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Der Erwerb schriftsprachlicher Kompetenzen ist für die Teilhabe an der von Literalität geprägten Gesellschaft fundamental. Lehrkräfte sehen sich hier bei heterogenen Lerngruppen mit anspruchsvollen Herausforderungen konfrontiert. Das Buch stellt zentrale Teilbereiche des Schriftspracherwerbs durch eine Verknüpfung von fachdidaktischen sowie sonder- und grundschulpädagogischen Perspektiven differenziert dar. Im Mittelpunkt stehen die spezifischen Besonderheiten und Bedürfnisse verschiedener Lerngruppen (z. B. DaZ-Lernende oder Lernende aus den sonderpädagogischen Schwerpunkten). Dies ermöglicht es, individuelle Lernverläufe umfassend und gezielt zu betrachten sowie entsprechend bedarfsorientiert passgenaue Angebote zu entwickeln.
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Seitenzahl: 342
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Cover
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Vorwort
1 Schriftspracherwerb. Das große Ganze und die kleinen Details: Ein kombiniertes Modell zum Erwerb schriftsprachlicher Kompetenzen (KOMET-Modell)
1.1 Funktionen von Schrift
1.2 Phasen des Schriftspracherwerbs
1.3 Teilbereiche des Schriftspracherwerbs
1.3.1 Rahmenaspekte des Schriftspracherwerbs
1.3.2 Schriftproduktion
1.3.3 Textproduktion
1.3.4 Lesefertigkeiten
1.3.5 Leseverstehen
1.4 Folgerungen
Literaturverzeichnis
2 Schriftspracherwerb bei Lernenden mit Deutsch als Zweitsprache (DaZ)
2.1 Mehrsprachigkeit in der Grundschule
2.1.1 Verschiedene Erwerbsszenarien
2.1.2 Fakten zum schulischen Lernen von Lernenden mit DaZ
2.2 Verortung im KOMET-Modell
2.2.1 Individuumsbezogene externale Faktoren: soziokulturelles Kapital der Familie
2.2.2 Individuumsbezogene externale und internale Faktoren: Early Literacy
2.2.3 Schriftproduktion
2.2.4 Textproduktion
2.2.5 Leseverstehen und Lesefertigkeit
2.3 Fazit
Literaturverzeichnis
3 Schriftspracherwerb vielperspektivisch: Impulse und Perspektiven aus der Pädagogik bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung
3.1 Der Schriftspracherwerb im Kontext der Pädagogik bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung
3.1.1 Blindheit und Sehbeeinträchtigung
3.1.2 Der Schriftspracherwerb blinder Kinder im Überblick
3.2 Die Brailleschrift
3.3 Assistive Technologien
3.3.1 Punktschrift-Schreibmaschine
3.3.2 Computer mit Braillezeile
3.4 Voraussetzungen blinder Kinder für den Schriftspracherwerb
3.5 Strategien im Braille-Schriftspracherwerb
3.5.1 Präliteral-symbolische Strategien
3.5.2 Logographemische Strategien
3.5.3 Alphabetische Strategien
3.5.4 Orthographische Strategien
3.6 Herausforderungen und Chancen für die Unterrichtspraxis
Der Arbeitsplatz eines blinden Grundschulkindes
Unterschiedliche Schrift – unterschiedliche Bedarfe an Förderung
Schwarzschrift und Brailleschrift gegenseitig mitlernen
Lehrwerke und Lektüren
Inklusive Lernmaterialien
Unterschiedliches Lesetempo, exemplarische Aufgaben
Spezifische Fehleranalyse
Bilder als Motivation
Hilfen und vermeintliche Hilfen für leichteres Lesen
Hilfsmittelnutzung im Schriftspracherwerb
Literaturverzeichnis
4 Grundlagen und Perspektiven des Schriftspracherwerbs im sonderpädagogischen Schwerpunkt Geistige Entwicklung
4.1 Förderung schriftsprachlicher Kompetenzen im Schwerpunkt Geistige Entwicklung – ein Überblick
4.2 Besonderheiten der Lernausgangslagen
4.2.1 Emergent/Early Literacy
4.2.2 Sprachentwicklung/Spracherwerb
4.2.3 Repräsentationale Einsicht
4.2.4 (Arbeits-)Gedächtnisleistungen, Wahrnehmung und Aufmerksamkeit
4.2.5 Phonologische Informationsverarbeitung
4.2.6 Exekutive Funktionen
4.2.7 Zwischenfazit
4.3 Didaktische Implikationen entlang ausgewählter Bereiche des KOMET-Modells
4.3.1 Early Literacy und sprachliches Lernen
4.3.2 Lesefertigkeiten
4.3.3 Textproduktion
4.4 Inklusive Lernsettings
Literaturverzeichnis
5 Schriftspracherwerbsstörungen aus der Perspektive der Sprachheilpädagogik
Einleitung
5.1 Sprachentwicklungsgestörte Kinder als Risikogruppe für die Ausbildung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten
5.2 Phonologische Informationsverarbeitung, lautsprachliche Kompetenzen und Schriftspracherwerb
5.2.1 Das Konstrukt der phonologischen Informationsverarbeitung
5.2.2 Der Einfluss sprachlicher Kompetenzen auf das Leseverständnis
5.3 Unterstützungsmaßnahmen im Unterricht
5.3.1 Förderung der phonologischen Bewusstheit
5.3.2 Erlernen der alphabetischen Strategie des phonologischen Rekodierens
5.3.3 Förderung der automatisierten Worterkennung
5.3.4 Förderung des Leseverständnisses
5.4 Schlusswort
Literaturverzeichnis
6 Schriftspracherwerb – eine Perspektive des sonderpädagogischen Schwerpunkts Lernen
6.1 Der Zusammenhang zwischen Schulerfolg und sozialer Herkunft als zentrale Herausforderung
6.2 Charakteristika des sonderpädagogischen Schwerpunkts Lernen
6.3 Erwerb schriftsprachlicher Kompetenzen bei Schülerinnen und Schülern im sonderpädagogischen Schwerpunkt Lernen – Herausforderungen, Befunde und Konzepte
6.4 Fallspiel ›Orlando‹
6.5 Zielgruppenspezifischer Literaturunterricht als Antwort auf erschwerten Erwerb von Lesekompetenz?
6.6 Fazit
Literaturverzeichnis
7 Hochbegabung und sprachlicher Anfangsunterricht
7.1 Mythen und Fakten zu Hochbegabung
7.1.1 Definitionen von Hochbegabung
7.1.2 Sprachliche Hochbegabung
7.2 Schriftspracherwerb von Hochbegabten
7.2.1 Externale Faktoren: Eltern
7.2.2 Unterschiedliche Entwicklungsverläufe: Schrift- und Texproduktion, Leseverstehen und -fertigkeit
7.2.3 Individuumsbezogene Kompetenzen
7.2.4 Anfangsunterricht für potenziell leistungsstarke Lernende
7.3 Begabungs- und Begabtenförderung?
7.4 Hinweise zur Diagnose von hohen Begabungen auch im sprachlichen Anfangsunterricht – pädagogisch-fachdidaktische Diagnostik
7.4.1 Grenzen standardisierter Tests
7.4.2 Erfassung sprachlicher Hochbegabung im Anfangsunterricht: Eine komplexe Angelegenheit
7.4.3 Das Wissen und Können der Lehrperson als zentrales Element für die Diagnose
7.5 Förderung sprachlich leistungsfähiger Kinder im Anfangsunterricht
Leistungsheterogene Lerngruppen im Anfangsunterricht
Hohe Kompetenzen im Bereich der Textrezeption
Texte produzieren
Diskrepanz zwischen sprachformaler Korrektheit und Fähigkeit, gute Texte zu produzieren
Weitere Fördermaterialien für den sprachlichen Anfangsunterricht
Integration hochbegabter Kinder durch Kinderliteratur mit hochbegabten Protagonist:innen
7.6 Fazit
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abbildungen
Tabellen
Autor:innenverzeichnis
Kohlhammer
Die Herausgeberinnen
Dr. Stefanie Köb ist akademische Rätin im Fachbereich Pädagogik und Didaktik im sonderpädagogischen Schwerpunkt Geistige Entwicklung am Institut für Sonderpädagogik der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten in Forschung und Lehre gehören Schriftspracherwerbsprozesse im Kontext einer kognitiven Beeinträchtigung und deren didaktische Modellierung für den Unterricht.
Dr. Hanna Sauerborn ist Professorin für deutsche Sprache und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. In Forschung und Lehre beschäftigt sie sich u. a. mit dem Schriftspracherwerb und dem sprachlichen Lernen von Kindern, die Deutsch als Zweitsprache sprechen.
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
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1. Auflage 2025
Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Heßbrühlstr. 69, 70565 [email protected]
Print:ISBN 978-3-17-044309-9
E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-044310-5epub: ISBN 978-3-17-044311-2
Der Erwerb schriftsprachlicher Kompetenzen ist für die Teilhabe an unserer von Literalität geprägten Gesellschaft fundamental und deren Förderung ist nicht zuletzt seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 auch integrale Aufgabe inklusiver Lernsettings. Dies gilt für inklusives Lernen im engeren und im weiteren Sinne.
Im schulischen Kontext wird beim Schriftspracherwerb oft zunächst auf den Ausbau der basalen Lese- und Schreibfertigkeiten fokussiert. Dabei kann die Komplexität der Anforderungen an Lernende leicht übersehen werden, ebenso ist es für einen umfassenden Ausbau (schrift-)sprachlicher Kompetenzen wichtig, den Blick für andere Aspekte des Lesens und Schreibens, welche mit diversen literalen Praktiken zusammenhängen, zu weiten. Im Hinblick auf ein inklusives Bildungssystem erscheint die Frage nach differenzierten didaktischen Umsetzungsmöglichkeiten im Kontext des Deutschunterrichts als unbedingt erforderlich, gleichzeitig jedoch ausbaufähig. Entwicklungen in Sonderpädagogik und Fachdidaktik scheinen aktuell eher parallel zu verlaufen. Verzahnungen etablierter, disziplinspezifischer Konzepte im Hinblick auf einen inklusiven Schriftspracherwerbsunterricht sind äußerst wünschenswert, stellen oftmals aber noch eine Leerstelle im wissenschaftlichen Diskurs dar. Daraus ergeben sich entsprechend Leerstellen für den Unterricht. Denn Lehrkräfte sehen sich mit diversen Fragen konfrontiert, wie sie den inklusiven Deutschunterricht adaptiv auf die Voraussetzungen und Bedürfnisse ihrer Schüler:innen abstimmen, um den Erwerb schriftsprachlicher Kompetenzen aller Lernenden zu unterstützen.
Das vorliegende Buch nimmt sich diesem Thema an. Nach einigen grundlegenden Überlegungen zur Funktion von Schrift und zu gängigen Modellierungen des Schriftspracherwerbs werden zunächst zentrale Teilbereiche des Schriftspracherwerbs anhand des KOMET-Modells (s. u.) fachdidaktisch differenziert dargestellt. Im weiteren Verlauf des Buchs werden auf der Basis des KOMET-Modells spezifische Besonderheiten und Bedürfnisse verschiedener Lerngruppen identifiziert (DaZ-Lernende, Lernende aus den sonderpädagogischen Schwerpunkten Sehen, Geistige Entwicklung, Sprache oder Lernen, sowie hochbegabte Lernende). Eine Synthese fachdidaktischer sowie sonder- und grundschulpädagogischer Perspektiven ermöglicht es, individuelle Lernverläufe nicht nur umfassend, sondern auch gezielt zu betrachten und darauf aufbauend entsprechend bedarfsorientiert passgenaue Angebote zu entwickeln.
Wir bedanken uns bei Katharina Schottorf für ihre Unterstützung bei diesem Band.
Dieses Buch wird mitherausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben (DGLS). Es ist ein Resultat der an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg stattgefundenen DGLS-Jahrestagung 2023. Wir bedanken uns bei der DGLS für die Unterstützung im Zusammenhang mit der Tagung und der Erstellung des Buches.
Mit großem Bedauern haben wir vor Veröffentlichung des Buches vom Tode der geschätzten Kollegin Prof. Dr. Katharina Farkas erfahren. Umso mehr schätzen wir, Katharina Farkas wertvollen Gedanken zur Förderung hochbegabter Kinder in diesem Buch festgehalten und mit ihr auf der Tagung und wegen des Buchkapitels in diesem Band zusammengearbeitet zu haben.
Heidelberg, im Februar 2025Stefanie Köb und Hanna Sauerborn
Hanna Sauerborn & Stefanie Köb
Lesen und Schreiben lernen, schriftsprachliche Kompetenzen erwerben ist ein großer Schritt in der Entwicklung eines Kindes, der ganz neue Horizonte eröffnet. In Orientierung an den Funktionen von Schrift nach Coulmas (1991) sowie Brügelmann und Brinkmann (2016, S. 64) wird die Handlungserweiterung durch Schrift an einigen Beispielen deutlich: Mit Hilfe von Schrift kann sich das Kind auf weiteren Kommunikationskanälen äußern wie z. B. in Briefen, geschriebenen Nachrichten bei Messengern auf dem Handy, es kann E-Mails usw. eigenständig verfassen und empfangen (u. a. kommunikative Funktion von Schrift). Das Kind kann Schrift nutzen, um Gedanken und Ideen durch die Materialität von Schrift zeitüberdauernd festzuhalten und wieder abzurufen (u. a. Distanzierungsfunktion mit Überwindung von räumlicher und zeitlicher Distanz bei zerdehnter Kommunikationssituation (Ehlich 1994). Auch die mnemonische Funktion von Schrift wird erlebbar, z. B. beim Aufschreiben und der Nutzung von Erinnerungshilfen (wie das Notieren der Hausaufgaben, Einkaufszettel usw.). Schließlich wird im schulischen Kontext zudem die epistemische oder heuristische Funktion von Schrift relevant, indem Schrift z. B. genutzt wird, um Gedanken zu präzisieren und beim Schreiben weiterzuentwickeln (Fix 2008, S. 7, der von Lernen durch Schreiben spricht). Außerdem dient Schrift der Erreichung von Erkenntnisgewinnen (ebd.), was auch durch die Informationsentnahme beim Lesen von Texten stattfindet. Gerade in der Grundschule ist zudem die ästhetische Funktion von Schrift bedeutsam, nämlich beim Schreiben von Geschichten oder anderen kreativen Schreibanlässen, ebenso beim Lesen literarischer Texte. So lässt sich konstatieren, dass der Erwerb und die Erweiterung schriftsprachlicher Kompetenzen Lernende in die Lage versetzen soll, kritisch reflektiert für »schriftkulturelle Erfordernisse adäquate Lösungen zu finden, die den jeweiligen sprachlichen, situations- und interaktionsspezifischen Erwartungen entsprechen« (Böhm & Hohenstein 2023, S. 8).
Auf dem Weg zur Beherrschung der Schrift vollzieht das Kind zahlreiche Entwicklungsschritte und baut seine Kompetenzen auf vielen verschiedenen Ebenen aus. Was bei geübten Schreibenden und Lesenden wie von selbst abläuft, stellt im Erwerb die Integration unterschiedlicher, komplexer Teilkompetenzen dar, die wiederum voneinander abhängen und deren Entwicklung und Koordination sich in einem langwierigen Prozess vollzieht.
Viele Modelle beschreiben den Prozess des Schriftspracherwerbs in mehreren Phasen (z. B. Günther 1986, Scheerer-Neumann 2001 und 2003, Spitta 1996, Valtin 1997). Diverse dieser Modelle (z. B. Scheerer-Neumann 2001 und 2003) beziehen sich u. a. auf das von Frith (1986) für den englischsprachigen Raum entwickelte sechsschrittige Modell zum Lese- und Schreiberwerb.
Nach Frith (1986) ist der Zugriff der Kinder zunächst ein symbolischer, bei dem ein erstes Verständnis davon entsteht, dass Schrift überhaupt eine bestimmte Bedeutung trägt (Frith 1986, S. 76). Ein Beispiel dafür ist die Aussage eines Kindes über den Namenszug PUKY an seinem Fahrrad: Da steht Raphael. Das Kind hat also bereits verstanden, dass Schrift für etwas anderes steht, auch wenn es die tatsächliche Bedeutung nicht so benennt (Sauerborn 2015a, S. 4). Auf den symbolischen Zugriff aufbauend entwickelt sich das logographische Lesen, bei dem die Kinder Wörter bzw. Logos anhand markanter Merkmale erkennen. Es folgt das logographische Schreiben, bei dem ein Wort wie ein Bild notiert (»gemalt«) wird und zunächst noch kein Bezug zwischen Buchstaben und Lauten vorliegt, wobei die Kinder am Ende dieser Phase z. B. den Anfangsbuchstaben benennen und auch bei anderen Wörtern wiedererkennen können (z. B. M wie Mathilda und M wie Mara). Durch das Schreiben gewinnen Kinder folglich erste Buchstaben-Laut-Korrespondenzen und können Schrift schließlich in der alphabetischen Phase phonographisch nutzen.
Daran schließt sich das alphabetische Lesen an, bei dem buchstabenweise Wörter erlesen werden. Hierbei erschließen Kinder zunehmend größere schriftstrukturelle Einheiten (z. B. Silben oder Morpheme) und lesen mit mehr und mehr Lesepraxis schließlich orthographisch. Shares Self-teaching-Hypothese (1995, S. 151) besagt, dass Lernende beim phonologischen Rekodieren auf der alphabetischen Stufe ein orthographisches Lexikon im Gedächtnis aufbauen, das es ihnen ermöglicht, zunehmend mehr Wörter durch das häufige Lesen sicher abzurufen. Eine Repräsentation der Wörter ist also im Gedächtnis abgespeichert. Der Weg zum orthographischen Schreiben vollzieht sich langsamer als beim orthographischen Lesen und steht nach Frith am Ende der Entwicklung (Frith 1986, S. 79).
Friths Modell wurde für das Englische entwickelt. Bei der englischen Orthographie handelt es sich im Vergleich mit dem deutschen um ein tieferes Schriftsystem (Nübling & Dammel 2006, S. 172). Flache Schriftsysteme (z. B. Spanisch) sind stark phonographisch determiniert, es gibt daher regelmäßige Phonem-Graphem-Korrespondenzen (Eisenberg 1996, S. 86). Das Deutsche ist »durch silbenstrukturelle wie morphologische Einflüsse systematisch überformt« (ebd.), hat aber auch einige unmarkierte Graphem-Phonem-Bezüge. Demnach lässt sich das Modell von Frith nicht eins zu eins auf das Deutsche übertragen. Modelle aus dem deutschsprachigen Raum beschreiben aber ebenso sehr ähnliche Phasen (z. B. Günther 1986; Scheerer-Neumann 2001).
Die logographische Phase ergibt sich bei Kindern im Kleinkind- bzw. Vorschulalter aus der Auseinandersetzung mit Schriftzeichen und Logos im Alltag auch ohne schulische Instruktion: Kinder nehmen z. B. das Logo eines Einkaufsladens wahr und können dieses dem jeweiligen Geschäft zuordnen (z. B. »Da ist ein Edeka!«). Auch bei der vorschulischen Beschäftigung mit Schrift (wie beim Schreiben von Namen) können Kinder schon vor der Einschulung den Code der Schrift knacken, was Lenel (2005, S. 66 f.) als Buchstabenkonzept bezeichnet. Damit meint sie die Einsicht, dass es einen Zusammenhang von Lauten und Buchstaben gibt. Manche Kinder erreichen auch schon im Vorschulalter die alphabetische Phase, was einzelne Fallbeispiele (z. B. Sauerborn 2015a) zeigen. Der Schritt zur alphabetischen und erst recht zur orthographischen Phase ist jedoch bei den meisten Kindern kein natürlicher Verlauf (im Gegensatz zu den Entwicklungen beim Spracherwerb), sondern Ergebnis schulischer Instruktion.
Die in den genannten Modellen beschriebene Entwicklung von einem logographischen zu einem alphabetischen Zugriff auf Schrift spiegelt die Entwicklung von Kindern ohne einen festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarf wider. Bei Schüler:innen der einzelnen sonderpädagogischen Schwerpunkte können sich teilweise beträchtliche Unterschiede ergeben. So können beispielsweise blinde Kinder im Vorschulalter Schwarzschrift nicht wahrnehmen und haben folglich andere Zugänge zur Schrift (▸ Kap. 3). Hörgeschädigte Kinder wiederum sehen zwar die sie umgebenden Schriftzeichen, haben jedoch einen anderen oder keinen lautbasierten Zugang zur Schrift, je nach Grad der Hörschädigung. Im Hinblick auf Kinder mit einer kognitiven Beeinträchtigung kann es wiederum sinnvoll sein, den überwiegend literal verankerten Zeichenbegriff der dargestellten Modelle um ikonische, also bildhafte Zeichen zu erweitern (▸ Kap. 4).
Auch wenn Modelle zum Schriftspracherwerb einige Kernerkenntnisse der Lernenden in Bezug auf Schrift aufgreifen wie z. B. den Schritt von einem logographischen zu einem alphabetischen Zugriff auf Schrift, bei dem die Kinder einen Buchstaben-Laut-Bezug herstellen können, müssen die Modelle in ihrer Relevanz für die Schulpraxis und vor allem im inklusiven Deutschunterricht angemessen eingeordnet werden. Neben den bereits genannten Limitationen besteht die Gefahr einer Zirkelschluss-Argumentation. So wird der in den Modellen skizzierte Entwicklungsverlauf oft als Begründung für ein bestimmtes methodisches Vorgehen verwendet, nach dem Kinder zunächst einfache Buchstaben-Laut-Beziehungen (Anlautposition als lautliche Realisierung des jeweiligen Buchstabens, beispielsweise /r/ für <r> wie in Rabe; der Buchstabe <r> taucht aber auch in anderen Positionen im Wort auf und hat dann eine andere lautliche Entsprechung: [ˈʁaːbə] (Rabe), [hϵɐt͡s] (Herz), [ˈfaːtɐ] (Vater)) lernen und durch Synthese bzw. Analyse lesen bzw. schreiben. Erst in einem zweiten Schritt werden dann orthographische Aspekte vermittelt – deklariert als Abweichung der bereits gelernten lautbasierten Regel (zur Kritik daran siehe Bredel & Röber 2011, S. 5). Der Verlauf des Schriftspracherwerbs ist jedoch nicht natürlich, sondern von (schulischer) Instruktion geprägt. Die Entwicklung spiegelt folglich, welche Sicht auf Schrift im Anfangsunterricht vermittelt wird: Ein lautorientiertes Vorgehen (»Schreib, wie du sprichst/hörst!«) führt zunächst zu einem lautbezogenen Verständnis von Schrift. So sind die Schreibungen in Abbildung 1.1 auch Resultat des Unterrichts, den das Kind erfährt (▸ Abb. 1.1).
Abb. 1.1:Vier Schreibvarianten des Wortes Esel von vier Kindern (Klasse 1 nach vier Monaten Schule; Vorlage gezeichnet von Manuela Ostadal)
Gerade die beiden linken Schreibungen (*ESiL und *ESL) weisen einen starken Bezug zur gesprochenen Sprache auf. Bei den rechten Schreibungen zeigt sich, dass das Kind noch keine Einsicht in den Aufbau von Reduktionssilben gewonnen hat, aus welchem sich die Schreibung des Vokalgraphems <e> am Beginn des Silbenreims ergibt. Bei einer Analyse des Prozesses beim Schreiben könnte möglicherweise auch beobachtet werden, dass das Kind alle Laute identifiziert, jedoch beim Schreiben dann die Reihenfolge vertauscht.
Ein weiteres Beispiel für die Bedeutung der Prozessebene ist das Folgende: Ein Junge schreibt Ende Klasse 1 das Wort Kühe auf. In früheren Schreibungen verwechselt er auf der Buchstabenformebene das j mit dem l. Er lautiert das Wort Kühe als [ˈkyːjə] und möchte diese Wortform notieren. Da er jedoch für den Buchstabennamen j die Lautgestalt /jə/ abgespeichert hat und damit wiederum die Buchstabenform des l verknüpft hat, schreibt er schließlich *kül, was in seinem Denken jedoch die Form für [ˈkyːjə] ist (▸ Abb. 1.2).
Abb. 1.2:Schreibung des Wortes Kühe (Ende Klasse 1; Datenerhebung Annika Greiss, Datenauswertung Lea Hartmann; beide Masterstudentinnen an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg 2024)
Würde nur das Produkt analysiert werden, wäre die Wortform eindeutig falsch. Mit dem Wissen um den Prozess und die Gedanken des Kindes ergibt sich eine neue Interpretation des Geschriebenen und entsprechend auch ein anderer Ansatz zur Förderung. An den Beispielen wird eine weitere Limitation von Modellen zum Schriftspracherwerb deutlich, die nur das Produkt als Basis der Analyse heranziehen können: Aus der Beobachtung des Prozesses beim Schreiben von Wörtern oder beim Sprechen über die Wörter mit dem Kind lassen sich oft weitere Schlüsse über die Denkprozesse der Kinder ziehen.
Eine andere Modellierung des Anfangsunterrichts zum Lesen und Schreiben kann im Vergleich zu einem lautorientierten Vorgehen zu einem in bestimmten Aspekten abweichenden Lernverlauf führen. So kann beobachtet werden, dass Kinder, bei denen von Anfang an die Aufmerksamkeit auf bestimmte schriftstrukturelle Phänomene (u. a. abhängig vom Aufbau der betonten bzw. unbetonten Silbe in trochäischen Simplizia) gelenkt wird, schon früh im Verlauf der ersten Klasse Wörter, die das jeweilige Phänomen enthalten, richtig schreiben bzw. die richtige Schreibung herleiten können. Dabei geht es z. B. um die gerade genannte Schreibung der Reduktionssilbe mit dem Graphem <e>, wie die eigenständig in die Wörterburg notierte Beispielschreibung des Wortes Maler einer Schülerin der ersten Klasse mit dem sonderpädagogischen Schwerpunkt Lernen (▸ Abb. 1.3) zeigt.
Abb. 1.3:Eigenständige Schreibung mit Reduktionssilbe einer Schülerin mit dem Förderschwerpunkt Lernen, Ende Klasse 1 (Vorlage gezeichnet von Manuela Ostadal)
Die Schülerin verschriftet den a-Schwa in der Reduktionssilbe bereits mit <e> und <r>, da sie gelernt hat, dass im kleinen Tor immer ein <e> stehen muss und der a-Schwa entsprechend verschriftet wird. Ebenso gewinnen Kinder bei einem graphematisch orientierten Unterricht noch im ersten Halbjahr der ersten Klasse Einsicht in die <ie>- oder <ß>-Schreibung (▸ Abb. 1.4, ▸ Abb.1.5).
Abb. 1.4:Eigenständige Schreibung des Wortes Biene (Junge, sieben Jahre, Herkunftssprache Türkisch) Mitte Klasse 1
Abb. 1.5:Eigenständige Schreibung des Wortes Füße (Junge, sieben Jahre alt, Herkunftssprache Albanisch) Ende Klasse 1
Die Einordnung der Leistungen von Kindern bei der Schriftproduktion in ein gängiges Phasenmodell ist bei einer graphematisch orientierten Schriftvermittlung daher nur zum Teil möglich, da orthographische Elemente viel früher zu erwarten sind. Wie und wann sich die in den Phasenmodellen beschriebenen Phasen ausgestalten, hängt folglich unter anderem vom Unterricht ab.
Bei der Einordnung von Schreibungen in ein Modell muss zudem die Komplexität des Wortes selbst mitberücksichtigt werden, um die Leistung des Kindes entsprechend einordnen zu können. In Abbildung 1.6 sind Schreibungen eines Kindes zu vier Zeitpunkten im ersten Schuljahr abgebildet (▸ Abb. 1.6). Die Schreibungen wurden in das Stufenmodell nach Valtin (1997) eingeordnet.
Abb. 1.6:Einordnung von Schreibungen eines Kindes in das Stufenmodell von Valtin (1997), Darstellung von Marie Müller, Masterstudentin an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg (WS 2023/24)
Wenngleich die Einordnung der isolierten Schreibungen von T3 in Anlehnung an die Kategorisierung von Valtin durchaus plausibel ist, ergeben sich für andere Schreibungen des Kindes zum gleichen Messzeitpunkt deutlich weniger Hinweise auf Stufe 5 bzw. 4 (▸ Abb. 1.7).
Abb. 1.7:Schreibung weiterer Wörter zum Messzeitpunkt T3
Möglicherweise entstanden manche Unsicherheiten beim Schreiben der Wörter dadurch, dass das Kind bestimmte Buchstaben zu diesem Zeitpunkt noch nicht gelernt hatte. Bei dem Wort Sonne ist der Vokal der Hauptsilbe jedoch bereits bekannt (siehe Schreibung T1 und T2 für Ufo), im Vergleich zum Wort Ufo handelt es sich allerdings beim Wort Sonne um eine betonte Hauptsilbe mit Kurzvokal, die Buchstaben-Laut-Zuordnung ist in diesem Fall anspruchsvoller. Die Schreibungen aus Abbildung 1.7 wären eher auf Stufe 3 oder 4 zu verorten. Eine eindeutige Zuordnung des Entwicklungsstands des Kindes in das Modell ist folglich kaum möglich. Gerade auf der alphabetischen Stufe bzw. bei Valtin auf Stufe 4 und 5 ist eine deutlich detailliertere Sichtweise nötig, die auch die Struktur der zu schreibenden Wörter berücksichtigt.
Wie in diesem Abschnitt deutlich wird, versuchen Modelle zum Schriftspracherwerb vor allem das Schreiben auf Wortebene abzubilden, es geht also um die Entwicklung eines orthographischen Bewusstseins. Auch wenn sich die Modelle auf das Lesen übertragen lassen (z. B. Scheerer-Neumann 2001), wird dabei auch nur das Lesen auf der Wortebene berücksichtigt (ebd., S. 72). Durch die stark wortbezogene Orientierung der Modelle kann in der Rezeption derselben zudem eine eingeschränkte Sicht auf den Schriftspracherwerb und auf das, was Kinder beim Lesen- und Schreibenlernen leisten, stattfinden. Schriftspracherwerb ist weitaus mehr als das Lesen und Schreiben von Wörtern.
Gerade die frühen Zugänge zur Schrift werden in vielen Modellen zum Schriftspracherwerb vor allem mit dem Erkennen von Symbolen und dem logographischen Lesen beschrieben (z. B. Scheerer-Neumann 2001, S. 72). Wie die Forschung zur Early Literacy zeigt (z. B. Sauerborn 2015 a/b), beinhalten diese frühen Zugänge zur Schrift jedoch weitaus mehr: u. a. ein Verständnis davon, dass das Geschriebene z. B. Vorstellungen abbildet, dass aus dem Geschriebenen Gedanken eines Senders vom Empfänger entschlüsselt werden können usw.
Für die Schule relevant ist außerdem die Frage, welcher Nutzen sich aus den Modellen für förderdiagnostische Zwecke ergibt. Die Feststellung, ein Kind befände sich in der alphabetischen Phase, ist, wie gerade dargestellt, zu grob, um daraus unmittelbare Ziele für die weitere Förderung abzuleiten. Zwar gibt zum Schreiben auf Wortebene die Darstellung von Dehn (2000) eine relativ differenzierte Sicht, zum Lesen leistet dies Scheerer-Neumann (2001). Allerdings gibt es diverse weitere Herausforderungen beim Schriftspracherwerb im weiteren Sinne, die sich aufgrund verschiedener Dispositionen bzw. Vorerfahrungen und ebenso aus der Erwerbsaufgabe an sich (z. B. eine Geschichte schreiben, einen Text lesen usw.) ergeben können und einen über die Modelle hinausgehenden Blick auf den Schriftspracherwerb erforderlich machen. Aus didaktischer Sicht bedarf es folglich einer weiteren Ausdifferenzierung der Modellierung des Schriftspracherwerbs (Hoffmann-Erz 2024, S. 103). Dies gilt umso mehr, wenn man den Schriftspracherwerb von Kindern begleitet, bei denen der Lernverlauf in einem oder mehreren Bereichen anders verläuft. Zu nennen sind z. B. Kinder mit Sehbehinderung oder hörgeschädigte Kinder oder Kinder mit einem Anspruch auf ein sonderpädagogisches Förderangebot im Bereich Lernen oder Geistige Entwicklung sowie Kinder, die die Unterrichtssprache Deutsch gerade erwerben oder noch nicht so beherrschen wie andere Kinder. In diesen Fällen müssen Ressourcen sowie mögliche Hürden bei allen Erwerbsfacetten identifiziert werden, um angemessene Lernangebote unterbreiten zu können. Eine differenziertere Darstellung der verschiedenen Teilbereiche bildet dafür die Basis und wird im folgenden Kapitel erläutert.
Im KOMET-Modell (kombiniertes Modell zum Erwerb schriftsprachlicher Kompetenzen) werden verschiedene Teilbereiche des Schriftspracherwerbs stark vereinfacht aufgeschlüsselt.
Abb. 1.8:Kombiniertes Modell zum Erwerb schriftsprachlicher Kompetenzen (KOMET-Modell, aufbauend auf Sauerborn 2023, S. 51)
Kernaspekte schriftsprachlicher Kompetenzen (Schriftproduktion, Textproduktion, Leseverstehen und Lesefertigkeiten) werden im oberen Bereich des Modells dargestellt. Lesen und Schreiben sind dabei getrennt aufgeschlüsselt, dennoch können beide Kompetenzbereiche weder im Erwerb noch in der Ausführung zwangsläufig getrennt betrachtet werden. Im Hinblick auf das Lesen- und Schreibenlernen zeigt sich dies daran, dass beide Kompetenzbereiche eine gemeinsame Basis haben (z. B. Erwerb der Phonem-Graphem- bzw. Graphem-Phonem-Korrespondenzen, Einsicht in das Schriftsystem etc.), zudem begünstigen sich die beiden Tätigkeiten im Erwerb (Frith 1986) und auch bei der automatisierten Ausführung (Graham 2020). Mesch (2017) skizziert verschiedene Studien zum Verhältnis von Lese- und Schreibfähigkeit und schlägt vor, beim Lesen prototypische Muster zu aktivieren und durch Analogiebildung auch beim (Recht-)Schreiben nutzbar zu machen (ebd., S. 17).
Innerhalb der Bereiche des Schreibens und des Lesens wird im KOMET-Modell jeweils eine weitere Unterteilung vorgenommen: Beim Schreiben wird in Anlehnung an Bachmann und Becker-Mrotzek (2017, S. 28) zwischen Schrift- und Textproduktion, beim Lesen zwischen Lesefertigkeit und Leseverstehen (Richter & Müller 2017) unterschieden. Im Hinblick auf den Schriftspracherwerb ist die Unterscheidung von Schrift- und Textproduktion gewinnbringend: Bereits im Vorschulalter können Kinder oral Texte produzieren und z. B. einer schreibenden Person (Merklinger 2011; Sauerborn 2015b) oder mit Hilfe eines Geräts mit Spracherkennung Texte diktieren (Köb et al. 2023), im Sinne einer Textproduktion ohne Schriftproduktion (s. u.). Außerdem sind viele Übungen in der frühen Phase des Anfangsunterrichts reine Schriftproduktionsaufgaben, wie z. B. beim Schreiben einzelner isolierter Wörter. Dennoch sollte der Schriftspracherwerb nicht auf den Erwerb von Wörtern beim Lesen und Schreiben beschränkt werden.
Auch beim Lesen liegt in den frühen Phasen des Anfangsunterrichts der Fokus vor allem auf dem Ausbau der Lesefertigkeiten. Das Leseverstehen auf der Wort- und Satzebene ist dabei durchaus relevant, Textverstehen auf der globalen Kohärenzebene beim Lesen hingegen erst nach Erwerb der basalen Lesefertigkeiten (auf der Textebene Leseverstehen nicht ohne Lesefertigkeit, auf der Wortebene wäre dies z. B. bildunterstützt bzw. mit einem logographischen Zugriff auf Schrift durchaus möglich). Dennoch spielt der Ausbau des rezeptiven Sprachverstehens durch das Zuhören von Anfang an eine große Rolle, ebenso das Eintauchen in fiktive Welten usw.
Neben einer Beschäftigung mit den Teilbereichen des Schriftspracherwerbs ist es für didaktische Zwecke ebenso wichtig, individuumsbezogene Faktoren in den Blick zu nehmen, welche im unteren Bereich des Modells grau aufgeführt werden. Marx (2007, S. 38; ▸ Tab. 1.1) unterscheidet zwischen internalen und externalen Faktoren: Zu den externalen Faktoren zählt er »den Umgang mit Schrift in der Familie, die im Kindergarten erfahrenen Anregungen oder auch den Erstleseunterricht« (ebd.). Es handelt sich also um Faktoren, die die Umwelt des Kindes betreffen. Bei den internalen Faktoren berücksichtigt Marx wiederum z. B. die Sprachentwicklung oder Gedächtnisentwicklung (ebd.), dies sind also Kompetenzen bzw. Kapazitäten, die beim Individuum selbst liegen. Die Early Literacy setzt sich nach dem dem KOMET-Modell zugrunde liegenden Verständnis (s. u.) sowohl aus internalen Faktoren (Dunst et al. 2006; Sauerborn 2015a/b) als auch externalen Faktoren zusammen (Hurrelmann et al. 1993; Muratović 2015) und weist zudem Zusammenhänge mit dem soziokulturellen Kapital der Familie auf (Hertel et al. 2010).
Gerahmt werden die Teilbereiche des Schriftspracherwerbs im oberen Bereich des Modells sowie die individuumsbezogenen Aspekte (unten im Modell) vom sprachlichen Lernen, das Bezüge zu allen Elementen des Modells aufweist. Innerhalb der Begriffstrias Sprachkompetenz, sprachliche Bildung und sprachliches Lernen kann der Begriff des sprachlichen Lernens als Aneignung, Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung von Sprachkompetenz im Rahmen von expliziter (schulischer) und impliziter (nonformaler) sprachlicher Bildung verstanden werden, die jedoch auch im schulischen Kontext stattfinden kann. In Anlehnung an Becker-Mrotzek und Roth (2017, S. 20) wird Sprachkompetenz als dynamisches Konstrukt aus Entwicklungs- und Bildungsprozessen aufgefasst, innerhalb derer dispositionell verfügbare Fähigkeiten entfaltet und von sprachlicher Sozialisation und sprachpädagogischen Einwirkungen beeinflusst werden, so dass Sprachkompetenz immer »sowohl ein Sein und demnach – je nach Entwicklungs- und Bildungsstand unterschiedlich – immer schon vorhanden als auch [...] ein Sollen, d. h. ein Bildungsziel« darstellt (ebd.). Sprachliche Bildung kann sowohl gezielt und systematisch angelegt im Kontext schulisch-institutionalisierter Prozesse (ebd.) als auch implizit, beispielsweise im familiären Alltag (Topalovic & Settinieri 2023, S. 16), aber auch in nonformaler Interaktion in der Schule verortet werden.
Der Begriff des sprachlichen Lernens unterstreicht, dass die Auseinandersetzung mit Sprache in ihrer Vielfältigkeit zu einem dynamischen Ineinandergreifen stetiger Entdeckungen und neuer Erkenntnisse führt und als lebenslanger Prozess verstanden wird (Becker-Mrotzek et al. 2023, S. 10), der von hoher Bedeutung ist, beispielsweise auch für das literarische Lernen (Topalovic & Settinieri 2023, S. 9) bzw. für das Lernen in vielen anderen Bereichen, in denen das Lernen ohne Sprache nicht denkbar wäre.
Die folgenden Ausführungen greifen die einzelnen Bereiche des KOMET-Modells auf und diskutieren diese entlang aktueller fachwissenschaftlicher und -didaktischer Perspektiven, wobei zunächst weitgehend vom Schriftspracherwerb eines Regelgrundschulkindes ausgegangen wird. Unter dem durchaus diskutablen Konzept des Regelgrundschulkinds verstehen wir ein Kind, das die Anforderungen in der Schule, die sich z. B. in den Aufgaben der Lehrwerke spiegeln, altersangemessen bewältigen kann. In der Regel sind damit Anforderungen eines Unterrichts gemeint, der auf Kinder ausgerichtet ist, welche die Unterrichtssprache Deutsch so beherrschen, dass keine sprachlichen Schwierigkeiten auftreten (vgl. muttersprachlicher Deutschunterricht im Sinne von Hildebrand 1954, S. 32 ff.). Dass das Bild vom Regelgrundschulkind auf eine Klasse übertragen weder zeitgemäß noch praxistauglich ist, ist den Autorinnen bewusst. Ebenso sollte der Deutschunterricht nicht muttersprachlich deutsch konzipiert sein, sondern an der sprachlichen Vielfalt der Lernenden ausgerichtet werden (Mesch & Sauerborn 2024). Die Schablone eines Regelgrundschulkindes wird dennoch verwendet, um im weiteren Verlauf des Buchs eine Ausdifferenzierung auf Kinder mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen vorzunehmen. Die hier vorgenommene Beschreibung dient demnach auch als Grundlage dafür.
Die Darstellung der einzelnen Bereiche des KOMET-Modells erfolgt aus didaktischen Gründen separierend, wie jedoch erläutert, laufen die Prozesse im Erwerb und bei kompetenten Lesenden bzw. Schreibenden nicht unabhängig voneinander ab. Zunächst wird auf die Rahmenaspekte des Schriftspracherwerbs eingegangen, welche den Erwerbsprozess mitbeeinflussen.
Innerhalb der Aspekte, die in einem engen Zusammenhang mit dem Erwerb schriftsprachlicher Kompetenzen stehen, lässt sich nach Marx (2007) zwischen internalen und externalen Faktoren unterscheiden. Aspekte der externalen Faktoren werden im KOMET-Modell separat angeführt (u. a. soziokulturelles Kapital der Familie, Lesesozialisation usw., s. u.). Bei den internalen Faktoren lassen sich für den Schriftspracherwerb eher spezifische Faktoren und eher unspezifische Faktoren ausmachen, wobei die Zuordnung in diese beiden Kategorien nicht immer ganz eindeutig ist, da einzelne Faktoren auch mit anderen Leistungsbereichen zusammenhängen können (ebd., S. 38).
In Anlehnung an Marx (2007, S. 39) können die folgenden internalen Faktoren als besonders relevant für den Schriftspracherwerb erachtet werden (▸ Tab. 1.1).
Tab. 1.1:Internale Faktoren unterschieden in eher spezifisch und eher unspezifisch in Anlehnung an Marx (2007) mit Erweiterungen der Autorinnen
eher spezifisch
eher unspezifisch
(schrift-)sprachbezogen(vgl. Early Literacy)
kognitiv
(phonologische) Sprachentwicklung (Grammatik, Wortschatz, Hörverständnis)
Wissen über Schrift
Arbeitsgedächtniskapazität
Zugriff auf das Langzeitgedächtnis
visuelle und auditive Informationsverarbeitung
Konzentrationsfähigkeit
Intelligenz
Exekutive Funktionen
Aufmerksamkeit und Wahrnehmungsprozesse
Lernfreude
Leistungsmotivation
Selbstkonzept
Phonologische Informationsverarbeitung (vgl. Wagner & Torgesen 1987, S. 192):
phonologische Bewusstheit
phonologisches Rekodieren im Arbeitsgedächtnis
phonologisches Rekodieren beim Zugriff auf das semantische Lexikon
Im Vergleich zu Marx ist eine weitere Unterscheidung der eher spezifischen internalen Faktoren in schriftsprachbezogene, welche mit der Early Literacy gleichzusetzen sind (s. u.), und kognitive Faktoren für didaktische Zwecke sinnvoll, da z. B. bei Kindern mit DaZ oder mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf im Bereich Sprache möglicherweise andere eher spezifische Faktoren hemmend wirken als bei Kindern mit einem Förderbedarf im Bereich Geistige Entwicklung. Die phonologische Informationsverarbeitung wird von Marx nicht explizit genannt, deren Bestandteile sind jedoch in seiner Darstellung in manchen Aspekten enthalten. In der Übersicht zu den internalen Faktoren (▸ Tab. 1.1) wird die phonologische Informationsverarbeitung separat aufgeführt und sowohl als sprachbezogen als auch von den kognitiven Ressourcen dependent verstanden, da gerade das phonologische Rekodieren stark von kognitiven Ressourcen innerhalb des Arbeitsgedächtnis abhängt (Wagner & Torgesen 1987, S. 192).
Auf die eher spezifischen (schrift-)sprachbezogenen Faktoren soll im Folgenden noch genauer eingegangen werden. Eine genauere Betrachtung der kognitiven Aspekte erfolgt im Beitrag von Köb und Terfloth (▸ Kap. 4), Komponenten der phonologischen Informationsverarbeitung greift Mayer (▸ Kap. 5) auf.
Unter anderem im Unterkapitel zur Sprachanalyse (s. u.) wird auf eine Vorläuferfertigkeit des Schriftspracherwerbs, die phonologische Bewusstheit, eingegangen, welche auch in Tabelle 1.1 genannt wird. Während in der Literatur zum Schriftspracherwerb oft eine Fokussierung auf diesen kleinen Teilbereich festzustellen ist (Kritik siehe Sauerborn 2015b, Valtin 2010 und Valtin 2020), stellt diese Sichtweise einen verengten Blick auf den Schriftspracherwerb dar, denn Schriftsprache zu erwerben umfasst weitaus mehr, als sich durch die phonologische Bewusstheit entwickeln kann (Sauerborn 2015b).
Im englischen Sprachraum wird zur Beschreibung der vorschulischen Schrifterfahrungen und der relevanten Kompetenzen in diesem Bereich der Begriff der Early Literacy verwendet, welchen man synonym zu vorschulischen Schrifterfahrungen oder zu Vorläuferfertigkeiten zum Schriftspracherwerb verwenden kann. Das Konstrukt der Early Literacy wird für didaktische Zwecke im englischen Sprachraum oft als Set von Teilfertigkeiten beschrieben (U. S. Department of Health and Human Service 2010). Sauerborn (2015a) beschreibt in Anlehnung als ein solches Verständnis Teilfertigkeiten der Early Literacy (mit Modifikationen aufgeführt ▸ Tab. 1.2).
Kinder kommen mit ganz unterschiedlichen schriftsprachlichen Vorerfahrungen in die Schule (Hanke & Hein 2008). Für den Anfangsunterricht hat dies weitreichende Konsequenzen: Neben einer umfassenden Einschulungsdiagnostik zu den verschiedenen Bereichen der Early Literacy, die es Lehrkräften erlaubt, den Entwicklungsstand der Lerngruppe von Anfang an beurteilen zu können, sollte der Unterricht allen Kindern ein Lernen in der Zone der proximalen Entwicklung (Wygotski 1977) ermöglichen. Dafür müssen die an Schulen tätigen Pädagog:innen auch das unterschiedliche soziokulturelle Kapital (Bordieu 1983) der Familien berücksichtigen, da dies auch Einfluss auf das schulische Lernen und insbesondere den Schriftspracherwerb hat.
Tab. 1.2:Aspekte der Early Literacy (Sauerborn 2015a, mit Modifikationen durch die Autorinnen)
Gesprochene Sprache
Umgang mit Sprache im Hinblick auf Rezeption und Produktion
Visuelle Konzepte geschriebener Sprache
Vorstellung von den visuell sichtbaren Eigenschaften geschriebener Sprache
Unterschiedliche Arten zu schreiben, zunehmendes Bewusstsein für die Konventionen der Schrift
Vertrautheit mit Schreibwerkzeugen und -konventionen, zunehmende Fähigkeiten, durch Geschriebenes, Symbole und Buchstaben zu kommunizieren
Wissen über Bücher und deren Wertschätzung
Interesse an Büchern und deren Eigenschaften und die Fähigkeit, die Bedeutung von Geschichten und anderen Texten zu verstehen
Verständnis vom Nutzen von Schrift
Gebrauchswert von Schrift für sich selbst entdecken
Phonologische Bewusstheit
Bewusstsein, dass gesprochene Sprache in kleine Einheiten wie Silben und kleinere Laute zerlegt werden kann
Zunehmende Buchstabenkenntnis
Kenntnis von Namen und Laut von einzelnen Buchstaben
Graphomotorische Aspekte
Stifthaltung, Umgang mit dem Stift
Im Hinblick auf die Lesekompetenzentwicklung spielen innerhalb eines komplexen Wirkmodells neben den individuumsbezogenen Faktoren auch familiäre Strukturmerkmale wie beispielsweise der sozioökonomische Status oder die (formale) Bildung der Eltern – vermittelt vor allem über lesebezogene familiäre Prozessmerkmale (z. B. kulturelle Ressourcen, kulturelle Praxis) – eine zentrale Rolle (McElvany et al. 2023, S. 135). Ein Zugang zu Textualität wird zudem auch beim mündlichen Erzählen vermittelt, nicht nur beim Vorlesen geschriebener Texte. Die Frage, inwiefern alle Schüler:innen unabhängig von ihrem sozioökonomischen Hintergrund die gleichen Chancen haben, ihr volles Potenzial auszuschöpfen, sollte eine der Grundfragen eines jeden Bildungssystems und letztlich jeder Schule sein.
Erklärungsansätze für Bildungsungleichheiten in Abhängigkeit der sozialen Herkunft finden sich bereits in den Arbeiten von Bourdieu (1983, 1984) und Boudon (1974), die im Wesentlichen davon ausgehen, dass Kindern und Jugendlichen aus unterschiedlichen sozialen, kulturellen und ökonomischen Verhältnissen unterschiedliche bildungsbezogene Ressourcen (z. B. Unterstützungsmöglichkeiten im Elternhaus, häusliche Lerngelegenheiten etc.) zur Verfügung stehen (Niemietz et al. 2023, S. 262). Eine zentrale Rolle spielt bei Bourdieu (1983) dabei das kulturelle Kapital, das als erworbenes Wissen und Fähigkeiten (inkorporiert), als Besitz kultureller Güter (objektiviert) oder institutionalisiert in Form von Zertifikaten, Zeugnissen oder Abschlüssen vorhanden sein kann (ebd.). Die bildungsbezogenen Ressourcen einer Familie sind in vielen Fällen von der Passung zwischen der in einer Gesellschaft vorherrschenden Kultur und dem jeweiligen kulturellen Kapital einer Familie abhängig (ebd.). Wie gerecht ein Bildungssystem ist, lässt sich demnach (auch) daran messen, ob und wie sehr die Lernerfolge von Schüler:innen von ihrem sozioökonomischen Status abhängen. In Deutschland wissen wir nicht zuletzt durch die großen Ländervergleichsstudien wie PISA oder IGLU, dass sich in den vergangenen 25 Jahren
»im Hinblick auf die Bildungsgerechtigkeit in Deutschland praktisch nichts verändert [hat]. Weiterhin gilt, dass sowohl der sozioökonomische Status als auch der Migrationshintergrund von Familien einen deutlichen Zusammenhang mit dem Bildungserfolg ihrer Kinder aufweisen. Im internationalen Vergleich fallen diese für Deutschland beobachteten Disparitäten durchschnittlich oder sogar leicht überdurchschnittlich aus« (Stubbe et al. 2023, S. 172).
Im IQB-Bildungstrend wird ebenfalls konstatiert, dass die von Schüler:innen in Deutschland erreichten sprachlichen Kompetenzen stark an Merkmale der sozialen Herkunft ihrer Familien gekoppelt sind und soziale Disparitäten zwischen den Jahren 2015 und 2022 in allen untersuchten Fächern und Kompetenzbereichen signifikant zugenommen haben (Niemietz et al. 2023, S. 295). Die Ergebnisse der aktuellen PISA-Studie zeigen, dass Jugendliche aus sozioökonomisch benachteiligten Familien ein mehr als fünfmal so hohes Risiko aufweisen, das Grundkompetenzniveau im Bereich der Lesekompetenz nicht zu erreichen (OECD 2023, S. 53). Ähnliches lässt sich laut der internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) auch für den Grundschulbereich verzeichnen; hier sind Vorsprünge innerhalb der Lesekompetenz von Viertklässler:innen aus sozial privilegierteren Familien gegenüber Schüler:innen aus sozial weniger privilegierten Familien weiterhin stark ausgeprägt (Stubbe et al. 2023, S. 173).
In anderen Ländern wird versucht, der Benachteiligung von Schüler:innen aufgrund des sozioökonomischen Status der Familie z. B. mit sogenannten Family-Literacy-Programmen entgegenzuwirken. Je nach Land setzen die Programme bei Klein- oder Kindergartenkindern an oder umfassen Angebote für verschiedene Altersgruppen. Die Programme verfolgen unterschiedliche Ziele, bei denen man zwischen defizitorientierten und ressourcenorientierten Programmen unterscheiden kann (Auerbach 1989, S. 165). Ein ausgereiftes Programm bietet in diesem Kontext das ORIM-Framework (Nutbrown et al. 2005) aus England, das sich auch auf den schulischen Kontext übertragen ließe. Im Kern geht es darum, Literacy-Förderung als Teil des täglichen Lebens zu verstehen und Eltern einerseits Möglichkeiten aufzuzeigen, wie sie mit ihren Kindern in der Schriftkultur handeln können (opportunities), wie sie Lernfortschritte ihre Kinder einordnen können (recognition), wie sie mit ihren Kindern interagieren können, um die Literacy-Entwicklung der Kinder zu unterstützen (interaction), und wie die Eltern selbst zu wirkungsstarken Vorbildern werden können (model) (ebd., S. 50 ff.). Die Eltern zu unterstützen und ihnen zu zeigen, wie sie wiederum ihre Kinder unterstützen können, scheint im Hinblick auf die Förderung der Lese- und Schreibkompetenz von Kindern aus sozial benachteiligten Bevölkerungsschichten seit langem ein erfolgsversprechender Ansatz zu sein (Franzmann 2002, S. 186). In Deutschland bilden diese Programme eine Ausnahme. Ein Beispiel für Angebote im Bereich der Family Literacy ist das Programm FLY aus Hamburg (Rabkin 2012).
Nachdem in diesem Unterkapitel auf die Rahmenbedingungen des Schriftspracherwerbs eingegangen wurde, werden im Folgenden die verschiedenen Säulen des KOMET-Modells erläutert. Im Rahmen dieses Beitrags wird einerseits versucht, einen Überblick zu verschaffen und einzelne wichtige Aspekte etwas genauer darzustellen, gleichzeitig werden andere Facetten nur in ihren Grundzügen thematisiert.
Für die Produktion von Schrift spielen sowohl motorische (Graphomotorik, Unterstützte Kommunikation) als auch auditiv-analytische Prozesse (Sprachanalyse) eine grundlegende Rolle. Zudem sind Einsichten in das Schriftsystem maßgeblich, um einerseits systematisch Schreibungen aus dem Kernbereich der Schrift herleiten zu können und andererseits von Schreibungen aus dem Peripheriebereich unterscheiden zu können.
Graphomotorische Kompetenzen stellen als periphere Schreibprozesse eine fundamentale Grundlage für die Produktion von Schrift dar. Insbesondere zu Beginn der Grundschulzeit lassen sich jedoch oftmals große Unterschiede im Hinblick auf die grob- und feinmotorischen Fähigkeiten der Schüler:innen beobachten. Für die Entwicklung der Handmotorik – die sich in Form von Meilensteinen über die Nutzung des (a) Scheren-, (b) Pinzetten- und schließlich des (c) Zangengriffs als Voraussetzung für den dynamischen Dreipunktgriff (▸ Abb. 1.9) operationalisieren lässt – ist die stabilisierende Motorik der Schulter von großer Bedeutung.
Abb. 1.9:(a) Scheren-, (b) Pinzetten- und (c) Zangengriff im Vergleich
Die Motorik der Hände und Finger zählt zu den ausdifferenziertesten und komplexesten Bewegungen, die der menschliche Körper vollziehen kann (Geraedts 2020). Graphomotorische Prozesse basieren auf subtil nuancierten und rhythmischen Bewegungen der Hand, die eine höchst differenzierte Integration und Koordination von grob-, fein- und visuomotorischen Fähigkeiten voraussetzt (ebd.). Neben dem Zusammenspiel von Auge und Hand ist hierbei zusätzlich die mentale Repräsentation der graphischen (Ziel-)Form ausschlaggebend (Sägesser et al. 2018). Die Harmonisierung der genannten Prozesse stellt eine hohe Anforderung für das Arbeitsgedächtnis dar. Gelingt diese Feinabstimmung nicht vollumfänglich, ist der Schreibvorgang erheblich verlangsamt, die Schrift ist unleserlich und kann in den meisten Fällen nicht auf einer vorgegebenen Linie gehalten werden (Geraedts 2020). Der Blick auf die graphomotorischen Kompetenzen von Lernenden ist demnach für Lehrkräfte zentral, nicht zuletzt weil auch Zusammenhänge von graphomotorischen und orthographischen Schwierigkeiten vermutet werden (Corvacho del Toro 2023). Konkrete diagnostische Anhaltspunkte für Lehrkräfte stellen sowohl das Schriftprodukt (z. B. Formwiedergabe, Strichführung etc.) als auch der Prozess des Schreibens (Stifthaltung, Bewegungsfähigkeit, Motivation, Ausdauer etc.) dar (Sägesser & Eckart 2016).
Im Hinblick auf das Handschreiben können in Anlehnung an Reichardt et al. (2021) wichtige Eckpunkte festgehalten werden: Die Handschrift muss leserlich und flüssig sein (Zieldimension). Flüssigkeit wird erreicht durch Bewegungen, die motorisch günstig und effektiv verbunden sind (Verbundenheit). Dabei zeigt sich Verbundenheit vor allem in der Bewegung, nicht notwendigerweise auf dem Papier.
Die in der Schule nach einer unverbundenen Erstschrift eingeführte Ausgangsschrift entwickelt sich im Laufe der Zeit zu einer individuellen Handschrift. Unterschieden wird dabei zwischen verschiedenen Ausgangsschriften (▸ Abb. 1.10), wobei je nach Bundesland nicht alle Schriften zugelassen sind.
Abb. 1.10:Verschiedene Ausgangsschriften
In der Diskussion um das Handschreiben wird auch immer wieder argumentiert, die Schüler:innen sollten nur eine Schrift lernen (nicht die Druckschrift und anschließend eine Schreibschrift), welche sich dann zu einer verbundenen Handschrift ausbauen lasse, wobei Verbundenheit – wie dargestellt – nicht zwangsläufig in den Schreibspuren sichtbar werden muss (Menzel 2014). Ein solches Vorgehen ist z. B. ausgehend von der Grundschrift (▸ Abb. 1.11) möglich, da alle Kleinbuchstaben, die auf der Grundlinie enden, Wendebögen aufweisen, die auf mögliche Verbindungen von Buchstaben vorbereiten.
Abb. 1.11:Grundschrift als unverbundene Erstschrift zum Ausbau einer verbundenen Handschrift
Durch die Thematisierung der Verbindungsmöglichkeiten, das Experimentieren mit der eigenen Schrift und den Austausch der Schüler:innen untereinander über unterschiedliche Strategien bei der graphomotorischen Schreibhandlung können effiziente Routinen entdeckt und in das eigene Schreibinventar aufgenommen werden (Bartnitzky et al. 2016). Allerdings braucht die Entwicklung zu einer flüssigen Handschrift auch in diesem Fall Zeit und Übung.
Im schulischen Alltag wird die konkrete Schriftproduktion in aller Regel zunächst händisch mit (Blei-)Stift und später ggf. mit Füllfederhaltern anvisiert. Da dies im Kontext einer körperlichen und/oder kognitiven Beeinträchtigung nicht immer entsprechend realisiert werden kann, finden sich im Bereich der Unterstützten Kommunikation unterschiedliche (technische) Zugänge zur Schriftproduktion, die im Beitrag von Köb und Terfloth (▸ Kap. 4) näher dargestellt werden.
Wenn Kinder in die Schule kommen, bringen sie im besten Fall bereits gut entwickelte Fähigkeiten im mündlichen Sprachgebrauch mit: Sie können sich verständigen und nutzen Sprache vor allem für ihre kommunikativen Zwecke. Zwar äußern sich Kinder bereits im Vorschulalter auch schon metasprachlich, allerdings sind sie beim schulischen Schriftspracherwerb mit neuen sprachanalytischen Anforderungen konfrontiert (Andresen 1985, S. 112). Wenn man z. B. das Wort Esel