlichen und gesellschaftlichen Einflüsse sie aus ihrem eigenen Inneren beisteuern, missverstehen sie nicht nur die Ursachen ihrer Meinungsänderung, sondern unter Umständen begreifen sie auch nicht, welche tief greifende, umfassende geistige Verschiebung in ihrer eigenen Theorie verschlüsselt ist“ (GOULD 2005, 456).
„Tatsache Evolution“ – so tituliert KUTSCHERA (2009) zu Ehren von Charles Darwins 200. Geburtstag und des 150. Jahrestages der Publikation seines Hauptwerkes „On the Origin of species“ eines seiner Bücher. Unter vielen Wissenschaftlern und in breiten Teilen der westlichen Gesellschaft gilt „Evolution“ als Faktum, so selbstverständlich und sichtbar wie eine gerade stattfindende Mondfinsternis oder ein Erbeben in Indonesien. Ein weiteres Beispiel dieser Art bieten JUNKER & PAUL (2009, 1): „Evolution ist eine Tatsache – so wie es eine Tatsache ist, dass sich die Erde um die Sonne dreht oder dass die ägyptischen Pyramiden vor mehr als 4000 Jahren erbaut wurden.“
In bemerkenswerten Analysen von LOCKER (1983) und von GUTMANN (1996; 2005) werden diese Darstellungen von Evolution als „Hypostasierung“* (LOCKER) bzw. als „empirischer Mißverstand“ (GUTMANN) aus dem Blickwinkel der wissenschaftstheoretischen Analyse entmystifiziert. „Hypostasierung“ bezeichnet eine Redeweise, bei der sogenannte Abstrakta, die Nichtgegenständliches bzw. etwas Gedankliches ausdrücken (z. B. Glück, Frieden), im Sinne eines Konkretums (d.i. etwas Dingliches oder Gegenständliches wie z. B. Tisch, Mensch, Hammer) verwendet werden. Das geschieht in Beschreibungen von Evolution in einer Form, dass die Abstrakta als zielgerichtet oder selbständig agierende Realitäten, Subjekte oder Tatsachen dargestellt werden. So wird das Abstraktum „Evolution“ nach LOCKER kritiklos durch seinen Gebrauch zu einem Begriff, der für eine kausale Realität, eine handelnde Instanz oder Tatsache steht. Deshalb ist auch für GUTMANN die Verwendung von „Evolution“ in dieser hypostasierten Form ein „empirischer Mißverstand“ von Evolution, der sich negativ auf den Erklärungswert von entsprechenden Theorien auswirkt (Zirkularität der Argumentation, s. u.). So wenig wie das Glück eine handelnde Instanz ist, so wenig ist, nach Meinung der o.g. Autoren, die „Evolution“ ein selbständig und zielgerichtet handelndes Subjekt oder eine fassbare kausale Ursache von Naturprozessen.
Beide Autoren sehen sich nicht als Kritiker der Evolution, die – als naturhistorischer Prozess verstanden – für sie die wissenschaftlich beste Erklärung der Geschichte des Lebens darstellt. Ihre Kritik trifft jedoch eine wissenschaftlich und wissenschaftstheoretisch nicht gedeckte Bedeutungszuweisung zum Ausdruck „Evolution“, woraus ein meist unkritischer und quasireligiöser Gebrauch desselben resultiert. Die Aussagen „Das Auge war eine große Erfindung der Evolution“ und „Die Evolution gab mangelhaften Augen ein besseres Sehvermögen“ (Überschriften des New Scientist vom 6. 5. 2010) sind bemerkenswerte Beispiele dafür, wie „Evolution“ zum aktiv handelnden und kreativen Subjekt emporgehoben wird. Selbst in evolutionstheoretischen Fachpublikationen wird sehr häufig eine solche Sprache über Evolution verwendet.
„Evolution“ wird häufig zum aktiv handelnden und kreativen Subjekt emporgehoben.
Die gegenwärtige Verwendung des Ausdrucks „Evolution“ umfasst drei Aspekte, die in vielen Darstellungen jedoch nicht sachlich korrekt bzw. für den Leser nachvollziehbar differenziert werden. Erstens: Evolution als Beschreibung eines (hypothetischen) naturhistorischen Prozesses; zweitens: Evolution als Bezeichnung einer Leitidee oder einer paradigmatischen Vorgabe evolutionsbiologischer Forschung und drittens: Evolution als Synonym für einen übergreifenden weltanschaulichen Deutungsrahmen. (Für einen historischen Exkurs zu Verwendung und Bedeutung des Ausdrucks „Evolution“ siehe GOULD 2002.) Die Unterscheidung dieser inhaltlichen Bedeutungsaspekte bei der Verwendung des Begriffs „Evolution“ ist für eine differenzierte und sachliche Kritik von Aussagen über Evolution unabdingbar.
Die inflationäre Verwendung des Begriffes „Evolution“ erschwert eine fundierte Evolutionskritik, weil häufig nicht klar ist, welcher inhaltliche Aspekt eigentlich kritisiert wird. Die erfolgreiche Kritik eines bestimmten inhaltlichen Aspektes von Evolution bedeutet nicht gleichzeitig die argumentative Widerlegung anderer inhaltlicher Aspekte von Evolution, die andere Fragestellungen betreffen. Zum Beispiel ist der bislang fehlende Beleg oder Nachweis für die Entstehung des Lebens aus anorganischen Elementen kein Argument gegen die Verwendung von Evolution als Leitidee in der biologischen Forschung. Oder: Das Scheitern des historischen Materialismus von Marx und Engels, die sich explizit auf Darwins Entwicklungslehre beriefen, ist kein Gegenargument für die Annahme der historischen Ableitung des Menschen aus affenähnlichen Vorfahren. Deshalb muss in der Debatte immer klar erkennbar sein, welche Bedeutung von „Evolution“ zur Disposition steht. Darüber hinaus ist es wichtig offenzulegen, mit welchen Argumenten der hypothetische Naturprozess „Evolution“ und/oder das Forschungsparadigma „Evolution“ und/oder „Evolution“ als Ideologie bzw. Weltanschauung hinterfragt werden und ob diese Argumente der jeweiligen Bedeutung entsprechend zur Anwendung kommen. Nachfolgend werden die drei Bedeutungen von Evolution näher charakterisiert.
Die Rede von Evolution in diesem Sinne charakterisiert auf der Ebene der Naturerscheinungen einen vermuteten naturhistorischen Prozess, der durch den Wandel, das Werden und das Vergehen des Lebendigen in Folge naturimmanenter Wechselwirkungen vorangetrieben wird. Die gegenwärtige Gestalt der Lebensvielfalt und ihre räumliche Verteilung in den verschiedenen Ökosystemen werden als Ergebnis dieses naturhistorischen, natürlichen und ateleologischen Prozesses verstanden. Der Prozess „Evolution“ ist wie jeder historische Prozess in seiner Gesamtheit der unmittelbaren empirischen Beobachtung entzogen und nur indirekt erschließbar bzw. rekonstruierbar (siehe dazu den Beitrag „Methodologie der Naturgeschichtsforschung“ in diesem Band).
Der hypothetische Naturprozess „Evolution“ wird häufig mit dem Entwicklungsvorgang der Individualentwicklung (Ontogenese) parallelisiert und der Begriff „Entwicklung“ für beide Prozesse synonym verwendet. Damit wird aber ein entscheidender Unterschied übergangen, der hier kurz erläutert werden soll: Evolution als hypothetischer Naturvorgang muss im Gegensatz zu „Entwicklung“ bei der (sichtbaren) Individualentwicklung erst wissenschaftlich plausibel gemacht werden. Während im Rahmen der funktional-analytisch biologischen Beschreibung der beobachtbaren Individualentwicklung über Entwicklung in progressiver Weise gesprochen werden kann (d. h., der Prozess kann vom Anfang bis zum Endzustand ausschließlich empirisch beschrieben werden ohne Zuhilfenahme eines handelnden Agenten oder einer wirkmächtigen Teleologie), ist dies bei „Entwicklung“ im Sinne stammesgeschichtlicher Evolution nicht möglich. Um den Status aufrecht zu erhalten, Evolution als einen ateleologischen, naturgesetzlich bestimmten Prozess zu fassen, muss diese „Entwicklung“ ebenfalls ausschließlich natürlich-ateleologisch (ohne Zuhilfenahme eines handelnden Agenten oder einer wirkmächtigen Teleologie), aber regressiv (vom Endzustand ausgehend hin zum Anfangszustand) gemutmaßt werden. Eine angemessene Darstellung von Evolution als Phänomen der hypothetischen stammesgeschichtlichen Entwicklung des Lebens erfordert damit Aussagen über den Anfang, Zwischenschritte, das Ergebnis, den Modus und die Mechanismen des postulierten Wandels. Somit ist zunächst mit GUTMANN festzuhalten, dass aus wissenschaftstheoretischer Sicht
„die Einheit des Naturvorganges Evolution kein empirischer Sachverhalt ist, sondern die Voraussetzung auch nur einer Konzeptualisierung derselben; wir können hier […] von apriorischen Aspekten der Gegenstandskonstitution sprechen …“ (GUTMANN 2005, 250).
Damit ist Folgendes gemeint: Wie oben bereits angesprochen, darf der Prozess „Evolution“, den es zu erforschen und zu bestätigen gilt, in die Theorienbildung nicht schon primär als Faktum oder belegter empirischer Sachverhalt (als Tatsache „Evolution“), sondern nur als Leitidee (= Konzeptionalisierung, s. u.) eingeführt werden. Je nachdem, wie man sich den Verlauf des Prozesses „Evolution“ vorstellt (z. B. graduell oder sprunghaft, gelenkt oder ungelenkt usw.), sollten sich spezifische biologische oder paläontologische Befunde vorfinden bzw. nachweisen lassen (apriorische Aspekte der Gegenstandskonstitution). So kann man z. B. bei einer graduell verlaufenden Evolution feinabgestufte Formenreihen im Fossilbericht erwarten. Oder wenn die Mutationen als Ursachen für einen evolutionären Wandel richtungslos sind, wird (und wurde) erwartet, dass es nur in seltenen Fällen Konvergenzen* geben sollte (vgl. dazu den Beitrag „Evolution ‚erklärt‘ Sachverhalte und ihr Gegenteil“ in diesem Band). Die Missachtung dieser Zusammenhänge führt regelmäßig zu zirkulären Argumentationsmustern evolutionärer Konzeptionen, wie GUTMANN am Beispiel der Synthetischen Evolutionstheorie dokumentiert.
„Dieser Grundwiderspruch, der im empirischen Mißverstand der Evolution als eines gegebenen Naturgegenstandes verankert ist, wird auch im weiteren Verlauf den zentralen Ansatz der Rekonstruktionen liefern: er ist die Achillesferse darwinistischer Artkonzepte“ (GUTMANN 1996, 81).
In dem Moment, wo der hypothetische Naturvorgang Evolution selbst nicht mehr als Phänomen gilt, das zur Erklärung ansteht, sondern „Evolution“ zur Tatsache und ihr damit selbst eine nicht hinterfragbare erklärende Funktion zugewiesen wird, wird „Evolution“ zu einem handelnden und real existierenden natürlichen Subjekt oder Agenten. Diese Akzentverschiebung bezeichnete LOCKER, wie bereits oben aufgeführt, als Hypostasierung. Unbewusst wird der hypothetische und zu erklärende Prozess Evolution zur „Evolution“ transformiert, also zu etwas faktisch Vorliegendem (wie ein Vulkanausbruch), und dem erkennenden Subjekt als nicht mehr in Zweifel zu ziehende objektive Realität dogmatisch gegenübergestellt. Den „objektiven“ Mechanismen der „Evolution“ traut man es dann unbedenklich zu, Organismen einschließlich des Menschen entstehen zu lassen. HEMMINGER dokumentiert diesen empirischen Missverstand von Evolution als gegebenen Naturgegenstand mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen offenbar unbemerkt und deshalb eindrucksvoll, wenn er schreibt:
„Das ‚Dass‘ der Evolution steht nicht mehr infrage, sofern man der menschlichen Vernunft überhaupt zutraut, rationale Erklärungen für Naturvorgänge zu finden. […] Die Frage ist auch nicht, ob es eine Evolution der Lebewesen gibt. Diese Frage ist empirisch beantwortet, denn die verfügbaren Beobachtungsdaten lassen sich nur mit Hilfe der Evolutionstheorie deuten“ (HEMMINGER 2007, 14, 22).
Evolution steht in diesem zweiten Bedeutungsaspekt als paradigmatische Leitidee oder Leitthema für die Deutung der heute beobachtbaren Merkmalsverteilungen und beschriebenen Ordnungen des Lebendigen. Da es unterschiedliche Vorstellungen vom Verlauf und den Triebkräften des historisch hypothetischen Naturprozesses „Evolution“ gab und gibt, wurden auch vielfältige Evolutionstheorien entwickelt (vgl. Abschnitt „Das sonderbare Aufgehen der ‚Evolutionstheorien’ in die Evolutionsbiologie“). „Evolution“, als Paradigma verwendet, bedeutet, dass man Evolution im Sinne einer Arbeitshypothese als naturhistorisch tatsächlich geschehen voraussetzt. Die Vorgabe einer Arbeitshypothese ist eine gängige Praxis im Wissenschaftsbetrieb, nur muss die Arbeitshypothese auch als solche klar benannt und erkennbar sein. Das jeweilige Bild vom vermuteten Ablauf des Evolutionsvorganges liefert einen vorgegebenen theoretischen Rahmen, in den wissenschaftliche Daten, Hypothesen und Theorienbildungen eingepasst werden. Eine zunächst auch ohne die Voraussetzung von Evolution wahrnehmbare Ordnung (z. B. auf der Basis von morphologischen, genetischen, molekularbiologischen oder embryonalen Ähnlichkeitsvergleichen) wird sekundär im Sinn der Arbeitshypothese „Evolution“ interpretiert und z. B. als phylogenetisch bedingte Verwandtschaft mittels Stammbäumen oder Cladogrammen abgebildet.
Die Möglichkeit, Stammbäume zu erstellen, ist kein Beweis für die Tatsächlichkeit des Prozesses „Evolution“.
Die Möglichkeit, entsprechende Stammbäume zu erstellen, ist aber kein eindeutiger Beweis für die Tatsächlichkeit des Prozesses „Evolution“ (s. o.), sondern ein Argument dafür, dass unter der Vorgabe der spezifischen Leitidee „Evolution“ eine (mehr oder weniger plausible) Deutung biologischer Daten möglich ist (ähnlich wie beim Vergleich der Leitideen der Newton‘schen Physik mit denen der Allgemeinen Relativitätstheorie). Unter dieser Vorgabe kann sich die favorisierte Leitidee „Evolution“ auch als nicht tragfähig erweisen oder es kann sein, dass bestimmte Daten nicht befriedigend gedeutet werden können. Das wiederum fordert ein Nachdenken darüber, ob die gewählte Leitidee „Evolution“ in der jeweils spezifischen Ausformung noch tragfähig ist oder einer Reform oder gar Ablösung bedarf.
In den letzten 160 Jahren wurden vielfältige, zum Teil widersprüchliche evolutionstheoretische Modellierungen oder historische Rekonstruktionen (bzw. historische Berichte nach GUTMANN) in die wissenschaftliche Diskussion eingebracht. Deutliche Differenzen unter den Evolutionsbiologen finden sich zum Beispiel, wenn man danach fragt, ob man spezielle Richtungen oder Tendenzen des evolutionären Prozesses retrospektiv erkennen kann und wer eigentlich Träger des evolutionären Wandels ist (Gene, Organismen, Populationen, Organismus-Umweltsysteme usw.). Aufgrund ihres naturhistorischen Charakters sind die einzelnen Evolutionstheorien nicht falsifizierbar, sie besitzen eine mehr oder weniger große Plausibilität (VOGT 2008, vgl. auch den Beitrag „Methodologie der Naturgeschichtsforschung“ in diesem Band). Denn ohne Wissen über den tatsächlichen Ablauf des naturhistorischen Prozesses „Evolution“ kann eine Entscheidung darüber, welcher phylogenetische Stammbaumentwurf oder welcher Evolutionsmechanismus der richtige ist, aus rein methodischen Gründen nicht getroffen werden. Es ist leider zur Regel geworden, den hier skizzierten Aspekt von „Evolution“ als Leitidee spezifischer Evolutionsmodelle zu verschleiern, zu ignorieren und nicht mehr zu thematisieren. Stattdessen werden die unter Verwendung der Arbeitshypothese ermittelten Ergebnisse, z. B. die Konstruktion von Stammbäumen und Cladogrammen, pauschal als empirischer Beweis für den historischen Prozess „Evolution“ präsentiert. Richtig ist, dass eine erfolgreiche evolutionsbiologische Forschung unter dem gewählten Paradigma „Evolution“ Selbiges stützt. Aber die Möglichkeit, biologische Fakten prinzipiell auch unter einer anderen Leitidee (z. B. Schöpfung, Intelligent Design) zu deuten und zu erklären, bleibt unverändert bestehen und muss offengehalten werden.
Um der Leitidee „Evolution“ eine steigende Plausibilität zur verleihen, ist ein Stehenbleiben auf Ergebnissen des Merkmalsvergleiches nicht ausreichend. Engagiert und aus unterschiedlichsten Blickwinkeln sucht die Evolutionsbiologie nach Ausgangsbedingungen und Mechanismen, die das Entstehen von Neuem (Makroevolution, Innovation, Bauplanwechsel), den Wandel (Mikroevolution) und das Vergehen von Vorhandenem der Organismen erklären. Die aus der funktional-analytisch orientierten Biologie verfügbaren Befunde (z. B. Mutation, horizontaler Gentransfer bei Bakterien, Wechselwirkung zwischen epigenetischen und genetischen Funktions- und Informationsträgern, ontogenetische Regulationskaskaden, Selektion, Populationsdynamik, Zusammenhang von Form und Funktion usw.) wurden und werden dabei retrospektiv in die Vergangenheit extrapoliert mit dem Ziel, sie zur Klärung der Mechanismen der Evolution und zur Erstellung eines Evolutionsverlaufes im Modus der hypothetischen Rekonstruktion zu nutzen (GUTMANN 2005). Hinsichtlich der Mechanismenfrage kann jedoch von einer steigenden Plausibilität der Leitidee „Evolution“ durch die Evolutionsforschung in den letzten 160 Jahren nicht gesprochen werden (vgl. den Beitrag „Gibt es eine naturwissenschaftliche Evolutionstheorie?“ in diesem Band).
Die vielfältigen ungeklärten Fragen und angebotenen Lösungsvorschläge zur Aufklärung der Evolutionsmechanismen sind ein Symptom dieser Situation. Die einzelnen divergierenden Ansätze lassen sich auch nicht einfach unter dem Namen einer Erweiterten Synthetischen Evolutionstheorie (ESET) miteinander verbinden (so versucht es z. B. KUTSCHERA 2007). Ein Blick in die aktuelle Literatur zeigt demgegenüber, dass widersprüchliche und einander ausschließende Ansätze im Rahmen der evolutionsbiologischen Forschung bewusst verfolgt wurden und werden (s. u.). Die Forderung, bisher favorisierte evolutionstheoretische Modellierungen, wie die Synthetische Evolutionstheorie (SET) grundsätzlich zu hinterfragen und durch andere zu ersetzen, wird immer deutlicher formuliert (z. B. LALAND et al.2014). Es muss an dieser Stelle jedoch betont werden: Unabhängig und unbeeindruckt vom Erfolg oder Misserfolg der Evolutionsbiologie, „Evolution“ im Sinne des historischen Naturprozesses plausibel zu machen oder „Evolution“ als sinnstiftende Leitidee der Biologie zu bestätigen, verlaufen die Weiterentwicklung und der Wissenszuwachs der funktional-analytisch arbeitenden Biologie. Die Ergebnisse der Biologie bilden selbst erst das Rückgrat für eine vom Paradigma „Evolution“ begründete hypothetische Rekonstruktion der Geschichte der Lebewesen. Umgekehrt lässt sich dies eben nicht behaupten. Biologie lässt sich erfolgreich auch ohne das Paradigma „Evolution“ betreiben.
Kurz noch einige Gedanken zur Verwendung des Ausdrucks „Evolution“ als ideologisches oder weltanschauliches Programm. Mit „Evolution“ in diesem Grundverständnis wird viel erklärt, sie gilt als Sinnstifter nicht nur in der Biologie.
„Erstens ist die Evolution eine Wahrheit – und Wahrheit kann uns nur freier machen. Zweitens befreit die Evolution den Geist des Menschen“ (GOULD 2005, 281).
Mit dem Anspruch, auch die Gesamtwirklichkeit als evolutionäres Entwicklungsprodukt zu fassen, wird „Evolution“ hier zum universell-weltanschaulichen ateleologischen Erklärungsansatz. Diesen Schritt gehen aber nicht alle Befürworter eines ateleologischen Ursprungsmodells mit. Denn Gott, Glauben, Bewusstsein, Denken, Moral und Freiheit des Menschen werden in dieser ideologisierten Sicht des Evolutionismus jeglicher kategorialen und qualitativen Sonderstellung enthoben – falls ihre Existenz überhaupt zugebilligt wird (z. B. JUNKER & PAUL 2009). Wird der dogmatisch vertretene Anspruch, „Evolution“ als Tatsache zu deklarieren, mit weltanschaulichen Elementen verwoben, ist es berechtigt, von Evolutionslehre zu sprechen und sie mit religiös motivierten Schöpfungslehren oder gar ganzen religiösen Lehrsystemen zu vergleichen.
Biologie lässt sich erfolgreich auch ohne das Paradigma „Evolution“ betreiben.
Medien, Bücher (auch Lehrbücher) und einige gern zitierte Experten der Evolutionsbiologie reden häufig von der „Evolutionstheorie“ als einer einheitlichen, vollständig bewiesenen, im Zuge des wissenschaftlichen Fortschritts ständig verbesserten wissenschaftlichen Theorie zur Erklärung der Evolution.
„Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist auch Darwins Evolutionsmechanismus aus Variation und Selektion, seine berühmte Theorie der natürlichen Auslese, in ihrer modernisierten Form konkurrenzlos. […] Die Evolutionstheorie kann (noch) nicht alles erklären und wie in jeder Wissenschaft gibt es offene Fragen, ungelöste Probleme und interessante neue Forschungsfelder. […] Nicht die Mathematik ist also das Entscheidende, wie der Philosoph Immanuel Kant vermutet hatte (1786: 14), sondern man kann ohne Übertreibung sagen, dass in der Wissenschaft vom Menschen ‚nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden kann, als darin Evolutionstheorie anzutreffen ist‘“ (JUNKER & PAUL 2009, 1).
Diese Darstellung spiegelt jedoch nur eine Position von dem wider, was an tatsächlicher Vielfalt in der Evolutionsbiologie diskutiert wurde und wird. Es gab und gibt nicht die eine „Evolutionstheorie“, welche in einer einheitlichen Synthese alles Wissen der Biologie und alle Aspekte der zur Disposition stehenden Anfragen zur Evolution beantworten würde (vgl. Abb. 3 und 4).
Abb. 3: Vom Stammbaum zur Vernetzung bei den drei Domänen des Lebens (Bakterien, Eukarya und Archaea). Links die traditionelle Sicht, rechts die neue Sicht, die mit vielfachem horizontalem Gentransfer zwischen verschiedenen Linien rechnet und so zu einer starken Vernetzung führt. (Modifiziert nach DOOLITTLE 1999)
„Wie jede wissenschaftliche Disziplin bietet uns nämlich auch die Evolutionsbiologie ein ganzes Feld unterschiedlicher und z. T. sich gegenseitig ausschließender Ansätze, Theorien und Theorietraditionen“ (GUTMANN 2005, 249).
Analog – wie bei der Verwendung des Begriffes „Evolution“ gezeigt – ist bei JUNKER & PAUL (2009) eine ähnliche Bedeutungsverschiebung und Hypostasierung bezüglich der Verwendung des Ausdrucks Evolutionstheorie zur „Evolutionstheorie“ zu beobachten. Wegen eines absolut gesetzten Geltungsanspruches dieser imaginären „Evolutionstheorie“ kritisiert LOCKER umso schärfer den ihr („ET“) zugrunde liegenden Trugschluss.
„Das leichtfertige Unterlassen von begrifflichen Differenzierungen und das bedenkenlose Zusammenwerfen alles dessen, was die Vernunft zu trennen verlangt, besonders von Empirischem (Gegenständlichem) und Trans-Empirischem (dem das Gegenständliche Voraussetzenden) führt zu dem Faktum, daß die ‚ET‘ nur von der Verschleierung ihrer krassen Denkfehler lebt“ (LOCKER 1983, 6).
Es gibt eine Fülle von wissenschaftshistorischer Literatur, die sich der Evolution von Evolutionstheorien gewidmet hat. Die darin formulierten Ergebnisse dokumentieren, dass es vor, während und nach Darwin bis in unsere heutige Zeit immer mehrere parallel existierende konzeptionelle Entwürfe gab, um den naturhistorischen Prozess „Evolution“ als Ganzes oder einiger ihrer Details zu erklären. (Eine gute Zusammenfassung liefern LEVIT et al. 2005, eine detaillierte Analyse ist bei GOULD 2002 zu finden.) Die Synthetische Evolutionstheorie (SET) oder in ihrer modernen Variante die Erweiterte Synthetische Evolutionstheorie (ESET, KUTSCHERA 2007) gilt in der breiten Wissenschaftswelt als Standardmodell, konnte sich aber nie gegen alternative Modellansätze allgemein durchsetzen. LEVIT et al. (2005) zählen zu den alternativen Evolutionstheorien jene Entwürfe, die sich selbstredend als Alternative zur SET verstehen, die als unvereinbar mit ihr gelten und die von den Vertretern der SET als konkurrierende Ansätze interpretiert werden. Dazu gehören im 19. und 20. Jahrhundert nach TÖPFER (2011) (1) die Mutationstheorie (z. B. SIMSON 1944: „Quantum Evolution“, GOULD 2002: „punctuated equilibrium“), (2) Biosphärentheorien und Evolutionstheorien auf globaler Ebene (z. B. VERNADSKYS Biosphärentheorie 1926), (3) der „Wissenschaftliche“ Kreationismus (z. B. Formenkreislehre KLEINSCHMIDTS von 1925: Typenevolution ohne gemeinsame Abstammung von einer Urform), (4) der Alt-Darwinismus (z. B. bei HAECKEL 1866; PLATE 1913: Einheit von Lamarckismus, Orthogenese und Selektion), (5) der Neolamarckismus (z. B. LYSSENKO 1948; BÖKER 1935: Vererbung erworbener Eigenschaften), (6) die Idealistische Morphologie (z. B. NAEF 1919; REMANE 1952: Konzept des Typus als gemeinsamer Urform, Priorität der empirisch-struktualistischen Studien vor genealogischen Theorien), (7) der Saltationismus (z. B. SCHINDEWOLF 1944; GOLDSCHMIDT 1940: Umformungen durch Makro- oder Großmutationen, „Hopeful-Monster-Theorie“), (8) die Orthogenese (z. B. NÄGELI 1884; BERG 1922; GUTMANN 1969: eingeschränkter, durch „constraints“ und richtende Prinzipien determinierter Evolutionsverlauf, Konstruktionsmorphologie der Frankfurter Schule), (9) die Symbiogenese (MEREŽKOVSKIJ 1910: Symbiose als wesentlicher Evolutionsfaktor neben der Selektion). Diese Zusammenstellung ist nicht vollständig.
Manche Autoren (wie GUTMANN 2005) nutzen andere Kriterien zur Differenzierung der beschrittenen Diskussionsebenen. Wichtig für unser Thema ist dabei, dass neben rein naturalistischen ateleologischen Modellen immer auch teleologische Erklärungsansätze verfolgt wurden (hier 3 und 8). Eine wichtige gegenwärtige Entwicklung im Hinblick auf die Überwindung der gen- und selektionszentrierten Ansätze innerhalb der Evolutionsbiologie stellt u. a. die Arbeit um die Gruppe der „Altenberg-16“1 dar (ausführliche Dokumentation bei MAZUR 2009). Offen wird gegenwärtig über einen Paradigmenwechsel innerhalb der Evolutionsbiologie gesprochen (FODOR & PIATTELLI-PALMARINI 2010; vgl. die Rezension in diesem Band). Kritisch beurteilt man vor allem die Bedeutung und Reichweite der durch die SET favorisierten Mechanismen Selektion und Mutation, denen nur noch die Rolle der Feinjustierung im Evolutionsprozess zukommen soll.
LALAND et al. (2015) diskutieren dagegen die besondere Bedeutung der Erkenntnisse, die sich aus dem Forschungsgebiet der evolutionären Entwicklungsbiologie (Evo-Devo) ergeben und integrieren diese in ihrem Entwurf der „Extended Evolutionary Synthesis“ (EES; vgl. auch den Beitrag „Gibt es eine naturwissenschaftliche Evolutionstheorie?“ in diesem Band). Die Evolutionsbiologie steht vor ungelösten Grundfragen, welche bisher weder von den historischen Ansätzen des 19. und 20. Jahrhunderts noch von den modernen Varianten evolutionsbiologischer Modellierungen in Form der SET, der ESET oder der EES beantwortet werden konnten. STOTZ (2005b, 349f.) fasst die wesentlichen und ungelösten Grundfragen so zusammen:
Abb. 4: Ein weiteres Beispiel verschiedener Evolutionstheorien: Der traditionelle Gradualismus (rechts, relativ gleichmäßige Verzweigung) und der seit den 1970er-Jahren in die Diskussion gebrachte Punktualismus (lange Stillstände in der Evolution, unterbrochen von plötzlichen, schnellen Veränderungen in vielen Linien).
In den anerkannten Evolutionstheorien finden sich keine Erklärungen für
• die Fähigkeit von Arten zu evolvieren, also die Fähigkeit von Organismen, adaptive Variationen hervorzubringen;
• die Entstehung von evolutionären Innovationen oder Neuerungen („survival of the fittest“ gegenüber „arrival of the fittest“);
• Entwicklungsprozesse, welche Homologie und Homoplasie hervorbringen und eine Erklärung dafür, warum verschiedene Eigenschaften unterschiedlich konserviert sind;
• die Verbindung zwischen Genotyp und Phänotyp durch die kausalen Vorgänge der Epigenese;
• entwicklungsbiologische und andere Formzwänge, die die Produktion von Varianten beeinflussen;
• die Entstehung von Entwicklungsmodulen;
• die verlässliche Reproduktion von Entwicklungssystemen, deren Eigenschaften nicht durch Gene allein erklärt werden können (Vererbung im weiteren, embryonalen Sinne).
1. Mutationstheorie (z. B. DE VRIES 1901; SIMPSON 1944 „quantum evolution“; GOULD 2002 „punctuated equilibrium“): sprunghafte Veränderung von organischen Formen mit der Entstehung neuer Typen in einer Phase raschen Wandels, Wechsel von Phasen der Konstanz mit Phasen des plötzlichen Umbruchs
2. Biosphärentheorien und Evolutionstheorien auf globaler Ebene (z. B. VERNADSKYS Biosphärentheorie 1926): Organismen sind nicht passiv an ihre Umwelt angepasst, sondern haben in der Erdgeschichte aktiv die Erdkruste mitgeformt.
3. „Wissenschaftlicher“ Kreationismus (z. B. Formenkreislehre KLEINSCHMIDTS: Typenevolution ohne gemeinsame Abstammung von einer Urform von 1925): Die Organismen sind auf nicht natürliche Weise entstanden und lassen sich typologisch in Arten im Sinne von integrierten, stabilen Systemen („Formenkreisen“) ordnen.
4. Alt-Darwinismus (z. B. bei HAECKEL 1866, PLATE 1913): Die Evolution beruht auf der Kombination verschiedener Faktoren, unter ihnen der Darwin’sche Faktor der Selektion, lamarckistische Elemente der Vererbung erworbener Eigenschaften und orthogenetische Kräfte der gerichteten Veränderung.
5. Neolamarckismus (z. B. LYSSENKO 1948; BÖKER 1935): Die evolutionäre Veränderung von Organismen erfolgt durch Änderungen ihrer anatomischen Konstruktion, die vererbt wird.
6. Idealistische Morphologie (z. B. NAEF 1919; REMANE 1952): Die Morphologie liefert die Grundlage für eine Einteilung der Organismen in Typen, die in der Evolution verändert wurden; die Typeneinteilung geht der Rekonstruktion der Phylogenese methodisch und zeitlich voraus und nicht umgekehrt.
7. Saltationismus (z. B. SCHINDEWOLF 1944; GOLDSCHMIDT 1940): „Hopeful-Monster-Theorie“, neue Merkmalskombinationen (Baupläne) entstehen in der Evolution spontan und unvermittelt aufgrund von Groß- oder Makromutationen, sodass sich die Stammesgeschichte einer Gruppe in charakteristische Phasen der Bildung, Konstanz und Auflösung von Typen (Typogenese, Typostase, Typolyse) einteilen lässt.
8. Orthogenese (z. B. NÄGELI 1884; BERG 1922; GUTMANN 1969): Die Veränderung der Merkmale von Organismen verläuft in bestimmten Bahnen („constraints“), die durch innere und äußere Faktoren determiniert sind. Diese Faktoren schließen die Annahme eines zusätzlichen richtenden Prinzips (Vervollkommnungsprinzip) mit ein, welches unabhängig von der Umwelt wirkt und z. T. auf einen schöpferischen Geist zurückgeführt wird.
9. Symbiogenese (z. B. MEREŽKOVSKIJ 1910): Gleichberechtigt neben dem Faktor der Konkurrenz bildet die Symbiose ein zentrales Prinzip des Lebens und seiner Veränderung in der Evolution.
Eine ähnliche Liste mit 24 unbeantworteten Fragen innerhalb evolutionstheoretischer Modellierungen veröffentlichten 2003 MÜLLER und NEWMAN (siehe Kastentext).
Auf einer im November 2016 in London durch die Royal Society durchgeführten Konferenz unter dem Titel „New Trends in Evolutionary Biology“ wurden diese offenen Fragen erneut thematisiert. Die Kontroverse zwischen den Vertretern der EES und der ESET blieb ohne klärende Ergebnisse (für Details siehe BATESON et al. 2017).
1. Burgess-shale-Effekt: Weshalb entstanden die Baupläne der Vielzeller explosionsartig?
2. Homoplasie: Weshalb entstehen ähnliche Gestalten unabhängig und wiederholt?
3. Konvergenz: Weshalb produzieren entfernt verwandte Linien ähnliche Designs?
4. Homologie: Weshalb organisieren sich Bauelemente als fixierte Baupläne und Organformen?
5. Neuheit: Wie werden neue Elemente in bestehende Baupläne eingeführt?
6. Modularität: Weshalb werden Design-Einheiten wiederholt verwendet?
7. Constraint: Weshalb sind nicht alle Design-Optionen eines phänotypischen Raums verwirklicht?
8. Atavismen: Weshalb erscheinen Merkmale, die lange Zeit in einer Linie verschwunden waren, erneut?
9. Geschwindigkeit: Weshalb sind die Raten morphologischer Veränderungen ungleich?
MÜLLER & NEWMAN listen weitere 15 offene Fragen aus diesen Gebieten auf:
• Beziehung zwischen Genotyp und Phänotyp in Ontogenese und Phylogenese
• Epigenese und ihre Rolle in der morphologischen Evolution
• Theorie der morphologischen Evolution
Unbestreitbar ist: Nicht-teleologische Ursprungsmodelle liefern legitime und heuristisch fruchtbare Ansätze, um den vielfältigen Geheimnissen des Lebens neben der funktional-analytisch arbeitenden Biologie auf die Spur zu kommen (z. B. vergleichende Biologie auf molekularer und genetischer Ebene, Möglichkeiten und Grenzen phänotypischer Veränderungen durch Mutationen). Die Evolutionsbiologie muss aber, wie jede andere Forschungsrichtung auch, Rechenschaft darüber ablegen können, welche Rahmenbedingungen der Formulierung ihrer jeweiligen wissenschaftlichen Theorien zugrunde liegen. Um nicht weiter einer Hypostasierung ihres Gegenstandes („Evolution“) oder ihrer Modelle („Evolutionstheorie“) anheim zu fallen und um einen innerwissenschaftlichen Diskurs führen zu können, muss auch die Evolutionsbiologie folgende Fragen beantworten (nach GUTMANN 1996):
1. Was ist das Erkenntnisinteresse (Gegenstand) der jeweiligen Wissenschaft?
2. Welche Erkenntnismittel, Methoden, etc. werden zum Bearbeiten der jeweiligen Fragestellungen eingesetzt?
3. Welche (wohlbegründeten) Aussagen sind unter den gegebenen Bedingungen (1 und 2) möglich?
Für die Evolutionsbiologie ist das Erkenntnisinteresse bzw. der Forschungsgegenstand die „Evolution“ als hypothetischer historischer Naturprozess. Wie bereits festgehalten, ist „Evolution“ so verstanden kein empirisch beobachtbarer Naturvorgang und kann nicht als etwas unhinterfragbar Vorliegendes deklariert werden. Wird dagegen „Evolution“ im Sinne einer Leitidee oder als Konzeptionalisierung a priori für die Forschung genutzt, ist dies entsprechend zu kennzeichnen und bei der Deutung der daraus gewonnenen Ergebnisse und Aussagen zu berücksichtigen.
Ein Beispiel zur Illustration: In einem auf embryonalen Ähnlichkeiten basierenden Stammbaum des Auges geht die Leitidee über Evolution ein, dass die Nähe der stammesgeschichtlichen Verwandtschaft mit einem höheren Grad an embryonaler Ähnlichkeit korreliert. Dagegen wird der auf paläontologischen Befunden basierende Stammbaum des Auges von der Leitidee über Evolution bestimmt, dass in der Regel in älteren Gesteinsschichten Vorläufer und in jüngeren Gesteinsschichten modernere Versionen der Augen zu finden sind. Beide Stammbäume repräsentieren und beweisen nicht den tatsächlichen Ablauf der Augenevolution. Sie sind eine Modellierung, die für oder gegen einen spezifischen hypothetischen Ablauf der Augenevolution spricht.
Die heutige Evolutionsbiologie, die sich als ateleologisches Programm dem Gegenstand „Evolution“ als zu erforschenden historischen Naturprozess stellt, möchte zwei grundsätzliche Fragen beantworten: Aus welcher Art A ist Art B hervorgegangen und was sind die (rein natürlichen) Ursachen des Wandels bzw. wie ist dieser auf der Grundlage bekannten biologischen Wissens plausibel erklärbar? Evolutionstheoretische „Erklärungen“ tragen Berichtscharakter, da sie historisch rekonstruktive Theorien sind, und sind keine Erklärungen im naturwissenschaftlichen Sinne (vgl. den Beitrag „Gibt es eine naturwissenschaftliche Evolutionstheorie?“ in diesem Band). Damit kann der Naturvorgang „Evolution“ (Erklärungsziel) immer nur als ein „Verlauf im hypothetischen Modus“ (GUTMANN 2005) und eben nicht als Tatsache (wie eine Mondfinsternis) beschrieben werden. Auch wenn sich die historischen Rekonstruktionen auf kausale oder funktionale Aussagen bzw. Erklärungen der Biologie berufen und somit empirischen Charakter tragen, sind diese jedoch selbst weder Kausal- noch Funktionsaussagen. Eine historische Rekonstruktion der Entstehung des Auges erklärt nicht dessen physiologische Funktion als Sinnesorgan oder seine ontogenetische Verursachung, braucht aber dieses Wissen, um mögliche evolutionstheoretische Schlüsse ziehen zu können. Und noch einmal zur Erinnerung: Die Untersuchung der physiologischen Funktion als Sinnesorgan und die Klärung seiner ontogenetischen Verursachung benötigt umgekehrt Evolution als historische Rahmentheorie nicht.
„Evolution“ kann immer nur als ein „Verlauf im hypothetischen Modus“ und nicht als Tatsache beschrieben werden.